Die Gartenlaube (1884)/Heft 45
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No. 45. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Unter den ersten Bäumen des Waldes trat Ereme der
weißhaarige Professor im altdeutschen Rocke entgegen.
„Wollen Sie auch hinauf an die Siegessäule?“ rief er.
„Ja, in diesen Tagen drängt es uns dahin. Ich komme
von dort, hab’ meinen Hut gezogen vor den Gedenktafeln
und ein ‚Gut Heil‘ in den deutschen Eichwald hinein gerufen.
Ich altes Haus kann ihnen nichts weiter zu Gute thun dafür,
daß sie so herrlich ausgeführt, was wir geträumt haben. Nun,
der Eine erliegt auf dem Wege nach dem großen Ziel, der Andere
nimmt ihm die Arbeit ab und bringt das Werk zu Ende. Selig
der, welcher scheidend noch den anbrechenden Tag erblicken darf.
Und dafür dank’ ich meinem alten Gott.“ Er schwenkte seinen
breitrandigen Hut und wanderte fürbaß der Stadt zu.
Ereme hatte zu Boden geblickt. Sie wagte nicht, dem Greis in die verklärten Augen zu sehen.
Kein Vogel sang mehr im Walde; nur das Brausen der Wipfel erfüllte die Luft. Kein bunter Blumenteppich breitete sich aus, das Waldesdunkel freundlich erhellend; die zarten Waldlilien waren verwelkt, die blauen Blüthen des Ehrenpreis verweht. Die hohe Zeit des Jahres war vorüber, die Sonnenrosse lenkten abwärts; nun ging’s dem kalten öden Winter zu.
Da stand bei einer Biegung des Weges vor ihren trostlosen Augen Melanie. Ihre Wangen waren rosig angehaucht, in der Hand hielt sie einen Strauß von Heckenrosen und Hagebutten an denselben Zweigen, die sie auf einer lichten Stelle des Waldes von einem wilden Rosenstrauche gebrochen hatte.
Die Stiftsdame erschrak. Sie hatte nach den stürmischen Tagen sich erholen wollen. Nun folgte ihr auch in die Waldesstille das Verhängniß.
Sie ergab sich darein. „Ich liebe diese herbstliche Stimmung über Alles,“ sagte sie, Ereme begrüßend. „Der Wald hebt ein Schlummerlied an, das mir zu lauten scheint: ‚Die Blüthen sind verwelkt, die Blätter müssen fallen; so vergeht Alles: Freud und Leid.‘“
„Und mir klingt das Brausen der Wipfel,“ erwiderte Ereme, „wie die Klage der Natur, die nach dem Worte stöhnt, das sie erlösen soll.“
„Jeder hört aus der Stimme der Heimath das heraus, was seine Seele bewegt,“ antwortete Melanie. „Sie ringen noch mit den Aufgaben des Lebens, ich habe abgeschlossen und sehne mich nach Ruhe.“
Stumm gingen sie weiter. Das Kriegerdenkmal stieg vor ihnen auf.
Ereme stand unter dem Zweige, den Witold damals über den Weg gespannt hatte. Leise strich sie über die herb duftenden Blattrosetten. Um die Kanonenrohre flatterte eine ganze Meisenfamilie und sang voll Schabernak ihr: „Sitz ich doch!“ Der Epheu hatte neue Ranken zu den ehernen Tafeln emporgesendet und sie mit grünem Kranze umschlungen.
Melanie ging der Siegessäule zu. Ereme blieb stehen. Es war ihr, als dürfe sie diesen Boden nicht betreten.
Da erhob sich neben dem Denkmal auf der Stelle, wo sie in der Johanniszeit geruht hatte, plötzlich eine Gestalt. Er war es.
Und so wie sie damals herabgeschritten war, ernst und kalt, so kam er langsam an sie heran. In seinen bleichen Zügen lag keine Herausforderung, kein Uebermuth, kein dreister Scherz. Ein fester düsterer Ernst stand auf seiner Stirn geschrieben, dessen sie ihn nie für fähig gehalten hatte.
Nun war der von ihr prophezeite Augenblick gekommen, da sie an einander vorübergehen konnten, als hätten sie sich nie gekannt.
Warum wurzelte nun ihr Fuß am Boden, während er mit stummem ernstem Gruße weiter schreiten wollte?
Melanie konnte die Quälerei nicht mit ansehen; ihre Natur suchte für Alles friedlichen Ausgleich; selbst wo ein Abschied das Ende war, sollte ihm das Herbe genommen sein. Sie redete ihn an. „Wir wollen Sie nicht vertreiben, Herr von Bartenstein. Wenn einen tapferen Officier in diesen erinnerungsreichen Tagen sein Herz an die Stätte treibt, wo den Waffenthaten unseres Volkes ein Denkmal gesetzt wurde, dann ziemt es uns, die nichts leisteten, seine Empfindungen zu ehren und uns zurückzuziehen.“
„Ach, es wäre besser, gnädiges Fräulein, man brauchte sich nicht zu erinnern, sondern könnte Alles schnell vergessen,“ sagte er mit bitter zuckenden Lippen im Vorüberschreiten.
Die Stiftsdame schloß sich ihm an und wandte sich ebenfalls zum Heimweg. Während Ereme zitternd zu ihrer Rechten ging, richtete Melanie über ihre linke Schulter den Blick auf Bartenstein, der zaudernd stehen bleiben wollte.
„Das wäre traurig. Wie gering wiegt das Leid, eine persönliche Kränkung nicht vergessen zu können, gegen die hohe Gnade, daß wir die glorreichen Thaten unseres Volkes im Gedächtniß bewahren dürfen! Würden Sie die Erinnerung an den Todesritt von Vionville hingeben wollen?“
[734] Was weder ihre bittenden Blicke, noch Ereme’s traurige Augen vermocht hatten, vollbrachte die großartige Ausdrucksweise Melanies. Der natürliche Widerwille Bartenstein’s gegen Lobpreisungen zwang ihn, sich anzuschließen, um sich gegen dieselben zu wehren.
„Todesritt!“ stach er ganz entrüstet das Wort auf, indem er an Melanies linker Seite weiter ging. „So nannten die Franzosen in ihrer Uebertreibung unsere Attake. Wir führten ganz einfach nur den Befehl aus, den wir erhalten hatten.“
Melanie ließ sich nicht einschüchtern. Mit aufrichtiger Bewunderung sagte sie: „Es war die erhabenste Heldenthat des Krieges.“
Witold zog die Augenbrauen unmuthig zusammen. „Solche hochtrabende Worte müßten durch einen Armeebefehl verboten werden. Meiner Meinung nach giebt es keine Heldenthaten. Wenn ein Mensch für seinen König und sein Vaterland,“ betonte er, „seine Kraft und sein Leben einsetzt, dann thut er nichts als seine Pflicht und Schuldigkeit. Und die thaten alle Regimenter, die damals die Aufgabe zu lösen hatten, dem Marschall Bazaine den Rückzug in’s Innere abzuschneiden, um ihn zu verhindern, daß er sich mit Mac Mahon’s Armee vereinige.“
„Aber die Attake Ihres Regimentes war doch das größte Wagestück des Tages von Vionville,“ trieb Melanie ihn in die Enge.
„Ach, sie war gar nichts,“ bemühte er sich, die seiner Meinung nach höchst überspannten Vorstellungen auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. „Aber das war qualvoll, als wir ruhig in gedeckter Stellung in der Thalmulde halten und zusehen mußten, wie die Bajonnette der Infanteriecolonnen auf den Höhen blitzten, die reitenden Batterien vorüber jagten, die Husaren die Schluchten hinabflogen, Alle dem Feinde entgegen. Und als vollends die Dragoner mit Hurrah abschwenkten und triumphirend auf den Feind losstürmten, dachten wir: Verfluchte Kerle, wer doch mitreiten könnte!“
Er nahm die Mütze ab. Noch jetzt wurde ihm die Stirn heiß, wenn er an jene Stunden dachte.
Aber Melanie hatte Recht gehabt: die große Erinnerung drängte den Schmerz um das eigene Leid zurück.
„Was habe ich ausgestanden,“ fuhr er fort, anfangs wie nur das Gespräch weiterspinnend, dann aber von dem Gegenstande sich hinreißen lassend, „als ich mit einer Patrouille ausritt, um zu recognosciren. Mit dem Fernglas sah ich, wie unsere Truppen auf dem kahlen Plateau, über das die große Straße sich zieht, zusammengeschossen wurden, während auf den Höhen ringsum der Feind immer mehr Batterien auffuhr, die Wälder sich mit seiner Infanterie füllten, Reiterregimenter in den Thalmulden sich sammelten und ferner dumpfer Kanonendonner noch den Zuzug neuer Colonnen ankündigte. Da endlich kam die Erlösung für uns. General von Voigts-Rheetz sprengte heran und brachte den Befehl, daß wir – die altmärkischen Ulanen und halberstädtischen Kürassiere – die Batterien an der Römerstraße zum Schweigen bringen sollten. Unsere Regimenter hatten zusammen nur noch sechs Schwadronen; zwei waren ausgeloost worden, die Trouviller Büsche zu säubern. Uns gegenüber mußten unserer Schätzung nach dreizehn Regimenter stehen.“
Witold’s Züge hatten sich belebt. Er sah nicht, wie Ereme erbebte. Er war jetzt ganz Soldat. Melanie schaute ihn mit Bewunderung an. Begeistert, mit Augen, die in die Höhe und in die Ferne gerichtet waren, erzählte er weiter: „Nun ging es vorwärts durch Schluchten und Thäler, über zertretene Felder, die in Garben gestanden hatten, zerstampfte Wiesen, Ackerstücke, die von den Geschossen zerpflügt waren, und überall bezeichneten die Leichen der Gefallenen den Siegesweg, den unsere Cameraden genommen hatten. Endlich kamen wir an den Linien an, die am weitesten vorgeschoben waren. Gegenüber an der alten Römerstraße stand der Feind.
Wir nahmen in entwickelter Linie Stellung, links die Kürassiere, rechts wir.
Dann schallte das Commando: ,Zur Attake!‘ Es wurde ‚Fanfaro‘ geblasen und nun ging’s los.
Die feindlichen Batterien donnerten uns entgegen – wir flogen durch den Grund und durch das hereinprasselnde Feuer die Höhe hinauf. Das hatte der Feind nicht erwartet. Die Bedienungsmannschaften der Geschütze waren wie betäubt und wurden niedergemacht. Wir hielten uns nicht dabei auf. Immer vorwärts durch die französischen Jäger zu Fuß. Was in den Bereich der langen Schwerter der Kürassiere kam, mußte dran glauben, unsere Lanzen räumten unter den Feinden auf, die vor Verblüffung sich nicht besinnen konnten. Das zweite Treffen versuchte es gar nicht, unserem Ansturme Stand zu halten. Die Batterien protzten ab und wendeten sich zur Flucht. Wir sausten ihnen nach durch die Thalmulde, die von der Römerstraße nach Rezonville sich hinabzieht. Unsere Schwadronen waren weit aus einander gekommen; aber die Wuth riß uns dem Feinde nach.
Da tauchten plötzlich vor uns rothe Casquettes auf: die Chasseurs d’Afrique; in dem Gehölze blitzten die Kupferhelme der französischen Dragoner, und in geschlossenen Reihen fielen uns Kürassiere in die Flanke. Wir waren rings vom Feuer umschlossen. Die Geschütze donnerten, die Mitrailleusen grollten und knatterten, in der Luft platzten die französischen Shrapnels mit singendem Tone, die preußischen Granaten detonirten mit scharfem Knall; die französische Infanterie hatte sich wieder erholt und überschüttete uns mit ihrem Bleiregen. Dazwischen schrieen die Kämpfenden, wimmerten die Verwundeten. Immer lichter wurden unsere Reihen, immer dichter schichteten sich die Leichen. Jeder von uns kämpfte gegen eine fünffache Ueberzahl.
Da wurde plötzlich zum Sammeln geblasen. Das Signal verdoppelte unsere Kräfte.
Ich schlug mich durch und mein braver Rappe ‚Vorwärts‘, der dafür noch heute das Gnadenbrod auf unserem Gute frißt, trug mich der Stelle zu, von der das Signal ertönte.
Keuchend vom athemlosen Ritte kamen die Unsrigen von allen Seiten; Pferde ohne Reiter sprengten auf den gewohnten Klang herbei. Verwundete suchten sich zu erheben um wieder zusammen zu brechen, Sterbende schlugen die Augen zu uns auf“ – er brach kurz ab. Seine Hand ballte sich einen Augenblick zur Faust. Ereme’s Augen hingen in qualvoller Spannung an ihm; es war, als wolle sie ihm in überströmender Theilnahme die Hand reichen. Er sah es gar nicht.
„Auch da heißt’s: Durch!“ fuhr er in gepreßtem Tone fort, als er in Melanies erregtes Gesicht blickte und ihre Augen mit höchster Spannung auf sich gerichtet sah. „Es ging zurück in dichtem Knäuel, feindliche Reiter zwischen den unsrigen, über stehen gebliebene und umgeworfene Geschütze, stechend, hauend, schießend. Man fühlte nichts mehr. Ein paarmal war mir’s, als fahre ein Blitz an meinen Augen vorbei; dann streifte es heiß wie ein Licht an meiner Schläfe hin mit zischendem Laut. Aber weh that’s nicht. Rückwärts ging’s, den Berg hinab, Freund und Feind zu kämpfendem Knäuel geballt. Das Gedränge wurde so arg, daß wir die Arme nicht rühren und uns nur wüthend ansehen konnten.“ Er lachte laut und wild auf.
„Als wir endlich an dem Orte ankamen, von wo wir ausgeritten waren, fand sich kaum die Hälfte von uns zusammen. Unser Major fehlte. Wir schrieen nach der Standarte, die Standarte war fort. Wir zogen dem brennenden Flavigny zu. Meine Wunden fingen an zu schmerzen, vor den Augen wurde es mir dunkel, ich hielt mich mit Anstrengung aufrecht. Da tönte uns lautes Hurrah! entgegen. Aus einer Schlucht kam noch eine Abtheilung Ulanen mit unserer geretteten Standarte. So viel Kraft hatte ich noch, sie mit einem Schrei zu begrüßen. Dann sank ich vom Pferde auf den Rasen. Ich schlug die Augen noch einmal auf. Neben mir stand ein Bildstock. Die Mutter Gottes sah mit einem kummervollen Gesicht auf mich herab. Wie ein Stich, der tiefer ging, als alle meine Wunden, traf mich der Gedanke an meine Mutter. Ich wußte, wie sie sich um mich ängstigte. Sie war immer sehr zärtlich gegen mich,“ sprach er leise, fast verschämt, „und ich hatte mich, wie es ungezogene Bengel machen, immer gegen ihre Liebkosungen gesträubt, weil sie mir so sentimental vorkamen. Wenn ich hier meinen Wunden erlag, konnte ich nie nachholen, was ich versäumt hatte. – Ich habe es aber gut machen können und meine Strafe auf anderem Wege bekommen. Ich mußte selbst empfinden, was es heißt: darben, wenn man mit warmem Herzen um Liebe wirbt.“
Melanie fühlte, wie Ereme plötzlich ihren Arm ergriff und sich schwer darauf stützte, als trügen sie ihre Füße nicht weiter.
Witold aber hatte die weiche Regung schon überwunden. „Das war nur ein Moment,“ sagte er, rasch fortfahrend, „dann verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, fand ich [735] mich ganz weich auf Stroh gebettet in einer Stube, rings umgeben von Verwundeten. Der Morgen dämmerte; vor dem Fenster wehte eine weiße Fahne mit rothem Kreuz. Der Kopf that mir weh; da ich die Hand hob, um ihn zu befühlen, war sie verbunden, und um den Kopf hatten sie mir auch ein Tuch gewickelt; überall war mir ein Pflaster hingeklebt worden. Ich fühlte mich wie zerschlagen und gelähmt. Aber ich konnte natürlich nicht liegen bleiben. Ich nahm mich zusammen und stand auf. Ein barmherziges Schwesterchen erklärte mir zwar, ich müsse mich still verhalten, aber ich versicherte ihr, daß sie mich gehen lassen müsse, wenn sie nicht wolle, daß ich hier vor Ungeduld wie eine Granate platzen solle.“
„Mit Ihren vielen Wunden, von denen neulich der Oberst erzählte?“ fragte Melanie.
„Wenn man jeden Ritz mitrechnet,“ widersprach Witold. „Etwas duselig war mir allerdings zuerst zu Muthe. Aber nachdem ich mir das Gesicht an einem Brunnen gewaschen hatte, sah ich wieder ganz klar. Ich war in Flavigny, das noch rauchte. Gepäckstücke, Tornister, zerschlagene Gewehre, Käppis lagen in den Straßen; dazwischen sterbende Franzosen und Deutsche. Träger mit der weißen Binde um den Arm, katholische Priester mit dem Rauchfaß, lutherische im schwarzen Talar eilten an mir vorüber. – Da wieherte es hinter mir. Als ich mich umwandte, stand ich vor meinem ‚Vorwärts‘. Ich fiel ihm natürlich um den Hals und – der Teufel weiß, wie es zuging – ich glaube, ich habe geweint. Er hatte es gut gehabt; denn er war an eine Linde angebunden, vor ihm ein Brunnentrog, neben ihm ein umgestürzter Heuwagen. Ich schwang mich mühsam auf und ritt hinaus, um zu erfahren, wie der gestrige Tag ausgefallen war.
Als ich auf dem Plateau von Vionville ankam, traf ich auf einen Ordonnanzofficier. Ich fragte, und er antwortete: ,Der Angriff Ihrer Brigade hat Luft geschafft. In der Nacht hat der Feind alle Stellungen geräumt. Bazaine ist abgeschnitten. Guten Morgen, Herr Camerad.‘ Fort war er. Ich blieb zurück. Im Osten hatte sich der Himmel geröthet, jetzt ging die Sonne auf. So weit ich sehen konnte, war rings um mich ein ungeheures Leichenfeld. Ueberall waren unsre Leute beschäftigt, Massengräber zu graben; die Gefallenen wurden zusammen gesucht. – Wenn man Appell halten könnte,“ fuhr er mit tief bewegter Stimme fort, „über die Todten, die dort ruhen! Eine stattliche Armee würde auferstehen. Ganze Bataillone von unsren Musketieren und Füsilieren waren vernichtet worden und nichts von ihnen übrig geblieben als der zersplitterte Fahnenstock. Brandenburger und Hannoveraner, Ostfriesen und Braunschweiger lagen dort neben einander und hörten es nicht, daß wir gesiegt hatten. Da nahm ich meine Czapka ab und betete ein stilles Vaterunser für die gefallenen Cameraden.“
Er schwieg. Melanie weinte leise. Ereme ging todtenblaß, fest an Melanies Arm geklammert, wie mit brechenden Knieen nebenher.
Es war derselbe Pfad, auf welchem sie ihm damals erzählt hatte von der Todtenklage der Cicaden im Walde der Athene. Wie klein erschien sie sich nun mit all ihren hohen Gedanken gegen ihn, der nicht reflectirte, sondern aus seinem großen starken Herzen heraus handelte! Und ihn hatte sie in ihrer Verblendung schonungslos von sich gestoßen.
Sie waren aus dem Walde herausgetreten und quer durch die Wiesen der Stelle zugegangen, wo der Kahn die Ueberfahrt vermittelte.
Ganz wie an jenem Tag, da Witold ihr in den Fluß nachsprengte, kam der Fährmann aus seinem Häuschen und stieg hinab, um den Kahn loszuketten.
Witold brach das Schweigen, indem er wieder in leichtem Tone sprach: „Es war eine tolle Attake. Aber das ist nun einmal Ulanenart. Dort, wo es sich um die Ehre des Vaterlandes handelte, ist unser kühnes Reiterstück geglückt; hier, wo ich um mein Lebensglück spielte, hat mein verwegenes Vorwärtsgehen eine Niederlage gefunden. Immer besser so, als ich hätte hier gesiegt, und wir wären im Felde geschlagen worden. Besser, daß eine Deutsche einen der Sporen, die ich bei der Attake trug, auf den Kehricht geworfen hat, als wenn ihn ein Franzose zu triumphirendem Andenken aufbewahrte.“
Melanie starrte ihn verständnißlos an. Er aber blieb am Kreuzweg stehen und wandte sich an Ereme, die unter seinen letzten Worten erbebte. „Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich diese Gelegenheit benutze, mich Ihnen zu empfehlen. Ich glaube nicht, daß der Zufall mich noch einmal mit Ihnen zusammenführen wird. Ich sehe Sie schwerlich wieder. Uebermorgen rücken wir in’s Manöver aus, dann gehe ich auf Urlaub zu meinen Eltern, und dann hoffe ich versetzt zu sein.“ Er verbeugte sich zum Abschied.
Da richtete Ereme sich plötzlich aus ihrer gebrochenen Haltung auf und trat ihm in den Weg. „Nein“, sagte sie, und ihre Stimme tönte jetzt voll und klar, „nein, nicht Sie sollen gehen. Sie haben Ihr Leben für das Vaterland auf’s Spiel gesetzt, Sie sollen frei und ungehindert auf jedem Stückchen Erde in demselben leben können. Ich aber habe mich gegen die Heimath versündigt. Ich verstand nicht, was in den Eichen brauste, was der Fluß murmelte, was die sprießenden und fallenden Blätter verkündeten. Jetzt weiß ich es; jetzt verstehe ich die Stimme der Heimath; aber ich habe das Recht verwirkt, die Harmonie mit ihr zu genießen. Ich habe mich versündigt gegen das Volk, dem ich angehöre; ich habe es zurückgesetzt, gering geachtet gegen ein fremdes. Jetzt weiß ich, daß ich stolz darauf sein dürfte. Erst nachdem ich die hohen Güter, die das Schicksal mir bot, verspielt habe, ist das eherne Band gesprungen, das meinen Sinn gefesselt hielt, und ich sehe ein, wie bettelarm ich bin. Nur Eins habe ich gerettet: die Fähigkeit, mein Unrecht zu erkennen und zu sühnen. Wie der Feind Ihre kühne Attake mit verzweifelter Kraftanstrengung zurückwies und doch dann seine Positionen verließ, so habe auch ich mir einen Augenblickserfolg erkämpft und räume nun das Feld. Ich gehe nach Griechenland zurück. In die versunkene Welt gehört die Einsame.“ Das Wort tauchte aus einer Fluth von Thränen auf und erstickte ihre Stimme.
Sie wandte sich dem Kahne zu.
Witold und Melanie wollten sie aufhalten; aber mit unabweisbarer Geberde winkte sie beide zurück. Und wenn bisher er es gewesen war, der ihren Willen in Banden zu schlagen vermochte, so war er jetzt so ganz in ihrer Macht, daß sie mit dem Blick ihrer großen ernsten Augen ihn an seinen Platz bannte, während der Kahn vom Ufer abstieß.
Da fuhr sie hin, geisterhaft bleich, vom weißen Kleide und Schleier umwallt.
Noch einmal wandte sie die Augen zurück. So blicken die Schatten, die in Charon’s Nachen steigen, noch einmal nach dem Gestade der Lebenden ohne Furcht und ohne Hoffnung.
Melanie schaute ihr nach, die Hände faltend und klagend: „Das war nun der lustige Krieg. Ich habe das Ende kommen sehen und Sie Beide gewarnt. Warum haben Sie nicht darauf gehört? O, daß wir das Beste und am schwersten Erworbene, unsere Erfahrungen, nicht auf Andere zu übertragen vermögen!“
Als sie sich nach Witold umblickte, war er nicht mehr an ihrer Seite. Sie sah ihn schon eine Strecke entfernt in raschem Schritte zwischen den Wiesen davon gehen.
Sie ging nach Hause. Wie stiller Friede kam es über sie, als die Pforte des Stiftes sich hinter ihr schloß. Im weiten Hofe, dessen alte Pflastersteine wie abgeschliffen in grünen Grasfränschen lagen, girrten weiße Tauben, die von den Damen gefüttert wurden.
In ihrem Zimmer sprang ihr Darling vergnügt entgegen. Die Hängelampe erleuchtete den zierlich gedeckten Theetisch, in dem silbernen Kessel summte das Wasser, und durch die offenen Fenster zog der Duft von Reseda aus dem Garten herauf.
Mit wiederkehrendem Behagen ordnete sie den mitgebrachten Rosenstrauß in dem Blumenkorbe aus Eichenborke und Eichelnäpfchen, einem Producte der Greifenberger Industrie. Sie entließ die Jungfer und bereitete den Thee, von welchem der kleine Gourmand Darling einen schwachen Aufguß bekam.
Die anmuthige Stiftsdame war innerlich älter, als sie äußerlich erschien, und mit dem Ruhebedürfniß, das die fortgeschrittenen Jahre im Gefolge haben, sagte sie sich: „Gott sei Dank, daß die Stürme, welche Jugend und Liebe mit sich bringen, für mich vorüber sind.“
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[737] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [738]
Das Leipziger Schlacht-Panorama.
Der auf dem Roßplatze zu Leipzig stehende, vor Kurzem eröffnete prächtige Rundbau, dessen wuchtige Architektonik dank der freien Lage des Gebäudes zu voller Geltung kommt, beherbergt das Panorama der Schlacht von Mars la Tour. Der Schöpfer dieses Panoramas ist wiederum Professor L. Braun, dem wir bereits die Panoramen zu Frankfurt am Main, München und Dresden verdanken. Wie bei den Arbeiten Braun’s durchweg ein steter Fortschritt, ein Wachsen des künstlerischen Vermögens nicht zu verkennen ist, so muß dem Leipziger Panorama in seiner Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Composition, in seinem alle anderen Panoramen übertreffenden Figurenreichthume, in der lebendigen kraftvollen Wiedergabe des gewaltigsten Reiterkampfes des deutsch-französischen Krieges, in der interessanten, durchaus individuellen Charakterisirung der einzelnen Kämpfer, in der gerechten, allem Chauvinismus völlig fremden Anerkennung französischer Bravour und Kampfestüchtigkeit, und endlich in der trotz aller Leidenschaftlichkeit und Erregtheit des vorgeführten Moments bis in jedes Detail getreuen Darstellung der Preis vor den anderen Panoramen-Darstellungen zuerkannt werden. Wer diesem leidenschaftlichen Hinüber und Herüber des imposanten Reiterkampfes gegenübersteht und den vollen Zauber des malerisch vollendeten Gemäldes auf sich wirken läßt, wird sich leicht der Auffassung hingeben wollen, als hätte er es mit einem Bilde zu thun, dessen Composition allein nach den Anforderungen der künstlerischen Aesthetik, allein in dem Streben nach harmonischer Schönheitswirkung aufgebaut sei. Und doch – welch lange Reihe mühsamer Terrainaufnahmen, eingehender militärischer und Kriegsstudien müssen vorausgehen, bevor auch nur der erste Pinselstrich auf der weiten Leinwandfläche gethan werden kann!
Versuchen wir, um auch dem großen Publicum einen Einblick in das geheimnißvolle Entstehen eines solchen Panoramas zu verschaffen, den Maler bei seiner Vorarbeit zu dem Rundgemälde zu belauschen. Suchen wir Professor Braun einmal in seinem Atelier auf, das er in seinem Schlosse Wernfels in Franken aufgeschlagen hat, einem sehr interessanten Baudenkmale, das ursprünglich ein römisches Castell, später von den Burggrafen von Nürnberg, den Hohenzollern, als Vorwerk ausgebaut worden, 1284 von einem Ahnen Schweppermann’s an das Bisthum Eichstädt kam. In dessen Besitz blieb es bis zur Säcularisirung des Bisthums 1806 und kam seitdem herunter, bis vor wenigen Jahren Braun die Ruine des einst stolzen Schlosses erworben und jetzt in echt künstlerischem Sinne restaurirt hat. Hier also, im Rittersaale des einst den Hohenzollern gehörigen Schlosses, entwirft unser Künstler die Pläne zu seinen Panoramenbildern, welche der Verherrlichung des großen Hohenzollern gewidmet sind – welch eigenthümliches Spiel des Zufalls!
Nachdem der Plan für ein Schlacht-Gemälde festgestellt, begiebt der Künstler sich zuerst mit einigen ihn unterstützenden Malern in die Gegend des betreffenden Schlachtfeldes zur Aufnahme genauer Terrainstudien, die oft lange Zeit in Anspruch nehmen und bei denen Braun – der bisher stets den Krieg von 1870 auf 1871 zum Gegenstande seiner Panoramen gemacht hat – bei der französischen Landbevölkerung durchweg eine unliebenswürdige, mitunter selbst gehässige Aufnahme gefunden hat. Dann beginnt das Studium des kriegswissenschaftlichen Theils, des Generalstabswerkes und der Kriegsgeschichte der einzelnen Regimenter und dann die sehr ausgedehnte Correspondenz mit den gegenwärtigen und früheren Regimentschefs. Fragebogen circuliren nun bei den noch activen wie den bereits pensionirten Officieren, welche an der betreffenden Schlacht theilgenommen. Portraits hervorragender Führer oder Soldaten, die sich hervorgethan, wie z. B. für das Leipziger Panorama das Portrait Binkebank’s, des von Freiligrath besungenen Trompeters, müssen beschafft, Farbe und Beschaffenheit der Pferde der einzelnen Regimenter oder mindestens der der Officiere müssen festgestellt werden. Jedem der betheiligt gewesenen Regimenter wird freigestellt, mitzutheilen, welch hervorragender Zug von Tapferkeit aus ihrem Regimente der Darstellung besonders werth erscheint, und so fort. Nun laufen von allen Seiten die erbetenen Berichte ein und – widersprechen vielfach einander in Einzelheiten. Jetzt gilt es zu sichten, das übergroß anschwellende Material zu prüfen und zwar schon im Hinblicke auf seine malerische Wirkung, denn inzwischen hat immer lebensvoller vor dem geistigen Auge des Künstlers das Bild der darzustellenden Schlacht sich entrollt und in verschiedenen mannigfachen Compositionen hat er in größeren oder kleineren Skizzen die einzelnen Scenen – verschiedenartig aufgefaßt – auf’s Papier geworfen.
Der Künstler beginnt seine Arbeit. Er arbeitet innerhalb eines aufrechtstehenden Cylinders, der genau ein Zehntel der Größe des künftigen Panoramas umfaßt, also 1,60 Meter hoch und 11,80 Meter lang ist. In völlig genauer Zeichnung wird nun zuerst die Landschaft geschaffen, mit allen Höhen und Niederungen, Wegen, Wäldern etc., und bei der Zeichnung der Bodenbeschaffenheit muß bereits der nach Vollendung des Panoramabildes herzustellende plastische Vordergrund, der den Uebergang zu dem eigentlichen Gemälde in einer für den Beschauer völlig unmerklichen und täuschenden Art zu vermitteln hat, vollständig berücksichtigt werden.
Inzwischen hat der Künstler aus seinen verschiedenen Compositionsentwürfen das Passendste ausgewählt; nun werden, nachdem noch genau die militärischen Stellungen der Kämpfenden eingetragen, die Einzelgruppen eingezeichnet, worauf die Ausarbeitung der einzelnen Figuren – immer noch in der Skizze – beginnt. Hierzu sind natürlich ausgedehnte Studien nach dem Modell nöthig gewesen, wochenlang sind Skizzen aller möglichen Stellungen von kämpfenden Soldaten aller in Betracht kommenden Truppentheile entworfen worden. Jetzt wird bereits jedes Detail, jedes militärische Abzeichen, jeder Knopf mit berücksichtigt. Gleichzeitig ist hierbei eine große perspectivische Aufgabe zu lösen: jede Figur auf dem nach diesen Skizzen auszuführenden Rundgemälde muß trotz der Entfernung vom Standpunkt des Beschauers aus lebensgroß erscheinen; ebenso muß jetzt schon der Linienführung des Ganzen, der Wucht der Darstellung Rechnung getragen werden, wie bei der Composition der Einzelgruppen natürlich bereits die Wechselwirkung zu einander berücksichtigt werden muß.
Wenn nun in dieser Weise nach den einzelnen farbigen Studien die genauen Contouren in die Composition eingetragen [739] sind, werden von dem Ganzen Pausen hergestellt, in welchen jedes Detail, scharf mit der Feder umrissen, klar ausgearbeitet ist. Diese Pausen werden dann, in 100 Quadrate eingetheilt, auf Glastafeln photographirt und nun mit den sämmtlichen (oft gegen hundert) colorirten, metergroßen Studienbildern in das betreffende Panoramagebäude geschafft, wo inzwischen die 16 Meter hohe und 118 Meter lange, zur Aufnahme des Gemäldes bestimmte und bereits dreimal grundirte Leinwand in der Weise aufgespannt ist, wie der Beschauer später das Rundgemälde erblickt. Diese Leinwand wird nun gleichfalls in 100 Quadrate eingetheilt, welche also zehnmal größer als die von den Pausen auf die Glastafeln photographirten Quadrate sind; die Quadrate auf der Leinwand tragen dieselbe Nummer wie die auf den Glastafeln, welche nun als Objecte einer großen Camera obscura benutzt werden, mit deren Hülfe die ganze Composition in zehnmaliger Vergrößerung auf die Leinwand übertragen wird, eine Arbeit, die zwei geübte junge Künstler nicht weniger als sechs Wochen vollauf beschäftigt.
Ist die Uebertragung vollendet, so beginnt Professor Braun die eigentliche Arbeit des Malens. Eine ganze Sammlung von Waffen, Uniformstücken, zerhackten Helmen, durchbohrten Harnischen etc. befindet sich als Hülfsmaterial in buntem Durcheinander nebst jenen vorher erwähnten colorirten, ganz ausgeführten Naturstudien im Panoramabau neben der Farbenkammer, welche mit ihren Hunderten von Pinseln aller Größen bis herab zu den kleinsten Haarpinseln eine eigene Bedienung erfordert. Rund um das Bild laufen eiserne Schienen, auf denen wie gewaltige Eisenbahnwagen die bis zu 16 Meter hohen Gerüste, welche den Malern als Standort dienen (siehe die Bilder S. 738 und S. 740), hin und hergeschoben werden. Man sieht: es ist neben der Arbeit des künstlerischen Schaffens auch eine nicht unwesentliche Anstrengung der physischen Kraft nothwendig, um die ungeheure Fläche der Leinwand mit dem Getümmel des Kampfes zu beleben. Auf dem Bilde S. 738 sehen wir Professor Braun selber bei der Arbeit, während das Bild S. 740 rechts das fahrbare Gerüst mit malenden Hülfskräften darstellt. Links steht Professor Braun auf dem im Mittelpunkt des Panoramas befindlichen Podium, dessen oberster Theil für die Zuschauer bestimmt ist und dessen abgedachte Fläche den erwähnten plastischen Vordergrund zu tragen hat; darüber erblicken wir einen Theil des runden Lichtschirmes, der das Oberlicht vom Beschauerplatze abhält und auf das Bild wirft.
Ist dann nach etwa halbjähriger emsiger Arbeit endlich das Panoramabild vollendet, so beginnt der Anbau des natürlichen Vordergrundes. Man ging in der plastischen Behandlung des Vordergrundes früher viel weiter als jetzt; man suchte durch natürliche Wasserfälle zu wirken, durch halb gemalte, halb ausgestopfte daliegende „Todte“. In dem Panorama der Schlacht bei Waterloo, das in den sechsziger Jahren in Antwerpen entstand, ist eine Ecke eines englischen Carrés, etwa dreißig Mann, ebenso fünfzehn Franzosen und eine ganze Batterie völlig plastisch dargestellt, wodurch jedoch die Lebendigkeit des Bildes keineswegs erhöht, vielmehr eine marionettenhafte Wirkung hervorgerufen wird. Jetzt wird auch die Behandlung des Vordergrundes rein künstlerisch aufgefaßt, man bringt ihn in enge Verbindung mit dem Bilde, man führt eine Chaussee, eine Mauer, ein Stück begrasten Bodens des Bildes zur Erhöhung der Illusion figürlich fort und giebt eben nur so viel, als nöthig ist, um den Beschauer nicht erkennen zu lassen, wo die Begrenzung des Vordergrundes aufhört und die bildliche Darstellung beginnt. In dem Leipziger Panorama bildet den Vordergrund eine Fortsetzung des Ackerfeldes, in welches die schweren Räder der Kanonenwagen tiefe Furchen gezogen haben und auf welchem einzelne Gewehre liegen, außerdem ein Stück sumpfigen Bodens, in welchem eine Kanone mit Protzwagen stecken geblieben ist. Köstlich zur Geltung kommt die Luftstimmung des schwülen Augustmittags, das Blitzen und Blinken der Kürasse, der Helme und der Schwerter, die zu Hieb und Stich erhoben; großartig ist die ganze Farbengebung, ist die Wirkung des Lichtes, in welches die Darstellung getaucht ist und welches den Beschauer so überrascht, wenn er plötzlich aus den verdunkelten Gängen auf das Podium tritt und in hellem Tageslicht um sich das Wüthen des Reiterkampfes und darüber den wolkenlos blauen Himmel erblickt, an welchem zartweiße Wölkchen, die von den zerplatzenden Granaten zurückgeblieben sind, langsam zerflattern. Durch den erwähnten Lichtschirm wird das von oben durch das Glasdach einfallende Licht auf das Bild geworfen, und dieses dadurch gleichmäßig und tageshell beleuchtet. Um den Lichtschirm läuft im Leipziger Panorama dann noch ein Gang, in welchem eine elektrische Maschine angebracht ist, um in den Abendstunden durch den Reflector elektrisches Licht auf das Bild fallen zu lassen, wie es auch in Berlin im Sedanpanorama Brauch ist. Professor Braun hat für sein Leipziger Panorama aus der Schlacht von Mars la Tour jenen gewaltigen Reiterkampf gewählt, der unter der Bezeichnung „der Todesritt der Bredow’schen Brigade“ für alle Zeiten in die Annalen der Kriegsgeschichte verzeichnet ist und den Stefanie Keyser in ihrer Novelle „Fanfaro“ eben jetzt den Lesern der „Gartenlaube“ vorführt.
Das Ulanenregiment Nr. 16 unter dem Commandanten von der Dollen und das Halberstädtische Kürassierregiment Nr. 7 unter Major Graf Schmettau, beide die Bredow’sche Brigade bildend, haben sich am Tage von Mars la Tour, am 16. August 1870, dem zahllos überlegenen Feinde todesmuthig und todesgewiß entgegengeworfen, um durch einen heldenmüthigen Kampf, durch den großartigsten Reiterangriff des ganzen Krieges eine bessere, gesicherte Stellung für die von der Uebermacht der Feinde bedrängten und fast schon eingeschlossenen deutschen Truppenkörper zu erkämpfen. Mit noch nicht 600 Mann waren die sich dem Tode weihenden Schwadronen ausgezogen, und von diesen 600 fielen 16 Officiere und 363 Mann, mehr als die Hälfte:
„… ein Blutritt war es, ein Todesritt;
Wohl wichen sie unseren Hieben,
Doch von zwei Regimentern, was ritt und stritt,
Unser zweiter Mann ist geblieben.“
So heißt’s in dem bekannten weihevollen Liede Freiligrath’s, in welchem er die Episode des Trompeters Binkebank schildert, dessen Trompete, die so muthig zum Kampfe gerufen hatte, jetzt versagt, da sie selbst von Kugeln durchlöchert ist: nur ein klangloses Wimmern, wie schmerzvolle Todesklage um die gefallenen Brüder, vermag sie von sich zu geben. Und diese Gewalt des Kampfes, diese erbitterte Wuth des Zusammenpralls der Bredow’schen Helden mit den zäh und energisch sich wehrenden Franzosen, all’ das tritt dem Beschauer mit siegreicher Lebendigkeit aus dem Bilde entgegen, denn Alles ist da Leben und Bewegung, in den erbitterten Gesichtern der Kämpfer liest man die Aufregung des Momentes, in den angespannten Sehnen der Kämpfenden erkennt man die Anstrengung aller Kräfte! Zum ersten Male wird hier ein Reiterkampf in seiner ganzen Wucht, in seiner ganzen männlichen Kraft vorgeführt; die prächtigen sich bäumenden oder vernichtet zu Boden stürzenden Pferdeleiber, die mannigfachen Stellungen, die durch die Natur eines Reiterkampfes bedingt sind, verleihen dieser Darstellung gegenüber den früheren Panoramabildern einen ganz besonderen Reiz. General von Bredow hat zum Sammeln blasen lassen, denn neue, noch kampfesfrische französische Cavallerie-Regimenter sind über die Anhöhe von Gravelotte und von [740] Rezonville herangesprengt wie ein Wettersturm gegen die kleine kampfesmatte, todesmüde Heldenschaar von Bredow’s Brigade. Was von den Bredow’schen Schwadronen noch übrig ist, sucht sich den Rückweg durch die feindliche Uebermacht zu erzwingen. Mit leidenschaftlicher Erbitterung wird auf beiden Seiten gekämpft.
Unsere Leser finden mehr im Hintergrunde unseres Bildes S. 736 und 737 – das einen leider nur kleinen Theil des gewaltigen Rundgemäldes vor Augen zu führen vermag – im dichtesten Reitergewühle den Kürassier-Lieutenant Campbell of Craynish (gegenwärtig Adjutant des Herzogs von Coburg). Er hat an der Spitze eines Häufleins Bredow’scher Kürassiere gegen den rechten Flügel des heransprengenden französischen zehnten Kürassierregiments gekämpft. Die französischen Kürassiere, von dem Ungestüm des preußischen Angriffs erschreckt, sind zum Theil zurückgewichen, und dadurch gelang es den Bredow’schen Reitern, einige feindliche Kürassiere am rechten Flügel von dem Gros ihrer Mannschaften abzuschneiden. Da war Lieutenant Campbell of Craynish herangesprengt, um die französische Standarte, um welche die abgeschnittenen französischen Kürassiere sich geschaart hatten, ihnen zu entreißen. Dieser Moment ist auf unserem Bilde dargestellt. Soeben hat der muthige Kürassier-Lieutenant die Standarte erfaßt, die er freilich bald, nachdem ein Degenstich in die rechte Hand diese kampfunfähig gemacht, freigeben muß. Ebenso trefflich wie die deutschen Krieger sind die französischen Soldaten charakterisirt, nirgends eine Spur von jenem rohen Chauvinismus, der sich in französischen Schlachtgemälden bei der Darstellung deutscher Truppen zeigt. Diese Darstellung des Bredow’schen Todesrittes läßt Deutschen wie Franzosen gleiche Anerkennung zu Theil werden, und in dem ganzen so umfangreichen Bilde, welches den Opfermuth deutscher Krieger feiert, ist auch nicht der geringste Zug enthalten, der einen französischen Beschauer verletzen könnte – und daß dies so ist, ist kein geringes Lob für den Maler des Leipziger Panoramas.
Der Künstler, der hier jener Heldenschlacht und nicht minder seiner Künstlerschaft ein bleibend Denkmal gesezt hat, L. Braun, ist den Lesern der „Gartenlaube“ kein Fremder, in früheren Jahrgängen finden sich wiederholt Genre- und Kriegsbilder von Braun. Am 23. September 1836 zu Schwäbisch-Hall geboren, siedelte er nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1850 nach Stuttgart über, wo er bald in das Polytechnicum eintrat, um sich der Kunstindustrie zu widmen. Seine früh ausgesprochene Neigung zur Kunst begnügte sich jedoch mit diesem Ziele nicht. Er ging zur Stuttgarter Kunstschule über und malte nach nur kurzem Studium unter den Professoren Neher und Rustige alsbald unter Leitung seines älteren, inzwischen verstorbenen Bruders Reinhold zunächst Pferdestudien, konnte jedoch schon früh sich an den größeren Arbeiten seines Bruders für Petersburg, Paris etc. betheiligen. Durch zahlreiche Illustrationen für Zeitschriften und Jugendschriften – noch jetzt ist die Darstellung allerliebster Kinderscenen die Lieblingsbeschäftigung des erfolgreichen Schlachtenmalers – verschaffte sich der eifrig strebende junge Künstler die Mittel, um weiter studiren zu können. 1859 ging er nach Paris, studirte dort und in zahlreichen Garnisonstädten sowie bei Manövern die Eigenart des französischen Soldaten. Horace Vernet schenkte dem jungen Künstler Interesse und nahm ihn unter seine Schüler auf – nur zu bald freilich rief ein Todesfall ihn in die Heimath zurück. Hier schuf er eine Reihe von Aquarellen aus dem schleswig-holsteinischen Kriege und für den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin mehrere Darstellungen aus dem Kriege von 1866 – an beiden Feldzügen hatte Braun theilgenommen. Schon hier trat des Künstlers Naturtreue, die Lebendigkeit und Gewandtheit seiner Darstellung zu Tage; auch in den historischen Bildern, die er dann schuf, und den Genrebildern blieben diese Vorzüge ihm treu. 1870 begleitete Braun die deutsche Armee bis Orleans und Paris. Es entstanden nun „Moltke bei Gravelotte“, „Die Deutschen auf der Place d’armes in Versailles“, „Capitulation von Sedan“, „Einzug der Mecklenburger in Orleans“, „Der deutsche Kronprinz bei Wörth“ etc. Der Ruhm, den Braun durch diese Kriegsbilder erwarb, hielt ihn nicht ab, sich in den folgenden Jahren in einer Reihe herziger Genrebilder aus dem bayerischen Gebirge mit Glück zu versuchen, bis er 1879 von einem Holländer den Auftrag erhielt, das erste Panorama in Deutschland für Frankfurt am Main zu malen, die Schlacht bei Sedan, welches im September 1881 eröffnet wurde.
Bereits im Mai des nächsten Jahres aber hatte er in München das Panorama der Schlacht bei Weißenburg, im August 1883 das der Schlacht bei St. Privat in Dresden und im September dieses Jahres das Leipziger Panorama vollendet.
Professor Braun steht im kräftigsten Mannesalter, auf der Höhe seines Könnens; ein glückliches Familienleben voll herziger Innigkeit – Braun ist seit 1874 mit Marie Burger in zweiter Ehe verheirathet; die erste Ehe löste 1871 der Tod – umgiebt ihn. Und wenn er sich jetzt nach Vollendung der großen Leipziger Aufgabe auf sein Schloß Wernfels zurückzieht, harren seiner bereits die Vorarbeiten zu dem Panorama für Stockholm, für welches die Schlacht bei Lützen ausersehen ist.
Philipp Stein.
Brausejahre.
Goethe erkannte sehr wohl, daß seine Stellung zur Herzogin Luise nach der plötzlichen Entfernung des Grafen Görtz wieder eine weniger gute geworden sei; außerdem verdroß es ihn, daß es ihm nicht gelang, trotz allen heißen Wünschens und Bemühens ein besseres Verhältniß zwischen dem Herzoge und seiner Gemahlin anzubahnen.
Er war es aber nicht allein, der außer den Betheiligten unter dieser Störung litt.
Der nähere Kreis der Herzogin Amalie wußte, wie betrübt die edle Frau über das Mißverhältniß des jungen fürstlichen Paares war; ein Zustand, für welchen sie aber doch ihren Sohn in erster Linie verantwortlich machen mußte. Vergebens sann auch sie, wie zu helfen sei. Karl August lehnte jeden Versuch der Vermittelung schroff ab, und so blieb nichts übrig, als vorläufig die Dinge ungehindert gehen zu lassen.
In dieser Mißstimmung wandte sich Goethe mit wärmerem Anschlusse denn je an die Freundin. Er fand auch, was er billiger Weise erwarten konnte, aber doch nicht alles, was sein liebesehnendes Herz begehrte, und immer wieder erneuerten sich zwischen den beiden Menschen jene Kämpfe des Wollens und Sollens, der Leidenschaft und Pflicht, welchen Charlotte gewöhnlich durch eine Flucht und längeren Aufenthalt in Kochberg, wohin Goethe ihr nicht folgen durfte, entrann. Manchmal aber räumte auch er das Feld, und so geschah es in diesem Winter. Die Verlobung der Kalb, mit der er nie wieder auf einen freundschaftlichen Fuß gekommen war, die Festlichkeiten dem Brautpaare zu Ehren verdrossen ihn, und er faßte den Entschluß, einen längeren Ausflug zu unternehmen.
Der Aufforderung des Herzogs, eine Wildschweinsjagd in der Gegend von Eisenach mitzumachen, folgend, ritt er mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen, mit der munteren Jagdgesellschaft davon und machte eine Harzreise im December, die manche Beschwerde brachte, ihn aber mit neuem Muthe, neuer Freudigkeit erfüllte.
Jeden Tag schrieb er der Freundin; in einem der Briefe klagte er über Heimweh nach ihr und fügte hinzu: „Ich habe Dir viel erzählt unterwegs; o, ich bin ein gesprächiger Mensch, wenn ich allein bin!“
Als er endlich zurück kam, trug er seine Gedichte und Bemerkungen, die er auf der Reise gesammelt, unverzüglich zur Freundin. Sie empfing ihn wie immer herzlich und mit der liebliche Klarheit ihres Wesens, die ihn so sehr entzückte. Alles brieflich Angedeutete malte er ihr aus, und sie ging mit warmer Theilnahme auf seine Gedanken und Erfahrungen ein.
Der Winter verging unter den hergebrachten Freuden und Festlichkeiten.
Seckendorf’s Hochzeit mit Auguste wurde bei herannahendem Frühjahre in so geräuschvoller Aeußerlichkeit gefeiert, daß der Oberst von Laßberg im Nachbarhause auf’s Neue in die allergrimmigste Stimmung gerieth.
Goethe hatte indessen nicht der blonden Försterstochter vergessen, er wollte sie durch schnelle Verheirathung mit ihrem Geliebten vor allen Zufälligkeiten schützen und sie dem Gesichtskreise des Freundes so weit als möglich entrücken.
Nach wiederholten Erinnerungen und Bitten, dem Feldscheergehülfen Bernstein eine feste Anstellung zu geben – denen der Herzog aber stets eigensinnige Ablehnung entgegengesetzt hatte, kamen die Umstände den Wünschen Goethe’s zu Hülfe.
Bei der Besichtigung eines neuen Schachtes in Ilmenau machte der Herzog einen Fehltritt, stürzte, wurde besinnungslos herausgetragen und von dem jungen Wundarzt durch sorgfältige Behandlung rasch wieder hergestellt; jetzt zauderte er nicht länger, des erprobten Helfers Wünsche zu erfüllen, und ernannte ihn mit angemessener Besoldung zum Landchirurgen.
Die Freude, der Dank des jungen Mannes waren grenzenlos.
„O, nun kann ich heirathen!“ rief er ein Mal über das andere. „Wie wird Gretchen froh sein; welch glückliche Menschen haben Eure Durchlaucht gemacht!“
„Das ist ein närrischer Kerl,“ sagte der Herzog, nicht ohne Theilnahme, „thut er doch, als ob Heirathen die größte Seligkeit wäre; curioser Geschmack!“
[742] Goethe lächelte still für sich. Er hegte die Hoffnung, bald wieder ganz offen zu dem Freunde reden zu können und ihn von einer Leidenschaft zu heilen, welche er als Haupthemmniß seines Eheglücks ansah.
Bernstein später zur Seite nehmend, trug er ihm Grüße für seine Braut auf und bat, daß man ihn davon in Kenntniß setze, wann der Hochzeitstag bestimmt sei.
„Sie werden sich hier in der Kirche von Ilmenau trauen lassen?“ fragte er.
„Zu dienen, Herr Legationsrath, die Förstereien auf dem Walde sind hier eingepfarrt.“
„Nun denn, auf Wiedersehn an Ihrem Freudentage!“
Goethe kehrte mit dem Herzoge nach Weimar zurück. Dieser erwähnte, da es nun die Zeit der vorjährigen Abenteuer war, wieder mehrfach „seiner Venus“ und redete sich sogar nochmals in Zorn gegen den Freund, der sie ihm neidisch vorenthalte, – der es nicht gut mit ihm meine, – nicht zu ihm stehe – der es liebe, Geheimnißkrämerei zu treiben.
Goethe ließ alle diese Vorwürfe über sich ergehen, endlich sagte er:
„Ich hoffe, mein lieber gnädiger Herr, daß Sie die Ersehnte binnen wenigen Wochen wiedersehen werden, und bin überzeugt, daß ich nicht vergebens auf Ihr großes Herz zähle, welches dann, wenn alle Verhältnisse am Tage liegen, mir gewiß Recht geben wird.“
Er brauchte nicht lange auf eine Einladung des Bräutigams zu warten. Bernstein schrieb ihm, seine Hochzeit sei auf den dritten Mai festgesetzt, die Trauung finde Mittags zwölf Uhr in der Kirche von Ilmenau statt und er sei der glücklichste Mensch auf der Welt.
Mit diesem Briefe ging Goethe zum Herzog.
„Ich möchte zur Hochzeit reiten, mein Fürst,“ sagte er vergnügt. „Wenn Sie mit wollen, ist’s um so besser. Es giebt gewiß eine lustige Wirthschaft, unendliche Bratwürste und einen flotten Tanz mit frischen, hübschen Mädels, welchem ich nicht aus dem Wege gehe.“
Karl August erklärte sich sofort bereit, mit von der Partie zu sein; dergleichen Freuden reizten ihn, und in bester Laune sagte er:
„Da kriegt man die Schöne dieses verliebten Pflasterschmierers auch zu sehen; na, so gewaltig viel wird nicht daran sein!“
Goethe bezwang ein Lächeln und traf die näheren Verabredungen für den Ritt.
In heiterer Stimmung und unter herzlichem Geplauder legten die beiden Freunde am dritten Mai, nur begleitet von einem Reitknechte, den langen, aber in aller Frühlingsherrlichkeit prangenden Weg durch das schöne Thüringerland zurück und befanden sich bald nach elf Uhr angesichts ihres Reiseziels.
Als sie in das Städtchen einritten, läuteten die Kirchenglocken, und alsbald begab sich der Herzog mit Goethe nach dem Gotteshause.
Sie standen unter andern Zuschauern nahe der Kirchenthür, als auf dem mit Tannenzweigen bestreuten Wege unter Orgelklang der festliche Zug zu der hochgelegenen Kirche heraufkam.
Voran ging der Förster, recht stattlich und würdig, eine alte Verwandte des Bräutigams führend, dann folgten paarweise sechs frische Brautjungfern in ihrem besten ländlichen Putz, und jetzt endlich kam das Brautpaar.
Goethe beobachtete mit klopfendem Herzen den Freund; wie würde sein Wagniß ausfallen?
Sowie der Herzog Gretchen – schön und lieblich im Schmucke der Braut – erblickte, verfärbten sich seine Züge, er griff mit einem Laut der Ueberraschung nach des Freundes Arm, starrte das Mädchen mit weitgeöffneten Augen an und murmelte:
„Bei allen Göttern, sie ist es!“
Dann warf er einen zornflammenden Blick auf Goethe, stieß dessen Arm von sich und knirschte zwischen den Zähnen hervor:
„Wie konntest Du mir das thun?“ wandte ihm den Rücken und schritt erzürnt davon.
Goethe eilte ihm nach, sobald er es, ohne Aufsehen zu erregen, konnte, und holte ihn auf der andern, menschenleeren Seite der Kirche ein.
Mit dem tiefsten Ernste sagte er:
„Jetzt höre mich, Karl; ich habe mich Dir nie so nahe gestellt, wie Du fordertest, weil ich von Dir über mein Verdienst empfing. Heute bin ich Deiner Liebe werth, heute handle ich als treuer Freund, und Du grollst? Besinne Dich, sieh’ mein Thun im rechten Lichte, Karl! Laß Dein besseres Ich in Dir Herr werden! Ich bewahrte Dich und jenes schöne, schuldlose Mädchen vor einem Verhältnisse, das zu Eurem beiderseitigen Elende führen mußte. Sieh’ doch ein, daß ich als rechtschaffener Mann, als Dein wahrer Freund nicht anders konnte!“
„Dieser widerwärtige Bernstein, mir die Mittel zu seiner Heirath abzuschwindeln!“ rief der Herzog grimmig die Hand ballend, ohne Goethe anzusehen und offenbar in der Laune, nach einem Gegenstande zu suchen, an welchem er seinen Zorn auslassen könne.
Es rührte Goethe, daß bei aller Ergriffenheit die Liebe des Freundes für ihn so groß war, daß er sich sofort instinctiv nach eitlem andern Objecte als Ableiter seines Ingrimms umsah.
„Du irrst Dich, Freund,“ erwiderte er herzlich, „dieser Chirurg hat Dir wesentliche Dienste geleistet; er war lange mit ihr verlobt; ja sie ging nur auf die bewußte Komödie ein, weil man sie glauben machte, daß sie Dich damit bestimmen könne, ihren Verlobten anzustellen.“
„Also sprachst Du mit ihr über den Hörselberg?“
„Ja, sie hat mir die ganze Geschichte unter Thränen der Beschämung gebeichtet, weil sie aus meinen Fragen entnehmen konnte, daß sie sich auf eine ziemlich thörichte Angelegenheit eingelassen habe. Ich sagte Dir schon, daß der Graf sie seinen Zwecken dienstbar machte unter dem Vorwande, Deine Gunst für ihren Verlobten zu gewinnen. Er hatte sie auf einem Jahrmarkte in Ilmenau kennen gelernt und ihr sein Unternehmen als ein harmloses Festspiel vorgestellt. Von Ruhla, wo sie bei Verwandten war, holte er sie selbst im Wagen am zweiten Mai gegen Abend ab. Er theilte ihr mit, daß sie nach Eisenach fahren würden; sie glaubte ihm, denn sie war zum ersten Male in der Gegend; aus Einzelnheiten entnehme ich aber, daß sie keine nördliche, sondern eine südliche Richtung einschlugen, was ja zu Deinem kurzen Ritt passen würde. Er brachte sie für die Nacht in ein bescheidenes Gasthaus und empfahl ihr, sich zurückgezogen zu halten. Sie gehorchte gern, da sie fürchtete, Bekannten zu begegnen. Am dritten war er Morgens ein paar Stunden bei ihr, sie für ihre Rolle einzuüben. Gegen Abend kam er wieder und brachte ihr einen großen Mantel mit Kapuze, den er über ihr helles Costüm legte; sie gingen dann durch einen Waldweg zur halben Höhe eines Berges und stiegen auf einer Leiter in einen Schacht oder ein Loch hinunter. Saint Germain hatte eine Laterne zur Hand und führte sie über einen Steg in die Nische, wo sie das goldene Ruhebett und andere Vorkehrungen fand. Dann leistete ihr Pierre, der Kammerdiener des Grafen, der schon mit ihnen gefahren war, längere Zeit Gesellschaft, er redete ihr ermuthigend zu und zündete hier und da Fackeln an; was sich weiter begab, weißt Du. Nach Dir verließ Gretchen mit Pierre die Höhle und wurde am andern Morgen in aller Frühe nach Ruhla zurückgefahren.“
„Das süße Geschöpf wirklich lebend, und nun doch verloren!“ murmelte Karl August. „Gieb mir zu, daß Ihr, Du und das Geschick, mir grausam mitgespielt.“
„Armer Freund! Es kann sein, daß der Mensch zu Zeiten durch das Schicksal gräßlich gedroschen wird; aber wenn es reiche Garben trifft, so zerknittert es nur das Stroh, und die Körner springen lustig heraus!“
„Weisheitskrämer,“ sagte der Herzog bitter und spöttisch.
In diesem Augenblicke stimmte die Orgel in der Kirche, nachdem sie – während der Trauungsceremonie – geschwiegen, die feierliche Melodie zu dem Liede an:
„Nun danket alle Gott!“ welches die Versammlung drinnen mitsang.
„Wäre es nicht recht, uns da zu betheiligen?“ sprach Goethe innig, mit einem Wink nach der Kirche.
Der Herzog lauschte; die zornige Spannung in seinen Zügen ließ nach, er umschlang plötzlich mit beiden Armen den Freund, drückte ihn fest an seine Brust und rief:
„O Du redlicher Warner, Du getreuer Eckart!“
„Gut mein ich’s gewiß, und besser ist’s mir zu folgen, als jenem Mephisto Saint Germain! Nun aber kommen Sie, Gretchen wird sich hochgeehrt fühlen, mit Eurer Durchlaucht an ihrem Ehrentage den Reigen zu eröffnen. Ich hoffe, wir können uns jetzt mit gutem Gewissen unter die Glücklichen mischen?“
[743] „Das können, das wollen wir; komm, laß uns fröhlich sein!“
Goethe erkannte mit lebhafter Freude, daß er und das bessere Selbst des Herzogs den Sieg errungen hatten.
Arm in Arm gingen sie nach dem Schießhause, wo der Hochzeitstanz stattfinden sollte.
Die vorwiegende Stimmung des jungen Fürsten war jetzt Neugier, wie ihm sein Ideal in der Nähe gefallen werde. Er brannte darauf, mit Gretchen zu verkehren, zu sprechen, zu tanzen.
Die Ankunft der vornehmen Gäste beglückte die Hochzeitsgesellschaft, und der Bräutigam beeilte sich, die Braut, oder vielmehr junge Frau, dem Herzoge zum Ehrentanz vorzuführen.
Endlich war also der Augenblick gekommen, nach welchem er sich ein Jahr lang so heiß gesehnt hatte!
Aber entsprach sie dem von seiner Phantasie mit allem Seelenreiz ausgeschmückten Bilde? Sie war sehr schön, aber scheu, respectvoll und leblos bei seiner Annäherung. Es schien ihm, als habe Saint Germain ebenso gut eine hübsche Puppe als Spielzeug darbieten können, wie dieses Wesen, in dem auch gar nichts von jener Gluth und Innigkeit zu liegen schien, welche damals ihre Pantomimen athmeten.
„Alles Dressur des Tausendkünstlers damals!“ dachte er, wagte aber aus Verdruß und Beschämung nicht auf das gemeinschaftliche Abenteuer zurückzukommen. Die junge Frau schien zu fürchten, daß er sie darauf anrede, denn sie wechselte jedesmal die Farbe, wenn er zu ihr sprach, und war sichtlich froh, als er sie ihrem Gatten wieder zuführte, in dessen Nähe sie sich dann ganz herzlich und anmuthig gab.
Der Herzog war eher ermüdet als sonst und raunte dem Freunde zu: die wüste Wirthschaft langweile ihn, er gehe, worauf Goethe sich ihm anschloß.
Mit der natürlichen Offenheit seines Wesens, die der Herzog dem älteren Freunde gegenüber stets an den Tag legte, gab er ihm auch jetzt zu, wie recht der Freund, der getreue Eckart gethan habe, ihn von der Verfolgung dieser Laune abzuhalten.
„Wenn ich Gretchen allein in ihrem Walde getroffen hätte, das Herz voll von Sehnsucht nach ihr, wer weiß, ob ich dann nicht doch leidenschaftlich entflammt wäre, aber besser, viel besser ist es so!“
„Ganz gewiß, mein theurer gnädiger Herr!“ rief Goethe warm. „Ihr edles Herz, durch Wagemuth, Abenteuerlust und Ihre hohe Stellung manchmal irre geführt, findet sich stets wieder auf den rechten Weg zurück, mag’s auch zuvor manchen Kampf mit zauberischen Schattenspiegelungen gegeben haben!“
Das französische und deutsche Kunstgewerbe.
Unsere gallischen Nachbarn haben bekanntlich die ausgesprochene Neigung, die Schuld an irgend welchem sie betreffenden Mißgeschick überall anders wo zu suchen, nur nicht bei sich selbst. Sie sind, um mit einem ihrer eigenen Sprichwörter zu reden, stets bereit: de chercher midi à quatorze heures, – das heißt Mittag um vierzehn Uhr zu suchen, nur um dem beschämenden Geständnisse aus dem Wege zu gehen, daß sie in Dem oder Jenem einen Fehler begangen hätten oder im Wettkampfe des Völkerlebens unterlegen seien. –
Es ist jener Grundzug maßloser Eitelkeit, der tief im Charakter des französischen Volkes liegt, und dessen Aeußerungen besonders dann in auffallender Weise zu Tage treten, wenn es sich um den Waffenruhm, um die gloire militaire, handelt. So war es bei den Niederlagen, die der erste Napoleon erlitt, und so war es im letzten großen Kriege, wo nach französischer Ansicht nur die zehnfache deutsche Uebermacht, oder, da diese Behauptung trotz aller Lügen in vielen Fällen schlechterdings nicht durchführbar schien, der Verrath französischer Generale den deutschen Waffen zum Siege verholfen haben sollte!
Auf einem öffentlichen Platze in Paris, dem „Square Montholon“ erhebt sich eine Bronzestatue, die eine gepanzerte Sieges- oder Kriegesgöttin darstellt, wie sie, mit stolzer Wendung des schönen Hauptes, einen sterbenden Mobilgardisten mit zerbrochenem Säbel auf den Armen, im Begriffe steht in höhere Regionen zu entschweben. Auf dem Sockel aber steht in goldenen Lettern: – Gloria Victis! – „Den Besiegten bleibt der Ruhm“, ein Nachruf, wie er etwa auf die dreihundert bei den Thermopylen gefallenen Helden passen würde.
Es ist ein zierliches, sorgfältig durchgearbeitetes Werk und für den Künstler Manches daran zu lernen, – einstweilen aber freuen wir uns, daß wir nicht nöthig hatten zu Sophistereien zu greifen, als es sich um die Errichtung unserer eigenen Siegesdenkmale handelte.
Hatte die Plastik, im Ganzen doch eine ernstere, weniger leicht bewegliche Kunst, solche Blüthen getrieben, so durfte die französische Malerei sicherlich nicht zurück bleiben; und wirklich hat der Schlachten-Maler Détaille, ein sonst ganz tüchtiger Künstler, eine Darstellung des blutigen Kampfes um St. Privat geliefert, die das Mögliche leistet an gasconischer Aufschneiderei und Verlogenheit.[1]
Man weiß, und die Geschichte hat es mit unvergänglichen Zügen in ihr Buch geschrieben, mit welchem Heldenmuthe und begeisterter Todesverachtung an jenem denkwürdigen 18. August die preußische Garde den mehrfach überlegenen, von Mauern und anderen Schutzwehren trefflich gedeckten Feind wieder und wieder in der Front und so zu sagen mit offener Brust, angriff, um endlich, nach entsetzlichem Ringen und mit einem Verluste von 8000 Mann an Todten und Verwundeten Herr der Situation zu werden.
Schen wir nun zu, wie der Franzose diese Begebenheit dargestellt hat:
Im Vordergrunde des großen Bildes sieht man den mit Mauern umgebenen Kirchhof des kleinen Ortes, dessen Eingangsthor soeben von einer Gruppe deutscher Soldaten gesprengt wurde, während von der Rückseite, etwa durch eine andere, nicht sichtbare Pforte, ein zweiter „Gewalthaufen“ eindringt.
Von eigentlichen französischen Kämpfern erblickt man nicht viel (ein letzter bricht eben im Feuer zusammen), an der Mauer der Kirche aber lehnen sechs schwer verwundete Helden, Trotz und stolze Verachtung im Blick und den Arm in der blutigen Schlinge – Dumas’sche d’Artagnan’s vom Scheitel bis zur Zehe – bereit, den Todesstoß von Seiten der einbrechenden Barbaren zu empfangen. Als ob dies jedoch der Prahlhanserei noch nicht genug wäre, so erblickt man über die zerschossenen Mauern des kleinen Kirchhofs hinweg das nach Myriaden zählende Heer der Deutschen, mit Kanonen und anderen Mordwaffen, wie sie die Straßen des kleinen Ortes bis zum letzten Winkel füllen, die Häuser erbrechen und mit gestohlenem Gut abziehen, während fernhin Rauch und lodernde Flammen den Weg bezeichen, den die Mordbande genommen! – – –
Dieses Bild, eines der niederträchtigsten, die der französische Pinsel je geschaffen, hat seinen Weg durch Deutschland gemacht und ist, gewiß ein Beweis unserer Gutmüthigkeit, unversehrt durchgekommen!
In Frankreich würde ein deutsches Bild ähnlicher Art in der ersten Viertelstunde seiner Ausstellung in einem öffentlichen Locale in tausend Fetzen zerrissen worden sein und irgend einen pflichtgetreuen Gensdarmen, der es sich hätte einfallen lassen, dagegen einzuschreiten, hätte dasselbe Schicksal ereilt.
Ganz in derselben Weise nun, wie sich die Franzosen dagegen sträuben, ihre Niederlagen auf dem Schlachtfelde als ächte und rechte anzuerkennen, wehren sie sich in einer für den Fachmann und Kenner oft geradezu komischen Art, den Grund ihrer neuesten wirthschaftlichen Verlegenheiten, die jetzt erst beginnen, und die sich noch ganz anders entwickeln werden, darin zu finden, wo er in Wahrheit liegt: in dem Wachsthum und der glänzenden Entfaltung der deutschen Industrie und speciell des deutschen Kunstgewerbes, das dem französischen heute nicht nur gleichkommt, sondern es auf verschiedenen Gebieten schon bedeutend überholt hat, mit anderen Worten also: in einer Niederlage beim friedlichen Wettstreite der Völker, im Reiche der Industrie und des Handels.
[744] Die Franzosen waren seit mehr denn zwei Jahrhunderten derart gewohnt, auf dem Gebiete der Mode, d. h. der Tracht, sowie der inneren Ausstattung unserer Wohnräume, bei Möbeln, Stoffen, Bronzen, Gläsern, Majoliken, Stickereien und all den Tausend kleinen Gegenständen, die damit zusammenhängen, kurz in allem was den sogenannten guten Geschmack anbelangt (der jedoch auch in Frankreich vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Mitte des unsrigen ein durchaus verdorbener war), den Ton anzugeben, sodaß sie es schlechterdings nicht begreifen können, wie ein anderes Volk, und nun gar noch das deutsche, es sich einfallen lassen kann, auf diesem Felde (der eigentlich französischen Domäne, wie sie meinen) mitreden und mitthun zu wollen!
Ich sprach vor einiger Zeit mit einem patriotischen Engländer über dieses Thema und hatte die Genugthuung zu sehen, wie derselbe, der Frankreich und die Franzosen kennt, aus dem Benehmen der Letzteren etwas herausgefühlt hatte, was ihn mächtig erzürnte.
Die Franzosen, sagte er, haben die Unverschämtheit, darüber erstaunt zu sein, wenn in England in neuester Zeit das oder jenes geschmackvolle Stück Möbel, Majolika etc., erzeugt wird; ja wirklich erstaunt sind sie, aufrichtig erstaunt, oder thun wenigstens so! Was meinen Sie dazu? – Lassen wir sie staunen, antwortete ich, und arbeiten unverdrossen weiter; – der Rest wird sich finden! –
Dieser Rest nun hat sich, wenigstens in sehr erfreulichen Anfängen, heute schon gefunden; er besteht darin, daß wir die französische Industrie auf zahlreichen und hochwichtigen Gebieten mehr und mehr vom Markte verdrängen und ihr jetzt schon in der eigenen Hauptstadt, in der „Weltleuchte“ Paris, um mit Victor Hugo zu reden, eine sehr ansehnliche Concurrenz machen.
Der Handel hat bekanntlich keine Nationalität und trotz aller patriotischen Phrasen kauft selbst der französische Négociant, wenn auch heute nur ganz im Stillen, die Waare da, wo er sie am Besten und zugleich billigsten findet, mag das nun in England, in Deutschland oder anderswo sein; der ausländische Zwischenhändler aber kommt ohne Weiteres direkt zu uns, um sich in unseren Fabriken nach Kräften zu versorgen. Das hat nun nicht nur für den französischen Handel, sondern auch für die dortige Industrie und damit auch für die socialen Verhältnisse seine gewichtigen Folgen.
Früher, als Frankreich gerade in den lohnendsten und bedeutendsten Industriezweigen eine Art von Weltmonopol besaß, konnte der Fabrikherr bei dem immer wiederkehrenden Drängen der Arbeiter nach Erhöhung ihres Lohnes stets noch nachgeben, wenn er es auch, so er ein verständiger Mann war, nur mit Widerstreben that; heutzutage aber hat das aufgehört, da jetzt schon trotz Zöllen und Frachtkosten das deutsche Fabrikat in vielen Fällen mit dem französischen, selbst auf französischem Boden, in Concurrenz treten kann; und zwar bezieht sich dies nicht nur auf jene form- und kunstlosen Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die in unsern übervölkerten Landstrichen, wie z. B. in Sachsen, längst schon zu den denkbar wohlfeilsten Preisen hergestellt wurden, sondern es handelt sich dabei um jene Producte, welche durch die Kunst veredelt sind und stets einen verhältnißmäßig hohen Werth besitzen. Daß diese Hebung unseres Kunstgewerbes das Ergebniß langjähriger Anstrengungen sei, bei denen Regierungen, Körperschaften, Gemeinden und Private in gleicher Opferwilligkeit wetteifern, wobei Schulen und Museen gegründet und neben gewaltigen Fabrikanlagen auch die verglimmenden Reste eines volksthümlichen Klein-Gewerbes, als sogenannte Hausindustrie (die segensreichste von allen), da und dort wieder neu belebt, gehoben und unterstützt und die vorhandenen Kräfte bestens ausgenützt wurden, ist den Franzosen selbstverständlich bis vor kurzem ebenso unbekannt geblieben, wie die schneidige Trefflichkeit unserer Heere und die Genialität von deren Führern es war, ehe die große Stunde ernster Probe und blutiger Entscheidung geschlagen hatte; sie können es daher nicht fassen und waren und sind erstaunt!
Aber wie sie damals Verrath witterten, wo Unfähigkeit und sorgloser Uebermuth mehr denn genügend waren, ihre Niederlage zu erklären, so suchen sie auch heute auf industriellem Gebiete nach allen möglichen Ausflüchten und Entschuldigungen, von denen eine abgeschmackter ist wie die andere: – die Deutschen stehlen ihnen ihre „Modelle“; der Frankfurter Vertrag mit seinen Handels- und Zoll-Clauseln ist vom bösen Reichskanzler ganz besonders ausgeklügelt worden, um die Franzosen finanziell zu Grunde zu richten (während sich in Wahrheit die Sache so verhält, daß, wenn jene Clauseln nicht wären, wir ihnen noch ganz anders auf den Nacken steigen würden), und schließlich läuft Alles, um der Narrheit die Krone aufzusetzen, darauf hinaus, daß man nicht nur gegen die deutschen und italienischen Arbeiter hetzt, sondern daß man überhaupt jedem Fremden den Aufenthalt in der „Weltleuchte“ möglichst verleidet, was unter den obwaltenden Umständen um so mehr an Schild- oder Lalenburg erinnern muß, als sich die ganze Sache für die Pariser ja um möglichste Wiedergewinnung des verlorenen Absatzes und um Verminderung der allzuhohen Arbeitslöhne dreht. –
Die richtige Würdigung der Vorgänge, die zur schließlichen Wiederbelebung und neuen Blüthe unseres Kunstgewerbes geführt haben, würde für die Franzosen ebenso belehrend sein, wie das Studium unserer militärischen Einrichtungen es für sie war, und es könnte bei der unleugbar hohen künstlerischen Begabung jenes Volkes am Ende doch ein Zustand erreicht werden, bei dem sich die gegenseitigen Leistungen der beiden Nationen das Gleichgewicht hielten oder wenigstens ergänzten. Von alledem ist aber bis jetzt gar nicht die Rede, sondern ein wüstes Chaos von Klagen, Beschuldigungen und tollen Vorschlägen erfüllt dort die Luft.
Besonders ergötzlich und dem oben gegeißelten „Erstaunen“ an die Seite zu setzen ist darunter ein Antrag gewisser Pariser Syndicate oder Comités: Es möchten die diplomatischen Vertreter Frankreichs heraus zu bekommen suchen, worin denn eigentlich dieser neue und unerhörte deutsche Geschmack bestehe, damit man sich darnach richten könne.
In den Augen der genannten Syndicate ist ja die ganze großartige Hebung unserer Industrie nichts weiter als eine vorübergehende Modesache, etwa so, wie Pariser Geschäfte uns heute einfarbige und morgen carrirte Stoffe, heute die Crinoline und morgen das glatt anliegende Gewand zusenden.
Daß die Bewegung aber eine ganz andere Tragweite habe, daß sie nicht mehr und nicht weniger bedeute, als eine Wiedergeburt des Kunstgewerbes, wobei den deutschen Stämmen, also auch Deutsch-Oesterreich, und in gewisser Beziehung auch England, eine ganz hervorragende Rolle zufalle, und daß Frankreich auch auf diesem Gebiete die Führung thatsächlich schon verloren habe, das scheint den französischen Staatsmännern, Fabrikanten und Künstlern noch nicht zum klaren Bewußtsein kommen zu wollen.
Man hat in Deutschland selbst, wie das ja nicht anders sein konnte, über die Richtung, welche unser Kunstgewerbe einhalten sollte, viel theoretisirt und debattirt, und im Norden, wo die Gothik immer noch einen gewissen Halt hat, mag dies an manchen Orten heute noch fortdauern; angesichts des gewaltigen allgemeinen Fortschrittes ist es jedoch von nebensächlicher Bedeutung, ob die modernen Schöpfungen in dem oder jenem Stile gehalten, ob sie getreue oder freie gelungene Nachbildungen alter Meisterwerke seien, wenn sie überhaupt nur edel und stilgerecht sind, „Schnitt und Rasse“ zeigen.
Der Kern der Sache liegt ja darin, daß durchweg wieder ein Verständniß für künstlerische Durchbildung auch des alltäglichsten Geräthes sich fühlbar macht. Diese Freude an schöner, edler Form ist nun, wie gesagt, glücklicher Weise heute wieder vorhanden und bethätigt sich unter Anderem auch darin, daß gute alte Arbeiten von Tausenden von Liebhabern eifrig gesucht und daß, wenn es sich um Hervorragendes handelt, Preise dafür gezahlt werden, die den Laien überraschen.
Es wurden übrigens in den letzten Jahren besonders auf dem Gebiete der getriebenen Metallwaaren, des feineren Bronzegusses, der Möbelfabrikation und der Kunststickerei an den Hauptcentren unserer modernen Kunstindustrie (München, Wien, Berlin, Stuttgart, Karlsruhe und Dresden) Prachtstücke erzeugt, die es in Bezug auf künstlerischen Werth und technische Vollendung mit den echten alten wohl aufnehmen können; doch sind es im Allgemeinen, von den Möbeln abgesehen, Ausnahmeleistungen, die auf besondere Bestellung als Geschenke, Festpreise etc. für Fürsten oder Corporationen angefertigt wurden.
Viel wichtiger ist es auf den Standpunkt zu kommen, daß unser eigentliches Hausgeräthe, mit den Möbeln angefangen, den Anforderungen des guten Geschmackes entspreche, was bei einfacher, wenn auch nicht gerade armseliger Ausführung und Ausstattung ebenso gut der Fall sein kann, wie bei reicher.
[745]
[746] Die Möbelindustrie war übriges die erste, die unter dem Einflusse tüchtiger Architekten den Reigen eröffnete. Die Bewegung hatte den erfreulichsten Fortgang, sodaß heute in Bezug auf Möbelfabrikation selbst kleine Landschreiner nichts mehr wissen wollen von jenen traurigen mit polirten Fournieren beklebten Möbelchen, die den Stolz unserer guten Mütter und Großmütter ausmachten.
Andere Industrien, besonders die textile, folgten nach mit Teppichen und Bezügen, in denen besonders die große Wiener Firma Haas und Söhne bahnbrechend wirkte, und so war, abgesehen von den kleineren Ausstattungsgegenständen, einem Manne von Geschmack schon vor mehr denn einem Jahrzehnte die Möglichkeit gegeben, in Deutschland selbst und ohne Zuhülfenahme des ausländischen Imports seine Wohnung in einer Weise auszustatten, daß er und Andere eine herzliche Freude daran haben konnten.
Heutzutage ist dies selbstverständlich in noch weit höherem Maße der Fall, und es muß sich angesichts dieser erfreulichen Entwickelung unseres Kunstgewerbes sowie des feindseligen und gehässigen Auftretens der Franzosen jedem vaterlandsliebenden Deutschen die Frage aufdrängen, ob es nicht an der Zeit sei, von dem Bezug und der Verwendung französischer Waaren grundsätzlich Abstand zu nehmen.
So lange unsere Industrie der französischen nicht ebenbürtig war, konnte man mit dem kosmopolitisch angelegten Zwischenhändler sagen: ich kaufe da, wo es mir am vortheilhaftesten scheint; da nun aber nachweislich deutsche Fabrikate in größerem Maßstabe nach Frankreich gehen, so muß es doch geradezu widersinnig erscheinen, wenn wir die an und für sich weniger preiswürdigen, außerdem noch durch Fracht und Zoll vertheuerten gleichen französischen bei uns aufsuchen und kaufen! Das Unglaublichste aber besteht darin, daß deutsche Waaren, die vielleicht bei uns einen directen Absatz in genügender Weise nicht finden, nach Frankreich wandern, um dann von dort als französische wieder zu uns zu kommen und mit fünfzig und mehr Procent Aufschlag verkauft zu werden! Und doch ist dem in Wahrheit so!
Crefelder Seidenstoffe gehen nach Paris und kommen von dort wieder als französische zu uns, und ein bekanntes Pariser Riesenmagazin, das seit Jahren Tausende und Abertausende seiner illustrirten Cataloge nach Deutschland verschickt (ohne Zweifel weil es sich rentirt), bezieht wenigstens einen Theil seiner Waaren, und keineswegs die geringsten und schlechtesten, aus Deutschland selbst!
Das hier Mitgetheilte beruht auf unbestreitbaren Thatsachen, die durch den Nachweis hochachtbarer deutscher Firmen erhärtet werden können, und wenn derartiges wie z. B. die Verschickung und der Verkauf von Crefelder Seidenstoffen in Deutschland auf dem Umwege über Paris auch nicht jeden Tag stattfinden dürfte, so genügt es doch wohl, daß eine solche Ungeheuerlichkeit ein einziges Mal vorgekommen, um einen patriotischen Mahnruf zu rechtfertigen.
Importiren wir chinesische und japanische Seidenzeuge, deren eigenartige Elasticität und unübertroffene Dauerhaftigkeit bis jetzt weder in Deutschland noch in Frankreich, Italien oder der Schweiz auch nur annähernd erreicht wird, nach Herzenslust, belassen wir den Franzosen aber ihre Lyoner Waare und beziehen wir vor Allem nicht unsere vorzügliche Crefelder über Paris!
Wir sind, um es nochmals kurz zu sagen, nach langjährigen Bemühungen, nach eifrigen Studien und großen Opfern endlich dahin gelangt, unser nationales Kunstgewerbe wieder aufzubauen, allerdings nicht auf jener gesundesten aller Grundlagen, wo, wie es im Mittelalter der Fall war, der entwerfende Künstler und der ausführende Handwerker meistens in ein und derselben Person vereinigt waren — der Großbetrieb und die damit zusammenhängende Theilung der Arbeit gestatten dies heute nicht mehr — sondern in einer dem Zeitgeiste entsprechenden Weise, und es darf uns ein solcher Erfolg um so mehr mit Stolz erfüllen, als wir nach außen einen mächtigen siegesgewohnten Gegner und nach innen des Oefteren einen gewissen althergebrachten Schlendrian, Ungeschmack und selbst Uebelwollen zu besiege hatten.
Der Export unserer Erzeugnisse nach jenen Ländern, die
bisher ihren Bedarf ausschließlich in Frankreich deckten, nimmt
täglich größere Ausbreitung an (z. B. nach Spanien), wobei es sich
unter Anderem auch zeigt, zu welch übertrieben hohen Preisen die
französischen Producte früher dort abgesetzt wurden, und wenn
unsere Nachbarn diesen Ausfall schmerzlich empfinden und unsere
Concurrenz nun selbst im eigenen Hause in unliebsamer Weise
zu verspüren beginnen, so mögen sie bedenken, daß Deutschland
ihnen lange, ja wahrlich allzu lange, auf diesem Gebiete
tributpflichtig gewesen und daß wir diese Schmach und die damit
verbundenen schweren wirthschaftlichen Nachtheile geduldig, das heißt
wenigstens ohne zu „hetzen“, getragen haben. Das Leben der
Völker wogt auf und wogt ab, und schließlich kommt jedes einmal
an die Reihe, obenauf zu sein. F. Keller-Leuzinger.
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Es giebt interessante Tintenflecke, an die sich geschichtliche Erinnerungen knüpfen und die eine gewisse Popularität erlangt haben. Zu diesen gehört der Tintenfleck an der Wand des Luther-Zimmers auf der Wartburg, der trotz der Rolle, die der Teufel bei dessen Entstehung gespielt haben soll, recht unschuldiger Natur ist. Harmlos, wenn auch für den Urheber oft mit unangenehmen Folgen verknüpft, sind auch die Kleckse auf den Schreibheften unserer lieben Schuljugend, gegen welche jeder „Schriftgelehrte“ mehr oder weniger anzukämpfen hatte.
Es giebt aber auch verhängnißvolle Tintenflecke, die plötzlich in Testamenten, Rechnungsbüchern etc. auftauchen und wichtige Worte oder Zahlen den Menschenaugen entrücken, Tintenflecke, über welche manchmal die Gerichte entscheiden müssen. Ein solcher Fleck fand sich auch vor Kurzem in den Büchern eines französischen Postbureaus und verdeckte eine Zahl, die über den Verbleib einer Summe von 50,000 Franken Auskunft geben mußte. Die eingeleitete Untersuchung ergab, daß in dem Raume, in welchem das betreffende Buch geführt wurde, drei Beamte arbeiteten und jeder von ihnen mit einer andern Tinte zu schreiben pflegte. Das Gericht stellte in Folge dessen an den Sachverständigen folgende Fragen:
„Ist der Tintenfleck durch Zufall entstanden oder mit Absicht gemacht worden?“
„Welche von den drei Tinten diente zur Herstellung des Fleckes?“
„Mit welcher von den drei Tinten sind die von dem Fleck verdeckten Zahlen geschrieben worden?“
„Mit welcher wurde die etwaige Fälschung der verdeckten Zahl vorgenommen?“
Das war in der That viel verlangt, und man muß den Scharfsinn des sachverständigen Chemikers E. Ferrand bewundern, der dem Gerichte die gewünschte Auskunft auf diese Fragen zu geben wußte. Er selbst berichtete darüber ausführlich in der französischen Zeitschrtft „Sience et Nature“
Schon die äußere Form des betreffenden Tintenfleckes erregte den Verdacht, daß er absichtlich gemacht wurde. Dieser Verdacht wurde durch den Umstand bestätigt, daß man in der Mitte des Fleckes, sobald man das Papier gegen helles Licht hielt, zwei dicht an einander liegende kleine Löcher fand, die nur durch die festaufgedrückte Spitze einer Stahlfeder entstanden sein konnten, da auch zwei bis drei darunter liegende Blätter ähnliche kleine geschwärzte Löcher zeigten. Diese Anhaltepunkte genügten, um die erste Frage zu beantworten. Die chemische Untersuchung der drei Tintensorten bot nun die Möglichkeit, durch chemische Mittel die Farben der Tinten zu verändern, sodaß bei Anwendung des einen oder des andern der Fleck selbst heller und die darunter befindliche Zahl dunkler erscheinen würde. Bei näherer Prüfung stellte sich jedoch heraus, daß in einem Falle, wo zwei von den erwähnten Tinten in Betracht kamen, der ganze Fleck sammt der darunter liegenden Zahl durch das Benetzen mit der aufklärenden Lösung zerstört werden könnte, was den Sachverständigen veranlaßte, von der Anwendung dieser Methode abzusehen.
Endlich kam er auf den Gedanken, zu der schwarzen Kunst des Photographen seine Zuflucht zu nehmen.
Die aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzten Tinten konnten ja
auf die Platte des Photographen verschiedenartig einwirken und bald als
hellere, bald als dunklere Bilder auf derselben
erscheinen. Diese Annahme war richtig, was das
bloße Auge nicht erkennen konnte, das vermochte
die Photographie zu sichten! Die Tinte, aus
welcher der Fleck in dem Postbuch bestand,
erschien in der photographischen Aufnahme als zarter
grauer Ton auf dem deutlich eine Zahl zu sehen
war, die Nummer des betreffenden registrirten
Pakets, die ursprünglich 1200 lautete und durch
den Fälscher in 1203 umgewandelt wurde.
Dadurch wurde auch die Natur der verschiedenen
Tinten bestimmt und auf die Fragen der Richter
die beste Antwort ertheilt. Ohne auf weitere
Einzelheiten dieses Verfahrens, die nur den Fachmann
interessiren, einzugehen, verweisen wir unsere Leser
auf die nebenstehenden kleinen Abbildungen, von
welchen die mit a und b bezeichneten derartige photographirte Tintenflecke
mit den durch die Photographie sichtbar gewordenen Zahlen darstellen.
Fignr c zeigt uns den Fleck b, wie er auf dem Papier dem Auge des Beschauers
erscheint. So wurde in dem oben erzählten interessanten Falle durch das
Licht der Sonne der Fälscher entlarvt und das alte Sprüchwort bethätigt:
„Die Sonne bringt es an den Tag.“ J.
[747]
Zur Erinnerung an die Säcularfeier von Schiller’s Geburt.
Die Feierlichkeiten, die man am 10. November in Weimar zu Ehren der deutschen Schiller-Stiftung begeht, rufen die Erinnerungen an die großartige Säcularfeier von Schiller’s Geburtstag wach, welche vor 25 Jahren nicht Deutschland allein, sondern die ganze Welt mit brausender Begeisterung erfüllte. Ueberall wo Deutsche auf dem Erdkreise wohnten, wurde der Tag gefeiert, und die Nationen, deren Gastrecht sie genossen, schlossen sich ihnen an in dem Gefühle der Verehrung, Liebe und Bewunderung für den unsterblichen Dichter. Das Genie leuchtet wie die Sonne der ganzen Menschheit.
Auch Lausanne am Genfersee feierte den hundertsten Geburtstag unseres Schiller, und selbstverständlich war das Jubelfest von den dort lebenden Deutschen in’s Werk gesetzt worden. Ich gedenke dessen besonders, weil es durch einige Umstände charakterisirt wurde, denen ein gewisses literatur- und kulturhistorisches Interesse nicht abzusprechen ist. Zudem dürfte in der deutschen Presse von dem Feste in der Hauptstadt des Waadtlandes damals kaum die Rede gewesen sein, ruhte doch auf dem zerstückelten Deutschland noch von 1848 her der schwere Druck der einheitlichen Reaction, und in der Schweiz vergaß man vor allen Dingen nicht und am wenigsten vergaßen es die politischen Flüchtlinge aller Nationen, die an den weinreichen Ufern des Lemansees ein Asyl gefunden hatten, daß Schiller der Dichter des Tell war. Selbst deutsche Flüchtlinge aus dem Jahre 1831 lebten damals noch in Lausanne.
Schiller’s „heißester Wunsch seines Lebens“, wie die Tochter des Dichters Sehnsucht nach den Alpen gegen den Schreiber dieser Zeilen bezeichnete, war bekanntlich nie erfüllt worden. Er war gestorben, ohne die Schweiz je mit leiblichen Augen geschaut zu haben. Charlotte von Lengefeld aber hatte, bevor sie seine Gattin wurde, eine glückliche Zeit an den herrlichen Gestaden des Genfersees verlebt. Sie war, um sich in der französischen Sprache, der Hofsprache jener Zeit, zu vervollkommnen, die Kostgängerin einer waadtländischen Familie gewesen und hatte hier theure Freunde zurückgelassen, mit denen sie von Rudolstadt aus fleißigen Briefwechsel unterhielt. Diese Briefe befanden sich noch im Besitze der Familie, und Herr von Crousaz, ein Nachkomme derselben, stellte sie sowie eine Silhouette Charlottens dem Comité des Lausanner Schiller-Festes mit der größten Liebenswürdigkeit zur Verfügung.
Dieser bis zur Stunde in Deutschland unbekannt gebliebene Schattenriß, welchen die „Gartenlaube“ jetzt ihren Lesern zur Anschauung bringt, wurde am Festabend unter den Anwesenden vertheilt.
Es war somit eine innigere Beziehung des Waadtlandes zu dem Dichter für die Säcularfeier gegeben, als deren Schauplatz das reich mit Blumen- und Lorbeergewinden geschmückte Theater diente, das später in eine Capelle des orthodoxen Protestantismus, die sogenannte Eglise libre, umgewandelt wurde. Zum ersten Male ertönte von dieser Bühne die deutsche Sprache zu Parterre und Logen, die mit Waadtländern, Deutschen, Engländern, Franzosen, Italienern Kopf an Kopf gefüllt waren. Es war im wahren Sinne des Wortes ein kosmopolitisches Fest. Das deutsche Festgedicht war von Professor Neßler, einem Elsasser, verfaßt und drückte die deutschen Sympathien seiner Heimath aus, die deutsche Festrede hielt der Schreiber dieser Zeilen, ein Königsberger, und es ist nicht zu viel behauptet, daß unter den mitwirkenden Musikern, Sängern und Sängerinnen neben den verschiedenen Cantonen der Schweiz jeder deutsche Volksstamm vertreten war. Pascal Dupraz, der als politischer Flüchtling in Lausanne lebte, hielt die französische Festrede, in der er das Verdienst Schiller’s um die Ehrenrettung der Jungfrau von Orleans gegenüber den Schmähungen Voltaire’s hervorhob. , ein Waadtländer, der als Capitain in der französischen Flotte gedient und aus Haß gegen den dritten Napoleon seinen Abschied genommen hatte, sprach das von ihm selbst verfaßte französische Festgedicht. Er pries darin Schiller als den Sänger der ewigen Jugend, als das Genie der Freiheit und Humanität, des Zieles aller Nationen. Dem talentvollen Herrn von Cressonnière verdankt das Fest auch die kolossale Thonbüste Schiller’s, die er nach Dannecker’s kleinem Gypsabguß höchst gelungen angefertigt hatte. In Lausanne und Genf war eine auch nur lebensgroße Büste des Dichters nicht aufzutreiben gewesen.
Die Feier des 10. November 1859 zu Lausanne, sowohl die Festlichkeit im Theater, wie das daran sich schließende Bankett, galt nicht dem unsterblichen Dichter allein. Sie war ein Protest der durch Schiller errungenen und repräsentirten Geistesfreiheit gegen die politische Unfreiheit, welche noch die Völker gebunden hielt. Sie war ein Protest der im Geiste sich einig fühlenden Deutschen gegen die Zerrissenheit des Vaterlandes, die sie um so tiefer und schmerzlicher empfanden, als in Italien eben die nationale Einheitsbewegung siegreich zum Ziele schritt. Robert Schweichel.
Anmerkung der Redaction. Das große deutsche Schiller-Fest von 1859, dessen weihevolle allgemeine Feier in der Erinnerung aller, die daran theilgenommen haben, unverlöschlich bleiben wird, ist sicherlich eines Jubiläums werth, ja ein solches Erinnerungsfest an jenes erste ideale Einheitsgefühl aller Deutschen auf der ganzen Erde könnte heilsam wirken auf unsere Tage, in welchen so Viele vergessen haben, wie lange das schmerzlich ersehnt und wie schwer das zu erringen war, was wir heute in dem „deutschen Reich“ und dem „deutschen Kaiser“ besitzen. An jenes Fest denkt leider die große Masse der Nation ebenso wenig, als sie an dem Jubiläum Theil nimmt, welches in Weimar in diesem Jahre gefeiert wird: das des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Schiller-Stiftung.
Die Stiftung ist ihrer Natur nach auf ein stilles Wirken angewiesen. Ihre Aufgabe ist einfach die: „verdiente Dichter oder deren Angehörige in schweren Lebenslagen durch Ehrengaben zu unterstützen.“ Dieselbe Aufgabe hat sich in Dresden „Die Tiedge-Stiftung“ gestellt für die schaffenden Künstler (Maler, Musiker, Bildhauer etc.).
Die Schiller-Stiftung hat viele Thränen gestillt seit fünfundzwanzig Jahren, aber es sind in großer Ueberzahl die in Bedrängniß zurückgelassenen Wittwen und Waisen heimgegangener Dichter, denen die Ehrengaben zu Theil werden müssen, und es konnte dies leider nur geschehen auf Kosten der lebenden. Die Stiftung konnte schon seit Jahren den Hinterbliebenen und den Lebenden nicht gleicher Weise gerecht werden, weil ihr die Mittel dazu fehlten. Der Vorstand war vielfach bemüht, diesem schweren Uebel abzuhelfen, die Nation zur Aufraffung zu neuen, für den Einzelnen leichten Opfern zu bewegen, – bis jetzt ohne Erfolg. Auch das Schiller-Festjubiläum wird zu neuen Anregungen benutzt werden. Wenn wir hier im gegenwärtigen Augenblick diesen Versuchen nicht näher treten, so geschieht dies nur, weil die „Gartenlaube“ sich ein ausführliches Eingehen auf das Wesen und die Entwickelung der Stiftung für die nächste Zeit vorbehält.
Zum Schlusse mag hier noch der von Robert Schweichel im Jahre 1859 gedichtete „Epilog zur Schiller-Feier Deutschlands“ eine Stelle um so mehr finden, als er nicht nur die alte Wahrheit, daß Dichter Propheten sind, auf’s Neue erhärtet, sondern auch energisch die Verleumdung, daß die Liebe zur Freiheit unpatriotisch sei, Lügen straft:
Es steht ein Baum verdorrt auf grüner Haide,
In Trümmern von dem Berge blickt ein Schloß.
Die Welt ward alt und Deutschland ward’s im Leide,
Seit jenem Baum der letzte Frühling sproß;
Doch eine Sage geht: ein neues Blühen
Wird einst den Stamm mit frischer Kraft durchglühen.
Im Berge schläft mit träumerischer Miene
Der Kaiser Rothbart an dem Tisch von Stein,
Es schlummern um ihn seine Paladine,
Die schlachtenfrohen, Truchseß und Wardein,
Es schläft der Page knieend ihm zu Händen
Und flimmernd leuchtet’s von den erznen Wänden.
Und eine feierliche Stille waltet,
Der Schläfer Athem nur durchweht den Raum.
Mit weicher Schwinge, farbenreich gestaltet,
Umspielt ihr Haupt entschwundner Zeiten Traum,
Und hell und trüber in des Kaisers Haaren
Erglänzt der goldne Kronreif der Cäsaren.
Da, horch! beginnt die Wölbung leis’ zu tönen,
Als ob ein Schwert der Krieger Schilde traf,
Und lauter klingt es und die Felsen dröhnen:
Auffährt der Rothbart aus dem Zauberschlaf,
Er hebt das Haupt und lauscht, noch traumbefangen,
Er lauscht, und roth erglühen seine Wangen.
„So schlug denn endlich die ersehnte Stunde,
Und Deutschland hat der Zwietracht obgesiegt?
Hinaus, hinaus, mein Page, schau und kunde,
Ob noch die Rabenschaar den Berg umfliegt?“
Der Kaiser spricht’s, der Knabe geht in Eile
Und spähend steht er an des Felsens Steile.
Da grüßt ihn nah und fern in mächt’gen Chören
Der Dichterfeier heller Glockenton.
Indeß gen Himmel flammend rings die Föhren
Im Morgenroth auf allen Bergen loh’n.
Als ob ein Ostern brach des Grabes Hülle,
So festlich froh erbraust des Klanges Fülle.
Und durch die Seele schauert es dem Knaben;
Ein Geist der Liebe hat die Schuld gesühnt,
Von dannen, trägen Flugs, zieh’n die Raben
Und, sieh, der Baum, der dürre Baum, er grünt!
Aufrauschend sprüht aus dem verjüngten Stamme
Des neuen Lebens heiter schöne Flamme.
Da tritt gewappnet vor dem Ingesinde
Der Kaiser Rothbart aus dem Felsensaal,
Sein Banner flattert hoch im Morgenwinde
Und freudig blitzt sein helles Aug’ zu Thal,
Bis auf die Brust wallt ihm der Bart hernieder
Und gülden Erz deckt schimmernd seine Glieder.
„Zu mir, mein Volk!“ so ruft er durch die Gauen
Und schwingt empor das Schwert mit Heldenkraft,
„Nur auf dies Zeichen sollst du fürder bauen,
Die Zeit ist stählern, blutig, was sie schafft
Die Welt befreiend, hast du Rom zerschlagen:
Ein neues Rom seh’ ich im Westen ragen.
Nicht welscher Dünkel soll der Welt gebieten!
Heraus das Schwert! Ein Kleinod lichten Scheins,
Die Freiheit gilt’s, das Vaterland zu hüten,
Sein Hort, der liegt im Schooß des deutschen Rheins!“
Und ehern klirrt’s, wie Waffen, im Gefilde,
Die Recken aber heben hoch die Schilde.
Zum Fest der Eintracht ward die Dichterfeier,
Nicht Welf, nicht Waibling mehr! In Frieden sang
Der Brüder traurig langen Streit die Leyer,
Die einst gewaltig von dem Rütli klang.
Durch Eintracht wird die Freiheit nur errungen,
Und einig hat das Volk sich aufgeschwungen.
Nun mag es dräuen rings, nun mag es wettern,
Nun mag zum Kampfe denn der Franken Heer
Aufrasen bei der Kriegstrompete Schmettern:
Ein einig Volk steht gleich dem Fels im Meer!
Schon einmal brach’s der Franken Macht in Trümmer,
Ein einig Deutschland zwingt der Franke nimmer!
[748]
Blätter und Blüthen.
Kurze Rast. (Mit Illustration S. 741.) Heiß sendet die Herbstsonne noch im letzten Aufflackern der Sommersgluth ihre Strahlen auf den steilen Gebirgspfad, den der Bruder Almosenier emporklimmt, um zu den verstreut liegenden Hütten des Sprengels zu gelangen. Wohlgefüllt hängt der Schnappsack an der Seite, manchen schönen Bissen bergend, den ihm die freundlichen Bäuerinnen einverleibt. Jetzt endlich ist die Schenke erreicht; einen Trunk frischen Bieres bringt die hübsche junge Tochter des Wirthes, und mit herzlichem Gruße bietet sie ihm ihr „Wohl bekomm’s“. Da lacht dem wohlbeleibten geistlichen Herrn das Herz im Leibe, und zu dem Brod und Käse erkiest er sich ein saftig Stücklein Schinken, das in der Tiefe des Beutels schon lange seine geheimen Lockungen auf den Appetit des Wanderers ausgeübt. Welch behagliches Schmunzeln zieht über das breite gutmüthige Gesicht – jetzt hat er’s herausgefunden unter den mancherlei schönen Sachen, und gewiß ist’s, daß auch die liebliche Hebe einen anderen, süßen Bissen abbekommen wird aus dem Beutel als greifbaren Dank für die von ihr dargebotene Wegzehrung auf der kurzen Rast.
Frohe Heimkehr. (Mit Illustration S. 745.) Wenn unsere Leser nur einen flüchtigen Blick auf die Gestalt werfen, die wir ihnen in dem ebenbezeichneten Bilde vorführen, so könnten sie glauben, wir wollten ein Musterexemplar des Vagabundenthums zur Schau stellen. Wir freuen uns, ihnen die Versicherung geben zu können, daß sie ein Gegenstück davon, einen recht fleißigen Arbeiter vor sich haben, der mit dem Erfolge seiner Thätigkeit und Sparsamkeit wohlgemuth in die Heimath zurückkehrt.
Aufmerksame Leser der „Gartenlaube“ haben Seinesgleichen bereits bei den italienischen Arbeitern gesehen, die man in Oesterreich und auch in Deutschland gern zur Bewältigung schwerer Erdarbeiten beim Bau von Eisenbahnen und Canälen herbeizieht. Im Jahrg. 1866 (S. 13) sahen wir eine Gruppe italienischer Arbeiter an der Brennerbahn, und 1875 (S. 405) finden wir sie in der Nähe des Haller Sees im Salzburgischen, die wir dort in dem Augenblick „nach der Natur gezeichnet“, wo sie nach vollbrachter Tagesschicht ihre Polenta bereiten und verzehren.
Die große Mehrzahl dieser fleißigen Leute hat ihre Heimath in der venetianisch-lombardischen Ebene und in den Thälern, welche sich zwischen die südlichen Ausläufer der Alpen einschieben. Fast ohne Ausnahme zwingt sie zu ihren Wanderungen auf Arbeit die liebe Noth und der feste Entschluß, in der Fremde sich so viel zu erübrigen, daß sie später in der Heimath entweder ein Häuschen mit etwas Feld sich erschwingen oder einen kleinen Handel begründen können. Und dieses Ziel verfolgen sie mit ebenso viel Klugheit als Selbstbeherrschung, denn namentlich in der Beschränkung ihrer Bedürfnisse stehen sie wohl unübertroffen da. Bei ihrer einfachen Polenta und frischem Wasser sind sie so lebhaft und guter Dinge, als säßen sie beim üppigsten Schmaus.
Beachtenswerth ist auch ihre Anhänglichkeit an die Ihrigen, mit denen sie allenthalben im eifrigsten brieflichen Verkehr stehen. Das Ersparte wird regelmäßig in die Heimath geschickt. Wer aber noch allein steht, bewahrt die Eigenthümlichkeit, die Ersparnisse so oft als thunlich in Gold unzuwandeln und in die Kleidungsstücke einzunähen.
So hält ein Solcher seinen Schatz für am sichersten aufgehoben und weiß genau, wann er am Ziel seiner Wünsche angelangt ist. So ist’s gar nicht unmöglich, daß auch das armselige Gewand unseres Italieners seinen Goldschatz birgt; im Bündel trägt er seine Sonntagskleider und gewiß irgend ein Andenken aus der Fremde, das ihm einen freundlichen Empfang sichert.
Wildermuth’s Jugendgarten. Schon stellen sich die ersten Vorläufer der Weihnachtsliteratur auf dem Büchermarkte ein, und es hat den Anschein, als ob auch in diesem Jahre besonders die liebe Jugend wieder reichlich mit allerhand mehr oder weniger empfehlenswerthen Büchern bedacht werden sollte. Je mehr Derartiges aber erscheint, desto schwieriger wird für besorgte Eltern die Wahl. Ein Buch, welches wir mit gutem Gewissen jedem deutschen, mit Kindern gesegneten Hause empfehlen können, ist der „Wildermuth’sche Jugendgarten“, welchen die Töchter der unvergeßlichen Ottilie Wildermuth, Adelheid Wildermuth und Agnes Willms, treu im Geiste ihrer Mutter fortführen und von welchem sie soeben den neuesten Band in die Welt senden.
Der Inhalt besteht wieder aus trefflichen Erzählungen, Märchen, Sagen, belehrenden Aufsätzen aus dem Gebiete der Geschichte, der Natur- und Völkerkunde, Räthseln etc., welche theils von den Herausgeberinnen selbst, theils von zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen herrühren, deren Namen sämmtlich einen guten Klang auf dem Felde der Jugendschriftstellerei haben: A. Fromm, A. von Holzhausen, Henriette Kühne-Harkort, C. Michael, K. Neumann-Strela, Ernst Lausch, G. Plieninger, S. von Rüts, Richard Roth, W. Quaas, Emma Schöne, Luise Pichler, E. Tafel und viele Andere. Selbst ein Schauspiel für kleine Mimen von H. Binder fehlt nicht. Es ist bei der Auswahl Rücksicht darauf genommen, daß Knaben und Mädchen verschiedener Altersstufen im „Jugendgarten“ eine für sie geeignete Lectüre finden, sodaß sich sämmtliche Kinder des Hauses – mit Ausschluß natürlich der Kleinsten – an dem stattlichen Bande erfreuen können. Derselbe ist durch gelungene Holzschnitte, Ton- und Farbendruckbilder in reichster Anzahl geschmückt, und wir zweifeln sonach nicht, daß er auch in diesem Jahre wieder unter vielen Weihnachtsbäumen freudig begrüßt werden und daß die Einladung, welche die Herausgeberinnen in ihrer poetischen Vorrede an die „Jungen Leser“ richten, keine vergebliche sein wird:
„Tretet ein in unsern Garten,
Wohl geebnet ist der Pfad,
Farbenreiche Blumen warten
Dessen, der sich freundlich naht.
Alle wollen gern Euch dienen,
Sammelt draus, Ihr kleinen Bienen,
Frischen Thau und Honigseim
Und für spätre Frucht den Keim!“
Allerlei Kurzweil.
Auflösung des magischen Schlüssels in Nr. 43: Die einzelnen Bestandtheile des Schlüssel-Bartes geben das Wort: THULE.
Kleiner Briefkasten.
L. in Westfalen und K. K. F. Ueber solche Fragen kann nur der Arzt entscheiden, der den Kranken persönlich untersucht hat.
G. S. in E., M. J. in Hamburg, M. G. in Hb., J. v. A. in Graz und C. G. N.: Ungeeignet.
[Inhaltsverzeichnis der Nr. 45/1884, hierher z. Zt. nicht übernommen.]
In unserem Verlage sind jetzt erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Heimchen. Gedichte von Anton Ohorn. Elegant gebunden mit Goldschnitt Preis M. 4.–. |
Gedichte
von
Albert Traeger.
16. vermehrte Auflage.
Elegant gebunden mit Goldschnitt Preis M. 5.25. |
Wir hoffen, den Freunden der Poesie mit Ohorn’s Heimchen eine willkommene Gabe darzureichen, da der Dichter durch seine zahlreichen Veröffentlichungen in der „Gartenlaube“ längst in weiten Kreisen bekannt und beliebt ist. Von Traeger’s Gedichten ist jetzt die sechszehnte vermehrte Auflage erschienen. Es genügt wohl diese einfache Anzeige, um überall Interesse zu erwecken, da Traeger ja seit vielen Jahren ein Lieblingsdichter des deutschen Volkes ist.
Ferner erscheint soeben:
Der Dichter des Rheinlandes bietet hier den Freunden einer lebensfrohen Muse eine Reihe von Liedern, die frischen und fröhlichen Rheinlandssinn athmen. Diejenigen derselben, welche bisher in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden, fanden überall ungetheilten Beifall.
Alle drei Bücher eignen sich in vorzüglicher Weise zu Festgeschenken für Familie und Haus.
Leipzig, im October 1884. Ernst Keil’s Nachfolger.
- ↑ Im Gegensatze zu den Schlachtenbildern deutscher Künstler, wie wir dies gelegentlich der Beschreibung des Leipziger Schlacht-Panoramas von L. Braun hervorheben. Anmerk. d. Red.