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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

No. 16.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.

Napoletanisches Sittenbild.0 Von0 Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Salvatore stützte das Kinn auf die Handfläche. Nach einigem Besinnen fragte er langsam:

„Weißt Du, daß unser König und mehr noch sein erster Rathgeber, der hochwürdige Cardinal De Fabris, wüthende Feinde haben?“

„Wer hätte die nicht!“ versetzte Maria. „Was soll’s damit?“

„Nun, ich rede hier nicht von dem, was man gemeinhin so Feinde nennt: Leute, die uns beneiden und hassen und gelegentlich Schaden zufügen. Die freilich hat Jeder, – aber sie bleiben vereinzelt, und meistens stumpft ihre Wuth sich ab, und die eigene Bequemlichkeit hindert sie, uns zu nahe zu treten. Ein Regent aber, der streng am Gesetz hält und keinen Aufruhr duldet oder sonstigen Unfug, der macht sich die Menschen, die von der Gesetzwidrigkeit ihren Vortheil haben, gleich tausendweise zu Gegnern, und diese Feindschaft stumpft sich nicht ab, sondern sie nimmt von Tag zu Tag zu, je länger die Verhältnisse dauern, die den Gegnern verhaßt sind. Siehst Du, da giebt’s in Neapel eine große Partei – sie nennen sich Freiheitsfreunde oder neuerdings Liberale – die behaupten, Seine Eminenz der Cardinal De Fabris unterdrücke das Recht und liefere den Staat und das Volk an die Kirche und an die Vornehmen aus, während der hochwürdige Cardinal doch nur Sorge trägt, daß die Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten im Sinne des heiligen Vaters vollzogen werde, und daß Ordnung herrsche im Königreiche Neapel. Diese Partei der Liberalen – anfänglich klein und, wie es schien, leicht durch die Furcht des Kerkers und der Verbannung im Zaum zu halten – wird nachgerade bedrohlich. Sie läßt Flugschriften drucken, die sie unter das Volk vertheilt, und mit großer Beredsamkeit setzen die Liberalen in diesen Flugschriften dem Volk aus einander, daß sie im Rechte seien, und nicht Seine Eminenz; und daß der König, wenn’s ihm darum zu thun wäre, das Heil seines Staates zu fördern, den hochwürdigen Cardinal zurück nach Rom schicken müsse, von wo er gekommen, und Einen aus der Schaar der Liberalen an dessen Stelle setzen. Da ist besonders ein Avvocato beim königlichen Gerichtshof, der sich unter den Schreiern hervorthut, – Antonio Cesari heißt er, ein kluger und äußerst gewandter Mensch, der’s immer so schlau anfängt, daß Keiner ihn fassen kann, zumal er Verbindungen hat bis hinauf in die nächste Umgebung des Königs. Dieser Cesari hat kürzlich das Schlagwort ausgegeben: ‚Fort mit dem Cardinal!‘ Und dabei verleiht er sich so den Anschein, als wolle er das Alles auf gesetzlichem Wege und ohne Eingriff in die Rechte der Krone; weißt Du, so ganz behaglich und sanft, daß Niemand merken soll, wie er doch eigentlich die blanke, offene Rebellion predigt. Nun – daß ich’s kurz mache, die Lage der Dinge erscheint der königlichen Regierung äußerst bedenklich; der Cardinal wird mit jedem Tage verstimmter, und Alle bis herab zu den letzten Beamten haben darunter zu leiden. Es liegt gewitterschwül über Neapel, und Keiner weiß, wo und wann der erste Blitz einschlagen wird.“

Maria hatte ihm staunend zugehört.

„Woher weißt Du das Alles?“ fragte sie jetzt, die Arme unter der Brust kreuzend.

„Von Einem, der mitten darin steht, den ich aber nicht nennen darf, und läge ich gleich auf der Folter.“

„Ein Beamter?“

„Ein Polizei-Beamter. Aber eh’ ich jetzt weiter rede, mußt Du mir einen Eid leisten, daß keine Silbe von dem, was Du hören wirst, Dir je über die Lippen kommt. Auch das hab’ ich ihm zugesagt. Er wollte erst, daß ich nicht nur den Namen, sondern die Sache selbst Dir verschweigen sollte: aber ich machte ihm klar, wie das völlig unmöglich sei; denn – sagte ich – wenn ich im Kerker sitze, und sie weiß nicht, wie’s zugeht, so thut sie sich entweder ein Leids oder sie läßt mich laufen und heirathet ihren Vetter, den verliebten Alberto.“

„Was? Was redest Du?“

„Du wirst Alles begreifen: erst schwöre nur! Das goldene Kreuz da auf Deiner Brust – nimm’s zwischen die Hände und sprich ein Ave, und dann rufe mir San Gennaro zum Zeugen an, daß Du unverbrüchliches Schweigen gelobst!“

Maria that, wie geheißen. Sie athmete lebhafter, als der Apulier nun anhub:

„Also – ein Polizei-Beamter hat mir das Alles klar gemacht und mir einige solcher Flugschriften zu lesen gegeben. Es war in der nämlichen Osteria, wo mir später – acht Tage etwa darnach – der Suliote begegnete. Gerade wie Der, kam auch der Polizei-Beamte so durch Zufall heran, als ich still und mißmuthig über dem Glase saß und immer wieder erwog, wie ich’s betreiben sollte, um endlich ein Stück vorwärts zu kommen. Er setzte sich neben mich, fing ein Gespräch an und bezeigte mir so viel Artigkeit, so viel höfliche Sympathie, daß er mich ganz für sich einnahm. Er bestellte eine Foglietta, und wie er gesprächiger ward, erzählte er von seinen Erlebnissen, von Rom und Bologna, und wie’s ihm gelungen sei, nach mancherlei Schwierigkeiten sich hier in Neapel eine Position zu verschaffen. Er gehört nämlich

[262] zur Geheim-Polizei; aber wenn Du ihn siehst, so ahnst Du nicht, was er ist; er schaut aus wie ein Schulprofessor oder sonst was Gelehrtes – auch in der Kleidung. – Ein Wort gab nun das andere. Er ließ mich Blicke thun – ich sag’ Dir, Maria, nie im Leben hab’ ich geahnt, wie verwickelt all’ diese Verhältnisse und Beziehungen sind, und was sich Alles so abspielt unter der Oberfläche!“

„Weiter, weiter!“ drängte die Zingarella. „Was hat das Alles mit dem Kerker zu thun und mit der Möglichkeit, daß Du, Salvatore –?“

„Sehr einfach. Der Beamte setzte mir auseinander, wie das Staatsinteresse – er sagte: das Staatsinteresse – allem Andern voransteht; wie es die Pflicht jedes ehrlichen Bürgers sei, im Sinne dieses Interesses zu wirken und selbst persönliche Opfer zu bringen; ja, wie im Kampf mit den Gegnern der Staatsordnung jede Kriegslist erlaubt sei, wenn nur kein Unschuldiger darüber zu Grunde gehe. Gerade heraus, – die Sache ist die: das Volk – was man das rechte, wirkliche Volk nennt – fängt neuerdings an, zu glauben, die Liberalen seien so übel nicht, und ihre Lehren könnten dem Staate zum Heil dienen. Diesen Irrthum gilt’s zu beseitigen, und da wußte der Polizei-Beamte, der erst kürzlich die Ehre hatte, mit Seiner Eminenz persönlich über die Angelegenheit Rücksprache zu nehmen, nichts Besseres, als eine That, die dem Volke handgreiflich bewiese, daß die ‚Freiheitsfreunde‘ von jeder teuflischen Bosheit erfüllt sind.“

„Ja, wer kann die Leute denn zwingen, eine solche That zu begehen?“

„Die Liberalen? Niemand. Aber es könnte sie Einer doch gleichsam auf Rechnung der Liberalen begehen, – und wenn das Volk dann die Meinung gewänne, die ‚Freiheitsfreunde‘ hätten’s zu Wege gebracht, dann würde sich die beginnende Vorliebe plötzlich in Haß verwandeln.“

„Salvatore! Das wäre ja eine Schlechtigkeit!“

„Das Staatsinteresse hat eine andere Moral, als der bürgerliche Verkehr. Wagst Du die Meinung eines Cardinals der heiligen Kirche zu lästern?“

Er warf ihr einen seiner lodernden Blicke zu.

„Das ist wahr!“ sagte Maria. „Seine Eminenz muß ja wissen . . .“

„Hör’ also weiter! Der Polizei-Beamte gab mir nun zu verstehen, daß er eine geeignete Persönlichkeit für diese That suche. Wenn ich gewillt sei, sie zu begehn – oder doch vorzubereiten, – so etwa, daß er in seiner Eigenschaft als Geheim-Polizist sie unmittelbar vor der Ausführung zu entdecken vermöge, – und wenn ich dann aussagen wollte, ich sei ein Anhänger des Liberalismus, und habe aus Haß gegen die Regierung gehandelt, so wolle mir Seine Eminenz sofort nach meiner Freilassung eine Viertel-Million auszahlen und, wie selbstverständlich, Sorge tragen, daß ich nach wenigen Wochen einer erträglichen Haft begnadigt würde.“

„Begnadigt!“ wiederholte Maria. „Und was soll das für eine That sein?“

Salvatore schaute ihr voll in’s Gesicht.

„Ein bewaffneter Anfall auf Seine Eminenz den Cardinal Monsignore De Fabris!“ versetzte er langsam.

„Was? Die That eines Briganten?“

„Nur der Schein dieser That – und zum Heil der Regierung und aller Napoletaner!“

„Dennoch – es ist unmöglich! Soll zeitlebens auf Deinem Namen der Makel haften, daß Du ein Feind dieser Regierung gewesen, daß Du den Wohlthäter Neapels und der heiligen Kirche hast tödten wollen?“

„Auch dafür ist Sorge getragen! Wenn der Staat erst wieder gefestigt ist, wenn man die unzufriedenen Geister verdrängt hat, und Alles wieder im stillen, ruhigen Geleise geht, dann will Seine Eminenz mit der Wahrheit hervortreten, und mich rechtfertigen – und dann erblüht mir erst recht das Glück und der Ruhm und der Reichthum, denn ganz Neapel wird mir entgegenjauchzen und mich als Retter des Vaterlandes begrüßen, und Monsignore de Fabris kann mir die Viertel-Million, die er aus eignen Mitteln gezahlt hat, aus der Staatscasse verdoppeln und verdreifachen lassen.“

Die Zingarella athmete schwer und bänglich.

„Und glaubst Du, daß jenem Polizei-Beamten zu trauen ist?“ frug sie nach einer Weile.

„Einem Schützling des Cardinals!“

„Vielleicht sagt er nur so!“

Salvatore schüttelte überlegen den Kopf.

„Welchen Zweck sollte das haben? Nein, Maria: der Mann steht zweifellos in Beziehung zu den Spitzen des Gouvernements! Von Grund aus kennt er die Geheimnisse der Regierung, die Absichten Seiner Eminenz, die Verhältnisse der Stadt und des Staates! Das kann er sich doch nicht aus den Fingern saugen!“

„Freilich -!“ sagte Maria.

„Die Sache ist klar,“ fuhr der Apulier fort, „und verantworten vor Gott und seinen Heiligen kann ich sie auch. – Der Cardinal muß doch wissen, was einem Christen erlaubt und was Sünde ist! Seiner Mahnung aber leiste ich Folge, nicht den Lockungen eines Laien, der irren kann!“

Tief nachdenklich blickte Maria in die flimmernden Wellen. Endlich hob sie leuchtenden Auges das schöne Haupt.

„Ich hab’s!“ rief sie lebhaft. „Willst Du’s hören, oder verschmähst Du die Rathschläge Deiner Zingarella?“

„Sprich!“

„Siehst Du, ich sage mir so: kömmt der Plan Deines Beamten vom Cardinal, so ist’s recht und ehrlich, daß Du ihn ausführst, und die Madonna wird Alles zum guten Ende leiten; kömmt er von dem Beamten selbst, und seine Beziehungen zum Cardinal sind erdichtet, so ist das Ganze – so oder so – eine verderbliche Gaukelei, wenn nicht gar eine Falle! Darf ich Dir also rathen, so verlangst Du Beweise – und der beste Beweis wäre ein Wort aus dem Munde des Monsignore De Fabris! Briefe kann Einer schon fälschen, zumal so ein pfiffiger Polizist; führt er Dich aber direct in den Palast Seiner Eminenz, und ihr sprecht so zu Dreien die Angelegenheit durch, dann hast Du alle nöthige Bürgschaft!“

„Gut!“ versetzte Salvatore nach kurzem Besinnen. „Wenn’s Dich beruhigt – das kann ich ja fordern! – Aber nun sag’ mir, süße Maria: falls die Sache nun ihren Verlauf nimmt – wirst Du’s ertragen, daß ich verhaftet, angeklagt und verurtheilt werde? Wirst Du muthig und standhaft sein, bis Alles vorüber ist?“

Maria seufzte.

„Ich muß wohl!“ sagte sie schwermuthsvoll.

„So bleibt’s dabei! Die Sorge um Dich, Maria, war mein einziger Kummer bei dem glorreichen Plane! Nun ich sehe, daß Du vernünftig bist, werd’ ich frisch und freudig an’s Werk gehen. Jetzt aber – fort mit allen Gedanken! Acht Tage nur kann ich bleiben – und die Zeit ist so flüchtig, wenn man der Liebsten in’s Auge schaut!“

Er kauerte auf den Boden der Barke, schmiegte sein Haupt wider Maria’s Knie und sah zu ihr auf.

Sie beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn lange und voll glühender Leidenschaft. Dann seine Hände ergreifend, sang sie das alte Lied der Mädchen von Capri:

Quando divento cenere . . .

und verzückt lauschte Salvatore der wonnigen Melodie, deren Klänge, wie die Stimmen verborgner Sirenen, aus der Tiefe des Meers zu quellen schienen.

„Für sie würde ich Größeres wagen!“ murmelte er berauscht vor sich hin . . .

Und wieder senkte sich ihr glühender Mund auf den seinen.




3.

In jenem Theile Neapels, der zwischen der südlichen Hälfte der Via Toledo und der ostwärts aufsteigenden Hügelkette belegen ist, und sich vor allen andern Quartieren der Stadt durch die Enge und Dichtigkeit seines schachbrettartig gekreuzten Straßennetzes auszeichnet, stand um die Zeit unserer Geschichte ein siebenstöckiges Haus, – dergestalt wider die Böschung gelehnt, daß die vierte Etage nach der Bergwand zu als Parterre auf die Straße ging. Obgleich nur von gewöhnlichem Umfang, bildete es eine einzige „Insel“, deren Ostfront durch den schmalen Vico di Balbo begrenzt wurde, während die noch schmäleren Straßen der Nord- und der Südseite direct auf die steile Hügelwand ausmündeten.

Dieses Haus war trotz der massiven Bauart, die es mit vielen andern seiner nächsten Umgebung gemein hatte, eine Höhle des Elends.

[263] Der Eigenthümer, ein reicher sicilianischer Weinhändler, fand seine Rechnung dabei, die acht Wohnungen, die das Gebäude, dem ursprünglichen Plan zufolge, enthielt, in einige dreißig aus einander zu splittern und diese, meist nur aus einem einzigen Zimmer bestehend, an den Auswurf der großstädtischen Bevölkerung zu vermiethen.

Ein Portier, in der verschlagähnlichen Loge neben der Eingangsthür hausend, vereinnahmte allwöchentlich pränumerando die Miethsgelder, welche in ihrer Gesammtheit fast das Dreifache des Normal-Ertrages erreichten. Wer nicht zahlte, der ward am folgenden Tag auf die Straße gesetzt, und das zurückbehaltene Mobiliar, so erbärmlich es sein mochte, bürgte immerhin für den unerheblichen Rückstand. Uebrigens war eine derartige Exmission aus der Mieths-Caserne des Sicilianers seit mehreren Jahren nicht vorgekommen; denn da man die Unerbittlichkeit des Herrn und seines Portiers kannte, und die jedesmal zu erschwingende Summe an sich ja nicht hoch war, so bot man Alles auf, um sich das Geld zu beschaffen, – fünf oder sechs der Insassen durch ehrliche rastlose Arbeit, die Uebrigen auf jedem beliebigen Wege, vornehmlich durch das beliebte Gelegenheitsmittel der napoletanischen Lazzaroni: das Betteln.

Im obersten Stockwerk dieses Gebäudes wohnte seit mehreren Monaten eine Familie, die den übrigen Theilhabern der Etage aus mehr als Einem Gesichtspunkte interessant war.

Der Mann, ein ausgetrockneter Dreißiger von unglaublicher Hagerkeit, sah allerdings, wenn er so auf den Vorsprung des eisenvergitterten Ballons trat, um einen Arm voll Kinderwäsche auf die gestraffte Schnur zu hängen, wie der erste, beste Vagabund von Santa Lucia aus. Er trug dann ein zerrissenes und schmutziges Hemd, eine verschabte, mit Flicken besetzte Manchester-Hose, nur über der einen Schulter mit einem Bindfaden gehalten, – und, wenn’s hoch kam, eine Weste von gleichem Stoff, deren Vorderseite von den hartgewordenen Resten abgetropfter Macaroni-Brühe beinah versteinert erschien. Wenn er jedoch, was täglich um dieselbe Stunde geschah, das Haus verließ, so war er wie umgewandelt. Elegant war seine Erscheinung freilich auch dann nicht: aber es lag doch ein Hauch darüber, der die Proletarier des Miethshauses begreifen ließ, daß Emmanuele Nacosta einer besseren Sphäre entstammte. Sein sonst so wirres und langsträhniges Haar schmiegte sich dann ölgetränkt wider die unebenen Linien des eigenthümlich geformten Kopfes; er trug eine silberne Brille, einen modischen Hut, der bis auf einen verdächtig glänzenden Fettstreifen über der Krempe wohl conservirt war, und ein Costüm, das – man wußte nicht recht weshalb – einen Anflug geistlichen Wesens hatte – so ernst, so ehrbar und so gelehrt schlossen sich die schwarzen Kniehosen um die dunkelfarbigen Strümpfe, und so würdevoll hingen die schweren Rockfalten von den schmalen Hüften herab.

Vergeblich zerbrach man sich im siebenten Stockwerk die Köpfe, was Emmanuele Nacosta eigentlich treibe. Ernstliche Arbeit unmöglich – denn dazu verließ er viel zu spät seine Wohnung; das Metier eines Poverino jedoch, der die Inglesi um kleine Münze anspricht, weil er „vor Hunger sterbe“, ließ sich in diesem Costüm schlechterdings nicht ausüben. Ihn direct zu befragen, hatte Niemand den Muth, denn finster und in sich gekehrt schritt Nacosta an den Leuten vorüber, kaum ihren Gruß erwidernd und allzeit von übler Laune beherrscht.

Soviel war zweifellos, daß der geheimnißvolle Mensch wochenlang in der äußersten Noth gelebt hatte; erst seit Kurzem schien seine traurige Lage sich ein wenig gebessert zu haben: die Frau holte ab und zu ein paar Fische und etwas Obst, einmal sogar ein junges Huhn von den benachbarten Kaufständen, und dem anderthalbjährigen Kind hatte sie jüngst in der Strada dei Miracoli ein neues Gewand gekauft.

Diese Frau, mit Namen Crispina, war in vielen Beziehungen der gerade Gegensatz zu dem Gatten. Klein von Statur, ein wenig beleibt, aber von unglaublicher Lebhaftigkeit, beherrschte sie ihn durchaus. Im Anfang hatte sie ihren gebieterischen Einfluß derart geltend gemacht, daß ihr Mann Ordnung hielt in dem engen, freudlosen Raum und auch sich selbst, trotz aller Verstimmtheit, nicht ungebührlich vernachlässigte. Dann mit einemmal, wie sie gewahrte, daß Emmanuele’s Bemühungen, sich eine Stellung zu schaffen, dauernd erfolglos blieben, war sie gleichgültig geworden; ja, es hatte beinah’ den Anschein, als gewähre es ihr eine herbe Genugthuung, wenn sie den Menschen, der ihr goldne Berge versprochen, so traurig verwahrlost erblickte in seiner zerfetzten, schmierigen Haustracht – ein Bild des Ekels und des Jammers zugleich. Bei Nacosta selbst war es eine ähnliche Indolenz, die ihn, den ehemaligen päpstlichen Steuerbeamten, so kläglich herabwürdigte; nur entsprang sie aus andern Erwägungen. Er glich ein wenig jenen Verzweifelten, die ein Gelübde thun, nicht eher das Haar und den Bart zu scheeren, bis sie einen Verlust wieder eingebracht, eine Scharte ausgewetzt, eine Unbill gerächt haben.

Die Unbill, die Nacosta zu rächen hatte, war allerdings wohl verdient.

Ein Jahr lang hatte er zu Civitavecchia wegen schwerer Veruntreuungen im Bagno gesessen, bis der heilige Vater, aus Anlaß einiger aufsehnerregender Bekehrungen, ihn und eine Reihe andrer Verbrecher begnadigte.

Es hatte eine furchtbare Scene gegeben, als Emmanuele, von Civitavecchia nach Rom zurückkehrend, eben dazu kam, wie seine Gattin Crispina an der Seite eines eleganten Franzosen eine Carrozza bestieg, um nach der Oper zu fahren. Der begnadigte Sträfling, in der Qual seiner Eifersucht, packte den jungen Mann bei der Brust und schien im Begriff, sich über ihn herzuwerfen, wie ein reißendes Thier. Der Energie Crispina’s gelang es, die beiden Gegner zu trennen. Mit einem lächelnden „Auf Wiedersehn!“ wandte sie sich zu dem Franzosen und bat ihn, allein zu fahren; sie wolle sich unterdeß mit dem Wahnsinnigen, der nicht begreife, daß nach Allem, was vorgefallen, keine Gemeinschaft mehr obwalte zwischen ihr und dem Züchtling von Civitavecchia, ein für allemal aus einander setzen.

So erreichte sie mit Emmanuele Nacosta das Haus ihrer Mutter, wo sie seit der Verurtheilung ihres Mannes gewohnt hatte. Die Auseinandersetzung führte jedoch nicht zu dem erwarteten Resultat.

Emmanuele, sonst die Gefügigkeit selbst und fast ihr Sclave, weigerte sich mit kalter Entschlossenheit, die Treulose frei zu geben; und als sie ihm in’s Gesicht lachte und ihm zurief, er sei wohl der Letzte, den sie bei Ausführung ihrer Entschlüsse befragen würde, und nur um den Skandal zu vermeiden, habe sie ihn überhaupt mit nach Hause genommen, – da erinnerte er sie unheimlich rollenden Auges an die Thatsache, daß sie bei dem Verbrechen, für das er gebüßt hatte, seine Mitschuldige gewesen, und daß er ferner nicht schweigen werde, wenn sie ihn um des Fremdlings willen verrathe. Keine Drohung verfing, kein Flehen und keine Vorstellung. Vergebens suchte sie ihm mit ihrer unglaublichen Zungenfertigkeit darzuthun, daß er ohne sie weit bessere Aussichten habe, sich durch die Welt zu schlagen und sich anderwärts eine Heimath zu gründen; vergeblich schwur sie, ihm jeden Tag zu vergällen und ihn zu peinigen bis auf’s Blut, wenn er sie trotz alledem zwinge, ihm ferner anzugehören. Sie liebe ihn nicht; sie habe ihn niemals geliebt; jener französische Kaufmannssohn werde nach wie vor all’ ihre Gedanken ausfüllen. – Emmanuele blieb unerbittlich.

„Das wird sich finden,“ sagte er mit bebender Stimme. „Hab’ ich Dich nur erst wieder ganz in meiner Gewalt, kann ich Dir erst durch die That beweisen, wie es mir Ernst ist mit meiner Absicht, Dich froh und reich und glücklich zu machen, so wirst Du vergessen, was Dich bethört hat, und Du wirst einsehn, wie schmachvoll es war, Den verlassen zu wollen, den Du selber in’s Unglück gebracht hast.“

Kurz, die aufgeregte Crispina mußte sich fügen: es blieb ihr nur die Wahl, zu gehorchen oder nach dem Bagno zu wandern; denn vorläufig hatte der junge Marseiller, wenn die Sache ihm überhaupt mehr war, als eine flüchtige Tändelei, anderthalb Jahre noch in Rom zu verbleiben, daher denn die Entführung, die Crispina als Schlagwort in’s Treffen geschickt hatte, als dritte Möglichkeit nicht in Betracht kam.

Acht Tage später folgte Crispina ihrem Eheherrn nach Livorno. – Dort fand Emmanuele durch einen glücklichen Zufall schon nach kurzer Frist Arbeit, und zwar in den Bureaux eines großen Exportgeschäfts, das namentlich mit der Provence und Catalonien ausgedehnte Beziehungen unterhielt.

Zu Anfang ging Alles gut. Crispina empfand allmählich etwas wie Rührung beim Anblick seiner lustlosen Thätigkeit, die nur für sie und ihr Wohlergehn am Werke zu sein schien. Von wüthender [264] Erbitterung gefoltert, sobald der Gedanke an den Marseiller ihn heimsuchte, vermied Emmanuele mit ängstlicher Sorgfalt auch die leiseste Anspielung. Crispina jedoch nahm diese Zurückhaltung für selbstlose Großmuth, und dieser Irrthum verfehlte nicht seine Wirkung. Sie gewöhnte sich an die Nähe des Mannes, den sie während der ersten Tage nach der Uebersiedlung wirklich gehaßt hatte, und aus der Gewohnheit entspann sich nach und nach eine Art von Regung, die um so mehr Aussicht auf Dauer versprach, als die äußere Situation Emmanuele’s mit jedem Quartal günstiger ward. Ursprünglich in bescheidenster Stellung, rückte er ziemlich rasch auf, nicht nur weil er ein gewandter und tüchtiger Arbeiter war, sondern vielleicht mehr noch mit Rücksicht auf die geradezu frappirende Bescheidenheit und Demuth seines Auftretens, die freilich in erster Linie durch das lastende Schuldbewußtsein und die immer nagende Angst bedingt war, seine Vergangenheit, die er bis dahin mit großer Geschicklichkeit zu bemänteln gewußt, möchte über kurz oder lang an den Tag kommen.

Ganz und gar schien Crispina mit ihrem Schicksal versöhnt, als sie am Schluß des ersten Jahres eine Tochter gebar, die ihrem ungestümen Thätigkeitstrieb eine neue Richtung gab. Die eitle, vergnügungssüchtige Frau ward – wenigstens vorläufig – zur eifrig sorgenden Mutter, die nichts Höheres kannte, als die rastlose Pflege ihres geliebten Kindes; die zum ersten Male seit Jahren zufrieden war mit der Gegenwart, und, so schwer es ihr sonst hielt, ein Unrecht einzugestehn, das Bekenntniß nicht unterdrücken konnte: der Zwang, den Emmanuele an jenem ereignißvollen Nachmittage in Rom auf sie ausgeübt, sei zu ihrem Heile gewesen.

Nacosta erschrak, als sie so ein Ereigniß erwähnte, das er grundsätzlich niemals mit einer Silbe berührt hatte. Das Ignoriren alles Vergangnen war bei ihm zu einer Art von abergläubischer Observanz geworden. Die Rede Crispina’s fiel ihm auf’s Herz, wie ein übles Vorzeichen.

Die nächsten Monate schon gaben ihm Recht. Eines Tages, da er mit einer geschäftlichen Meldung das Cabinet seines Principals betrat, erblickte er in der Fensternische die elegante Gestalt des jungen Marseillers, der ihn augenblicklich erkannte. Bleich und zitternd erledigte Emmanuele die Angelegenheit, die ihn hergeführt. Der Principal war durch anderweitige Interessen zu sehr in Anspruch genommen, um das seltsame Gebahren seines Angestellten einer besondern Aufmerksamkeit zu würdigen. Der Marseiller aber – das fühlte Emmaunele – war seiner Sache nun absolut sicher.

Wie ein Träumender schritt der Unglückliche nach seinem Bureau zurück. Noch am nämlichen Abend empfing er von seinem Chef eine Zuschrift, der das Gehalt für drei Monate in französischen Bankscheinen beilag. Herr Nacosta werde wohl wissen, welche Veranlassung für den Principal obwalte, die bisherigen Beziehungen ohne Weiteres zu lösen. Sollte er, der Chef, beziehungsweise sein Gewährsmann, Monsieur Andre Lacombe aus Marseille, sich wider Erwarten getäuscht haben, so gebe man Herrn Nacosta anheim, den Irrthum aufzuklären, wonach er alsdann die gegenwärtige Zuschrift als nicht geschehen betrachten möge.

Emmanuele war niedergeschmettert. Er wagte natürlich keinerlei Vorstellungen, weder den Hinweis auf die Gnade des heiligen Vaters, die ihm doch wohl dann nicht zu Theil geworden wäre, wenn er sich ihrer völlig unwerth erwiesen, noch die Berufung auf die nahezu anderthalbjährige untadlige Thätigkeit im Dienste der Firma, die ihn jetzt ungehört auf die Straße stieß. Zu einem solchen Versuch fehlte ihm jedes Selbstvertrauen, jeder Funke von Energie. Selbst das Zureden der empörten Crispina, die in der Derbheit ihrer trasteverinischen Sprache den Marseiller ein über’s andere Mal einen ehrlosen Schuft, einen Basilisken, einen giftigen Hund nannte, vermochte ihn aus seiner Erstarrung nicht aufzurütteln.

So beschloß denn Crispina, auf eigne Faust ihr Heil zu versuchen. Sie ließ sich in der Privatwohnung des Principals anmelden. Aber sie ward nicht vorgelassen. Zornentbrannt aus dem Vorzimmer nach der Treppe schreitend, begegnete sie ihrem ehemaligen Anbeter, der in höchster Gala, strahlend von Jugend und Eleganz, zum Diner kam. Sie sprach ihn an; sie ergriff ihn, da er vorüber wollte, beim Arme und überhäufte ihn mit den grimmigsten Vorwürfen. Wie er sich, erst mit Höflichkeit, dann mit Gewalt losmachen wollte, versetzte sie ihm mit dem wüthenden Zuruf: „Feige Canaille!“ einen Schlag in’s Gesicht und stürzte von dannen, – dem Portier in die Arme, der sie mit Gewalt in die Loge zog, minder aus Pflichtgefühl, als in übertriebenem Eifer, den vornehmen jungen Mann zu verpflichten, der hocherglühenden Angesichts oben am Rande der Treppe stand und wiederholt vor sich hinmurmelte: „Ah, l'infecte créature!“ Hatte er sie schon vorher gehaßt – aus verletzter Eitelkeit nämlich, weil er glaubte, sie habe ihn leichtherzig aufgegeben, – so hegte er jetzt einen förmlichen Abscheu vor der brutalen Derbheit dieses Vorstadt-Naturells, das ihn ehedem so entzückt hatte, und mit Genugthuung sah er dem etwas willkürlichen Verfahren des Portiers zu, der alsbald durch sein zehnjähriges Töchterchen einen der städtischen Sbirren herbei holen und die exaltirte Crispina in’s Municipal-Gefängniß abführen ließ.

Am nächsten Tage schon ward sie wieder entlassen, denn der livornesische Kaufmann, ein ängstlicher Herr und der geschworene Feind alles Dessen, was Aufsehen erregt oder die Kritik des Publicums herausfordert, hatte den Marseiller ersucht, die verwegene Angreiferin mit Verachtung zu strafen und von einer weiteren Verfolgung der Sache Abstand zu nehmen. Crispina aber war durch die eine Nacht, die sie hinter den Mauern des Kerkers verlebt hatte, wie in den Grundfesten ihres Wesens erschüttert. Eine dumpfe Wuth, eine Feindseligkeit wider Alles, was nur entfernt wie ein Gegner aussah, beherrschte sie von dieser Stunde an vollständig.

Der fernere Verlauf ihres Schicksals trug dazu bei, die Hartnäckigkeit ihrer Erbitterung zu steigern.

Während der kurzen Frist, die sie noch in Livorno verweilte, kamen ihr allerlei Gerüchte zu Ohren, die ihr das Blut in die Stirn trieben. Das Publicum, den stadtkundigen Zwischenfall in seiner Art commentirend, verwechselte Altes und Neues und erzählte sich so mit mannigfaltigen Ausschmückungen, der Grund jener Entlassung bestehe in der Veruntreuung einer namhaften Summe zum Nachtheil des livornesischen Kaufherrn. Auch Crispina ward auf seltsame Weise in die Affaire gemengt, dergestalt, daß die Hauswirthin, in deren Mansarde das unglückliche Paar sich ein Heim gegründet, die junge Frau eines Tags auf der Treppe ohne Weiteres zur Rede stellte, ihr unter leidenschaftlicher Anrufung Gottes und seiner Heiligen die Versicherung gab, so schmachvoll, wie durch die Ehrlosigkeit der Nacosta’s, sei ihr gut katholisches Haus niemals entweiht worden, und wenn die saubre Familie sofort ausziehe, so wolle sie, die Wirthin, gern auf die zwanzig Tage Miethzins, die seit dem Ersten des Quartals zu bezahlen wären, Verzicht leisten. –

So wenig die leichtsinnige Crispina seiner Zeit Bedenken getragen, als es galt, die Rechte Andrer unter die Füße zu treten, so scharf und so kraftvoll erwies sich ihr Gerechtigkeitssinn hier, wo sie die Beschädigte und Mißhandelte war.

Maßlos in ihrer Erwiderung, drohte sie dem Weibe mit Gift und Dolch, und erklärte ihr schließlich, daß die Nacosta’s viel zu hoch von sich dächten, um auch nur eine Secunde länger als nöthig unter dem Dache einer solchen verleumderischen Bestie zu weilen.

Tags darauf schon verkauften sie das geringe Mobiliar, das sie sich angeschafft hatten, zu einem Drittel des Werthes an einen Trödler, und wenige Stunden später saß die Familie in den Polstern der Diligence, die über Pisa nach der Hauptstadt Toscana’s führte.

Die glückliche Constellation, die es dem Manne ermöglicht hatte, in Livorno trotz der Unzulänglichkeit seiner Papiere eine Stellung zu finden, wollte sich nicht wiederholen. Vier Wochen lang machte Emmanuele alle erdenklichen Anstrengungen, – umsonst. – Zudem herrschte damals in Florenz eine so unnatürliche Ueberfüllung in allen Geschäftszweigen, daß er, selbst auf zureichende Empfehlungen gestützt, nur geringe Aussichten gehabt hätte.

Die Gelegenheit eines Fuhrwerks, das in Ermangelung zahlender Fahrgäste leer nach Ancona zurück wollte, veranlaßte ihn, ebenso plötzlich wie von Livorno sich von der Arno-Stadt zu verabschieden. Nach mehrtägiger Fahrt über den Apennin langte er in Ancona an.

(Fortsetzung folgt.)




[265]

Der Antheil der Armen.
Scheveninger Strandbild. Von Felix Cogen.

[266]

Fischerleben am Scheveninger Strande.

Jenseits der Dünen, die sich am Strande des berühmten holländischen Seebades Scheveningen erheben, liegt das gleichnamige Fischerdorf, dessen Bewohner, obwohl sie alljährlich das fashionable Treiben der aus allen Nationen zusammengewürfelten modernen Gesellschaft zu schauen gewohnt sind, dennoch an der alterthümlichen Tracht und Sitte ihrer Vorfahren mit hartnäckiger Zähigkeit fest gehalten haben.

Wer das Dorf dnuchwandert, wird den Eindruck einer gewissen Behäbigkeit empfangen, und in der That sagt hier der erste Eindruck das Richtige. Es herrscht viel Wohlhabenheit in Scheveningen, obwohl von den 7500 Einwohnern weitaus die meisten das sonst nicht sehr einträgliche Fischergewerbe betreiben. Aber „Viele Wenig machen ein Viel“ sagt das Sprüchwort, und so repräsentirt auch die Scheveninger Fischerflotte mit ihren 300 Barken ein stattliches Capital.

Diese einmastigen, solid gebauten Fahrzeuge werden von dem „Patron“, einem älteren, erfahrenen Fischer, geführt und mit siebeneinhalb Mann besetzt. Der halbe Mann, meist ein Junge von dreizehn bis vierzehn Jahren, ist der Mannschaft das „Mädchen für Alles“, das wahre Aschenputtel zur See, welches überall und nirgends zu gleicher Zeit sein soll und sicherlich stets da zu finden ist, wo es unliebsame Arbeit giebt. Dabei gucken die blauen ernsten Augen so hoffnungssicher in die gekräuselte Weite, als müsse der nächste Fang ihm, dem schlechtstbesoldeten, den goldenen Wunderschatz heben, der das Glück bringt.

Begnügt sich das Aschenputtel mit dem geringsten Verdienst, so ist auch derjenige der übrigen Mannschaft nicht gerade glänzend; immerhin reicht er jedoch aus, Weib und Kind zu ernähren. Nur der Patron genießt eines besonderen Vortheils, ihm fällt ein gewisser Procentsatz vom Gewinne zu.

Die holländischen Fischerbarken stehen bei den Seeleuten von der „großen Fahrt“ in schlechtem Renommée, denn ihnen geht in Folge ihrer schwerfälligen Construction das ab, was der Seemann für die erste und beste Eigenschaft eines Schiffes hält, Schnelligkeit. Man muß diese plumpen Dinger mit einem Mast, an welchem ein mächtiges Segel sich bläht, ohne den Körper wesentlich von der Stelle zu schaffen, auf den kurzen harten Wogen der Nordsee haben schaukeln sehen, um zu begreifen, wie die Leute, so auf den großen schlanken Segelschiffen unter dem Winde fast mit Dampfergeschwindigkeit an ihnen vorbeifahren, verächtlich auf sie herabblicken. Doch die holländischen Fischer und ihre Barken machen sich wenig daraus. Letztere scheinen etwas von dem Phlegma ihrer Besatzung angenommen zu haben, und da es bei ihnen weniger auf Schnelligkeit ankommt, als auf Zähigkeit den schauderhaften Unbilden der Nordsee gegenüber, so ist ihre Bau-Art als sehr zweckmäßig anzuerkennen.

Iu kleineren oder größeren Geschwadern ziehen die Barken hinaus. Häufig werden Segelschiffe, die von langer Reise heimwärts kommen, von den Fischern angesprochen, welche ihre Waare gegen ein Stück Salzfleisch, Brod oder Genever anbieten und dem großen Schiffe ist der Tausch willkommen, denn er bringt frische Speise in die erdrückende Eintönigkeit von Sauerkraut, Erbsen und Stockfisch.

Kein Fisch, so dem menschlichen Gaumen genießbar erscheint, ist sicher vor der Kunst der holländischen Fischer. Im Großen und Ganzen richten sie ihr Augenmerk auf den täglichen Consum und müssen darum die schuppige, leicht verderbende Waare möglichst frisch an den Markt bringen. Die Abwesenheit der Fischerleute dauert dementsprechend nur wenige Tage. Die Barken kommen einzeln an, sie werden am Strande bereits von den Weibern erwartet, welche die Beute in großen Körben, die sie auf dem Kopfe tragen, nach dem Haag schaffen. Die Thürme der eleganten Residenz winken aus der Ferne herüber. Der frische Seefisch ist dort sehr begehrt und findet von dort aus auch seinen Versand in das Binnenland.

Doch zurück an den Strand von Scheveningen! Mag der Regen strömen oder dichter Nebel sich in gespenstischen Formen herunwälzen, immer wird die Ankunft eines Fischerbootes von einem Menschenhäuflein sehnlichst erwartet, welches von den heimkehrenden Fischern den „Antheil der Armen“ empfangen soll. Einem alten schönen Herkommen gemäß besteht dieser Antheil in allen den Fischen, welche beim Fange beschädigt, dadurch unansehnlich und zum Verkaufe untauglich geworden sind. Diese zerrissenen, zerbrochenen, doch immerhin frischen Fische bilden fast die einzige Nahrung der Armen von Scheveningen. Es kommt aber auch vor, daß ein mitleidiger Patron hier und da einen besonders feisten Fisch als Extragabe hinzufügt. Dankbar, wenn auch ohne viele Worte, wird jede Gabe hingenommen.

Wer sind aber die Armen und Elenden, die auf dieses kärgliche Existenzmittel angewiesen sind und die dem Leser in dem Bilde von dem Brüsseler Maler Felix Cogen so ergreifend entgegentreten? Es sind ausschließlich Wittwen und Waisen von solchen Fischern, die durch ihr Gewerbe den Tod fanden. Ein trauriges Dasein führen diese Armen. Mit jener stillen Resignation, welche den Menschen faßt, wenn er ein unabwendbares Geschick kampflos über sich ergehen lassen muß, leben sie ihre Tage hin. Es liegt ihnen fern, mit ihrem Elende geflissentlich das Herz fremder Menschen rühren zu wollen. Hält auch der Rock kaum mehr zusammen, er ist niemals unsauber noch zerrissen. Schlicht und still wie die Weiber, betragen sich auch die Kinder, die, von der Noth des Lebens geschüttelt, frühzeitig lernen, jedem Anspruch auf Lebensfreude zu entsagen. Ein Trost bleibt ihnen aber erhalten, das Mitleid der biederen Fischerbevölkerung, welche diese Wittwen und Waisen ihrer ehemaligen Nachbarn und Freunde nicht darben läßt. Es droht ja Jedem von ihnen ein ähnliches Geschick, denn ihr Handwerk ist stets mit Gefahr für Leib und Leben verbunden.

Kommt im Frühlinge die Zeit heran, wo sich die Häringszüge an den schottischen und norwegischen Küsten einzustellen pflegen, dann gehen die Fischerboote von Scheveningen in großen Geschwadern nordwärts. Langsam nur kann sie der Wind ihrem Bestimmungsplatze zuführen, denn der plumpe Bau gestattet, wie schon oben bemerkt, keine schnelle Bewegung. Dafür setzt er aber den Launen der tückischen Nordsee kräftigen Widerstand entgegen. So kann die Reise zehn bis vierzehn Tage dauern, zerstreut auf der weiten Meeresfläche erwarten die Männer den Segen des Meeres. Aber die Frühlingszeit ist für den Seemann eine schlimme, dem Drängen und Treiben der Knospen und Blüthen geht der Kampf zwischen Winter und Sommer, zwischen Nacht und Licht voraus, und nirgends äußert sich dieser Kampf intensiver, als in den Aequinoctialstürmen auf der See. Die am Land Zurückgebliebenen horchen ängstlich, wenn die Windsbraut einherrast, das Meer gegen die Küste peitscht, bis die Wellenköpfe über die Dämme schauen und die Deiche unter der Wucht erzittern. Dann ist’s unheimlich am Meeresstrande und Hunderte von Menschenherzen erbeben. Denn wenn ein solcher Sturm eine Häringsflotte trifft, so ist Gefahr vorhanden, mehrere hundert Menschen auf einmal dem Tode geopfert zu sehen.

Wie bang schauen die Zurückgebliebenen, die Weiber und Kinder, hinaus in die Finsterniß, wie horchen sie dem Getöse des Orkans, wenn er an den kleinen Fenstern rüttelt! Vielleicht ist es dieser Augenblick oder jene Minute, die der Familie den Vater, den Ernährer raubt! Und nicht nur unter einem Dache wohnt die Sorge: in jedem Haus, in jeder Hütte wachen Angst und Kummer. Nur die Säuglinge schlummern friedlich in Unkenntniß dessen, was vorgeht, was sie vielleicht verlieren; sowie jedoch des Kindes Bewußtsein erwacht, nimmt es auch Theil am allgemeinen Leid, und darum sind die Kinder der Fischer von Scheveningen still und ernst, sie kennen den fröhlichen Muth der Jugend nicht.

Die Sonne lacht in strahlendem Glanze herab; ohne durch das kleinste Wolkenfetzchen getrübt zu sein, spannt sich tiefblauer Himmel über Land und Meer. Es rollen die grünen Wellen heran, ihre Schaumkronen sprühen zu den Füßen der Menschen, die, im feuchten Sande stehend, hinausspähen in die lichtdurchzitterte Meeresweite. Die Frauen legen die Hand schützend über die Augen, jedes weiße Segel am Horizont läßt die Herzen schneller schlagen. Doch die Segel ziehen vorüber nach Westen und Osten und die Brandungskämme raunen ihre eigene Sprache, sie wissen nichts zu erzählen von den Schauern der Sturmesnacht. Es gehen Tage hin und Wochen, welche den in Sorge Harrenden gar lang erscheinen.

[267] Da taucht ein Segel auf, ein plumper kleiner Körper wiegt sich unter ihm auf den Wogen. Noch ist das Fahrzeug weit entfernt, doch jedes Auge erkennt es als zur heimathlichen Flotte gehörig. Welcher Eigenthümer ist so glücklich, sein Eigenthum unverletzt hervorgehen zu sehen aus dem Vernichtungskampf? welche Gattin wird ihren Mann empfangen? welche Mutter ihren Sohn wiedersehen? Das sind die schlimmsten, die bangsten Minuten.

Langsam treibt der Nordostwind das Fahrzeug näher – nun kann sein Name festgestellt werden, und die Glücklichen drängen sich vor, um keinen Moment des Glückes zu verlieren. Neidisch ruhen die Augen der Uebrigen auf der Gruppe, die sich wortkarg begrüßt, man liest sein Denken und Fühlen ja aus jedem Blicke, aus jeder Bewegung heraus, da bedarf’s nicht vieler Worte. An einer Freude jedoch darf das ganze Dorf Antheil nehmen: das Fischerboot brachte – den ersten Häring. Die Kunde durchfliegt mit Blitzeseile den Ort, wer irgend kann, läuft zum Strande, um die fröhliche Mär bestätigt zu finden. Für kurze Zeit werden alle, die „draußen“ noch weilen, vergessen und nur die Güte und Zartheit der jungen Beute geprüft, gerühmt und sichere Hoffnung auf ferneren reichen Segen genährt.

Fast vier Monate sind verflossen, seit die Flotte auszog, und dem ersten Boote, welches trotz Sturm und Wetter wohlbehalten den Heimathshafen wiederfand, folgen nach und nach die andern. Jeder Tag bringt neue Freude, neue Erleichterung mit jedem eintreffenden Fahrzeug. Der Antheil der Armen fällt reichlicher aus denn je, auch für sie sind es Tage des Segens. Ist aber das letzte Boot eingelaufen, ohne zu große Havarien (Beschädigung) erlitten zu haben, und fehlt kein liebes Haupt, war der Fischsegen überdem ein reichlicher, dann strömt auch den holländischen Fischern Herz und Mund über. Es giebt frohe Feste, jubelnden Sanges voll vereinigen sich Alte und Junge und fessellos entströmt die Freude den befreiten Gemüthern. Dann gleicht das stille einfache Scheveningen einer Insel der Seligen, nur frohe Gesichter beleben die Straßen, und man vergißt nicht der Armen, die an solchen Tagen des eigenen Leids nicht gedenken im Mitgefühl des allgemeinen Wohlbehagens. H. Pichler.     




Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von0 Eduard Engel.
Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten.
VIII.

Der Mann der Göchinn war der Bruder von Sefchens Vater, welcher ebenfalls Scharfrichter war, doch da derselbe früh starb, nahm die Göchinn das kleine Kind zu sich. Aber als bald darauf ihr Mann starb und sie sich in Düsseldorf ansiedelte, übergab sie das Kind dem Großvater, welcher ebenfalls Scharfrichter war und im Westphälischen wohnte.

Hier, in dem „Freyhaus“, wie man die Scharfrichterey zu nennen pflegt, verharrte Sefchen bis zu ihrem vierzehnten Jahre, wo der Großvater starb und die Göchinn die ganz Verwaiste wieder zu sich nahm.

Durch die Unehrlichkeit ihrer Geburt führte Sefchen von ihrer Kindheit bis ins Jungfrauenalter ein vereinsamtes Leben und gar auf dem Freyhof ihres Großvaters war sie von allem gesellschaftlichen Umgang abgeschieden. Daher ihre Menschenscheu, ihr sensitives Zusammenzucken vor jeder fremden Berührung, ihr geheimnißvolles Hinträumen, verbunden mit dem störrigsten Trutz, mit der patzigsten Halsstarrigkeit und Wildheit.

Sonderbar! sogar in ihren Träumen, wie sie mir einst gestand, lebte sie nicht mit Menschen, sondern sie träumte immer nur von Thieren.

In der Einsamkeit der Scharfrichterey konnte sie sich nur mit den alten Büchern des Großvaters beschäftigen, welcher letztere ihr zwar Lesen und Schreiben selbst lehrte, aber doch äußerst wortkarg war.

Manchmal war er mit seinen Knechten auf mehrere Tage abwesend und das Kind blieb dann allein im Freyhaus, welches nahe am Hochgericht in einer waldigen Gegend sehr einsam gelegen war. Zu Hause blieben nur drey alte Weiber mit greisen Wackelköpfen, die beständig ihre Spinnräder schnurren ließen, hüstelten, sich zankten und viel Brantewein tranken.

Besonders in Winternächten, wo der Wind draußen die alten Eichen schüttelte und der große flackernde Kamin so sonderbar heulte, ward es dem armen Sefchen sehr unheimlich im einsamen Hause; denn alsdann fürchtete man auch den Besuch der Diebe, nicht der lebenden, sondern der todten, der gehenkten, die vom Galgen sich losgerissen und an die niederen Fensterscheiben des Hauses klopften und Einlaß verlangten um sich ein bischen zu wärmen. Sie schneiden so jämmerlich verfrorene Grimassen. Man kann sie nur dadurch verscheuchen, daß man aus der Eisenkammer ein Richtschwert holt und ihnen damit droht; alsdann huschen sie wie ein Wirbelwind von dannen.

Manchmal lockt sie nicht bloß das Feuer des Heerdes, sondern auch die Absicht, die ihnen vom Scharfrichter gestohlenen Finger wieder zu stehlen. Hat man die Thüre nicht hinlänglich verriegelt, so treibt sie auch noch im Tode das alte Diebesgelüste und sie stehlen die Laken aus den Schränken und Betten. Eine von den alten Frauen, die einst einen solchen Diebstahl noch zeitig bemerkte, lief dem todten Diebe nach, der im Winde das Laken flattern ließ, und einen Zipfel erfassend, entriß sie ihm den Raub, als er den Galgen erreicht hatte und sich auf das Gebälke desselben flüchten wollte.

Nur an Tagen, wo der Großvater sich zu einer große Hinrichtung anschickte, kamen aus der Nachbarschaft die Collegen zum Besuche, und dann wurde gesotten, gebraten, geschmaust, getrunken, wenig gesprochen und gar nicht gesungen. Man trank aus silbernen Bechern, statt daß dem unehrlichen Freymeister oder gar seinen Freyknechten in den Wirthshäusern, wo sie einkehrten, nur eine Kanne mit hölzernem Deckel gereicht wurde, während man allen anderen Gästen aus Kannen mit zinnernen Deckeln zu trinken gab. An manchen Orten wird das Glas zerbrochen woraus der Scharfrichter getrunken; niemand spricht mit ihm, jeder vermeidet die geringste Berührung. Diese Schmach ruht auf seiner ganzen Sippschaft, weshalb auch die Scharfrichterfamilien nur unter einander heurathen.

Als Sefchen, wie sie mir erzählte, schon acht Jahr alt war, kamen an einem schönen Herbsttage eine ungewöhnliche Anzahl von Gästen aufs Gehöft des Großvaters, obgleich eben keine Hinrichtung oder sonstige peinliche Amtspflicht zu vollstrecken stand. Es waren ihrer wohl über ein Dutzend, fast alle sehr alte Männlein, mit eisgrauen oder kahlen Köpfchen, die unter ihren langen rothen Mänteln ihr Richtschwert und ihre sonntäglichsten, aber ganz altfränkischen Kleider trugen. Sie kamen, wie sie sagten, um zu „tagen“, und was Küche und Keller am Kostbarsten besaß, ward ihnen beim Mittagsmahl aufgetischt.

Es waren die ältesten Scharfrichter aus den entferntesten Gegenden, hatten einander lange nicht gesehen, schüttelten sich [268] unaufhörlich die Hände, sprachen wenig, und oft in einer geheimnißvollen Zeichensprache und amüsirten sich in ihrer Weise, das heißt „moult tristement[1], wie Froissart von den Engländern sagte, die nach der Schlacht bei Poitiers banquettirten.

Als die Nacht hereinbrach, schickte der Hausherr seine Knechte aus dem Hause, befahl der alten Schaffnerinn, aus dem Keller drey Dutzend Flaschen seines besten Rheinweins zu holen und auf den Steintisch zu stellen, der draußen vor den großen, einen Halbkreis bildenden Eichen stand; auch die Eisenleuchter für die Kienlichter befahl er dort aufzustellen und endlich schickte er die Alte nebst den zwei anderen Vetteln mit einem Vorwande aus dem Hause. Sogar an des Hofhundes kleinem Stall, wo die Planken eine Öffnung ließen, verstopfte er dieselben mit einer Pferdedecke; der Hund ward sorgsam angekettet.

Das rothe Sefchen ließ der Großvater im Hause, er gab ihr den Auftrag, den großen silbernen Pokal, worauf die Meergötter mit ihren Delphinen und Muscheltrompeten abgebildet, rein auszuschwenken und auf den erwähnten Steintisch zu stellen – dann aber, setzte er mit Befangenheit hinzu, solle sie sich unverzüglich in ihrem Schlafkämmerlein zu Bette begeben. Den Neptunspokal hat das rothe Sefchen ganz gehorsamlich ausgeschwenkt und auf den Steintisch zu den Weinflaschen gestellt, aber zu Bette ging sie nicht, und von Neugier getrieben verbarg sie sich hinter einem Gebüsche nahe bei den Eichen, wo sie zwar wenig hören, jedoch alles genau sehen konnte, was vorging.

Heinrich Heine.
Nach einem von Ludwig Gassen im Jahre 1828 gemalten Portrait.
Original im Besitz von Dr. Eduard Engel in Berlin.[WS 1]

Die fremden Männer mit dem Großvater an ihrer Spitze kamen feierlich paarweis herangeschritten und setzten sich auf hohen Holzblöcken im Halbkreis um den Steintisch, wo die Harzlichter angezündet worden und ihre ernsthaften, steinharten Gesichter gar grauenhaft beleuchteten.

Sie saßen lange schweigend, oder vielmehr in sich hineinmurmelnd, vielleicht betend. Dann goß der Großvater den Pokal voll Wein, den jeder nun austrank und mit wieder neu eingeschenktem Wein seinem Nachbar zustellte; nach jedem Trunk schüttelte man sich auch biderbe die Hände.

Endlich hielt der Großvater eine Anrede, wovon das Sefchen wenig hören konnte und gar nichts verstand, die aber sehr traurige Gegenstände zu behandeln schien, da große Thränen aus des alten Mannes Augen herabtropften und auch die anderen alten Männer bitterlich zu weinen anfingen, was ein entsetzlicher Anblick war, da diese Leute sonst so hart und verwittert aussahen wie die grauen Steinfiguren vor einem Kirchenportal – und jetzt schossen Thränen aus den stieren Steinaugen, und sie schluchzten wie die Kinder.

Der Mond sah dabey so melancholisch aus seinen Nebelschleiern am sternlosen Himmel, daß der kleinen Lauscherinn das Herz brechen wollte vor Mitleid. Besonders rührte sie der Kummer eines kleinen alten Mannes, der heftiger als die andern weinte und so laut jammerte, daß sie ganz gut einige seiner Worte vernahm – er rief unaufhörlich: „O Gott! o Gott! das Unglück dauert schon so lange, das kann eine menschliche Seele nicht länger tragen. O Gott, Du bist ungerecht, ja ungerecht.“ – Seine Genossen schienen ihn nur mit großer Mühe beschwichtigen zu können.

Endlich erhob sich wieder die Versammlung von ihren Sitzen, sie warfen ihre rothen Mäntel ab, und jeder sein Richtschwert [269] unterm Arm haltend, je zwey und zwey, begaben sie sich hinter einen Baum, wo schon ein eiserner Spaten bereit stand, und mit diesem Spaten schaufelte einer von ihnen in wenigen Augenblicken eine tiefe Grube. Jetzt trat Sefchens Großvater heran, welcher seinen rothen Mantel nicht wie die andren abgelegt hatte, und langte darunter ein weißes Paquet hervor, welches sehr schmal aber über eine brabanter Elle lang sein mochte und mit einem Bettlaken umwickelt war; er legte dasselbe sorgsam in die offne Grube, die er mit großer Hast wieder mit Erde zudeckte. Das arme Sefchen konnte es in seinem Versteck nicht länger aushalten, bei dem Anblick jenes geheimnißvollen Begräbnisses sträubten sich ihre Haare, das arme Kind trieb die Seelenangst von dannen, sie eilte in ihr Schlafkämmerlein, barg sich unter die Decke und schlief ein.[2]

(Schluß folgt.)




Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Frau von Ratenow hatte gleich nach dem Essen ihren Wagen bestellt. Er hielt, zur großen Verwunderung ihres Sohnes, vor der Freitreppe.

„Wo willst Du hin, Mütterchen?“ fragte er, als die alte Dame im Pelz – der Herbsttag war kühl – und in ihrer Nebelkapuze aus der Hausthür trat, gefolgt von einer Dienerin mit Decken und Fußsack.

„Spazierenfahren!“ entgegnete sie kurz.

Moritz antwortete nicht, er kannte zu genau ihre Art; sie hatte irgend etwas Besonderes vor. Er half ihr respectvoll in den Wagen, mußte sich aber ein Lächeln verbeißen; es war ja ein zu gräuliches Wetter, das die Mutter zu einer Spazierfahrt verlockt haben sollte.

Der Wagen rasselte vom Hofe; Frau von Ratenow war noch immer beschäftigt sich warm einzuhüllen. Am Stadtthor warf sie die Decken wieder ab, und sah aus dem Fenster. „Fahr die Chaussee nach Büstrow zu, Jochen, ein bischen rasch aber.“

Das Gefährt rollte auf der bezeichneten Chaussee hin; die jungen Obstbäume zu beiden Seiten derselben flogen vor den Blicken der einsamen Frau vorüber, der Herbstwind fauchte durch die leise klirrenden Wagenfenster; weit, weit in der Ferne hob sich der Büstrower Kirchthurm über eine Eichwaldung empor. Es sah Alles so unfreundlich aus, so herbstlich müde unter dem wolkenverhangenen Himmel, und Jochen fuhr weiter. Dicht vor Büstrow ließ Frau von Ratenow halten.

„Ist das der Bennewitzer Weg?“ fragte sie.

„Jawohl, gnädige Frau.“

„Fahr zu, Jochen.“

Jochen lenkte ein und fuhr rasch, denn eben fielen die ersten Regentropfen; und daß es eine regelrechte Husche werden würde, das sah man den schwarzen Wolken an. Nach zehn Minuten hielt Jochen vor dem stattlichen alten Giebelhause. Ein Diener sprang herzu und half der Angekommenen beim Aussteigen.

„Ich bin’s, Seeben,“ nickte sie dem verwunderten alten Manne zu. „Ist der Herr zu Hause?“

„Jawohl, belieben Frau Baronin nur einzutreten.“

„Kannst ein wenig ausspannen, Jochen,“ befahl sie dem Kutscher, und nun betrat sie das Haus. Es war ihr wohlbekannt von früher, aber es überraschte sie dennoch wieder durch seine wohnliche Anmuth und durch seine vornehmen Verhältnisse. Was hatte der Bennewitzer im Laufe der Jahre aus diesem vernachlässigten alten Fachwerkhause geschaffen! Was war überhaupt aus der sogenanten Sandbüchse für ein Prachtgut geworden unter seiner Leitung!

„Die dumme Else!“ murmelte sie, als sie in einem Salon stand, so elegant, gediegen und behaglich, wie nur ein Mensch seine Umgebung gestalten kann, der über Geschmack, Schönheitssinn und reiche Mittel zu verfügen hat.

„Ich werde den Herrn gleich benachrichtigen,“ flüsterte der Diener und rückte einen der lichtbraunen Seidenfauteuils zum flammenden Kamin, „er ist eben einen Augenblick beschäftigt.“

Frau von Ratenow setzte sich und betrachtete das große Bild über dem Kamin. „Seine erste Gattin,“ sagte sie zu sich. „Hegebach hatte immer Geschmack,“ dachte sie weiter und schaute auf die Frauengestalt, die ihr aus dem Rahmen entgegenzutreten schien; eine edelschöne Gestalt im leichten weißen Kleide, den Kopf etwas zurückgewandt, so daß das Antlitz im Profil sich zeigte; im Hintergrunde sah man Haus Bennewitz aus Bäumen auftauchen. Auf dem Kaminsims zu Füßen des Bildes prangte eine Jardinière voll köstlicher duftender Rosen.

Er habe sie wohl sehr geliebt, dachte die sinnende Frau, und ob es nicht schwer sei für eine Nachfolgerin, wenn sie die Aufmerksamkeiten des Gatten noch mit der Verstorbenen theilen müsse. Na, er wollte ja nicht heirathen!

Sie fuhr empor aus ihren Gedanken; aus dem Nebenzimmer scholl lautes Sprechen, gleich darauf öffnete sich die Thür und eine Frau im Alter von etwa vierzig Jahren trat in den Salon, gefolgt von einem schlanken bildhübschen Jungen von ohngefähr fünfzehn Jahren. Sie schritten stumm grüßend an Frau von Ratenow vorüber, die mit sehr gemischten Gefühlen ihnen nachsah, halb staunend, halb verdutzt. Sie machte plötzlich eine Bewegung mit dem Kopfe und murmelte: „Ach so!“, als hätte sie eben etwas Wichtiges, wenn auch nicht gerade Angenehmes entdeckt. Es war ihr mit einem Male sehr ungemütlich zu Sinne, als ob sie höchst unnützer Weise hierher gekommen, als ob sie und Alles, was sie gewollt, entsetzlich überflüssig sei.

Da stand der Bennewitzer schon vor ihr und zog ihre Hand an seine Lippen.

„Meine beste Frau von Ratenow, was verschafft mir die seltene Ehre Ihres Besuches?“

„Ja, das fragen Sie einmal, Hegebach! Nicht wahr, es ist wunderlich von mir, Sie so plötzlich zu überfallen?“

„Reizend ist es, gnädige Frau!“

Er drückte sie wieder in den Sessel und nahm ihr gegenüber Platz.

„Ich will mich auch nicht lange aufhalten, Hegebach; ich glaube fast, ich störte Sie in – in einem wichtigen Moment.“

„Durchaus nicht, die Sache hat völlig Zeit,“ erwiderte er.

„Es ist ein hübscher Knabe, Hegebach.“

„Der hier eben vorübergegangen?“ fragte er. „Ah, ein prächtiger Junge!“

„In der That!“ pflichtete sie bei. Dann schwiegen sie, der Bennewitzer war zur Klingel gegangen.

Nun kehrte er zurück. „Ich bin glücklich, daß Sie gekommen sind, Gnädigste,“ begann er, „ich wäre möglicher Weise sonst noch zu Ihnen gefahren. Ich bin unruhig und aufgeregt, Sie wissen ja, weshalb. Es ist inmmerhin ein Schritt, der doch wahrhaftig nicht gleichgültig zu nennen ist. So etwas Fremdes plötzlich neben sich stellen zu wollen, von ihm all das zu erwarten, was sonst nur die Bande des Blutes zu fordern berechtigt sind, Liebe, Nachsicht, Ehrfurcht; diesem fremden Wesen das geben zu müssen, sein zu wollen, was man den eignen Kindern gewesen – es ist [270] etwas Eigenes, gnädige Frau, und es ist nichts Leichtes, glauben Sie das?“

Die alte Dame nickte. Sie war noch immer in Gedanken bei dem hübschen Jungen, der da vorhin durch das Zimmer geschritten. Sie konnte auch den Zweifel nicht länger ertragen. „Verzeihen Sie, Hegebach,“ begann sie mit einem tiefen Athemzuge, „war das nette Kerlchen vielleicht einer der Candidaten für Ihre Sohnesstelle?“

„Wer?“

„Der mit seiner Mutter eben hier –“

„Ach, meine Gnädigste. Nein, nein! Ich bin zwar Vormund und habe ein reges Interesse an ihm, er war der beste Freund meines armen Heinrich, aber –“

„Verzeihen Sie, Hegebach!“

Frau von Ratenow schöpfte Athem.

„Aber ich habe bereits anderweitig Verhandlungen angeknüpft und erwarte stündlich Nachricht.“

Die alte Dame saß wieder wie auf Kohlen. „Nun, mein bester Hegebach, ich wünsche alles Glück!“ Sie erhob sich plötzlich, es war schon tiefe Dämmerung. „Ich möchte eilen, heim zu kommen; sie wissen nicht, wo ich geblieben bin. Es hat auch keinen Zweck noch zu verweilen, ich – Sie werden mir verzeihen, Hegebach, ich war gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen – ich – ich hatte einen Plan, nun ist das zu spät. Nichts für ungut, Hegebach.“

Er antwortete nicht, es war stille im Gemach, nur die schwere Seide rauschte, wie sie sich den Mantel zuknöpfte, und die Uhr tickte leise.

„Adieu, Hegebach; Sie wissen, alte Frauen steckeu ihre Nasen gern in anderer Leute Sachen, aber gut gemeint war es.“

Er folgte ihr stumm bis zur Thür. „Warum so eilig?“ fragte er endlich gepreßt, „wollen Sie nicht eine Erfrischung nehmen, gnädige Frau?“

Sie dankte; sie hatte die Hand schon auf den Drücker gelegt, dann wich sie einen Schritt zurück; der alte Diener trat mit der Lampe ein und überreichte dem Hausherrn eine Depesche.

„Noch einen Augenblick, Gnädigste,“ bat er dringend und öffnete, zum Lichte tretend, das Couvert. „Lesen Sie,“ sagte er dann, „ich bin wieder einmal unglücklich gewesen,“ und er gab ihr das Blatt.

Sie nahm die Lorgnette und las:

„Ablehnende Antwort, vergeblich zugeredet.
 von Rost.“

„Was soll das heißeu?“ fragte sie hastig.

„Einen Korb von meinem auserkornen Sohne!“ Er war blaß geworden.

Tante Ratenow starrte auf die Depesche, es flimmerte ihr vor den Augen; sie las den Abgangsort, sie las die Unterschrift, es war wie ein Jubelsturm in ihrem alten Herzen.

„Und es liegt Ihnen gerad etwas an Diesem?“

„An Diesem, just an Diesem,“ sagte er, „sehr viel!“

„Geben Sie mir Vollmacht, Hegebach; Sie kennen ihn kaum, lasseu Sie mich -“

„Ich kenne ihn fast gar nicht,“ bestätigte er, „mich bestimmte nur Eines, ihn zu wählen, das –“

„Hegebach!“ Die alte Frau trat auf den Mann zu, der da noch immer neben dem Tische stand, die Hand leicht aufgestützt, wie in tiefem Nachsinnen; „Hegebach!“ Sie wollte weiter sprecheu, aber sie fing plötzlich an zu weinen. Sie weinte vor Freude, und sie ärgerte sich sofort darüber, daß ihr die Thränen so unaufhaltsam aus den Augen drangen; es war ihr nichts unangenehmer, als wenn man sie auf einer Weichherzigkeit ertappte, und resolut trocknete sie sich die Thränen ab und begann zu schelten:

„Ich müßte Sie eigentlich sitzen lassen, Hegebach, wahrhaftig! Seh mir Einer an, so ein Heimlichthuer! So geht’s aber immer, mein Bester, wenn Zwei von dem sogenannten starken Geschlecht sich zusammenthun, um etwas sehr Kluges auszubrüten. Rost! Der mag schönes Zeug zusammengeschwatzt haben, einen bessern Abgesandten konnten Sie nicht finden! Und warum sollte ich denn von alledem nichts wissen? Beichten Sie gefälligst, Hegebach!“

Er lächelte. „Wir wollten Sie überraschen, Gnädigste, denn an Den hätten Sie doch nicht gedacht.“

„So?“ fragte sie, und unter Thränen lachte auch sie nun. „Aber trotzdem, die alte Ratenow muß wieder einmal das Beste thun bei der Sache.“

Ja freilich, das mußte sie. Moritz erfuhr am späten Abend noch mit Kopfschütteln, daß seine Mutter verreisen wolle, den nächsten Morgen. Und sie reiste, und sie kehrte wieder nach drei Tagen. Dann kam der Bennewitzer und dann verreisten sie gemeinschaftlich. Diesmal wußte man wenigstens wohin; es ging nach Berlin.

„Mama will dem Bennewitzer wohl einen Sohn verschaffen, weil es mit der Frau doch nichts geworden ist?“ erkundigte sich Frieda; „wenn ich mir nur Eins dabei erklären könnte, Moritz.“

„Und dieses Eine?“

„Ich glaubte bisher immer, daß Mama ihn unter die Haube bringen wollte, das hätte sie Else’s wegen gethan. Was sie nun aber davon hat, ihm bei der Adoption eines Sohnes behülflich zu sein, das ist mir räthselhaft! Es geht sie doch gar nichts an – nicht wahr, Moritz?“

Moritz war so ungalant, nicht zu antworten. Er pfiff nur leise vor sich hin.

Am Abend kam das junge Rost’sche Ehepaar. Draußen regnete und stürmte es, und dann saß es sich köstlich in Frieda’s blauem Boudoir.

Sie waren rasch von ihrer hochzeitlichen Reise heimgekommen; Annie kannte schon Alles, und das Wetter war schlecht; außerdem hatte Rost so merkwürdige Reiserouten verfolgt. Anstatt nach Wien, hatte er die junge Frau nach dem obscuren H. geführt, und da war er einen halben Tag lang spurlos verschwunden gewesen. „Um ein Pferd zu kaufen,“ hatte er Annie nachher gesagt, denn bei Cavaleristen hätten die Pferde-Angelegenheiten sogar in den Flitterwochen ihre unbestrittene Berechtigung. Und dann – Annie erzählte es halb lachend, halb ärgerlich – hätte er seine Reisepläne noch damit gekrönt, daß der Unmensch sie nach Berlin geführt; „nach Berlin, das ich so genau kenne, wie mein Vaterstädtchen. Da riß mir aber die Geduld!“

„Uebrigens, wir sahen auch Ihre Frau Schwiegermama,“ setzte sie wie fragend hinzu.

„Freilich, Mama hat eine geheime Mission dort.“ Und Frieda schüttelte den Kopf.

„Der Bennewitzer war auch in Berlin,“ sagte Annie wieder.

„Auch Bernardi läßt sich allerseits empfehlen,“ fügte der junge Ehemann hinzu, und setzte den Kneifer auf, um Frieda anzusehen.

„In Berlin?“ rief diese mit ungeheucheltem Erstaunen.

Und Moritz lachte leise vor sich hin. Dann beurlaubte er sich; er wollte die heimkehrende Mutter vom Bahnhofe abholen.

„So, mein Jung,“ sagte diese, als sie eine Stunde später neben dem Sohne im Wagen saß, der rasch durch den dunklen Winterabend der Burg zurollte, „nun kommt’s in die Reihe. Aber Mühe hat’s gekostet nach allen Richtungen hin; was glaubst Du, Moritz, bis an den Kaiser mußte Hegebach gehen. Haben die Menschen spitzfindige Gesetze ausgeklügelt, um sich unter einander das Leben schwer zu machen! In ein paar Wochen hat der Bennewitzer einen Sohn, Moritz, und was für Einen!“




Es wurde Winter.

Das kleine Herrnhuter Dorf lag einsam unter den kahlen Bäumen; man konnte durch die entblätterten Aeste deutlich die fernen Berge sehen; die hatten schon Schnee auf den Gipfeln. In den Stuben des Pensionates knackten die Thüringer Buchenscheite in den Oefen, und die Lampen mußten zeitig angezündet werden.

Else von Hegebach kam eben aus der Schulstube. Um sie herum und an ihr vorüber stürmten wohl dreißig kleine Mädchen, sprangen mit wahrer Wonne in dem frisch gefallenen Schnee des Gartens umher, und sogleich begann ein hitziges Gefecht mit Schneebällen. Das junge Mädchen blieb in der Hausthür stehen, sah zu, wie das stiebte und flog und wie das traf, und hörte, wie sie jauchzten, die Kinder. Ueber ihr blasses Gesicht zog ein Lächeln, so hatte sie es einst auch gemacht. Sie schöpfte tief Athem in der kräftigen Schneeluft; das thut gut nach der dumpfen Schulstube.

[271] Dann ging sie quer durch den Garten auf das Hintergebäude zu, erstieg das knarrende Treppchen, und nun war sie allein in ihrer Stube, und die liebste Stunde des Tages war für sie gekommen. Da las sie oder schrieb Briefe, oder sie saß am Fenster und schaute in die Ferne und dachte –. Ja, an was denkt man wohl, wenn man allein ist und nebenan eine Geige singt, in alten süßen Melodien? Und Miß Brown, die englische Lehrerin, pflegte immer um diese Zeit eine Stunde zu phantasiren auf der Violine. Zuweilen konnte es Else nicht hören; das waren die Tage, wo Herzeleid und Sehnsucht sie mit aller Gewalt packten; die Tage, wo sie meinte, sie könne das Leben so nicht ertragen für immer und immer. Dann brannte der arme Kopf, und dann brannte das Herz und die Augen thaten weh vom trostlosen Weinen. Und sie mußte sich fragen: warum denn nur sie kein Glück habe, so gar kein Glück?

Dann floh sie die Geigentöne und lief in Sturm und Regen hinaus, wer weiß wie weit! Oder sie flüchtete zu Schwester Beate und saß dort stundenlang und stumm.

„Ich kann die Geige nicht hören, Schwester Beate.“

„Aber, Elisabeth, ich gebe Dir ein anderes Zimmer!“

„Nein, ja nicht, ja nicht!“ wehrte sie dann ab.

Heute stand sie, wie in Gedanken versunken, vor der einfachen Commode, deren obersten Kasten sie herausgezogen hatte. Nun nahm sie mehrere Papiere zur Hand und setzte sich damit an das Fenster. Sie mußte sie immer und immer wieder lesen, die Briefe, die sie vor ungefähr acht Wochen erhalten und die ihr so viel zu denken gaben:

 „Liebe Else!

Du weißt, daß ich nicht meinetwegen böse auf Dich war, sondern lediglich, weil Du Dir selbst etwas zufügtest, und zwar nichts Gutes. Na, das ist nicht mehr zu ändern, Du mußt es tragen, was Du Dir aufgepackt hast, und Gott wird ja wohl Deine Wege weiter in Gnaden lenken, wenngleich ich nicht fromm genug bin, zu glauben, daß unser ganzer Lebensweg von Gottes Hand schon fertig aufgezeichnet besteht, wie ein Bauplan etwa, wenn wir noch in den Windeln liegen. –

Das ist Türkenglaube!

Ich sage, Gott gab uns Verstand zu prüfen und zu handeln. Du hast ihn nicht richtig gebraucht, Deinen Verstand, sondern Dich von Deinem recht thörichten Herzen unterkriegen lassen – die Folgen sind schlimmer, als ich es gedacht; doch still davon, Du wirst es noch zeitig genug erfahren, und Reue wird Dir nicht erspart bleiben –.

Nun bitte ich Dich, Else, komm wieder zurück! Du sollst die Heimath Deiner Jugend nicht verlieren. Mach’ Dich frei von den Verpflichtungen dort; Du bist auch hier nützlich, und es ist doch immer kein fremdes Brod, das bekanntlich sieben Krusten hat.

Ich denke, Du kommst bald; die Winterabende sind lang und ich möchte gern, daß Du mir wieder vorliest wie im vorigen Jahre. Gott befohlen!
 Deine allezeit treu gesinnte
 Tante Ratenow.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein!“ sagte sie halblaut und legte den Brief zur Seite. „Ich bin doch kein dressirter Pudel, der über den Stock springt, wenn ihm Jemand denselben vorhält? Nein!“

Sie saß noch ein Weilchen, dann griff sie zu dem zweiten Briefe; es war Lili’s kritzlige Handschrift. Sie überschlug die Beschreibung von Annie Cramm’s Hochzeit, und ihre Augen blieben an dem Schlusse des Briefes hängen:

„Es kam auch ein Telegramm von Bernardi,“ las sie. „Aber nun staune, Else: der neugebackene Ehemann scheint nämlich Brüderschaft mit dem Bennewitzer getrunken zu haben; er ließ plötzlich seine theure Gattin im Stiche und setzte sich zu ihm, gerade mir gegenüber. Sie schwatzten höchst angelegentlich zusammen, und zwar sehr unschicklicher Weise ziemlich leise. Ich konnte während der Zeit nicht einen Blick bei dem Bennewitzer anbringen; – schließlich stießen sie mit einander an und trennten sich. Der Bennewitzer war nach Tische verschwunden und soll, wie ich später erfuhr, bei Tante Ratenow gesessen haben -. Ja, siehst Du, Else, und nun kommt, was ich Dir eigentlich sagen wollte: Ich habe keine Hoffnung mehr, denn der Bennewitzer will sich ‚zur Ruhe‘ setzen. Weißt Du, was das heißt in diesem Falle? Er handelt bereits in einem Möbelgeschäft um einen Großvaterstuhl, er wird nicht mehr heirathen! Er wird sich einen Adoptivsohn annehmen!

Deine Tante sagt, es wäre recht so, aber innerlich ist sie wüthend, ich sehe es ihr an; denn, Schatz, sie hatte es doch nun einmal darauf abgesehen, Du solltest auf Bennewitz residiren. Und daß sie Dich in D. ließ, Dir nicht verzeihen wollte, na – das war so ein letztes Mittel, sie wollte Dich durch Hunger zähmen! So stehen die Sachen –.

Ach, liebste Else, ich furchte, wir sterben Beide als alte Jungfern, und ich habe so gar kein Talent dazu, wie Tante Lott; die ist geborne alte Jungfer –.“

Ja, das war es auch! Tante Ratenow hatte sie zähmen wollen; nun machte der Bennewitzer selbst einen dicken Strich durch die Rechnung, Gott sei Dank! Nein, nein, Tante hatte es immer gut mit ihr gemeint, aber zurückgehen zu ihr – nimmermehr! Sie dachte an alle die durchwachten Nächte, an die qualvollen Stunden, die sie dort verbracht, und dann die Erinnerung – „Nein!“ – Sie faltete ein drittes Blatt auseinander, das hatte sie geschrieben, es war das Concept der Antwort an Tante Ratenow:

 „Meine liebe, hochverehrte Tante!

Nimm vielen Dank für Deine gütigen Worte, die mich unendlich erfreuten und beruhigten. Es war mir eine schwere Last, Dein Mißfallen erregt zu haben, und nur das Bewußtsein, daß ich das Rechte that, hielt mich in allen den traurigen Tagen aufrecht, die Deiner Abreise von hier gefolgt sind. Nimm herzlichen Dank für Deine Liebe, die Du mir immer bewiesen, und heute von Neuem mir zu Theil werden läßt. Wie würde ich je vergessen, was Du für mich gethan! Aber halte mich nicht für trotzig und undankbar – ich bleibe hier, ich fühle, daß Arbeit das Einzige ist, was mich über alle die schmerzlichen Erfahrungen tröstet, die ich in dem letzten Jahre machen mußte –.“

Sie ließ das Briefblatt sinken. Ob sie nicht zu bitter geschrieben? fragte sie sich. Aber wer pflückt denn süße Frucht von einem zerschlagenen kranken Baume? Es war ihr unwillkürlich so aus der Feder geflossen.

Sie packte die Briefe wieder zusammen und saß nun ganz ruhig. Nebenan klang die Geige; Miß Brown schien sehr wehmüthig aufgelegt heute, sie hatte begonnen mit „home, sweet home“. – ilome^. -

Sie war ein langes, rothblondes sommersprossiges Wesen und hatte Augen, in denen ein Ausdruck lag, wie beständiges Heimweh. Es seien ihre liebsten Stunden, wenn sie im Dämmern Geige spielen könne, hatte sie Else mitgetheilt, und Else schloß die Augen und träumte bei den Klängen von einer andern Hand, die so meisterhaft den Bogen führte, von Tönen, die noch unendlich viel süßer und weicher waren.

Wie das Alles lebendig wurde! Da war der ungarische Tanz, und jetzt – wie kam die Engländerin zu dem deutschen Volksliede?

„Wer ist so verlassen wie ich auf der Welt?
Nicht Vater noch Mutter, kein Gut und kein Geld,
Nichts weiter mehr hab’ ich – –“

Nun mußte sie wieder weinen; wo sie nur herkamen, alle die Thränen?

Jetzt stieg da draußen Jemand die Treppe herauf – wer konnte nur so poltern und anstoßen; wahrscheinlich brannte die Lampe noch nicht auf dem Flure; nun ging man an ihrer Thür vorüber, recht schwerfällig und tappend, wie ein Männertritt. Nebenan wurde geklopft, das Geigenspiel verstummte. „Come in!“ hörte sie Miß Brown rufen, und gleich darauf dear me und eine tiefe Männerstimme, welche wie entschuldigend um Auskunft bat.

„Bitte, mein Herr, treten Sie gefälligst näher,“ sprach sie in gebrochenem Deutsch.

Else stand plötzlich in der geöffneten Stubenthür und suchte die tiefe Dämmerung mit den Augen zu durchdringen, die Hände fest auf das klopfende Herz gedrückt. „Moritz?“ fragte sie leise und zweifelnd.

(Schluß folgt.)




[272]

Bilder aus dem Sudan.

Von0 Adolf Ebeling.
(Schluß.)


Sudanesische Frauen. – Das sudanesische Bettgestell. – Die Hütten der Eingeborenen. – Dorfleben. – Heilige und Derwische. – Khartum. – Der Mittelpunkt des afrikanischen Sclavenhandels. – Gordon’s Proclamation.

Wir folgten bis jetzt in unsern Schilderungen den kriegerischen Ereignissen und suchten die Städte auf, vor deren Thoren der Kampf wüthete. Nun müssen wir, um unser Bild zu vervollständigen, auch die stillen sudanesischen Dörfer kennen lernen, in welchen die Frauen und Kinder der Krieger des Mahdi, wie in den Friedenszeiten, das Feld bebauen und die häuslichen Geschäfte besorgen.

Ihr Loos ist im Allgemeinen nicht beneidenswerth, denn die Weiber werden auch im Sudan, wie überall in den mohammedanischen Ländern, und ganz besonders bei den Negervölkern, als Wesen untergeordneter Art betrachtet, denen ja der Koran selbst nur bedingungsweise eine Seele und damit das Anrecht auf Unsterblichkeit zugesteht. Wo dabei freilich die Huris des Paradieses hergekommen, ist eine andere Frage, es sind vielleicht ganz besondere Himmelsgeschöpfe; aber der Koran ist bekanntlich voll von Widersprüchen.

Heilige und Derwische im Reiche des Mahdi.
Originalzeichnung von Wilhelm Gentz.

Trotzdem sind die Sudanesinnen eitel und geben viel auf Putz, wenn auch in höchst eigenthümlicher Weise. Zunächst ist es das Haar, dem sie eine ganz besondere Sorgfalt zuwenden. Sie flechten es nämlich in hundert kleine Stränge, die, wenn das Haar recht üppig ist, terrassenförmig über einander liegen. Dies könnte allenfalls noch für eine originelle Mode gelten, aber das Schlimme und Widerwärtige kommt hintennach, das ist das Einreiben und gewissermaßen Durchtränken des Flechtkunstwerks mit Hammelfett, Telka genannt, das schon beim ersten Gebrauch durch die starke Hitze ranzig geworden ist und einen abscheulichen Geruch verbreitet. Die hübschesten Sudanesinnen (und es giebt wirklich unter den jüngeren Weihern schöne Gestalten mit überaus ansprechender Gesichtsbildung) werden dadurch für den Europäer Ekel erregend, vollends wenn man sieht, wie sie das herabtropfende Fett sorgfältig auf Schultern und Nacken verreiben, um ihrer dunkelfarbigen Haut noch mehr Glanz zu geben. Und einen solchen Kopfputz, für dessen Herstellung es eigene Künstlerinnen giebt, die sich ihre Arbeit teuer bezahlen lassen, tragen die Schönen oft einen Monat und länger, bevor sie ihn erneuern. Die Männer lassen sich dagegen, nach der allgemeinen Sitte der Mohammedaner, das Kopfhaar bis auf einen dicken Büschel im Wirbel kahl scheeren und tragen eine Filzkappe oder gar nichts. Turban und Tarbusch (das rothe Fez) sieht man nur in den Städten, wo auch die übrige Tracht beider Geschlechter eine gewähltere ist. In den Dörfern und auch in den größeren Ortschaften gehen die Kinder bis zum achten und zehnten Jahre unbekleidet; später bekommen die Knaben den Libáhs, eine Art weitfaltiger Badehose, wie sie auch die Aegypter tragen, und die Mädchen den Ráhad, einen aus langen, dicht an einander genähten Lederstreifen bestehenden Leibschurz. Die verheiratheten Frauen fügen diesem Kleidungsstück, außer dem Gesichtsschleier, noch die Fúrdah hinzu, ein größeres oder kleineres Baumwollentuch, in das sie sich sehr hübsch zu drapiren wissen, auch ausnahmsweise Sandalen oder feingeflochtene Strohschuhe, denn gewöhnlich geht alles barfüßig.

Die Kleidung der Männer ist ähnlich, das lange indigoblaue Baumwollenhemd der Aegypter findet sich auch im Sudan; der weiße Stoff kommt meistens aus England und wird in Kairo und in den südlicheren Nilstädten, namentlich in Siut, blau gefärbt. Von den Waffen der Sudanesen haben wir bereits gesprochen; hier wäre nur noch das Sickihn zu nennen, ein Messer, das jeder Mann in einer Lederscheide am linken Arm trägt, das ihn nie verläßt, und das viele nicht einmal Nachts ablegen. Es ist aber weniger Waffe als nothwendiges Hausgeräth, und auch die Nubier tragen ein solches Messer.

Ueberaus seltsam ist das sudanesische Bettgestell, das Ankaréb, das gewiß schon mancher unserer Leser in irgend einem ethnographischen Museum gesehen hat. Es besteht aus einem schrägen, auf kurzen Füßen ruhenden Holzrahmen, dessen schmaler innerer Raum mit starken Lederriemen vollständig überspannt ist; am Kopfende befindet sich eine Vorrichtung zum festeren Anziehen oder [273] zum Nachlassen der Riemen, was aber auch durch bloße Befeuchtung erzielt werden kann.[3]

Sudanesische Volkstypen. Originalzeichnung von Wilhelm Gentz.
Zur Erklärung dieses Gruppenbildes möge Folgendes dienen: Von den drei Männerköpfen auf der linken Seite des Holzschnittes stellt der oberste einen Typus des durch seine Wildheit schlecht beleumundeten Bischarinstammes dar, während der mittlere uns einen Bewohner Kordofans und der unterste einen Eingeborenen aus Darfor veranschaulicht. Die drei kleinen Köpfe rechts oben sind naturgetreue Portraits nubischer Jugend, und von den Frauenköpfen zeigt uns der oberste eine Repräsentantin der Bischarin, die anderen sind sämmtlich Frauentypen aus Khartum. Im Uebrigen verweisen wir unsere Leser auf den nebenstehenden Artikel.

Die Dörfer des Sudans, deren es unzählige giebt, denn auch die sogenannten kleinen Städte sind nicht viel mehr als Dörfer, nehmen sich fast alle, namentlich von fern gesehen, recht hübsch aus. Mimosen oder sonstige Akazienarten, Dum- oder Fächerpalmen (die Dattelpalme wird über Khartum hinaus immer seltener), Tamarinden und Lebbakbäume, und vor allem gewaltige Adansonien geben der Landschaft einen vollständig tropischen Charakter. Die letzteren, die sogenannten Affenbrodbäume, gehören jedenfalls zu den interessantesten Bäumen der Erde. Es sind wahrhafte Baumriesen, allerdings nur von mittlerer Höhe, aber ihre weitgestreckten Aeste, deren jeder schon an sich einen ungeheuren Baum bilden würde, gehen oft über hundert Fuß in die Breite, sodaß eine einzige Adansonie wie ein kleiner Wald aussieht. Dabei erreichen sie nachweislich ein Alter von vielen tausend Jahren. Die Gärten, und hier und da auch die bebauten Felder sind von Cactusfeigenhecken umgeben, die undurchdringlichen Schutz, sogar gegen wilde Thiere, gewähren, und ein gewaltiger Dornstrauch mit fingerlangen eisenharten Spitzen bildet einen noch dichteren Verhau, die sogenannte Scheriba, die im Kriege zu Verschanzungen dient, wie wir aus den verschiedenen Schlachtberichten von El Teb und Tamanieh noch jüngst erfahren haben.

Die Hütten der Eingeborenen (die Thokuls) tragen sämmtlich ein trichterförmiges Strohdach, „man erbaut sie,“ sagt Brehm (für unsere ganze Schilderung der beste Gewährsmann) „in wenig Tagen, und ein zufällig ausbrechender Brand zerstört sie in wenig Minuten.“

Einfach wie die Hütte ist auch das Leben ihrer Bewohner: der Mann liegt die meiste Zeit auf seinem Ankaréb und trinkt Busa oder Meriesa, zwei auf Durrahkörnern[4] gegohrene, dem Bier ähnliche Getränke, aber für einen europäischen Gaumen von widerlichem

[274]

El-Obeid.0 Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Geschmack; die Frau besorgt die Haushaltung und arbeitet, unbekümmert um die sengende Tropensonne, in dem kleinen Gemüsegärtchen, und die nackten Kinder spielen umher. Abends kommen die Dorfbewohner zusammen, die Mädchen führen ihre meist unschönen Tänze auf, die älteren Weiber schlagen dazu das Tamburin (die Tarabucca) und die Männer sprechen wohl von der letzten Karawane und dem kleinen Tauschhandel, den sie gemacht, oder auch von dem Scheich der nächstgelegenen Ortschaft, der für den folgenden Tag angemeldet ist, um die Steuern einzutreiben. In die blendend helle Vollmondsnacht tönt der heisere Ruf der Brüllaffen, oder das Geheul der Panther, aber die Raubthiere wagen sich nur selten in die Nähe der Menschen. Jetzt geht freilich seit etwa anderthalb Jahren ein anderer Geist durch jene Länder, weil sie der Mahdi in wilden Aufruhr gebracht hat. Die jüngeren Männer, von den überall umherziehenden Sendboten des Propheten aufgewiegelt, verlassen den friedlichen Thokul und eilen mit Schild und Lanze, mit Bogen und Pfeil zu irgend einem Versammlungsort, um sich den Heerhaufen anzuschließen.

Manchmal erscheinen auch in den Dörfern Derwische und Heilige, vorzüglich in letzter Zeit, um für den Mahdi Propaganda zu machen. Von jeher haben übrigens die Letzteren in der islamitischen Welt eine wichtige Rolle gespielt.

Wer nie mit eigenen Augen einen solchen magnuhn, weli oder megdubh, und wie man noch sonst die mohammedanischen Heiligen nennt, gesehen hat, würde nach der bloßen Schilderung solche Leute für Fabelwesen halten. Sie treiben sich aber zu vielen Hunderten, ja zu Tausenden in ganz Aegyptenland umher, und wir selbst sind ihnen in Kairo und in anderen ägyptischen Städten nicht allein häufig begegnet, sondern haben sie auch direct aufgesucht, um sie genauer kennen zu lernen.

Man könnte ein kleines ganz interessantes Buch darüber schreiben; hier beschränken wir uns nur auf einige kurze Andeutungen. Das Leben und Treiben dieser Verrückten, denn etwas Anderes sind diese „Heiligen“ nicht, obwohl es auch nicht wenig Betrüger und Speculanten unter ihnen geben mag, ist ein verschiedenes: manche sitzen halb oder ganz nackt Tage und Wochen lang auf einem Fleck und stoßen nur unartikulirte Laute aus, die von ihren Verehrern dann beliebig gedeutet und weiter verbreitet werden, andere, mit allerlei bunten Lappen und Fetzen behängt, laufen umher und „predigen“, wieder andere stehen als Bettler am Wege und verkünden unter verzückten Grimassen und sonstigen Faxen das nahe Gottesgericht – im vorliegenden Falle die Ankunft des neuen Propheten. Noch andere, und zwar die schlauen und gut bezahlten, gehen, wie oben erwähnt, als Sendboten unter das Volk, von Dorf zu Dorf, und stacheln es auf zum Christenhaß, zur Verfolgung der Ungläubigen, zur Abschüttelung des verhaßten ägyptischen Jochs, unter Verwünschungen des Khedivs und seiner Minister, die sämmtlich an die Engländer verkauft seien etc. Und das Alles predigen sie unter Hinweis auf die göttliche Sendung des Mahdi und die späteren Freuden des Himmels, die um so herrlicher sein werden, je mehr Christenhunde man hier auf Erden todtgeschlagen.

In den wenigen größeren Städten des Sudan ist natürlich das Leben ein anderes, und da nimmt vor Allem Khartum, die Hauptstadt des mittleren Sudans, unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch.

Der erste Anblick der Stadt, deren Einwohnerzahl jetzt 40- oder gar 50,000 Seelen betragen soll, ist kein sehr anmuthiger. Die alljährlichen Ueberschwemmungen machen die nach dem Flusse hin liegende Umgebung sumpfig und bei der später eintretenden Hitze staubig; überhaupt ist das Klima Khartums, wie fast des ganzen Sudan, ein ungesundes und für Europäer gefährliches; Brehm nennt es geradezu ein „mörderisches“.

Ansicht von Khartum.0 Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

Vom Nil selbst aus gesehen, sieht die Stadt weit freundlicher aus, aber sie bietet doch nur ein ähnliches Bild wie die übrigen kleinen am Nil gelegenen Städte. Der Fluß ist immer von [275] Barken belebt, und dann und wann kommt auch wohl eine Nilbarke (eine sogenannte Dahabieh) mit europäischen Touristen bis nach Khartum hinauf. Handel und Verkehr sind sehr bedeutend, zumeist nilabwärts nach dem eigentlichen Aegypten, und in Bulak, dem Hafen von Kairo, lagern stets massenhafte Waarenvorräthe aus der sudanesischen Hauptstadt, besonders Elephantenzähne, Straußfedern, Gummi, Sennesblätter, Felle, Hölzer, kunstreich geflochtene wasserdichte Körbe, hölzerne Schalen und Geräthe etc. Die den Nil hinauffahrenden Schiffe bringen eine außerordentliche Fülle von Waaren aller und jeder Art nach Khartum zurück, meist europäischen Ursprungs, ganz besonders baumwollene und ähnliche Stoffe, Leder und Eisen in rohem und verarbeitetem Zustande, und jene zahllosen Dinge, die man unter dem Namen Quincaillerie- oder Kurzwaarenartikel begreift, vom kleinsten Messerchen, Spiegelchen oder Gläschen an bis zu allen möglichen Haushaltungsgegenständen, zunächst für die im Sudan lebenden Europäer, aber auch für die anderen, besser situirten Einwohner, die sich nach und nach an den Gebrauch jener Dinge gewöhnt haben.

Von Khartum nach El-Obeid, der Hauptstadt Kordofans, ist noch eine lange Reise. Zuerst geht es zu Schiff den Weißen Nil hinauf bis nach Turrah und von da aus Reitkamelen nach Westen in das Innere. Dieser Theil der Reise ist der beschwerlichste, denn die in den weiten Steppen zerstreut liegenden Dörfer bieten kein Unterkommen, und der Wassermangel ist in der heißen Jahreszeit, selbst für die Eingeborenen, sehr empfindlich. Nur Bara, eine Tagereise nördlich von El-Obeid, macht mit seinen hübschen Palmen- und Mimosenwäldern und seinen gutgepflegten Gärten eine freundliche Ausnahme. Es ist ein großes Thokuldorf, und El-Obeid ist im Grunde auch nichts Anderes. Nur besitzt die Hauptstadt einige öffentliche Gebäude, darunter den „Palast“ des Gouverneurs und eine Caserne; in dem ersteren hat der Mahdi jetzt sein Hauptquartier aufgeschlagen, wie denn überhaupt Kordofan mit seiner Hauptstadt als der eigentliche Mittelpunkt der gesammten sudanesischen Revolution angesehen werden muß.

Ist nun schon die Bevölkerung Khartums eine buntscheckige und gemischte, so ist es diejenige El-Obeids in noch höherem Grade, nur daß hier die echt afrikanische schwarze Hautfarbe noch allgemeiner vorwaltet – hauptsächlich der vielen Negersclaven wegen, die weit mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft ausmachen. In El-Obeid sieht man Repräsentanten aller schwarzen Menschenrassen, Nubier und Bischarin, Mohren aus Darfor und Fassogl, auch aus den entlegenen Gallaländern, die von den Sclavenhändlern auf ihren Raubzügen erbeutet und hier verkauft wurden – die verschiedenartigsten Typen, wie sie der berühmte Orientmaler Professor Wilhelm Gentz in Berlin auf einer unsrer heutigen Illustrationen veranschaulicht hat. El-Obeid wird mit Recht als das Centrum des gesammten mittelafrikanischen Sclavenhandels betrachtet. Dorthin kommen zunächst die zahlreiche Karawanen mit ihrer lebendigen Waare, auf die früher von den Regierungsbeamten (und wer weiß, ob nicht jetzt von dem Mahdi) ein Zoll wie auf jeden andern Importartikel gelegt wurde und zwar ein sehr hoher; bis zu zwanzig Thalern und mehr nach unserem Gelde. Von El-Obeid ziehen auf Schleichwegen durch die östlichen und westlichen Wüsten, oft aber auch ganz frech auf Nilbarken (oben leichte Waarenballen und unten im Raume die gefesselten Unglücklichen) die Händler nach Norden weiter. Was unterwegs stirbt, wird einfach in den Fluß geworfen oder im Sande liegen gelassen; selbst bei fünfzig Procent Verlust ist der Gewinn noch immer ein außerordentlich großer, wie ihn kein anderes Handelsgeschäft abwirft.

Die Jagd auf den schwarzen Mann und der Handel mit Menschenfleisch haben allen Gesetzen zum Hohn bis auf die neueste Zeit in jenen Ländern fortgewuchert, und da die Ausübung derselben sich in den letzten Jahren vor dem Auge der höheren Beamten verborgen halten mußte, so waren die Opfer des Sclavenhandels der Willkür der Händler preisgegeben. In dem sudanesischen Volke gab es und giebt es keine öffentliche Meinung, die zu Gunsten der Unglücklichen sich erheben würde. Seit unvordenklichen Zeiten galt der Sclavenhandel als erlaubt, er bildete in den Augen der Betheiligten ein „Recht“, dessen Scheußlichkeit den barbarischen Stämmen mindestens ebenso unbegreiflich war, wie einst den civlisirten Sclavenhaltern Nordamerikas.

Unter diesen Umständen muß man zu der Annahme hinneigen, daß Gordon durch seine Proclamation, auf die wir in unserem ersten Artikel hinwiesen, keineswegs den Sclavenhandel als solchen in Schutz nimmt und von Neuem autorisirt, sondern daß er nur die Sclaven selbst und ihren Besitz gesetzlichen Regeln unterwerfen und somit der bisherigen Willkür in ihrem An- und Verkauf sowie in ihrer Behandlung Schranken ziehen will. Vielleicht versucht er auf diese Weise einen Uebergang von den jetzigen trostlosen Zuständen zur gänzlichen Aufhebung der Sclaverei zu schaffen. Ob ihm dies gelingen wird und ob die jetzigen Wirren im Sudan in absehbarer Zeit zu einem für die unglücklichen Völker gedeihlichem Ende geführt werden können, diese Frage auch nur mit annähernder Sicherheit zu beantworten, scheint uns selbst für die mit den Verhältnissen Vertrauten ein Ding der Unmöglichkeit.




Blätter und Blüthen.


Wie man wider Willen zum Propheten wird.

Die letzte Arbeit von Dr. A. Bernstein.

Das im Jahre 1883 stattgehabte fünfzigjährige Jubliäum der Telegraphie ruft in meinem Gedächtniß sehr lebhaft eine Erinnrerung an eine Scene wach, in welcher ich durch den Scherz und die Heiterkeit eines Freundes gezwungen wurde, etwas drucken zu lassen, wogegen sich mein Gewissen sträubte. Es war dies eine Prophezeiung, die ich in Begeisterung niedergeschrieben hatte, an deren Wahrheit ich aber zweifelhaft wurde, als ich sie im Correcturhogen vor mir liegen sah.

Bekanntlich hatten im Jahre 1833 die Professoren Gauß und Weber in Göttingen den glücklichen Gedanken, den elektrischen Strom durch eine Leitung zur Abgabe von Zeichen zu benutzen. Sie bedienten sich hierzu der Eigenschaft des Stromes, die Magnetnadel eines Galvanometers bald rechts bald links von ihrer natürlichen Lage abzulenken, wenn man den Strom in der einen oder in der anderen Richtung durch die Leitung gehen läßt. Freilich konnte man auf diesem Wege nur zwei verschiedene Zeichen geben, aber durch die Combination und Wiederholung dieser Zeichen war man im Stande ganze Worte zu telegraphiren.

Indessen vergingen fast zwei Jahre, bevor man diese höchst interessante Erfindung näher beachtete, obwohl man in Gelehrtenkreisen sehr erstaunt war über die Genauigkeit, mit welcher diese Nadeltelegraphie zwischen dem physikalischen Laboratorium Weber’s und der Sternwarte Gauß’s in Göttingen fungirte.

Im Jahre 1834 wurde ich von Professor Gubitz zur Mitarbeiterschaft an dem von ihm herausgegebenen Blatte „Der Gesellschafter“ engagirt und schrteb da Novellen, Kritiken und Theaterrecensionen nach Herzenslust, wie das ein junger Mensch von zweiundzwanzig Jahren in jenen stillen unpolitischen Zeiten naturgemäß trieb. Als besondere Arbeit lag mir ob, auch noch Artikel für eine literarische Beilage zu schreiben, welche immer Freitags in die Druckerei geschickt werden mußte, um Sonntags dem Hauptblatte beigelegt werden zu können. Bei diesen Artikeln und Betrachtungen ließ ich sehr gern meiner literarischen Neigung und Phantasie die Zügel schießen. Da kam mir denn eines Tages die nähere Kunde von der elektrischen Telegraphie, welche Gauß und Weber für sich eingerichtet hatten. Mich begeisterte diese Erfindung dermaßen, daß ich mich am liebsten gleich auf den Weg nach Göttingen gemacht hätte, um das Wunder mit eignen Augen sehen zu können.

Je weniger ich dergleichen auszuführen im Stande war, um so lebhafter flammte in mir die Begeisterung auf, dieser Erfindung den schnellsten Triumph zu prophezeien. Und das that ich denn auch wirklich in dem nächsten Artikel, den ich für das Beiblatt des „Gesellschafter“ schrieb. Ich sagte dieser Erfindung die größte Zukunft vorans, schrieb, daß sie weit über Zeit und Raum hinweg die Gedanken der Menschen zu Menschen leiten werde, wie ehedem nur die Gottheit ihre Offenbarungen uns armen Sterblichen verkündet habe. Meine Seelenergüsse über dieses interessante Thema schickte ich denn eines schönen Mittwochs in die Druckerei, woselbst sie mir richtig Freitags in der Literatur-Beilage in siebenzehn enggedruckten Zeilen wieder vor Augen kamen.

Als ich in der Correctur diese meine schwärmerischen Auslassungen überblickte, überfiel mich der Zweifel daran, und ich fürchtete, mich lächerlich zu machen, wenn ich ein Experiment, das über ein paar Häuser einer Stadt hinweg glücklich gelungen war, nun sofort als eine für Straßen, Städte, Länder und Völker brauchbare Einrichtung hinstellen, ja als eine die ganze Menschheit umfassende Errungenschaft hochpreisen würde. Und nun gar meine gottlose Speculation über Zeit, Raum und göttliche Offenbarung, die konnte mir noch gerade die Verfolguug des Censors eintragen, wodurch das Erscheinen der literarischen Beilage für den nächsten Sonntag möglicher Weise verhindert werden könnte. Ich entschloß mich daher schnell, die siebenzehn Zeilen des Textes aus der Mitte der Beilage durch einen Strich zu beseitigen, und gerieth nun dadurch in die Verlegenheit, die Lücke durch irgend eine literarische Notiz auszufüllen. Ich griff zu [276] einem Roman, den ich zur Recension auf meinem Schreibtische liegen hatte, und versuchte, denselben durchblätternd, mich von seinem Inhalte soweit in Kenntniß zu setzen, um die Lücke, welche das Durchstreichen der verhängnißvollen siebenzehn Zeilen verursacht hatte, mit wohlmeinenden Redensarten ausfüllen zu können.

Ich war eifrig mit dem Studium des neuen Romans beschäftigt, als die Thür sich öffnete und mein junger lustiger Freund, der Poet Ludwig Kosarsky, in meine Stube hereinstürmte.

„Was,“ rief er, „Du bist noch bei der Arbeit? Es ist ja schon Freitag, und wie ich sehe, liegt ja der Correcturbogen schon vor Dir auf dem Tische. Sieh ihn schnell durch und mach’ ein Ende, wir wollen eine Partie Schach spielen und dann beisammen frühstücken!“

Ich klagte meinem Freunde meine Noth und veranlaßte ihn, einmal die siebzehn weissagenden Zeilen durchzulesen und mir aufrichtig zu sagen, ob man wohl so etwas Ueberspanntes drucken lassen könne.

Kosarsky las meine begeisterten Zeilen mit großer Heiterkeit und sagte dann schließlich lachend:

„Na, da hast Du wieder einmal Deinem Natur-Enthusiasmus freien Lauf gelassen. Es ist ja wahr, lieber Junge, was Du da geschrieben hast, ist wahrer Unsinn, aber Du schreibst ja jahraus, jahrein so viel dummes Zeug, daß es Dir nicht gerade viel schadet, wenn Du dieses hier stehen läßt. Deine Leser nehmen Dir’s nicht übel, sie sind Dergleichen schon von Dir gewöhnt.“

Natürlich wollte ich in meiner Aufregung meine siebenzehn Zeilen sowohl, als auch das Streichen derselben rechtfertigen, da klopfte es an die Thür, und herein tritt der Druckerbursche, um die Correctur abzuholen.

„Hier,“ rief Kosarsky, „hier ist sie, und sieh her, dieser Strich gilt nicht, die siebenzehn Zeilen bleiben stehen, sie enthalten die weiseste Prophezeiung der Welt.“

Es war nichts dagegen zu machen, ehe ich etwas erwidern konnte, hatte Kosarsky den Druckerburschen zur Thür hinausgeschoben, und ich ergab mich, wenn auch entschieden widerwillig, in mein Schicksal, meine prophetischen Zeilen am Sonntage in der Beilage stehen zu sehen; versuchte es aber, in der nun sofort beginnenden Schachpartie mich für die Unbill Kosarsky’s zu rächen.


Erstes Dienstverhältniß.
Nach dem Oelgemälde von G. Igler.

Heinrich Heine’s Bildniß. Das Bild Heine’s, welches wir in dieser Nummer auf S. 268 mittheilen, ist nach einer Photographie des im Besitze von Herrn Dr. Eduard Engel in Berlin befindlichen großen Original-Oelgemäldes hergestellt.

Es existiren von Heine überhaupt nur noch zwei Originalölportraits, eines im Besitze von Herrn Julius Campe in Hamburg (vergl. unsern Holzschnitt in Nr. 14), gemalt von M. Oppenheim in Frankfurt am Main (wovon eine vom Künstler selbstgefertigte kleine Oelskizze im Besitze von Frau Professor Benfey in Göttingen), – und das vorliegende Bild, gemalt 1828 in München von Ludwig Gassen, kurz bevor Heine seine Reise nach Italien antrat. Aus dem Nachlasse des Malers erwarb es Heine’s Biograph, Adolf Strodtmann, und von dessen Wittwe kaufte es der Herausgeber der Memoiren Heine’s.

Man vergleiche mit diesem Bilde die Schilderung, die der Dichter Wienbarg von Heine’s Gesicht zu Ende der zwanziger Jahre entwarf:

„Er trug sich sauber, doch einfach; Pretiosen habe ich nie an ihm gewahrt. Ein schönes, weiches, dunkelbraunes Haar umgab sein ovales, völlig glattes Gesicht, in welchem eine zarte Blässe vorherrschte. Zwischen den einander genäherten Wimpern seiner wohlgeschlitzten, mehr kleinen als großen Augen dämmerte für gewöhnlich ein etwas träumerischer Blick, der am meisten den Poeten verrieth; in der Anregung drang ein heiteres, kluges Lächeln hindurch, in das sich auch wohl ein wenig Bosheit schlängeln konnte, doch ohne einen stechenden Ausdruck anzunehmen. Faunisches war nicht in ihm und an ihm. Die ziemlich schwache Nasenwurzel verrieth, physiognonmischen Grundsätzen zufolge, Mangel an Kraft und Großheit; auch mochte die mäßig gebogene Nase nach unten etwas schlaff abfallen. Die faltenlose Stirn leicht und schön gewölbt, die Lippen frei; das Kinn rundlich, doch nicht stark. Das ‚böse Zucken‘ der Oberlippe war ihm offenbar nur eine Angewöhnung, kein Zeichen der Menschenverachtung und des Lebensüberdrusses!“


Dreierlei Anliegen an die Glücklichen. Wer jetzt mit froh aufathmender Brust den so herrlich erwachenden Frühling begrüßen, wer mit strahlendem Blick und flinkem Fuß „in’s Freie“ eilen kann, der muß wohl fühlen, daß er glücklich ist. Zur rechten Schätzung dieses Glücks gelangt er aber doch erst, wenn ihm ein Bild vom Gegentheil seines eigenen Wohlbehagens vor die Seele geführt wird. Das ist der Beklagenswerthe, der auch jetzt in den sonnigen Tagen an die düstere, dumpfe Krankenstube gefesselt bleibt, weil er zu arm ist, um sich das einfache Mittel zu verschaffen, das auch ihm das Aufathmen im Freien ermöglichen könnte: einen Fahrstuhl! Im vorigen Jahre ist unsere Bitte um solche Vehikel menschenfreundlich erhört worden: wir wurden in den Stand gesetzt, mehrere arme Kreuzträger damit zu beglücken. Gewiß ist auch heuer diese Bitte nicht vergeblich.

Wie nach Fahrstühlen ist auch das flehendliche Verlangen nach zur Seite gestellten Clavieren aus Nord-, Süd-, und Mitteldeutschland uns an’s Herz gelegt worden. Die Mehrzahl der Bittenden sind Lehrer und Lehrerwittwen, die für ihre Söhne, die doch meist wieder in der Schulstube ihren Lebensberuf suchen, zum Unterricht das unentbehrliche Instrument aus ihren Mitteln nicht erschwingen können. Man muß es gesehen haben, welches Freudenlicht in einem Schulhause oder in der Wohnung einer Lehrerwittwe aufgeht, wenn in dem bescheidenen Raum für ein solches Geschenk Platz geschafft werden muß; mit so großem Entzücken und so dankbarem Herzen wird gewiß selten dem ersten Saitenklang gelauscht, als da von den Beglückten. Wäre es doch möglich, solcher Freuden recht viele zu bereiten!

Und das dritte Anliegen? Wie viele arme Frauen und Mädchen, die ihr hartes Stück Brod mit der Nadel verdienen müssen, seufzen nach einer – natürlich brauchbaren – Nähmaschine! Könnten doch auch diese Wünsche erfüllt werden!

Wir wissen ja, daß es unter den Hunderttausenden unserer Freunde gute Herzen genug giebt, die diese Bitten nicht umsonst lesen. Fr. Hfm.     


Kleiner Briefkasten.

B. F. in Mannheim. Der Stoff zu den Illustrationen „Schlachtfeld im Sudan“ und „Ein Opfer von Monte Carlo“ ist allerdings dem „Graphic“ entnommen, die Composition und Ausführung derselben ist aber, wovon Sie sich bei der Vergleichung sofort überzeugen werden, eine durchaus selbständige, sodaß dieselben mit vollem Recht Originalzeichnungen genannt werden durften.


Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 262. – Fischerleben am Scheveninger Strande. Von H. Pichler. S. 286. Mit Illustration S. 265. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. VIII. S. 267. Mit Portrait Heinrich Heine’s S. 268. – Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 269. – Bilder aus dem Sudan. Von Adolf Ebeling (Schluß). S. 272. Mit Illustrationen S. 272, 273 und 274. – Blätter und Blüthen: Wie man wider Willen zum Propheten wird. Die letzte Arbeit von Dr. A. Bernstein. S. 275. – Erstes Dienstverhältniß. Illustration. – Heinrich Heine’s Bildniß. – Dreierlei Anliegen an die Glücklichen. – Kleiner Briefkasten. S. 276.

[ Verlagsreklame von Ernst Keil’s Nachfolger. ]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Sehr traurig. – In Froissart’s (1337–1401) „Chroniques“.
  2. Maximilian Heine hat diese ergreifende Scene in seinen „Erinnerungen an Heinrich Heine“ (Berlin 1868) in einem herzlich platten Bericht wiedergegeben. Da er um die Zeit, wo sein Bruder Heinrich das Verhältniß mit der Scharfrichterstochter hatte, kaum neun Jahre alt war, und da er das Ereigniß an einigen Stellen annähernd wörtlich den Memoiren ähnlich darstellt, so liegt die Annahme nahe, daß er die ganze Geschichte nach der Lectüre der Memoiren aus dem Gedächtniß niedergeschrieben, wie denn überhaupt manche der Anekdoten seines dürftigen Buches den Memoiren entnommen sein mögen, die er nachher verstümmelt hat. An derselben Stelle (Seite 227) weiß Maximilian – natürlich nur vom Hörensagen – zu erzählen, sein Bruder habe schon in seiner frühesten Jugend eine kleine Novelle geschrieben, in welcher „Sefchen“ und „die Hexe von Goch“ den Hauptinhalt bildeten. Das betreffende Manuscript sei mit vielen anderen Manuscripten des Dichters beim Brande Hamburgs verloren gegangen.
  3. Diese Ankarébs sind überaus bequem und auch oft, namentlich aus Eisenholz, sehr hübsch gearbeitet, sie bilden sogar einen Ausfuhrartikel, und man findet sie häufig in den vornehmen Häusern Kairos und Alexandrias, wo sie als Ruhebetten dienen. Ein anderes kleines Gestell gehört gleichfalls hierher: es sieht aus wie der obere Theil einer gewöhnlichen Krücke und dient den oben geschilderten Schönen Nachts als Nackenstütze um ihre Frisur zu schonen. Unglaublich, möchte man hinzufügen, wenn nicht einst auch bei uns Hochfrisuren Aehnliches erfordert hätten.
  4. Mohrenhirse.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. [Zu diesem Bild siehe Heft 16, S. 276]