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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

No. 17.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Emmanuele war nun längst schon entschlossen, jede nur denkbare Position, auch die untergeordnetste und erbärmlichste, anzunehmen, wenn sie ihm nur halbwege die Existenz fristete. Trotz dieser Bescheidenheit seiner Ansprüche blieb der Eifer, mit dem er suchte, auch hier resultatlos. Die mäßige Baarschaft, die er von Livorno her mitgebracht, schmolz bedenklich zusammen, und Tag für Tag mußte er, in die kleine Herberge des Hafenquartiers zurückkehrend, der angstvoll harrenden Crispina die gleiche Nachricht bringen: Nichts – absolut Nichts. Ja, es schien, daß ein Unterkommen für ihn um so schwerer zu finden sei, je mehr er auf der Scala seiner Bewerbung herabstieg. Es erregte Verdacht, daß ein gut gekleideter Mann, dessen ganzes Auftreten eine gewisse Bildung verrieth, sich als Portier oder gar als Hausdiener und Ausläufer anbot. Dazu kam das scharfe, hagere Gesicht mit den unstäten Augen, die sich nachgerade daran gewöhnt hatten, in jeder Nische einen Verräther zu wittern, – und das „Nein“ ergab sich von selbst.

Kurz, zu Anfang der dritten Woche war Emmanuele der Verzweiflung nahe, und nur der Trotz der zornerfüllten Crispina erhielt ihn aufrecht. Sie, die anfangs geneigt gewesen, ihm Vorwürfe zu machen, daß er sie in’s Elend gestürzt, lobte jetzt seinen Eifer, sprach ihm Muth ein und tobte, wenn sie ihrem beklommenen Herzen Luft machen wollte, nicht, wie ehedem, gegen ihn, sondern wider die „niederträchtigen Hundesöhne“ die ihrem guten Emmanuele den Zutritt verweigerten, wider die Reichen und Vornehmen, die im Golde wühlten, während Leute, wie die braven Nacosta’s, am Hungertuch nagten. – Schließlich machte sie ihrem Gatten kein Hehl daraus, wie ihr jetzt, nachdem ihr die Gesellschaft mit so teuflischer Brutalität den Stuhl vor die Thüre gesetzt, jedes Mittel genehm sei, das ihr Genugthuung und Rache gewährleiste.

So ward aus den beiden Menschen, die sich auf dem besten Wege befunden, mit ihrer befleckten Vergangenheit dauernd zu brechen, ein Paar verstockter und verzweifelter Feinde der menschlichen Ordnung, – Abenteurer, die Nichts zu verlieren hatten, und zu jedem Frevel bereit schienen, wenn er Erlösung versprach aus diesem Zustande tiefster Bitterniß und Erniedrigung.

Eines Nachmittags, da er wieder erschöpft von langer fruchtloser Wanderung vor dem kleinen Kaffeehaus Halt machte, das er als Station betrachtete zwischen dem Mittelpunkte der Stadt und seiner entlegenen Herberge, fiel ihm ein Zeitungsblatt in die Hände: das zu Bologna erscheinende „Giornale d’Emilia“. Die letzte Seite enthielt einen ausführlichen Berlcht über die staatlichen und städtischen Zustände von Neapel, insbesondere über die Organisation der politischen Geheimpolizei. Das „Giornale d’Emilia“, streng päpstlich gesinnt, pries die Maßnahmen des Cardinals De Fabris als die vollkommenste Leistung staatsmännischer Gewandtheit und Klugheit, constatirte die schon jetzt zu Tage tretenden Erfolge des furchtlos durchgeführten Systems und fügte hinzu: der beste Beweis für die Popularität solcher Bemühungen bestehe wohl darin, daß der Andrang zu den neu geschaffenen Posten der höheren und niederen Geheimpolizisten gerade unter den Eingeborenen ein außerordentlich starker sei, wenngleich die Regierung bei der augenfälligen Wichtigkeit dieser Aemter und den positiven Eigenschaften, die sie erforderten, nur eine verhaltnißmäßig geringe Zahl der Bewerber berücksichtigen könne.

Alsbald stand der Entschluß Emmanuele’s fest. Er, als früherer Beamter, der mit dem Wesen der Bureaukratie und ihrer Erfordernisse völlig vertraut war, hatte, so schien es ihm, die begründetste Aussicht, in diesem neugeschaffenen Organismus des Monsignore De Fabris anzukommen, zumal der offen bekannte Umstand, daß der heilige Vater ihn, den reuigen Verbrecher, begnadigt hatte, dem Cardinal und seinen Unterbeamten eine Art von Verpflichtung auflegte.

In höchster Aufregung stürzte er nach der Herberge und theilte der jungen Frau mit, was er im Schilde führte. Crispina blieb zwar kühler und skeptischer, als Emmanuele vorausgesetzt hatte; aber da sie begriff, daß eine mäßige Aussicht immerhin besser sei, als die völlige Trostlosigkeit, so willigte sie ohne Verzug ein, und mit dem nächsten Schiffe, das, Foggia anlaufend, nach Brindisi absegelte, verließen sie das verhaßte Ancona.

Zu Anfang Mai langten sie mit der Eilpost, die von Foggia aus über’s Gebirge führte, in Neapel an – gerade noch im Besitze einiger Silberstücke, die da ausreichten, den Miethspreis der engen Dachstube im Hause des wucherischen Weinhändlers für eine Woche pränumerando zu zahlen und die nothwendigsten Lebensmittel zu kaufen.

Alsbald that Emmanuele Nacosta die erforderlichen Schritte, seinen Plan zu verwirklichen.

Der Polizeigeneral des Quartiers, den er um Auskunft anging, wies ihn nach einigem Zögern an einen Secretär Seiner Eminenz, und dieser, von dem inständigen Flehen Emmanuele’s gerührt, brachte ihn zu einer Persönlichkeit, die sich einstweilen nicht nannte, auch nur an drittem Orte Begegnungen zuließ und den Bewerber schließlich einem untergeordneten Mitgliede der

[278] Geheimpolizei gleichsam als Volontär zutheilte. Dieser Unterbeamte, Marsucci mit Namen, sollte den Aspiranten durch gelegentliche Verwendung bei geringfügigen Actionen gleichsam einer Vorprüfung unterwerfen und nach Ablauf einiger Monate seinem Vorgesetzten Bericht abstatten. Bis dahin erhielt Emmanuele aus besonderer Vergünstigung fünf römische Paoli wöchentlich – selbst für die damalige Zeit eine lächerlich kleine Summe, die nicht ausreichte, um Salz und Brod zu bestreiten.

Marsucci, der nach kurzer Frist schon bemerkte, daß Nacosta für den neuen Beruf ein ganz eminentes Talent besaß, ward beklommen bei dieser Wahrnehmung, zumal er sich selbst wegen mehrfacher Unpünktlichkeiten eine energische Rüge geholt und einen Collegen, der beim Polizeigeneral des Viertels nicht ganz ohne Einfluß war, persönlich beleidigt hatte. Er witterte in Emmanuele Nacosta den gefährlichen Nebenbuhler, der demnächst ihn ersetzen würde, und so bot er die ganze Kunst der Intrigue auf, den vermeintlichen Rivalen durch hohle Versprechungen hinzuhalten und ihm glaubhaft zu machen, es liege in seinem, Nacosta’s, wohlverstandnen Interesse, die Sache ja nicht zu übereilen, sondern jedenfalls die Herbstsaison abzuwarten, wo die Gelegenheiten, sich auszuzeichnen, häufiger würden.

Emmanuele durchschaute zwar schließlich das verlogene Spiel des Menschen, aber er sah kein Mittel, seine Bestrebungen mit Umgehung Marsucci’s zu fördern. Wenn er es etwa versuchte, im Secretariate des Cardinals sich direct zu beschweren, so konnte Marsucci den rebellischen Neuling ohne Schwierigkeit aus dem Sattel heben. Emmanuele beschloß daher, sich wohl oder übel durchzuschlagen, da Marsucci den bisherigen Zustand zwar noch eine Weile hinausziehen, aber nicht dauernd aufrecht erhalten konnte.

Inzwischen gerieth er mit jedem Tage tiefer in’s Elend. Von den Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, wanderte ein Stück nach dem andern zum Pfandverleiher oder zum Trödler. Zuletzt erübrigte ihm – außer dem Anzuge, der ihm natürlich nicht feil war – nur noch ein goldenes Kreuz mit Amethysten und Perlen, das Crispina von ihrem Pathen zur Firmelung empfangen, und das sie Tag und Nacht wie ein Amulett auf der Brust trug.

Nachgerade waren ihm auch Zweifel erwacht, ob die Carrière des Geheimpolizisten wirklich so lohnend sei, wie er sich vorgestellt. Marsucci – darüber war er sich klar – lebte trotz seiner festen Stellung in sehr beschränkten Verhältnissen, und das Avancement schien gleich Null, denn während der sechsthalb Monate, die er jetzt in Neapel verlebt hatte, war nicht ein Einziger von den Amtsgenossen Marsuccsi’s aufgerückt.

Nicht Marsucci selber hatte ihm dies gesagt – Emmanuele hätte alsdann das Gegentheil für die Wahrheit gehalten – er entnahm es vielmehr den Reden eines ehemaligen Carabiniere, den die Geheimpolizei des Monsignore De Fabris gleichfalls eingereiht hatte.

Es war Princip – so erörterte ihm der Carabiniere – die Subalternpolizisten nur dann avanciren zu lassen, wenn sie entweder eine bestimmte, sehr erkleckliche Anzahl von Jahren gedient, oder durch eine ganz eminente Leistung sich hervorgethan hätten. Zu solchen Leistungen aber bot sich wenig Gelegenheit, zumal das Secretariat des Cardinals einen verzweifelt peinlichen Maßstab anlegte. Die Liberalen, auf die das Ganze gemünzt war, hielten sich während der letzten Monate auffallend ruhig. Seit Anfang Juli hatte man nur zwei- oder dreimal „Entdeckungen“ zu verzeichnen, die halbwegs der Mühe lohnten. Uebrigens meinte der Carabiniere, es sei überraschend, wie consequent in solchen Fällen stets nur der betreffende Polizeigeneral, niemals der Unterbeamte in der „Gazetta del Regno“ namhaft gemacht werde. Er selber wisse davon ein Lied zu pfeifen, denn jüngsthin, bei der letzten Affaire im Ostviertel, sei er selber die Seele der gesammten Operation gewesen. Aber das erfahre man weder im Publicum, noch droben im Secretariate des Cardinals.

So entwickelte sich nach und nach bei Emmanuele Nacosta eine fixe Idee: Wenn er als Geheimpolizist prosperiren sollte, so mußte er die Gelegenheit, sich öffentlich auszuzeichnen, selbst schaffen.

Er theilte seine Gedanken erst schüchtern, dann freier und eingehender seiner Crispina mit, und diese, längst auf dem Standpunkte, jedes Aeußerste blindlings zu wagen, bestärkte sein verwerfliches Vorhaben.

Je mehr die Noth wuchs, um so rücksichtsloser entspann sich das verbrecherische Project; von Tag zu Tag gewann es klarere Umrisse – und als Emmanuele sein letztes Werthstück. das Kreuz Crispina’s, zum Juwelier trug, da geschah es in der deutlich bewußten Absicht, den Erlös in erster Linie für diesen Zweck zu verwenden.

Es galt, einen Menschen zu finden, der geeignet schien, bei der frevelhaften Komödie die Rolle des Opfers zu spielen, und lauernd, wie ein Habicht, der seine Beute erspäht, trieb sich Emmanuele von diesem Tage an überall da herum, wo er unerfahrene, leichtgläubige und phantastische Menschen vermuthete – also vornehmlich an den Verkehrsstätten des niederen Volkes, zumal der Fremdlinge, die aus den Kleinstädten der benachbarten Inseln und der calabrischen Küste herüberkamen.

Schon war die Hälfte jenes Erlöses bei zahlreichen verunglückten Anläufsen in die Tasche der Osterienbesitzer und Austernverkäufer geflossen, als er, fast schon an der Ausführbarkeit seines Planes verzweifelnd, mit Salvatore Padovanino, dem Verlobten der schönen Maria, zusammentraf, und alsbald in dem jungen Manne eine Persönlichkeit witterte, deren extravagante Veranlagung die Möglichkeit eines Erfolges bot.

Emmanuele entdeckte, daß Salvatore fast mit der gleichen Gier, wie er selbst, nach einer Aufbesserung seiner bedrückten Lage, nach einem Schauplatze rang, auf dem er seine Talente bethätigen, seinen unermeßlichen Lebensdurst befriedigen könne. Emmanuele gewahrte ferner, daß er es mit einem glühenden Verehrer des Cardinals, mit einem leidenschaftlichen Gegner der Freiheitsfreunde zu thun hatte, der geneigt schien, alle Mißerfolge, die ihm zu Theil geworden, auf Rechnung dieser Partei zu setzen – völlig im Einklange mit den Erörterungen der amtlichen Journalistik, die gleichfalls jede staatliche und städtische Calamität, jede Stockung des Handels, jede auswärtige Verwickelung der Oppositionspartei in die Schuhe schob.

Ehe noch Emmanuele wußte, wie ihm geschah, war er mit dem leidenschaftlichen Salvatore einig. Bei der letzten Begegnung vor der Abreise des Apuliers nach Capri packte den gewissenlosen Verräther für Augenblicke die Reue; die kindliche Naivetät des verblendeten jungen Mannes, gepaart mit so starrer Entschlossenheit, mit so glühendem Fanatismus, hatte in der That etwas Rührendes. Da bemerkte Emmanuele, als der Apulier aus der Dämmerung der Osteria in’s Freie trat und noch einmal den Blick nach dem Zurückbleibenden wandte, daß die Erscheinung des Jünglings eine gewisse Aehnlichkeit mit der des tödtlich gehaßten Marseillers hatte – und die flüchtige Regung des Mitleids ging unter in der Brandung einer wilden Erbitterung. Er, Emmanuele, war auch unschuldig gewesen, als zu Livorno ihn das Verhängniß ereilte; er hatte ehrlich gearbeitet und war dennoch mit Füßen getreten worden, wie ein räudiger Hund. Mochte es die bürgerliche Gesellschaft nun verantworten, wenn er, dem das Wasser schon bis an die Kehle ging, einen Leidensgefährten von dem rettenden Brette, auf dem nur für Einen Platz war, hinab in die Tiefe stieß.

Zehn Tage später saß Emmanuele, zitternd vor Aufregung, in der Dachstube der traurigen Miethscaserne und besprach in jenem bänglichen Flüstertone, den das Ehepaar sich während der letzten Wochen angewöhnt hatte, die Situation. Das Kind schlief. Crispina hatte auf dem rohen Holztisch am Fenster ein kärgliches Mahl bereitet, das Emmanuele trotz des Hungers, den er empfand, nicht anrührte. Auch sie genoß nur ab und zu einen Bissen; ihr blitzendes Auge heftete sich mit dämonischem Ausdruck auf das hagere Gesicht, das, wie es sich so im gedämpften Gespräche zu ihr hinneigte, von allen Leidenschaften durchwühlt schien. Salvatore hatte nicht Wort gehalten. An dem Platze des Stelldichein, wo Emmanuele ihn gestern in später Abendstunde erwartet hatte, war er nicht eingetroffen: dafür lag jetzt in verstellter Handschrift ein Billet auf dem Tisch, das Emmanuele vor einer Stunde bei dem Besitzer der Weinschenke am Strande von Santa Lucia in Empfang genommen. Das Schreiben lautete:

„Ich bin bereit – sobald der Cardinal mir in persönlicher Begegnung erklärt, daß der Plan seinem Willen entspricht. Glaubt Ihr dies erreichen zu können, so kommt heute um die nämliche Stunde, die wir für gestern vereinbart, an die nämliche Stelle.“

[279] Emmanuele schlug mit der knochigen Faust wie rasend auf das entfaltete Blatt.

„Also auch Das ist über den Haufen gestürzt!“ raunte er keuchend. „Der Bube ist schlauer, als wir ihm zugetraut! Eine Audienz bei dem Cardinal! Was heißt das nun? Hat irgend ein Schuft ihn aufgeklärt, oder verlangt er’s nur der größeren Sicherheit halber? Nun, für uns bleibt die Sache sich gleich. Das Spiel ist verloren, und die schöne Crispina wird sich jetzt anschicken müssen, auf der Gasse zu liegen und Kupfermünzen zu sammeln, wie die Vetteln der Molostraße.“

„Freilich,“ versetzte die Frall nlit einem häßlichen Lachen, „wenn sie so kindisch wäre, wie Du. Bei Gott, ihr Männer seid doch kläglich mit eurer Verzagtheit! Und so kurzsichtig! Wie kannst Du nur zweifeln, was der Brief da bedeutet? Hätte er Lunte gemerkt, so wär’s ihm nicht eingefallen, Dir überhaupt noch zu schreiben. Nein, er hält an der Sache fest – nach wie vor –, und nur, um sich künftig den Lohn zu sichern und ganz gewiß zu sein, daß man ihn nicht übersieht, will er gleich an die rechte Schmiede gehen. Du weißt ja, was Du von dem verwünschten Marsucci zu leiden hast. Der Apulier wittert vielleicht von Deiner Seite ein Gleiches; denn so dumm diese Menschen sind im Großen und Ernsten, so pfiffig spüren sie’s aus, wo ein persönlicher Vortheil in Frage steht. Also geh’ nur getrost hin und sage ihm, das wäre wohl durchzusetzen. Eben Der ist der Rechte – der führt die Sache Dir aus, wie ein Stier, geradezu, ohne nach rechts oder links zu blicken.“

„Aber begreifst Du denn nicht?“ fuhr Emmanuele heraus. „Er verlangt ja doch –“

„Ganz recht. Er verlangt eine Begegnung mit Monsignore De Fabris. Die wirst Du ihm schaffen. Wie die Dinge jetzt liegen, bleibt für uns keine Wahl. Die Zeit ist zu kurz, um auf Neues zu sinnen. Ein Mensch, der für Geld und gute Worte die Rolle des Cardinals übernimmt, wird unschwer zu finden sein.“

„Wie? Du meinst …?“

„Ja, Emmanuele. Ich bin jetzt auf Alles gefaßt, auch auf die Mitwissenschaft eines Dritten. Zudem: was verschlägt’s? Das Wagniß erscheint mir nur mäßig; denn daß der Dritte den Mund hält, das liegt doch ebenso sehr in seinem Interesse, als in dem unsern.“

„In der That – Aber das Geld . . .! Wer schafft uns die Mittel, den Mann zu erkaufen?“

„Das wäre hier noch das Wenigste. Du glaubst nicht, für welche Kleinigkeit dies napoletanische Lumpengesindel den Kopf riskirt! Eine Handvoll Silbergeld wirbt Dir ein Dutzend Banditen, die wochenlang auf ihr Opfer lauern, bis es bei guter Gelegenheit sich dem Stoße darbietet. Aus diesen Puppen suche Dir eine passende für die Figur des Monsignore heraus, und gieb, was Du hast. Es wird allemal genug sein. Weit schwerer als der freundliche Wille findet sich das richtige Können, und theurer als die Leistung des Komödianten wird sein Costüm sein. Ueber alles Dies zerbrich Dir jetzt nicht weiter den Kopf. Diesmal bin ich entschlossen. Ich beschaffe das Geld, das Du brauchst – so oder so –, und wenn ich von Haus zu Haus betteln gehe.“

Emmanuele hatte ihr stauneud zugehört. Von Neuem brachte er Einwände vor. Er hielt die Komödie für unausführbar, weil das lebensgroße Bildniß des Cardinals erst kürzlich im Schaufenster einer der großen Gemäldehandlungen der Via Toledo ausgestellt worden und dem Apulier jedenfalls erinnerlich sei. Crispina widerlegte ihn schlagend. Zwei Tage nur habe das Bildniß zur Schau gestanden; es sei mehr als fraglich, ob der vielbeschäftigte Salvatore dasselbe gesehen habe. Ueberhaupt biete das Antlitz Seiner Eminenz nichts Frappirendes, gleiche vielmehr der Durchschnittsphysiognomie der kleinen wohlgenährten Abbaten, denen man zu Rom wie zu Neapel auf allen Straßen begegne. Da nun Monsignore De Fabris zudem die Gepflogenheit habe, stets nur in geschlossenem Wagen und umringt von einer stattlichen Dragoner-Escorte auszufahren, so sei auch die Annahme von der Hand zu weisen, daß der Apulier ihn jemals in Person zu Gesicht bekommen.

„Verlaß Dich darauf,“ sagte sie schließlich, „er geht Dir kunstgerecht in die Falle. Nur klug und verwegen – das Uebrige findet sich! Inzwischen hallt’ ihn nur warm und geberde Dich, als fändest Du seine Förderung berechtigt!“

Emmanuele Nacosta erhob sich, entzündete eine Kerze und verbrannte den Brief, nachdem er ihn nochmals, Silbe für Silbe, gelesen hatte. Dann warf er sich, so lang wie er war, auf die Bettstatt, schloß die Augen und überließ sich willenlos dem Spiele seiner Gedanken.




4.

Gegen halb neun Uhr Abends verließ Emmanuele das Haus. Er schlug die Richtung nach dem Toledo ein und wandte sich, in dieser Hauptschlagader des großstädtischen Verkehrs angelangt, südwärts nach dem Palazzo Reale.

Die Nacht war sternenklar und von frühlingsähnlicher Milde. Vor allen Kaffee-Häusern saßen die Eis-Esser bis weit in die Straße hinein; Musik erscholl aus den weit geöffneten Fenstern; selbst die Fahrdämme waren von lustwandelnden und plaudernden Menschen erfüllt, sodaß die vereinzelten Fuhrwerke Mühe hatten, sich durchzudrängen.

In die Strada del Gigante einbiegend, gewahrte Emmanuele eine mittelgroße Gestalt, die aus einem der links belegenen Weinhäuser kam und gleich ihm den Weg nach Santa Lucia einschlug.

Es war Marsucci.

Emmanuele wollte den Mann voranschreiten lassen, da er jetzt keine Lust verspürte, von Neuem an all die Enttäuschungen der letzten Monate erinnert zu werden. Der Geheim-Polizist jedoch hatte ihn schon bemerkt. Mit einem seltsamen Lächeln machte er Halt, bis Emmanuele herankam. Von Weitem rief er ihm ein behäbiges: „Felice sera!“ zu, dessen Klangfarbe mit dem, was Emmanuele von dem Menschen gewöhnt war, auffällig contrastirte.

„Wohin?“ fragte er, als ihn Emmanuele erreicht hatte. „Irgend etwas in Arbeit? Wie?“

„Nicht daß ich wüßte,“ versetzte der Andere, ein wenig gepraßt. „Und hätt’ ich’s“ – fügte er nach einer Pause hinzu –, „so weiß ich, daß es Keinen minder erfreuen würde, als Euch.“

„Meint Ihr?“ lachte Marsucci, das rechte Auge zusammenkneifend. „Nun, ich merke, Eins ist Euch klar geworden, daß für Unsereinen wenig zu holen ist. Vielleicht besinnt Ihr Euch noch, und gebt die Carrière auf. Ja, was heißt denn das? Wollt Ihr nicht nach Santa Lucia?“

Emmanuele war, da Marsucci ihm zur Seite geblieben, instinctiv abgebogen und wandte sich jetzt, halb zögerud, in der Richtung eines der dunklen, wenig betretenen Seitengäßchen.

„Ihr habt doch etwas auf dem Korn!“ sagte Marsucci.

„Ueberzeugt Euch vom Gegentheil,“ versetzte Nacosta. „Ich flüchte nur aus dem ewigen Straßenlärm . . .“

„So? Seit wann sind Leute unsres Schlags so nervös? Nun, ich gönn’s Euch, Nacosta! Schade, daß wir während der letzten Wochen etwas gespannt waren. Ich hätte Euch sonst für meinen Posten empfohlen.“

„Für welchen Posten?“

„Für den meinigen, den ich quittirt habe.“

„Ihr? Seit wann?“

„Seit vorgestern.“

„Wie kommt Ihr dazu?“

„O, ich war der Sache schon überdrüssig, bevor ich Euch kennen lernte. Es ist ein Jammer, Nacosta. Tag und Nacht keine Ruhe; immer die Vorgesetzten breit auf dem Halse, und dazu der lumpige Sold – ich danke für das Vergnügen! Zu Anfang – da war ich wie Ihr: ich glaubte, ich stünde jetzt auf der ersten Staffel zum Polizei-General: zwei, drei Entdeckungen, die mir natürlich höchst bequem in den Schooß fallen würden – und die Sache war abgemacht. Jawohl! Wir sind die Füchse, die für Andere die Hühner stehlen, – und wenn’s hoch kommt, läßt man uns den Balg und die Knochen. Ich hab’s satt gekriegt, Signore Nacosta.“

„Ja, und was treibt Ihr denn? Habt Ihr geerbt?“

„Das nicht – aber –“

„Nun? Ihr thut ja geheimnißvoll.“

„O, es ist durchaus kein Geheimniß. Freilich, es wird Euch wohl überraschen; – schließlich indeß – der Mensch will leben – und sonderlich ästimirt sind wir auch so nicht: man heißt uns Spione, wenn man außerordentlich höflich ist.“

„Ihr macht mich neugierig,“ sagte Nacosta spöttisch.

(Fortsetzung folgt.)




[280]

Emanuel Geibel
† 6. April 1884.


„O Frühling, Frühling, der in mildem Thauen
Voll Schöpfungswonne du das All durchdringst,
Der du das Meer, den Himmel lässest blauen
Und rauschend mit dem Bach vom Felsen springst –
O Frühling, tiefer, süßer Gotteshauch,
Sei mir gegrüßt und fülle du mich auch,
Wie eine Welle leg’ dich an mein Herz
Und spüle sanft hinweg den letzten Schmerz.“

So ist Dein „Frühlingshymnus“ einst erklungen,
So hast einmal den Lenz Du angefleht. –
Er hat erhört Dich! Du hast ausgerungen;
Es ist der letzte Schmerz hinweg geweht
Vom Gotteshauch. – Früh wie fast nie zuvor
Kam nun der Lenz im bunten Blumenflor,
Doch, eh’ der Philomele Lied erschallt’,
Starb eine Nachtigall im Dichterwald.

Dein Mund verstummte. – Solche süße Weise,
Wie sie gequollen, Freund, aus Deiner Brust,
Hat schon seit Jahren in dem Sängerkreise
Zu singen, ach, kein Einz’ger mehr gewußt!
Wie von des Maimonds Blüthenduft berauscht,
Im Wohllaut schwelgend, haben wir gelauscht.
Der Schönheit Evangelium, es klang
Wie Nachtigallenlied in Deinem Sang!

So tönte hell Dein Festgesang der Minne
Und griff an unser Herz mit heil’ger Macht,
Doch zu dem wüsten Bacchanal der Sinne
Hast nie, ein Spielmann, Du Musik erdacht!
Nie hast Du, buhlend um des Eintags Ruhm,
Entweiht des Dichters hohes Priesterthum,
Und nie verhüllt vor Dir in Schleier dicht
Die keusche Scham ihr holdes Angesicht!

Doch mehr noch! Nicht allein zum sanften Kosen
War, Sänger, Deine Muse nur geschickt,
Dein Aug’ hat durch der Zeitenstürme Tosen
Prophetisch Reich und Kaiser längst erblickt!
Ein Dreigestirn in Deiner Seele stand:
Gott, Freiheit und das deutsche Vaterland,
Die Drei, Dir über Alles hoch und werth –
Und unter Blumen trugst Du auch ein Schwert! –

Ja, Du warst fromm, doch durftest du bekennen
Dich frei von jeder Dogmensclaverei!
„Der Freiheit eigen“ mochtest Du Dich nennen,
Doch warst Du nie der Diener der Partei.
Ein deutscher Mann in tiefsten Wesens Grund,
Ein deutscher Mann bis in die letzte Stund’ –
Und doch ein Mann, dem offen allerwärts
Für jedes Volkes Bestes Geist und Herz! – –

Dein Freund, der Frühling, er ist nun gekommen.
Man trug Dich zu des Friedhofs Ruheplatz.
Der Zeiten Welle hat Dich fortgenommen,
Doch bleibt uns Deines Schaffens Perlenschatz!
Er leuchtet hell in Deutschlands Dichterkron’
In reinem Glanze, theurer Musensohn,
Und über Deinem Todtenhügel steht
Ein Stern des Ruhmes, der nicht untergeht. –
 Emil Rittershaus.

*  *  *


Als ob ein ruhmgekrönter Feldherr sein Auge geschlossen hätte zum ewigen Schlafe, oder ein Führer des Volkes für immer geschieden wäre von seiner getreuen Schaar, so trauert heute Alldeutschland um Emanuel Geibel. Und in der That verliert in ihm die deutsche Dichtung der Gegenwart einen wohl erprobten Feldherrn, verliert die Nation einen geistigen Führer, dessen sangreicher Mund ihr einst Einheit und Macht prophezeit. Wie tief aber auch unsere Trauer sein mag, sie wird verklärt durch das Bewußtsein, daß der Heimgegangene, dessen frisches Grab wir bekränzen, ein Liebling des Volkes war und, da er noch unter uns weilte, die Siegespalme erhielt. Ja, in den Tagen, wo der unerbittliche Tod ihn dahinraffte, bereiteten wir uns vor, mit Geibel ein Fest zu feiern, wie es nur selten einem Dichter beschieden wird.

Für den 19. April war eine Jubelausgabe der „Jugendgedichte“ von Emanuel Geibel angekündigt; in hundertster Auflage sollte der Dichter das Büchlein, das ihm die Herzen seines Volkes erobert, erscheinen sehen und in ihm den festlich geschmückten Zeugen des frühen Kampfes und des endlichen Sieges begrüßen.[1]

Die zeitgenössischen Kritiker urtheilten freilich anders über das Büchlein und dessen Verfasser. Wie gar mancher übergescheidte Recensent hätte höhnisch lächelnd die Achseln gezuckt, wenn man ihm 1840 gesagt hätte, daß Emanuel Geibel, der Verfasser des Bändchens lyrischer Versuche, das vor ihm auf dem Schreibtische lag, in zwanzig Jahren als Führer einer angesehenen Dichterschule, in vierzig Jahren als Altmeister unserer gesammten poetischen Literatur verehrt werden würde! Wer war denn damals, im Herbste 1840, Emanuel Geibel? Was wußte man von ihm? Wie stellten sich seine Gedichte dar? Ei nun, Geibel war in der Welt eben eigentlich noch gar nichts. Ein junger Philologe, der eine Zeitlang in Griechenland Hofmeister im Hause eines vornehmen Russen gewesen, vor Kurzem aber wieder in die Heimath zurückgekehrt und nun ohne Stelle und Brod war. Von gelehrten oder literarischen Arbeiten des jungen Mannes war noch nichts bekannt geworden. Doch ja, er hatte vor wenigen Monaten gemeinsam mit seinem Freunde Ernst Curtius unter dem Titel „Classische Studien“ recht gute Uebersetzungen aus antiken Lyrikern herausgegeben; allein wie Viele hatten sich denn überhaupt schon um das dünne Bändchen gekümmert? Dagegen ließ sich nicht leugnen, daß das Glück dem jungen Poeten in seinem Privatleben bisher hold gewesen war und ihm die Gunst einflußreicher Männer und Frauen beschert hatte.

Friedrich Emanuel Geibel war am 18. October 1815 zu Lübeck als siebentes Kind seinem würdigen Vater, dem Pastor der reformirten Gemeinde daselbst, geboren worden. Im frommen Glauben hatte ihn der Vater ernst und streng erzogen; die Mutter aber, emsig sorgend um ihren Liebling bemüht, hatte schon dem Kinde das Auge für den Reiz der Natur und das Ohr für den des schlichten Volksgesanges geöffnet. Die alten deutschen Märchen, welche jüngst erst von den Brüdern Grimm aus dem Schachte [281] literarischer Vergessenheit an’s Tageslicht heraufgeholt worden waren, bekam der Knabe frühzeitig zu lesen. Daneben bildeten Schiller’s Dramen und die Werke eines viel neueren und viel geringeren, damals aber hochgeschätzten Dichters, de la Motte-Fouqué’s, seine erste poetische Lectüre. Gründlich, jedoch nicht engherzig, wurde der Unterricht im Lübecker Gymnasium geleitet; frei und frisch, ohne dumpfen Zwang, konnte auch hier Geibel’s Jugendleben erwachsen. Und schon rührte sich der Trieb zum Dichten in der Seele des Jünglings. Freiwillig fügten sich im erregten Gemüthe dem Entzückten die Reime; ohne Regel glückten ihm die Verse. Kein Geringerer als Chamisso druckte das erste Gedicht des Achtzehnjährigen, der sich hinter dem Pseudonym L. Horst verbarg, in seinem deutschen Musenalmanach für 1834 ab. Im Frühlinge 1835 bezog der angehende Philologe die Universität Bonn, ein Jahr später die Berliner Hochschule. Sein Vater dachte sich ihn schon als künftigen Lehrer am Gymnasium der alten Hansastadt. Aber die Glücksgöttin meinte es besser mit Geibel. Hitzig, Houwald, Franz Kugler und Andere, vor Allem aber Chamisso und Bettina von Arnim nahmen sich in Berlin freundlich des jungen Studenten an. Der hatte nun freilich andere Wünsche und Pläne, als sein alternder Vater. Zumeist war es das Verlangen nach dem Anblicke Griechenlands, der altehrwürdigen, jetzt wieder vom vielhundertjährigen Joche der Sclaverei befreiten Heimath ewiger Schönheit, was den heranwachsenden Poeten in hoffnungsloser Sehnsucht verzehrte. Bettina schaffte Rath. Durch ihre und des berühmten Rechtsgelehrten Savigny Vermittelung erhielt Geibel eine Hofmeisterstelle bei dem russischen Gesandten am griechischen Hofe, dem Fürsten Katakazi. Im Mai 1838 traf er in Athen ein.

Emanuel Geibel.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Er hatte sich über die Kinder, die seiner Obhut anvertraut waren, nicht zu beklagen; und die Eltern behandelten ihn auf die freundlichste und wohlwollendste Weise. Aber den ganzen Tag von früh bis spät nahm das leidige Hofmeistern ihn in Anspruch; nur wenige Abendstunden und dann und wann ein Sonntag blieben dem Dichter für sich und seine Studien übrig. Auf die Dauer konnte sich Geibel nicht darein finden. Schon nach Jahresfrist löste er seinen Dienstvertrag mit Katakazi, beschränkte zunächst die Anzahl der Stunden, die er in seinem Hause gab, machte sich dann ganz davon los und unternahm im August 1839 eine Reise nach den Inseln des Archipels. Mehr und mehr befestigte [282] sich in ihm der Entschluß, sich fürderhln nicht wieder in den Dienst des bürgerlichen Berufes zu begeben, sondern einzig der Kunst zu leben.

Auch die Liebe drohte jetzt ernstlich Geibel’s Herz in Fesseln zu schlagen. Im täglichen trauten Umgange mit der reizenden Nichte des Fürsten entzündete sich eine Neigung, die für den Dichter wie für die Prinzessin gleich verderblich zu werden schien. Aber Geibel rang von Anfang an männlich und endlich siegreich gegen seine Leidenschaft. Und der Poet kam dem Menschen in diesem Kampfe zu Hülfe. Indem er dem unerreichbaren Ziele seiner Wünsche entsagte, sprach er den Schmerz über seinen Verlust nur in wenigen Gedichten unmittelbar aus. Und doch befreite auch er sich, wie einst Goethe im „Werther“, im „Tasso“, in den „Wahlverwandtschaften“, durch die Poesie von der Gewalt der Leidenschaft. Er stellte, was er selbst erlebt hatte, objectiv im idealen Kunstwerke sich gegenüber. So entstand die Idylle „Das Mädchen vom Don“.

Gleichwie zu Athen im Kampfe mit dem Herzen der menschlich-sittliche Charakter Geibel’s feste Kraft und sein dauerndes Gepräge gewann, so gelangte dort auch sein dichterisches Talent erst zu seiner vollen, eigenartigen Reife. Auf griechischem Boden im beständigen Geistesverkehre mit der Schönheitswelt des hellenischen Alterthums bildete sich Geibel erst ganz und vollkommen zum echten deutschen Dichter. In Deutschland hätte sich Geibel schwerlich von dem Einflusse der herrschenden Modedichtung losmachen können; in Griechenland vollzog sich alsbald der Umschwung. Bereits wenige Monate nach seiner Ankunft in Athen, als er die Nachricht von Chamisso’s Tod vernahm, vermochte ihn der Gedanke, daß Heine noch in voller Kraft wirke, über den Verlust des entschlafenen liebenswürdigen Sängers nicht mehr zu trösten. Ja, Platen zu vertheidigen, wandte sich Geibel sogar zornglühend direct gegen den frechen Streich, den Heine nach „der Schulter, die den Purpur trug“, geführt hatte. So wurde er Platen’s Schüler. Er eignete sich die Formenstrenge und die Formenschönheit seines Lehrers an. Allein er wurde nicht, wie Platen der einseitige Nachahmer der antik-classischen Poesie geworden war, ebenso wieder der sclavische Nachahmer Platen’s. Nur in seltenen Ausnahmsfällen entschloß er sich zum Gebrauche fremdartiger griechisch-lateinischer Versmaße. Nach wie vor betrieb er sein Dichten deutsch. Er ging den Weg, den ihm der Geist seiner Muttersprache mit „ahnungsvollem Laute“ wies; einheimischer Formen Reichthum machtvoll zu beseelen, vom Munde seines Volkes sein Gesetz zu empfangen, galt ihm als Pflicht des deutschen Sängers.

So kehrte er im Mai 1840, als Mann und als Dichter gereift, keines Amtes Sclave, in das Vaterland zurück. Um Michaelis veröffentlichte er hier das erste Bändchen seiner „Jugendgedichte“. Schon vor zwei Jahren bei seiner Abreise nach Griechenland hatte er eine Sammlung lyrischer Versuche druckfertig zurückgelassen. Das Manuscript war aber bei einem Brande der Druckerei umgekommen. Geibel hatte den Unfall damals überaus leicht verschmerzt. Jetzt entschädigte ihn für jenen Verlust und zugleich für die Mißgunst der Kritiker der wachsende Beifall des Publicums, das bald Jahr für Jahr neue, vermehrte Auflagen seiner Gedichte verlangte.

Woher diese Theilnahme der Leser an einem Buche, das die berufsmäßige Kritik im Großen und Ganzen zu verwerfen schien? Es waren eben „Jugendgedichte“, Gedichte für die männliche und besonders für die weibliche Jugend. Mädchenlieder, Frauenpoesie! – hat man oft auf jene Frage geantwortet und spöttisch hinzugefügt, Geibel werde so lange Leserinnen und Verehrerinnen finden, als es Backfische geben werde. Gewiß, Geibel wußte das innig-zarte, weiblich-weiche Empfinden in seiner Dichtung auszusprechen wie wenige Poeten vor ihm. Aber er verstand es nicht minder, der stürmischen Leidenschaft die rechten Worte und Töne zu leihen. Er vermochte auch männlich-festen Sinnes den patriotischen Gesang kraftvoll anzustimmen. Zeugt nicht davon der prophetische Ruf, den er im Jahre 1868 in der „Gartenlaube“ erschallen ließ? – das politische Bekenntniß des Dichters, dessen Schlußstrophen so kraftvoll ausklingen:

„In’s Brausen der Quellen, wie pocht der Hämmer Schlag!
Da födern die Gesellen das Eisen zu Tag,
Da wächst in rother Erde das Schwert für den Feind,
Der noch am deutschen Herde uns dreinzureden meint.

Nun kommst auch du geschwommen im Kranze von Wein,
Willkommen, willkommen, du königlicher Rhein!
Du tränkst mit goldner Freude dein blühend Geländ,
Und weißt von keiner Scheide, die seine Stämme trennt.

Wie lang wird es währen, Altvater, so preßt
Man wieder deine Beeren zum Kaiserkrönungsfest!
Da kommt auf deinen Wogen im Purpurgewand
Der Hort des Reichs gezogen, das Banner in der Hand.

Dann ruh’n Wehr und Waffen, dann ist es vollbracht,
Dran tausend Jahr geschaffen, das Werk deutscher Macht,
In Norden und Süden der letzte Zwist gesühnt,
Und Freiheit und Frieden, so weit die Eiche grünt!“

Die reine Lauterkeit seines Gemüthes, die gesunde Tüchtigkeit seines Charakters war es, was der Lyrik Geibel’s ihren bleibenden Werth und zugleich ihren unvergänglichen Reiz gab.

In den allerersten Jahren blieb freilich nicht blos die Kritik meistens stumm, sondern auch die Masse des Publicums kalt gegen den jungen Lyriker. Die Liebe und Gunst trefflicher Freunde mußte Geibel über die Gleichgültigkeit der deutschen Leserwelt vorläufig trösten. Im Frühling 1841 lud ihn der gastfreie Karl von der Malsburg auf sein Schloß Escheberg bei Kassel. Geibel verlebte dort ein glückliches Jahr, reich an Gewinn für sein Gemüth und an Anregung für seine Poesie. Aus den Schätzen der Schloßbibliothek lernte er die spanische Romanzenliteratnr eingehend kennen: ein Band Uebersetzungen war die künstlerische Frucht dieses Studiums. Als origineller Lyriker veröffentlichte er die erste Sammlung seiner politischen Gedichte, die „Zeitstimmen“. Zu Lübeck im Winter 1842 bis 1843 arbeitete er seine erste Tragödie, „König Roderich“, aus, ein Schmerzenskind seiner Muse, das aber bei den Lesern wie auf der Bühne wenig Beifall errang. Um Neujahr 1843 verlieh ihm König Friedrich Wilhelm IV. ein Jahresgehalt, zwar mäßig an sich, doch immer groß genug, daß der Empfänger wegen seines Unterhaltes sich nicht mehr in den widerwärtigen Zwang eines lästigen Amtes zu begeben brauchte. Den Sommer 1843 verbrachte Geibel im innigen Freundschaftsverkehr mit Freiligrath zu St. Goar am Rhein, den Spätherbst und Winter darnach bei Justinus Kerner in Weinsberg und in Stuttgart. Bald nach Ostern 1844 suchte er die norddeutsche Heimath wieder auf. Selten hielt er es in Lübeck lange Zeit ruhig aus. Er unternahm größere Ausflüge nach Berlin, bereiste den Harz, besuchte Hannover, Dresden und andere Orte, durchwanderte 1847 mit Kugler sogar den größten Theil von Süddeutschland, immer aber kehrte er nach der trauten Vaterstadt zurück. Auf längere Zeit vermochte er sich erst 1852 von seinem lieben Lübeck zu trennen, als König Maximilian II. von Baiern ihn auf die ehrenvollste Weise als Honorarprofessor für deutsche Literatur und Aesthetik an die Universität München berief. Zugleich ward er zum Capitular des neugestifteten Maximilian-Ordens ernannt und in den persönlichen Adelsstand erhoben.

Hier in München, am Hofe des kunstsinnigen Fürsten, wurde Geibel bald der Mittelpunkt eines Dichterkreises, dessen Mitglieder, meist jünger als der Lübecker Sänger, jetzt in alle Provinzen Deutschlands verstreut, als angesehene und zum Theil hochberühmte Meister deutscher Poesie thätig sind. Paul Heyse, Hans Hopfen, Heinrich Leuthold, Felix Dahn, Hermann Lingg, Victor Scheffel, Friedrich Bodenstedt, Wilhelm Hertz, Adolf Friedrich von Schack, Julius Grosse, Melchior Meyr, Franz Kobell und Andere mehr wirkten damals in regem Dichtereifer neben einander in Baierns Hauptstadt, und Geibel unter ihnen, aufmunternd und anfeuernd, helfend und corrigirend, von allen verehrt und geliebt. Manchem, an dessen Worten und Weisen wir uns heute stets neu erfreuen, hat er zuerst die sternenhohen Ziele aller wahren Kunst gezeigt, die edlen Formen echter Poesie enthüllt. Nicht ohne Grund haben so oft ihm dankbar die jüngeren Dichter des Münchener Kreises die Erstlinge ihrer Muse gewidmet. Und was Felix Dahn begeistert von seinem Lehrer Geibel rühmte, das ist noch gar manchem Sänger vom deutschen Parnaß unserer Tage aus der Seele gesprochen:

„Mit Rückert und mit Platen
Hast Du mich treu berathen,
Und ist mein Vers gerathen,
Das dank’ ich Deiner Kunst.
0000000
Wer von uns Jüngern holprig nicht
Reime flicht und radebricht,
Der dankt es Dir, dem Weibel
Des Versturniers, o Geibel!“

[283] Auch sein häusliches Glück am heimlichen Familienherde begründete sich der Dichter in jenen Tagen. Er führte Amanda Trummer, mit der er sich im November 1851 verlobt hatte, als Gattin heim. Aber nur wenige Jahre blieb sein Glück ungestört. Schon 1855 entriß ihm der Tod Amanda. Seine eigene Gesundheit litt unter dem Münchener Klima. Bald sah er sich genöthigt, einen Theil des Jahres wieder in Lübeck zu verbringen. Als 1864 König Maximilian starb, kehrte Geibel nur noch zeitweise zu kurzem Aufenthalt nach München zurück. Im Jahre 1869 legte er seine Aemter ganz nieder und nahm von nun an seinen dauernden Wohnsitz in Lübeck, das er bis zu seinem am 6. April erfolgten Tode nicht mehr verlassen sollte. Für den Verlust seiner baierischen Pension entschädigte ihn König Wilhelm von Preußen durch ein Jahresgehalt.

Geibel hat sich nach seinem ersten Eintritt in die Reihen der deutschen Dichter noch oft und auf allen Gebieten der Poesie versucht, übersetzend und original schaffend, als Epiker und Dramatiker und namentlich als Lyriker. Er ist dem Ideal, das er sich von der Hoheit und Schönheit echter Kunst gebildet hatte, in seiner späteren Lyrik wohl im einzelnen näher gekommen, als in den Jugendgedichten, die er herausgab, da er noch im Ringen mit sich und seinem Genius begriffen war; eines so mächtigen Erfolges jedoch wie diese erste Sammlung hatte sich keine der übrigen mehr zu erfreuen, so herzlich das deutsche Volk auch sie alle begrüßt hat. Es ist, als ob die Nation ihren Dichter, dem man – unverständig genug – seine unvertilgbare Jugendlichkeit manches Mal zum Vorwurf gemacht hat, gerade durch besondere Ehrung seiner frühesten Jugendgabe rechtfertigen wollte. Und sie darf’s und soll’s auch. Denn wie viele neue Poeten auch die letzten Jahrzehnte in Deutschland haben erstehen sehen, wie zahlreich auch gerade auf dem Gebiete der Lyrik von Jahr zu Jahr junge Kräfte sich hervorwagen, mit der Siegespalme darf sich neben Geibel unter den Zeitgenossen kein anderer schmücken.

Franz Muncker.     




Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien.

Von F. Keller-Leuzinger.
I.

Vortrab eines brasilianischen
Kaffee-Transports.

Wenn Einer im Jahre 1855 oder 1856 eine Reise von Rio de Janeiro „landeinwärts“ machen wollte, so hatte er zuerst sein Billet bei der Agentur der Mauádampfer und Mauá-Eisenbahn zu lösen (so benannt nach dem Erbauer Barão de Mauá), wobei auch die Wagenfahrt vom Fuße der „Serra“ bis nach der mehr denn 2000 Fuß hoch gelegenen früheren deutschen Colonie Petropolis mit inbegriffen war.

Ein kleiner Raddampfer nahm ihn auf und trug ihn in wenig Stunden an palmengeschmückten, felsumsäumten, paradiesisch schönen Eilanden vorbei nach dem Hintergrunde der Bai, wo er auf einer Pfahlbaulandungsbrücke den harrenden Zug bestieg. – Dann ging es während einer Stunde zuerst durch sumpfige, mit Papyrus und sonstigen Rohr- und Schilfgewächsen dicht bedeckte Niederungen, die von halbverkrüppelten, mit Bromelien, Moos und Usneen bedeckten Bäumen und Sträuchern begrenzt sind, um schließlich trockenen Boden und die ersten vorgeschobenen Hügel des Küstengebirges zu erreichen. An der Endstation der Eisenbahn harrten ein Dutzend altmodischer, mit je vier mageren Maulthieren bespannter Kutschen, die unter obligatem Peitschenknall und Gejohle sich alsbald in Bewegung setzten, wenngleich die armen, abgetriebenen Thiere die bedeutende Steigung mit der schweren Last kaum bewältigen zu können schienen. Die Straße, welche damals erst fertig geworden war und von den Brasilianern trotz ihrer bedeutenden Mängel als ein Wunderwerk der Baukunst angestaunt wurde, zieht sich in vielen Dutzenden von scharfen Wendungen an dem steilen, felsigen Hange hinauf. Herrlich ist die uns umgebende Natur: Während sich rückwärts ein wundervoller Blick auf die Niederung und die Bai eröffnet und mehr und mehr an Tiefe gewinnt, rücken uns die schroffen, in ihrer unteren Hälfte trotzdem dicht bewaldeten Seitenwände des Thales näher und näher, erkennen wir in dem bis an den Straßenrand vordringenden üppigen Grün die zierlichen Fiederwedel baumartiger Farne, die schwanken Schäfte verschiedener Bambusse, breitblättrige Maranthas, stachelige Astrocarien und andere Palmenarten – kurz, das üppigste Unterholz und Dickicht umgiebt uns, während weiterhin hochstämmige Myrtaceen, Ficusarten und andere Riesen des Urwaldes, welche bei dessen erster Lichtung stehen geblieben, die Aussicht abschließen. Dabei sprudelt in jeder Felsrinne das herrlichste Wasser, und liegt, wenn wir einmal die halbe Höhe überschritten, ein Hauch von Frische über dem Ganzen, der für den aus dem heißen Tieflande und dem schwülen Rio Kommenden etwas geradezu Entzückendes hat.

Endlich haben wir die Sattel- oder Paßhöhe mit etwa 2300 Fuß über dem Meere erreicht und die Straße beginnt langsam zu fallen; noch eine kurze Strecke, welche die abgetriebenen Maulthiere im Galopp zurücklegen müssen, und wir befinden uns in Petropolis.

Weiß getünchte, niedrige Häuser mit grünen Läden, breite, baumbepflanzte Straßen, in deren Mitte ein rauschender Bach, der zwischen künstlich abgeböschten Ufern hübsch geradlinig und rechtwinkelig fließen muß (wofür er sich dadurch rächt, daß er bald hier, bald da über die Schnur haut und das Ufer unterspült) – Neugierige und Flaneurs, welche in den offenen Thüren der zahlreich vorhandenen Magazine stehen und die ankommenden Passagiere mustern – in der Ferne ein langgestrecktes Gebäude, welches ganz gut ein Conversations- oder Curhaus vorstellen könnte, in Wahrheit aber ein kaiserliches Lustschloß ist, rings bewaldete Berge, aus deren Grün da und dort eine Villa hervorlugt – kurz, es ist ein kleines deutsches Badestädtchen, in das wir urplötzlich versetzt wurden. Auch einzelne Sprachlaute, die wir da und dort, z. B. von unserem Kutscher hören, können wohl dazu beitragen, uns in unserer Illusion zu bestärken: – „Du, [284] Hannes,“ sagt da Einer, „lang mer emol die Beitsch!“ und wir glauben, uns am Rhein oder an der Mosel zu befinden, wenngleich sich das landesübliche Portugiesisch gleichfalls bemerkbar macht.

Ein guter Gasthof nimmt uns auf, und wir sind glücklich, nach langer Zeit wieder einmal in frischerer Atmosphäre schlafen zu können, ohne von blutdürstigen Mosquitos und deren entsetzlichen Geigensonaten gepeinigt zu werden. Man könnte hier sicherlich ein paar recht angenehme Wochen verbringen, aber wir wollen ja in’s „Innere“, und geschieden muß sein, nicht allein vom schmucken, kleinen Petropolis, sondern (damals wenigstens) von aller und jeder Bequemlichkeit des Reisens und Lebens – mit einem Worte von europäischer Sitte und Cultur.

Brasilianischer Maulthiertreiber.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

Gleich hinter dem Städtchen beginnt jener gräuliche Saumpfad, den in einer gewissen Jahreszeit nach der Haupt-Kaffee-Ernte wohl an 2000 Maulthiere per Tag überwinden müssen, obgleich, besonders in der Regenzeit, buchstäblich beinahe jeder Schritt vorwärts nur mit der größten Anstrengung, ja mit Lebensgefahr ausgeführt werden kann. Wir miethen ein starkes Maulthier und kaufen Sattel und Zaumzeug, und unter der Leitung eines Führers, der zugleich ein mit zwei kleinen Holzkoffern, den sogenannten Canastras, bepacktes Lastthier treibt, ziehen wir ab.

Der gänzlich unregelmäßige, hier breite, dort schmale, ohne Grund steil ansteigende und ebenso wieder fallende Pfad führt der Hauptsache nach der Piabanha entlang – in der trockenen Jahreszeit ein rauschender Bach, zur Regenzeit ein reißender Wildstrom! Die Natur rings um uns herum ist unsäglich herrlich und großartig, aber auch der Weg zu unseren Füßen spottet jeder Beschreibung! An den besten Stellen, das heißt da, wo seine rothe Schlammmasse noch ergründlich ist, haben die Tausende und aber Tausende von Maulthierfüßen eine ganz regelmäßig gestaltete, durch hohe Schlammkämme getrennte Reihe von Löchern hineingestampft, in die wieder jedes nachfolgende Thier sorgfältig seine Beine setzt, sodaß von einem nur irgendwie beschleunigten Schritte nicht die Rede sein kann. Die Straße sieht aus wie ein steifgewordenes Wellenmeer aus rothbrauner Erde. Die Füße des Reiters sowie die unteren Flächen der Ladung, Koffer und Tragkörbe, streifen dabei in manchen Fällen die Kämme, und jede unvorsichtige Bewegung kann uns zu Fall bringen. Aber es soll noch besser kommen! An einer Stelle, wo rechts die glatte, nackte Gneiswand schroff sich erhebt, und links in der Tiefe die hochangelaufene Piabanha schäumt und tobt, als suche sie ein Opfer, ist der aus Geröll und rother Erde zusammengesetzte Straßenkörper (wenn man so sagen kann) in einer Weise durchgeweicht, daß er auf mehr denn 200 Schritte nur eine einzige unergründliche Breimasse bildet, in der Roß und Reiter beim ersten Schritte unrettbar versinken würden. Die Reste eines die Luft verpestenden Pferdecadavers, um welche eine Schaar von schwarzen Aasgeiern sich zankt, während andere, die sich schon gesättigt, mit halbgeöffneten Fittigen bewegungslos, wie aus Erz gegossen, auf den nächsten Felsblöcken und dürren Stämmen sitzen – bilden in dieser Hinsicht ein eigenes, sehr eindringliches Memento! Aber wie hinüber kommen?

Der Fels zur Rechten ist zu steil und zu glatt, um für anderes Gethier, als Affen und Katzen, eine genügende Stütze zu bieten, und zur Linken bespült der tobende Wildstrom den auf einem undefinirbaren Chaos von Wurzeln, Treibholz und Felsblöcken ruhenden Fuß der scheußlichen rothen Teigmasse, sodaß jeder Versuch zur Umgehung auf dieser Seite sicherer Untergang wäre.

Bergprofil der Bai von Rio de Janeiro. 0 Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

Schon beginnt die Sonne sich zu neigen, und noch stehen wir rathlos vor der ungelösten Schwierigkeit, als am jenseitigen Ende des ominösen Platzes eine mit Kaffee beladene Maulthiertruppe von 60 bis 70 Köpfen anlangt. Das vorderste, mit Glocke und Roßhaarbüschen gezierte stattliche Leitthier bleibt plötzlich stehen und reckt den starken Hals, um scheuen Blickes und mit weit geöffneten Nüstern die Gefahr auszuwittern. – Von hinten drängen und stoßen seine Gefährten; es weicht jedoch nicht von der Stelle; aber während der Zeit sind die Arrieiros und Treiber abgestiegen, haben sich die verzweifelte Sachlage angesehen und gehen unverzüglich an die Ausführung des einzig möglichen Auskunftsmittels – nämlich eine Brücke zu bauen. – Aber keine Brücke oder Knüppeldamm aus Holz, da es zu deren Herstellung nahezu an allem Nöthigen, besonders aber an Material und Zeit gebrechen würde, sondern eine Brücke soll gebaut werden, wie sie noch in keinem Compendium der Ingenieurwissenschaften [285] beschrieben ist – eine Brücke aus Ochsenhäuten! Zu diesem Ende werden sämmtliche Thiere unter unglaublichen Schwierigkeiten auf dem engen Raume in knietiefem Schmutze abgeladen, die zur Bedeckung der kostbaren Ladung dienenden getrockneten Häute herunter genommen und vorsichtig eine nach der andern, dachziegelartig, über und neben einander, fein säuberlich auf den lieblichen Brei gelegt. Kein Professor der Physik hätte die Aufgabe, auf halbflüssiger Unterlage mittelst elastisch nachgebenden Platten durch Vertheilung der Last und Benützung des hydrostatischen Gegendruckes eine gangbare Passage zu schaffen, besser zu lösen vermocht, als diese braunen Burschen es thaten.

Aber welche Arbeit, welche Anstrengung! – da zu gleicher Zeit auch die Kaffeesäcke auf trockener Unterlage in Sicherheit gebracht werden müssen und die „Couros“ ja zum Brückenbau unentbehrlich sind!

Da mußten denn die Packsättel selbst herhalten, die dicht neben einander auf die Seite gelegt eine Basis für die Säcke und Bambuskörbe abgaben, bis nicht nur die Thiere eines nach dem andern am Halfter über die schwankende Hautschicht geführt, sondern auch die Ladung selbst abtheilungsweise auf dem Rücken der Treiber herüber gebracht und die Thiere nach und nach wieder gesattelt und beladen werden konnten.

Wir beeilen uns, die Nothbrücke zu benützen, so lange sie noch intact ist, und suchen die nächste „Posada“ wenigstens noch vor dem Einbruche vollständiger Dunkelheit zu erreichen, um so mehr, da der Himmel seine Schleusen geöffnet und unsere Ponchos von Schmutz und Regen triefen.

Ein kaum genießbares, aus Carne secca (getrocknetem Fleisch), Bohnen und Mandiocamehl bestehendes Abendbrod und ein Schluck mit Schnaps stark versetzten Lissabon-Weines ist neben einem harten Lager mit feuchten Laken Alles, was wir zur Stärkung unseres Leibes für die Mühen der nächsten Tage zu erlangen vermögen.

Mag auch eine Scylla, gleich den beschriebenen, nicht jeden Tag zu passiren sein, so fehlt es doch nicht an Löchern, die gerade tief genug sind, daß unser Roß bis zur Brust darin versinke, und wie in der Libyschen Wüste bezeichnen Thierleichen und Gerippe den Pfad, der den hochtrabenden Namen führt: Estrada geral para a provincia de Minas-Geraës.

Aber selbst dann, wenn nach anhaltender Trockenheit in den Monaten Juni bis September ein Theil der „Fallgruben“ verschwunden war (die schlimmsten und tiefsten trockneten nie ganz aus), blieben auf der Hauptstraße des Reiches immer noch derartige technische Mängel an steilen Hängen und Steigen (wobei Höhen von 1000 und mehr Fuß oft ganz unnöthiger Weise erklommen werden mußten), an dürftigen Flußübergängen und schlechten Brücken, an ungenügendem Schutz für Menschen, Thiere und Ladung, daß die Uebelstände in Wahrheit unerträglich schienen.

Damals trat ein Deputirter in der Kammer auf, Dr. Manuel de Mello-Franco, um zu sagen: „Meus Senhores, eine solche Straße, wie diese Estrada geral, ist eigentlich nichts Anderes denn eine ‚Blocade‘, und nicht einmal in milderer Form, und wenn die kaiserliche Regierung für meine heimathliche Provinz Minas – die erste und beste des Reiches – in dieser Hinsicht Nichts thun will, so muß dieselbe ersticken.“ –

Aber die kaiserliche Regierung hatte schließlich ein gnädig Einsehen, und es kam unter Zinsengarantie von sieben Procent von Seiten des Staates eine Actiengesellschaft unter dem Namen Companhia União e Industria zu Stande, welche sich die Aufgabe stellte, wenigstens auf dieser ersten aller brasilianischen Verkehrslinien, auf der directesten Route von der Reichshauptstadt nach dem Innern des Landes, durch die reichsten Kaffeeplantagen und nach der durch ihre Bevölkerungszahl wie durch ihre Producte hochwichtigen Provinz Minas eine Normalstraße für Fuhrwerksbetrieb statt des entsetzlichen alten Saumthierpfades herzustellen.


Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit.

Herausgegeben von Eduard Engel.

Nachdruck verboten. Uebersetzungsrecht vorbehalten. 

IX.

Am anderen Morgen erschien dem Sefchen alles wie ein Traum, aber da sie hinter dem bekannten Baum den aufgefrischten Boden sah, merkte sie wohl, daß alles Wirklichkeit war. Sie grübelte lange darüber nach, was dort wohl vergraben seyn mochte, ein Kind? ein Thier? ein Schatz? – sie sagte aber niemandem ein Sterbenswort von dem nächtlichen Begebniß, und da die Jahre vergingen, trat dasselbe in den Hintergrund ihres Gedächtnisses.

Erst fünf Jahre später, als der Großvater gestorben und die Göcherinn ankam, um das Mädchen nach Düsseldorf abzuholen, wagte dasselbe der Muhme ihr Herz zu öffnen. Diese aber war über die seltsame Geschichte weder erschrocken noch verwundert, sondern höchlich erfreut und sie sagte, daß weder ein Kind noch eine Katze noch ein Schatz in der Grube verborgen läge, wohl aber das alte Richtschwert des Großvaters, womit derselbe hundert armen Sündern den Kopf abgeschlagen habe. Nun sei es aber Brauch und Sitte der Scharfrichter, daß sie ein Schwert, womit hundertmal das hochnothpeinliche Amt verrichtet worden, nicht länger behalten oder gar benutzen; denn ein solches Richtschwert sei nicht wie andere Schwerter, es habe mit der Zeit ein heimliches Bewußtsein bekommen und bedürfe am Ende der Ruhe im Grabe wie ein Mensch.

Auch werden solche Schwerter, meinen Viele, durch das viele Blutvergießen zuletzt grausam und sie lechzen manchmal nach Blut, und oft um Mitternacht könne man deutlich hören, wie sie im Schranke, wo sie aufgehenkt sind, leidenschaftlich rasseln und rumoren[2]; ja, einige werden so tückisch und boshaft ganz wie Unsereins und bethören den Unglücklichen, der sie in Händen hat so sehr, daß er die besten Freunde damit verwundet. So habe mahl in der Göcherinn eignen Familie ein Bruder den andern mit einem solchen Schwerte erstochen.

Nichtsdestoweniger gestand die Göcherinn, daß man mit einem solchen Hundertmordschwert die kostbarsten Zauberstücke verrichten könne, und noch in derselben Nacht hatte sie nichts eiligeres zu thun, als an dem bezeichneten Baum das verscharrte Richtschwert auszugraben, und sie verwahrte es seitdem unter anderem Zaubergeräthe in ihrer Rumpelkammer.

Als sie einst nicht zu Hause war, bat ich Sefchen, mir jene Kuriosität zu zeigen. Sie ließ sich nicht lange bitten, ging in die besagte Kammer und trat gleich darauf hervor mit einem ungeheuren Schwerte, das sie trotz ihrer schmächtigen Arme sehr kräftig schwang, während sie schalkhaft drohend die Worte sang:

„Willst du küssen das blanke Schwert,
Das der liebe Gott bescheert?“

Ich antwortete darauf in derselben Tonart: „Ich will nicht küssen das blanke Schwert – ich will das rothe Sefchen küssen!“ und da sie sich aus Furcht, mich mit dem fatalen Stahl zu verletzen, nicht zur Gegenwehr setzen konnte, mußte sie es geschehen lassen, daß ich mit großer Herzhaftigkeit die feinen Hüften umschlang [286] und die trutzigen Lippen küßte. Ja, trotz dem Richtschwert, womit schon hundert arme Schelme geköpft worden, und trotz der Infamia, womit jede Berührung des unehrlichen Geschlechtes Jeden behaftet, küßte ich die schöne Scharfrichterstochter.

Ich küßte sie nicht bloß aus zärtlicher Neigung, sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft und alle ihre dunklen Vorurtheile, und in diesem Augenblicke loderten in mir auf die ersten Flammen jener zwey Passionen, welchen mein späteres Leben gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die Liebe für die französische Revoluzion, den modernen furor francese[3], wovon auch ich ergriffen ward im Kampf mit den Landsknechten des Mittelalters.

Ich will meine Liebe für Josepha nicht näher beschreiben. So viel aber will ich gestehen, daß sie doch nur ein Präludium war, welches den großen Tragödien meiner reiferen Periode voranging. So schwärmt Romeo erst für Rosalinde, ehe er seine Julia sieht.

In der Liebe giebt es ein provisorisches Fegfeuer, in welchem man sich erst an das Gebratenwerden gewöhnen soll, ehe man in die wirkliche ewige Hölle geräth.

Hölle? Darf man der Liebe mit solcher Unart erwähnen? Nun, wenn ihr wollt, will ich sie auch mit dem Himmel vergleichen. Leider ist in der Liebe nie genau zu ermitteln, wo sie anfängt, mit der Hölle oder mit dem Himmel die größte Aehnlichkeit zu bieten, so wie man auch nicht weiß, ob nicht die Engel, die uns darin begegnen, etwa verkappte Teufel sind, oder ob die Teufel dort nicht manchmal verkappte Engel seyn mögen.

Aufrichtig gesagt: welche schreckliche Krankheit ist die Frauenliebe! Da hilft keine Inokulazion, wie wir gesehen.[4] Sehr gescheute und erfahrene Aerzte rathen zu Ortsveränderung und meinen, mit der Entfernung von der Zauberin zerreiße auch der Zauber. Das Prinzip der Homöopathie, wo das Weib uns heilet von dem Weibe, ist vielleicht das probateste.

So viel wirst du gemerkt haben, theurer Leser, daß die Inokulation der Liebe welche meine Mutter in meiner Kindheit versuchte, keinen günstigen Erfolg hatte. Es stand geschrieben, daß ich von dem großen Uebel, den Pocken des Herzens, stärker als andre Sterbliche heimgesucht werden sollte, und mein Herz trägt die schlechtvernarbten Spuren in so reichlicher Fülle, daß es aussieht wie die Gipsmaske des Mirabeau[5] oder wie die Façade des Palais Mazarin nach den glorreichen Juliustagen oder gar wie die Reputazion der größten tragischen Künstlerinn.[6]

Giebt es aber gar kein Heilmittel gegen das fatale Gebreste? Jüngst meinte ein Psychologe, man könne dasselbe bewältigen, wenn man gleich im Beginn des Ausbruchs einige geeignete Mittel anwende. Diese Vorschrift mahnt jedoch an das alte naive Gebetbuch, welches Gebete für alle Unglücksfälle, womit der Mensch bedroht ist, und unter anderen ein mehrere Seiten langes Gebet enthält, das der Schieferdecker abbeten solle, sobald er sich vom Schwindel ergriffen fühle und in Gefahr sey, vom Dache herabzufallen.

Eben so thörigt ist es, wenn man einem Liebeskranken anräth, den Anblick seiner Schönen zu fliehen und sich in der Einsamkeit an der Brust der Natur Genesung zu suchen. Ach, an dieser grünen Brust wird er nur Langeweile finden![WS 1]

Das wirksamste Gegengift gegen die Weiber sind die Weiber; freylich hieße das, den Satan durch Belzebub bannen, und dann ist in solchem Falle die Medizin oft noch verderblicher als die Krankheit. Aber es ist immer eine Chance, und in trostlosen Liebeszuständen ist der Wechsel der Inamorata gewiß das Rathsamste, und mein Vater dürfte auch hier mit Recht sagen: jetzt muß man ein neues Fäßchen anstechen.[7]

Ja, laßt uns zu meinem lieben Vater zurückkehren, dem irgend eine mildthätige alte Weiberseele meinen öfteren Besuch bei der Göcherinn und meine Neigung für das rothe Sefchen denunzirt hatte. Diese Denunziazionen hatten jedoch keine andere Folge, als meinem Vater Gelegenheit zu geben, seine liebenswürdige Höflichkeit zu bekunden. Denn Sefchen sagte mir bald, ein sehr vornehmer und gepuderter Mann in Begleitung eines Andern sey ihr auf der Promenade begegnet, und als ihm sein Begleiter einige Worte zugeflüstert, habe er sie freundlich angesehen und im Vorbeigehen grüßend seinen Hut vor ihr abgezogen.

Nach der näheren Beschreibung erkannte ich in dem grüßenden Manne meinen lieben gütigen Vater.

Nicht dieselbe Nachsicht zeigte er, als man ihm einige irreligiöse Spöttereyen, die mir entschlüpft, hinterbrachte. Man hatte mich der Gottesleugnung angeklagt und mein Vater hielt mir deswegen ein Standrede, die längste, die er wohl je gehalten, und die folgendermaßen lautete: „Lieber Sohn! Deine Mutter läßt dich beim Rektor Schallmeyer Philosophie studiren. Das ist ihre Sache. Ich, meines Theils, liebe nicht die Philosophie, denn sie ist lauter Aberglauben, und ich bin Kaufmann und habe meinen Kopf nöthig für mein Geschäft. Du kannst Philosoph seyn, soviel du willst, aber ich bitte dich, sage nicht öffentlich, was du denkst, denn du würdest mir im Geschäft schaden, wenn meine Kunden erführen, daß ich einen Sohn habe, der nicht an Gott glaubt; besonders die Juden würden keine Velveteens mehr bei mir kaufen, und sind ehrliche Leute, zahlen prompt und haben auch Recht, an der Religion zu halten. Ich bin dein Vater und also älter als du und dadurch auch erfahrener; du darfst mir also aufs Wort glauben, wenn ich mir erlaube, dir zu sagen, daß der Atheismus eine große Sünde ist.“


*      *      *


Nachwort.

Mit dieser Nummer der „Gartenlaube“ hat die Veröffentlichung von Heinrich Heine’s Memoiren ihren Abschluß gefunden. „Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit“ hatte ich das vielumstrittene Manuscript in der Titelüberschrift genannt, um jedem Einwande gegen Umfang und Inhalt desselben zu begegnen. [287] Das hat leider nicht verhindert, daß Diejenigen, welche ihre Hoffnungen auf pikante Enthüllungen unerfüllt sahen, an den „Memoiren“ allerlei auszusetzen fanden. Ich habe natürlich hier nicht Heine als Schriftsteller in Schutz zu nehmen gegen etwaige Unbefriedigung und Enttäuschung; schon in Nummer 6 der „Gartenlaube“ hatte ich vor jeder zu hochgespannten Erwartung gewarnt.

Heute nun bin ich in der angenehmen Lage, den Lesern der soeben abgeschlossenen Veröffentlichung mit voller Bestimmtheit zu versichern: daß die Blätter, welche sie in den letzten drei Monaten gelesen, alles enthalten haben, was jemals von Heine’s Memoiren zum Vorschein kommen wird.[8]

Niemand besitzt auch nur ein einziges Blatt Heine’scher Memoiren, welches nicht in den letzten Monaten in meinen Händen gewesen, und in dem Augenblick, wo ich als Herausgeber von Heine’s Memoiren mich verabschiede, darf ich die actenmäßig festgestellte Thatsache hier verkünden, die für mich früher noch nicht über allem Zweifel erhaben war:

Herr Gustav Heine in Wien hat zu keiner Zeit ein Blatt der Memoiren Heinrich Heine’s besessen und besitzt auch zur heutigen Stunde kein Blatt derselben!

Die Memoiren, welche die „Gartenlaube“ zum ersten Male abgedruckt hat, sind somit nicht nur die „echten“ Memoiren, – was beiläufig niemals bestritten worden – sondern sie sind auch die einzigen Memoiren, welche existiren, nachdem der Dichter in selbstquälerischem Unmuth alle früheren Memoiren mit eigener Hand vor der Abfassung dieser letzten Memoiren verbrannt hat.

In der „Einleitung“ zu den Memoiren (Nr. 6 der „Gartenlaube“) hatte ich noch die Möglichkeit zugelassen, daß Herr Gustav Heine irgendwelches Memoirenmanuscript seines Bruders besitze. Ich hatte damals nur an die Rechtmäßigkeit dieses möglichen Besitzes einen Zweifel geknüpft. Seitdem sind mir von wohlunterrichteten Seiten neue Thatsachen mitgetheilt worden, welche die Möglichkeit, daß Herr Gustav Heine auch nur ein Blatt der ursprünglichen Memoiren besitze, ein für alle Mal beseitigt haben.

Bisher hatten alle Diejenigen, welche an einen Memoiren-Besitz Gustav Heine’s geglaubt, sich lediglich auf eine Stelle in Strodtmann’s Heine-Biographie gestützt, wo, ohne Anführung von Beweismaterial, von einer Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine und von einem Geständniß dieser Verpfändung seitens des Dichters an seinen Verleger Julius Campe gesprochen wird. Wenn ich irgendein ganz bescheidenes Verdienst um die Entwirrung der Memoiren-Frage in Anspruch nehmen darf, so ist es dieses: ich habe zuerst die Quelle des Gerüchtes von einer Verpfändung und einer Mittheilung Heine’s darüber an Campe an der richtigen Stelle untersucht: ich habe den Sohn des alten Verlegers Campe einfach gefragt, ob jemals sein Vater von einer solchen Mittheilung Heine’s über eine Verpfändung der Memoiren gesprochen? Da erhielt ich die überraschende Antwort, daß der einzige Zeuge, auf den das Gerücht von einer erfolgten Verpfändung zurückgeführt worden, von einer solchen Verpfändung nie ein Wort von Heine gehört, auch selbst nie an eine solche geglaubt, ja daß er, Julius Campe der Aeltere, nie an das Vorhandensein der ursprünglichen Memoiren nach Heine’s Tode geglaubt!

Damit fällt die Erzählung von einer eingestandenen Verpfändung der Memoiren an Gustav Heine in sich zusammen. Herr Gustav Heine selbst hat auch niemals von einer Verpfändung gesprochen, sondern hat nur, ohne jede nähere Angabe, den Besitz der Memoiren Heinrich Heine’s behauptet.

Die Stellen der Briefe, in welchen Heine in der härtesten Weise von seinem Bruder Gustav spricht, würden mehrere Spalten dieses Blattes füllen; ich führe sie nicht an, weil das üble Verhältniß zwischen diesen beiden Brüdern zu bekannt ist, um etwa an eine Schenkung der Memoiren aus brüderlicher Liebe zu glauben. – Aber Heine hatte nichts zu schenken, denn die Memoiren, an denen er seit seinen zwanziger Jahren gearbeitet, waren in der Zeit von 1850 bis 1854 vollständig von ihm vernichtet worden, bis auf etwa zehn Blätter, die ich in dem Manuscript der Memoiren letzter Hand vorfand: zufällige Ueberbleibsel jener ersten Memoiren, die Heine bei dem Autodafé übersehen.

Die Verbrennung der ersten Memoiren, welche Heine in der Einleitung zu den zweiten Memoiren in Aussicht stellt, ist erfolgt. Ich führe zur besseren Uebersicht noch einmal die betreffenden Worte jener Einleitung hier an, welche von dem Schicksal der ersten Memoiren handeln, eben derselben Memoiren, welche Herr Gustav Heine zu besitzen vorgab:

„Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den Titel Memoiren verlieh, habe ich jedoch schier zur größeren Hälfte wieder vernichten müssen, theils aus leidigen Familienrücksichten, theils auch wegen religiöser Skrupeln.
Ich habe mich seitdem bemüht, die entstandenen Lakunen nothdürftig zu füllen, doch ich fürchte, posthume Pflichten oder ein selbstquälerischer Ueberdruß zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode einem neuen Autodafé zu überliefern.“

Die Frage ist also einfach diese: hat Heine auch die Hälfte der ersten Memoiren, welche früher nicht vernichtet worden, während der Abfassung der zweiten Memoiren verbrannt oder nicht? Und die Antwort hat zu lauten: Ja, er hat alles verbrannt!

Zwei Zeugnisse haben wir hierfür: einen Testamentsentwurf Heine’s, und die Aussage des Mannes, in dessen Händen bis zum Januar 1884 sich die Memoiren befunden haben. Der Testamentsentwurf rührt her aus dem Jahre 1854; er weicht von dem schon durch den Druck bekannt gewordenen französischen Testament Heine’s aus dem Jahre 1851 (bei Strodtmann, Band II, S. 427 bis 432) an einer wichtigen Stelle ab, nämlich da, wo er von den Memoiren spricht. Im Testament von 1851, dem noch heute gültigen, findet sich gar keine Erwähnung der Memoiren; in dem Entwurfe zu einem unbeendeten Testamente letzter Hand findet sich bezüglich der Memoiren folgende Stelle:

„Die Manuskripte, welche ich noch besaß (1847), waren leider von der Art, daß eine Umwandlung in meinen religiösen Ansichten, und Rücksichten auf Personen, die ich nicht durch Mißverstand verletzen durfte, mich nöthigten, sie zum größten Theil zu vernichten[9], – vielleicht muß ich sie am Ende gänzlich der Vernichtung preisgeben –, so daß bei meinem Ableben auch diese Ressource für meine Wittwe verloren geht. Mit der Erbschaft meiner Wittwe sieht es also nicht glänzend aus, und ich werde glücklich genug sein, wenn ich ihr nicht Schulden hinterlasse.“

Mit Rücksicht hierauf empfiehlt dann Heine im weiteren Verlauf des Testamentes seine Wittwe der Gnade seines Vetters Karl Heine.

Das zweite Zeugniß rührt her von Herrn Henri Julia, aus dessen Händen die „Gartenlaube“ das Manuscript der Memoiren erworben. Die Glaubwürdigkeit dieses Herrn lasse ich im Uebrigen auf sich beruhen, – für die folgende Mittheilung, welche er unaufgefordert zur Information der Leser nach erfolgtem Ankauf gemacht, also zu einer Zeit, wo er gar kein pecuniäres Interesse an der Sache mehr hatte, ist seine Glaubwürdigkeit unbestreitbar, um so mehr, als seine Aussage mit Allem übereinstimmt, was sich aus Heine’s Briefen, aus dem angeführten Testamentsentwurf und aus der Einleitung zu den Memoiren selbst ergiebt.

Herr Henri Julia war um die Zeit, da er mit Heine bekannt wurde (1854 oder 1855) – durch eine Schrift über Voltaire’s Correspondenz – ein junger angehender Advocat; als Heine in Verlegenheit war, wen er seiner Wittwe als Rechtsbeistand bezeichnen wollte, fiel sein Auge auf diesen jungen Mann, und sein Vertrauen zu ihm ging so weit, daß er seiner Obhut das seit 1854 fertig gewordene Stück der letzten Memoiren übergab. Herr Julia erzählt darüber in einem an die „Gartenlaube“ gerichteten Schreiben, welches für die Veröffentlichung bestimmt war:

„Heinrich Heine hatte eines Tages vor meinen Augen aus einer kleinen Tischschublade, in der sehr viele Papiere aufgehäuft lagen, ein Bündel großer, mit Bleistift beschriebener Blätter herausgenommen und zu mir, sie mir zeigend, gesagt: ,Ich habe meine Memoiren geschrieben und wieder umgeschrieben. Alles ist verbrannt worden. So oft ich daran schrieb, konnte ich dem Drange nicht widerstehen, empfangene Beleidigungen, erlittene Schmerzen zu rächen: auch riß ich viele Masken ab. Aber bei näherer Ueberlegung sagte ich mir, der Löwe müßte sich großmüthig zeigen, und so zog ich meine Krallen ein. Dies hier,‘ fügte er hinzu, ‚ist mein letzter Versuch. Ich weiß nicht, ob ich ihn werde fortsetzen und beendigen können. Wie dem auch sei: geben Sie dieses Manuscript nicht aus Händen ohne Zustimmung meiner Frau. Ich verlasse mich in der Beziehung auf sie und auf Sie, die Ihr nicht nur meine Person, sondern auch meinen Ruhm liebt. Sie werden in dieser Beziehung nach bestem Wissen handeln.‘
Frau Heine und ich haben oft die Frage erörtert, ob wir die Blätter veröffentlichen sollten oder nicht. Wir hatten volle Freiheit, es zu thun, und mehr als einmal waren wir der Versuchung nahe. Was aber Frau
[288]

Vor dem Aufstande in Tirol 1809. Nach dem Oelgemälde von Franz Defregger.
Photographie im Verlage von F. Hanfstängl in München.

[289] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [290] Heine zurückhielt, war die Furcht, die Familie ihres Gatten möchte ihr die Pension entziehen, von der sie lebte. Der damalige Chef des Hamburger Hauses hatte sich über den Punkt kategorisch genug ausgesprochen. Er hatte in die Fortzahlung der Pension gewilligt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß nichts über die persönlichen Beziehungen des Dichters zu seiner Familie veröffentlicht würde.“

Somit dürfte feststehen, daß keine anderen Memoiren existiren, als die von der „Gartenlaube“ veröffentlichten, und daß Herr Gustav Heine jedenfalls keine Memoiren besitzt.

Schließlich noch ein Wort darüber, wie es möglich war, daß dieser Herr, obwohl nicht im Besitz von Memoiren, dennoch einen solchen Besitz behauptete. Gustav Heine besitzt eine Anzahl von interessanten Papieren Heinrich Heine’s[10]: mehrere hundert Briefe desselben an ihn, ferner Briefe Heine’s an französische Schriftsteller (Guizot, Thiers, Michelet etc.), politische Gedichte und wahrscheinlich einige andere Papiere Heine’s, welche vielleicht auf Familienangelegenheiten Bezug haben. Gestützt auf diesen allerdings kostbaren Besitz, namentlich auf die zahlreichen Briefe Heine’s aus allen Phasen seines Lebens, glaubt Herr Gustav Heine und will uns glauben machen, er besitze die Memoiren Heine’s! Nachdem jüngst eine Notiz durch die Zeitungen ging, daß noch ungefähr tausend Briefe an Heine vorlägen, welche die „wirklichen“ Memoiren Heinrich Heine’s seien, kann man schließlich seinem Bruder es nicht allzu sehr verübeln, wenn er sich einbildet, die Hunderte von Briefen Heinrich Heine’s stellen dessen Memoiren dar.




In einem folgenden Aufsatze[WS 2] gedenke ich noch einige Mittheilungen über Heine’s Beziehungen zu zwei merkwürdigen Frauen zu machen, von denen die Eine, die sogenannte „Mouche“, durch das Räthselhafte ihrer Persönlichkeit das Interesse der Heine-Forscher früher erregt hat. Sie hat inzwischen das Dunkel, mit welchem sie sich so lange umgeben, selbst gelüftet in der vor sechs Monaten erschienenen Schrift „Les derniers jours de Henri Heine“. Diese Schrift enthält Alles, was uns an ihr überhaupt interessiren kann: nämlich ihre Bekanntschaft mit Heine. Neues haben selbst diese Erinnerungen sehr wenig enthalten; Alfred Meißner hatte fast Alles schon vor Jahren erzählt, und selbst von den Briefen Heine’s an die „Mouche“ waren die schönsten längst gedruckt zu lesen in der Gesammtausgabe von Heine’s Werken, ebenso wie die an sie gerichteten Gedichte Heine’s längst gedruckt wurden. Es versteht sich ganz von selbst, daß Madame Camilla Selden (so heißt die „Mouche“) nicht das Mindeste zu thun hat mit Heinrich Heine’s Memoiren.

Eduard Engel (Berlin).     
  1. Die Jubiläumsausgabe der „Jugendgedichte“ von Emanuel Geibel erscheint im Verlage der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Großoctav und ist mit dem Jugendportrait des Dichters geschmückt.
  2. Aehnliches findet sich in Brentano’s Erzählung: „Die Geschichte vom braven Casperl und dem schönen Annerl“.
  3. „Französischer Ungestüm“, eine mittelalterliche italienische Bezeichnung der Angriffsweise des französischen Heeres, – übrigens gewöhnlicher „furia francese“ genannt.
  4. Die betreffende Stelle gehört zu den vernichteten Blättern des Memoiren-Manuscripts 6 bis 31.
  5. Der entsetzlich pockennarbig war.
  6. Rachel.
  7. Man vergleiche mit dem Inhalte dieses Absatzes Heine’s ziemlich aus derselben Zeit stammendes Gedicht:

     Wandern!
    Wenn dich ein Weib verrathen hat,
    So liebe flink eine Andre;
    Noch besser wär’ es, du ließest die Stadt –
    Schnüre den Ranzen und wandre!

    Du findest bald einen blauen See,
    Umringt von Trauerweiden;
    Hier weinst du aus dein kleines Weh
    und deine engen Leiden.

    Wenn du den steilen Berg ersteigst,
    Wirst du beträchtlich ächzen;
    Doch wenn du den felsigen Gipfel erreichst,
    Hörst du die Adler krächzen.

    Dort wirst du selbst ein Adler fast,
    Du bist wie neugeboren;
    Du fühlst dich frei, du fühlst: du hast
    Dort unten nicht Viel verloren!

  8. Die vereinzelten, geringfügigen Auslassungen, welche an den betreffenden Stellen als solche bezeichnet worden, hat die „Gartenlaube“ lediglich mit Rücksicht auf ihren Leserkreis vornehmen zu müssen gemeint; die Stellen enthielten unnöthige Derbheiten, von denen sehr zweifelhaft ist, ob Heine sie bei einer letzten Durchsicht – die bekanntlich nie erfolgt ist, selbst hätte stehen lassen.
  9. Ursprünglich stand im Manuscript: „verbrennen“.
  10. Davon die meisten durch Vermittelung eines gewissen Ferdinand Friedland (Lassalle’s Schwager), der sie der Wittwe Heine’s abgeschwatzt hat.




Ein armes Mädchen.

Von0 W. Heimburg.
(Schluß.)


Else, mein altes Gör, wo steckst Du denn? In dieser ägyptischen Finsterniß kann man die Hand vor Augen nicht erkennen! Ja, mein Deern, das hättest Du wohl nicht gedacht?“

Ja, das war Moritz’ wohlbekannte Stimme. Sie standen in dem kleinen Zimmer; Else konnte es noch immer nicht begreifen.

„Moritz, Du?“ – Ihre zitternden Finger brannten die Lampe an, und nun sah sie ihm in’s Gesicht.

„Ja, ich!“ Und er nahm den Mantel ab, auf dem die Schneeflocken zu schmelzen begannen, und er reichte ihr beide Hände. „Was wird er nur wollen? Das fragst Du Dich, wie? Holen will er Dich, Du Ausreißerin; ohne Dich darf ich mich nicht wieder sehen lassen auf der Burg.“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn fest an mit den Augen, die von soviel Thränen erzählten. Er lächelte und setzte sich bequem auf einen Stuhl in die Nähe des Ofens.

„Nur ein paar Tage auf Besuch, Else; Mutter muß Dich sprechen. Sie konnte nicht reisen, sonst wäre sie selbst gekommen; sie ist noch immer nicht recht tactfest – sie war doch sehr krank im Frühjahr. Da haben sie mich nun geschickt.“

„Tante hat vor längerer Zeit an mich geschrieben,“ sagte Else.

„Und Du hast ihr darauf geantwortet, ich weiß es.“

Else war roth geworden. „Ich konnte nicht anders, Moritz.“

„Mutter will weiter nichts von Dir, Else, als daß Du mitkommst; es steht Dir frei, jeden Augenblick wieder abzureisen.“

„Ich weiß nicht, Moritz, ob es geht –“.

„Es geht, Else! Zieh Dich nur warm an, und komm’.“

„Was denkst Du, Moritz? So ohne Weiteres?“

„Eh – ich bin schon seit einer Stunde bei Schwester Beate im Conferenzzimmer da unten gewesen, es ist Alles in Ordnung.“

„Ich gehe nicht gern,“ sagte sie trotzig.

„Natürlich nicht,“ erwiderte er, „wofür wärst Du denn eine Hegebach? Der Trotz liegt da im Blute.“

„Moritz!“ Die Thränen kamen schon wieder. „Ich habe noch keinem Menschen etwas anderes als Kummer und Verdruß gemacht, seit ich auf der Welt bin – gegen meine Absicht, aber es ist so; meinem Vater, Deiner Mutter und Dir, ja Moritz, Dir auch; und Du warst immer so gut. Laß mich hier, ach laß mich hier!“

Er lachte da plötzlich so herzhaft und laut, daß nebenan die Geige wie erschreckt verstummte, mitten in einem brillanten Lauf. „Du gute alte närrische Deern,“ sagte er, und nahm sie in den Arm, „also das weißt Du auch? Na, zu Deiner Beruhigung: Frieda machte zuerst den Vorschlag, ich solle und müsse Dich holen. Tante Lott hatte sich zwar erboten dazu, aber Frieda bestand darauf. Bist Du nun zufrieden? Na, weine nur, eine Viertelstunde hast Du noch Zeit dazu, und indessen werde ich der Wissenschaft halber einmal im Wirthshause Euren berühmten Liqueur probiren. Nach einer Viertelstunde, dann komme ich wieder, Else; und bitte, leuchte, die Hühnersteige ist lebensgefährlich im Dunkeln. Auf Wiedersehen – sei fix!“

Sie setzte sich trotzig auf den Stuhl; sie wollte nicht, wer konnte sie zwingen? Was hatten sie für Recht, sie wieder herauszuzerren aus dem mühsam erkauften inneren Frieden? Und so saß sie noch, als Moritz wiederkam.

Er sah sie schmerzlich erstaunt an mit den ehrlichen blauen Augen, dann nahm er die Uhr in die Hand und stellte sich an den Ofen.

„Noch zehn Minuten,“ sagte sein Mund; aber die Augen sprachen: „das hätte ich nicht gedacht!“

Sie erhob sich, nahm den Mantel aus dem Kleiderschrank und ein paar Gegenstände aus der Kommode, die sie in eine Tasche legte. Nun stand sie wieder still und sah sich im Zimmer um, und wieder schwebte das: „Ich kann nicht!“ auf ihren Lippen. Und dann war sie doch plötzlich unten auf dem Flur des Vorderhauses, reisefertig, und gab Schwester Beate die Hand.

„Behüte Dich Gott, Elisabeth!“ klang es in ihr Ohr.

„Ich komme bald zurück, Schwester Beate.“

„Wenn es Gott gefällt!“ sagte die kleine sanfte Frau.

Draußen schneite es, in feinem weißem Geriesel kamen die Flocken herab, und köstliche Schneeluft wehte um des Mädchens Stirn.

„Du hast Dich doch warm angezogen, alte Deern?“ fragte Moritz sorglich. Sie nickte und ging stillschweigend neben ihm.

Es war die allerhöchste Zeit; Else wußte gar nicht, wie sie so rasch hineinkam in das helle warme Coupé.

„Es ist ein guter Zug,“ sagte Moritz, als sie abfuhren, „wir haben nur fünf Stunden; um elf Uhr sind wir daheim.“

Daheim! Das Mädchen wandte sich ab und sah durch das Fenster. Sie hatte ein deprimirendes Gefühl falscher Nachgiebigkeit und Charakterschwäche; das machte sie fast elend. Er bemerkte es wohl, daß ihr nicht gut sei, und er wollte sie unterhalten.

„Neues weiß ich eigentlich gar nicht, Else,“ begann er. „Rost’s leben sehr gesellig; Frau Annie excellirt durch stilvolle Einrichtung und Toilette, und Lili ist auf dem Sprunge sich zu verloben, wie sie meiner Frau schreibt. Es ist eine alte Liebe, glaube ich; mein Schwiegervater hatte der Sache bis jetzt einen [291] eisernen Widerstand entgegengesetzt. Es ist nämlich – aber Du weißt es wohl – eine Schülerliebe; nun hat er es glücklich zum Privatdocenten in Heidelberg gebracht, und sie hat es richtig durchgesetzt, die kleine Krabbe; das sah immer so flatterhaft aus.“

Else blickte auf, aber sie sagte nichts; es war ihr nur noch weher zu Muthe.

„Na, und der Bennewitzer hat sein Vorhaben ausgeführt. Gestattest Du, daß ich ein wenig rauche, Else? Danke sehr. – Und er besitzt glücklich einen Adoptivsohn. – Ist es Dir zu warm hier, Else?“

„Ja; bitte, mache das Fenster auf.“

„Mutter hat ihren Senf dazu geben müssen,“ fuhr er fort, und blies den Rauch der Cigarre behaglich in die Luft; „er wäre wohl nicht damit zu Stande gekommen, wenn sie nicht geholfen; nun scheint er ja ganz befriedigt.“

„Das freut mich,“ sagte sie. Es war das erste Wort, das sie sprach.

„Nächstens will er dies Ereigniß nun großartig feiern. Du kannst denken, Else, daß es einmal wieder Stadtgespräch ist.“

Ja freilich! Und sie auch wahrscheinlich – und sie war so thöricht gewesen, mitzufahren! Sie wickelte sich in ihr Mäntelchen, zog den Schleier vor das Gesicht und lehnte den Kopf zurück in die Kissen. Sie war unendlich böse auf sich selbst.

Und der Zug raste durch die Nacht, und Moritz schlief. Und je näher sie dem Ziele kamen, desto bänger wurde ihr, unerklärlich bange –. Es war ihr dann wie ein Traum, als sie im Wagen saß, wie ein alter weher und doch so süßer Traum. Das „Guten Abend!“ des Kutschers hatte so fröhlich in ihr Ohr geklungen, und in dem kleinen Coupé roch es süß nach dem Parfüm, das Frieda so liebte. Lauter alte selige Erinnerungen überkamen sie, es wurde ihr warm um’s Herz, sie konnte nicht dafür.

Sie stand wie verwirrt in dem hohen Flure, und Moritz entschuldigte Frieda, daß sie nicht gleich bei der Hand sei, sie schliefe wohl schon, und die Mutter auch; aber Tante Lott warte oben, und ob sie sich wohl noch hinauf fände?

Und da stieg sie wieder die breiten teppichbelegten Stufen hinan, und in Tante Lott’s Thür stand eine kleine liebe Gestalt mit ausgebreiteten Armen.

„Ach, Gott sei Dank, Else, mein alter Liebling, Du bist da!“ scholl es ihr entgegen, und die kleine weinende Tante hielt sie umfaßt. „Ach, wie lieb, daß Du gekommen bist, nun ist Alles gut!“

Wie sie reden konnte, die gute Tante Lott, und wie sie nöthigte zu dem warmen Thee, und wie schweigend das Mädchen dasaß und endlich nur sagte: „Riecht’s nicht nach Veilchen?“

„Das kommt Dir nur so vor, Else, das ist der Duft der Erinnerung; – ja, ja, ach, ich kenne das!“

Und die alte Dame drängte mit Gewalt das Mädchen zur Ruhe; sie müsse schlafen, sie müsse frisch sein morgen, sie sähe so blaß aus –. Und dann lag Else im Bette und sah in dem Gemache umher, das die schneeleuchtende Winternacht dämmernd erhellte; im Kachelofen spielte noch das erlöschende Feuer und spiegelte sich in dem getäfelten Fußboden; dort stand die Truhe, und dort das Puppenschränkchen; es war so unsagbar gemächlich und traut. Wider ihren Willen fühlte sie sich so heimathlich, so geborgen –. Und dann begannen Traum und Wirklichkeit mit einander zu streiten und sie entschlief.

Es war heller Tag, als sie erwachte, und die Sonne schien golden in das freundliche Zimmer –. Es war doch so, es roch nach Veilchen.

Sie blinzelte ein wenig mit den Augen, sie konnte sich nicht recht besinnen; dann fuhr sie aus den Kissen empor. Frau von Ratenow saß auf dem Bettrande und sah so feierlich aus mit dem großen Veilchenstrauß in der Hand.

„Schön guten Morgen, Du faule Liese!“

„O Tante, entschuldige,“ stammelte Else verlegen.

„Ich freue mich, daß Du gekommen bist, altes Gör, und nun gieb mir die Hand; also kein Trotzkopf und keine Feindschaft mehr, wie? – Schlecht gemeint hat sie es nimmer, die alte Tante, das mußtest Du doch wissen! Und jetzt bittet sie Dir ab, wenn sie Dich gequält hat und gepeinigt –. Weißt Du, was das heißt, wenn eine so alte Person, wie ich, einem Kiekindiewelt sagt: ‚ich bitte schön, sei nicht mehr böse!‘?“ Bei den Worten zog sie das Mädchen zärtlich an sich und streichelte ihr über das Gesicht, und dabei fiel der Veilchenstrauß auf die Bettdecke.

„Sie sind vom Bennewitzer, Else,“ sagte sie.

Else wurde plötzlich ganz bleich.

„Ja wahrhaftig, Else! Und eine Bestellung habe ich auch an Dich; aber zieh Dich rasch an, fertig an, ich will indessen bei Lott warten.“

Mit angstvoll klopfendem Herzen machte das Mädchen Toilette. Nein, es war doch nicht möglich, man konnte nicht einen neuen Schlag gegen sie führen – ach nein; Moritz sagte ja, er habe einen Adoptivsohn – es war ihm wohl nur um eine Versöhnung zu thun.

Sie trat dann in das freundliche Wohnzimmer der Tante Lott. „O, ein wonniger Wintertag!“ sagte diese, und deutete zum Fenster hinaus.

„Just zum Schlittenfahren recht,“ bestätigte Frau von Ratenow; „wie wär’s mit einer Schlittenpartie, Else? – Doch nun komm aber! Lott, bist Du fertig? Wir frühstücken heute nämlich zusammen, Else, bei Moritz.“

Und sie nahm den Arm des jungen Mädchens und schritt mit ihr den Corribor hinunter.

„Na, helfen kann’s nicht, Elschen, sagen muß ich es Dir doch,“ sprach sie im Gehen, „der Bennewitzer läßt Dich also schönstens grüßen – wohlverstanden, der Alte, der Junge wagt es noch nicht – und er habe Deinem Vater nun einmal auf dem Sterbebette versprochen, für Dich zu sorgen, Dich zu schützen und zu behüten, und er müsse sein Wort halten. Da Du ihm nun einen so großen Korb geflochten, so hoffe er, es vielleicht ein wenig mehr nach Deinem Sinn eingerichtet zu haben, wenn Du seine Schwiegertochter wirst – – Aber Kind – sei doch nicht so ungestüm! Was ist Dir denn? Halte sie fest, Tante Lott!“

Aber das war nicht mehr nöthig, Else lehnte sich plötzlich wie bewußtlos an die Schulter der alten Dame, die eben die Thür zur Halle öffnete.

„Else! Else! Sie hat doch sonst so viel Courage, und jetzt will sie verzagen! Ja, ja, dem Bennewitzer sein Sohn spielt Geige, er ist ein ganz netter talentvoller Junge.“

Else fand sich plötzlich allein in dem schönen Gemache; sie hatte eine der hohen Stuhllehnen erfaßt und lauschte mit vergehenden Sinnen – es war ja nicht möglich! Alles, was die Tante gesprochen, was jetzt in ihr Ohr klang, das wollte flüstern von einem unendlich großen zauberhaften Glück –. Nein, es konnte ja nicht sein!

Dann verstummte es jäh, das Spiel, und dann kamen so eilige freudige Tritte hinter ihr, und dann eine Stimme, eine Stimme: „Else, was ist das Glück – wenn es nicht diese Stunde ist! –.“

Im Nebenzimmer waren sie ganz still. Tante Ratenow ging an die Portière, hob einen Moment die Falten und schaute hindurch. Dann wandte sie sich zum Bennewitzer zurück, ernsthaft mit dem Kopfe nickend, gab sie ihm die Hand, und nun standen sie Beide und schauten in den Garten.

Ticktack, ticktack, sagte die kleine Uhr – man hörte sonst nichts, kein Wörtchen von da drinnen; nur einmal ein leises Schluchzen.

„Na, nun zeigt Euch doch, Kinder!“ rief Moritz endlich; die Sache dauerte ihm zu lange. Da kamen sie, und da hing ein vor Glück und Seligkeit erglühendes Kind am Halse des Bennewitzers.

„Onkel!“ schluchzte sie, „Du hast mir vergeben – Du bist so gut, viel zu gut zu mir.“

„Ich habe Dir nichts zu vergeben, mein Kind,“ sagte er weich.

„Wie soll ich Dir danken, Onkel?“

„Dadurch, daß Du bald nach Bennewitz kommst, Else. Es ist gar so einsam dort.“

„Sie wollte mich nicht – wahrhaftig sie wollte mich nicht, gesteh’ es, Else!“ Und Bernardi zog sie aus des Bennewitzers Armen an seine Brust. „Sie sagte, sie wäre ja nur ein armes Mädchen!“




[292]

Blätter und Blüthen.


Vor dem Aufstande in Tirol. (Mit Illustration S. 288 u. 289. Das Land Tirol war durch den Frieden zu Preßburg im Jahre 1805 an Baiern gekommen, und zwar mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß dessen Titel, Verfassung und Rechte unperändert gewahrt bleiben sollten, wie solche ehedem unter Oesterreich bestanden hatten.

Aber die neuen Herrscher legten die Gesetze zu Ungunsten des Tiroler Volkes aus, und bald begann man im Lande gegen Steuerdruck, ungerechtes Ausheben zum Militär und sogar gegen religiöse Verfolgungen zu murren. Da die Klagen der Tiroler in München nicht berücksichtigt wurden, so wuchs die Unzufriedenheit, und allmähllch begann das Feuer des Aufruhrs im Verborgenen zu glimmen und verbreitete sich immer weiter und weiter durch’s ganze Land. Das Jahr 1809 kam heran. Da und dort in einschichten Höfen und abgelegenen Wirthshäusern fanden sich die Bauern heimlich zusammen und beratschlagten mit dem Sandwirth Hofer, der erst vor Kurzem insgeheim beim Erzherzoge Johann in Wien gewesen. Was jedoch eigentlich in diesen Zusammenkünften verhandelt wurde, blieb jedem Uneingeweihten ein Geheimniß.

Im Gebirge wurden mittlerweile an wenig besuchten Orten Waffen und Munitionsvorräthe aufgehäuft, und Schmiede, die man in’s Vertrauen gezogen, arbeiteten in verborgenen Werkstätten an Sensen, Hellebarden und Morgensternen, oder bohrten hölzerne Kanonen aus Baumstämmen und beschlugen sie mit eisernen Reifen. So wurde in der Stille Alles zu einem Aufstande vorbereitet, und Weiber und Kinder trugen die Ordres der Bauerncommandanten in die entlegensten Thäler hin. –

Dies sind die historischen Momente, welche Defregger zu seinem Gemälde „Vor dem Aufstande in Tirol“ benützt hat.

Der Künstler führt uns in eine jener geheimen Waffenschmieden im Gebirge. Das Mädchen links im Bilde hat soeben eine Depesche gebracht, ohne Zweifel vom Sandwirth selbst, welche nun der alte Werkmeister seinen vertrauten Genossen vorliest. Der Inhalt derselben ist jedenfalls ein höchst wichtiger. „Auf, es ist Zeit!“ mag die Losung lauten. Grimm gegen die fremden Zwingherren und entschlossener Muth, zu siegen oder zu sterben, malt sich deshalb in den Gesichtern dieser Männer. Selbst der junge Bursche, den vielleicht sein Vater in diesen Kreis geführt, sieht voll kecker Streitlust in den offenen Brief und scheint mit ungeduldiger Neugier die Zeilen vorauszulesen, welche der Alte eben langsam entziffert. Auch der Geishirt, der wahrscheinlich in der Nähe der Schmiede seine Heerde gehütet hat, ist herbeigekommen. Er gehört gleichfalls zu den Eingeweihten, und trotz seines Alters wird er noch wacker mit helfen, wenn es gilt, den verhaßten Feind aus dem Lande zu jagen.

Die hübsche Botengängerin ist wohl noch zu jung, um das kriegerische Treiben der Männer vollständig würdigen zu können. Jedoch das Schicksal ihrer Heimath ist auch ihr nicht gleichgültig, und durchdrungen von der Wichtigkeit ihres Dienstes, hört sie auf den Inhalt des Schreibens, welches sie soeben überbracht hat. An ihrer Seite steht schmeichelnd der Hund, der vielleicht auf dem Weg über’s Gebirge ihr treuer Beschützer gewesen.

Die Werkstätte selbst, in der sich die Scene mit dramatischem Leben abspielt, ist theilweise in eine Felsenhöhle hineingebaut. Allerlei neu gefertigte Waffen liegen darin umher, und von der Wand herab schaut das

Bildniß der siegspendenden „Muttergottes von Kaltenbrunn“.
J. C. Maurer.     


„Freundinnen des jungen Mädchens“.[1] Zu den segensreichen Einrichtungen der Neuzeit, welche die Verbesserung der Lage des weiblichen Geschlechtes bezwecken, gehört auch der Verein „Union internationale des amies de la jeune fille“ – „Freundinnen des jungen Mädchens“. Derselbe zählt in fast allen größeren Städten des In- und Auslandes, selbst Asiens und Amerikas, zahlreiche edelgesinnte Frauen zu seinen Mitgliedern. Dieselben machen es sich zur Pflicht, nach Kräften sittlichen Schutz allen jungen Mädchen ohne Rücksicht auf Nationalität, Confession und Beschäftigung angedeihen zu lassen, die genöthigt sind, ihr Brod außerhalb des Vaterhauses zu verdienen.

Das Hauptcomité des Vereins befindet sich in Neuchatel (Schweiz), von wo auch die erste Anregung ausging, und waren daher die den Verein betreffenden Veröffentlichungen in französischer Sprache abgefaßt, ebenso das den jungen Mädchen als „Rathgeber“ zu übermittelnde Büchlein, „livret“. Daß er demgemäß bisher hauptsächlich von Französinnen und Schweizerinnen in Anspruch genommen ward, ist natürlich; nun aber hat sich ein deutscher Zweigverein gebildet, dessen Vorsitzende Frau General-Superintendent Baur in Coblenz, Stellvertreterin Fräulein A. Vollmar in Berlin und Schriftführerin Fräulein H. Schellbach in Naumburg an der Saale sind, und steht somit zu erwarten, daß der segensvolle Einfluß solcher Verbindung auch unsern deutschen Mädchen mehr und mehr zugute kommen werde.

Die Aufgabe der „Freundin des jungen Mädchens“ besteht hauptsächlich darin, daß sie an dem Ort, woselbst das junge Mädchen ein Engagement zu übernehmen gedenkt, bei den Mitgliedern, deren Namen sie 1n der Mitgliederliste verzeichnet findet, Erkundigungen einzieht über die Sicherheit solcher Engagements, ferner ihm Auskunft giebt über Heimath-, Logir- und Krankenhäuser, Stellenvermittelungsbureaux von gutem Ruf, Consulate etc. Die hierauf bezüglicheu Adreffen bestnden sich in dem oben erwähnten Büchlein, welches das junge Mädchen von seiner Schutzdame als Legitimation bei den Mitgliedern des Vereins erhält. Die Namen derjenigen Vereinsmitglieder, an die sie es auf der Reise zu verweisen gedenkt, sowie eine Empfehlung, falls sie solche zu geben im Stande ist, werden beigefügt.

Den Gefahren gegenüber, denen alleinstehende junge Mädchen ausgesetzt sind, ist hiermit allen Frauen, die sich für das Wohl ihrer Mitschwestern nützlich machen wollen, ein Feld reicher Liebesarbeit geöffnet, und wäre zu wünschen, daß recht Viele dem Verein beitreten möchten. Der jährliche Beitrag ist 1 Mark, und kann in Briefmarken an die Vereinscasse unter der Adresse: Fräulein Vollmar, Berlin W., Leipziger Platz 5, entrichtet werden. An dieselbe Adresse sind auch alle Anfragen und für den Verein bestimmte Zuschriften zu senden. Natalie Schohl.     

  1. Vergleiche auch den interessanten Artikel „Die G. F. S.“ von Marie Calm („Gartenlaube“, Jahrg. 1883. S. 275 u. f.), in dem überraschende Erfolge ähnlicher Bestrebungen in England beleuchtet werden.



Allerlei Kurzweil.



Magisches Tableau.
Die Palette.
Von S. Atanas.

Das Tableatt enthält einen alten Spruch, dessen bittere Wahrheit leider noch heute mancher talentvolle Maler erfahren muß.




Auflösung des Quadraträthsels
in Nr. 15:


Auflösung des Akrostichon
in Nr. 15:
„Allerlei Kurzweil.“

Arithmetik,
Lindau,
Lavater,
Eminenz,
Romanow,
Luise,
Eboli,
Ismael.



Kleiner Briefkasten.

R. M. in M. Sie beklagen sich, daß einige unserer Räthsel und Aufgaben zu leicht und eigentlich für die Jugend berechnet seien. Darauf lönnen wir Ihnen nur erwidern, daß das letztere wirklich der Fall ist. Wir wollen – wie wir dies in unserem Prospexte ausdrücklich betonten, daß an der Rubrik „Allerlei Kurzweil“ der gesammte Familienkreis einschließlich der Jugend Antheil habe, daß also auch für diese dann und wann leichtere Räthsel, Aufgaben etc. gegeben werden. Wenn Sie nun auch selbst keine Kinder haben – sollten Sie wirklich so egoistisch und neidisch sein, der Jugend die kleine ihr dann und wann in der „Gartenlaube“ eingeräumte Ecke zu mißgönnen?!

Eine Blumenfreundin. Der in Nummer 3 dieses Jahrgangs in der Abhandlung „Zimmer- und Fenstergarten“ empfohlene Mineraldünger kann nicht nur bei der Mooscultur, sondern auch in der Erde angewendet werden; doch darf eine reichliche Verdünnung mit, bezw. Auflösung in Wasser nicht versäumt werden.

Gleichzeitig mag hier auf ein gutes Mittel gegen alle Feinde der Pflanzen aufmerksam gemacht werden, das in neuerer Zeit zu hohen Ehren gekommen ist, das Naphtalin, ein zu den Kohlenwasserstoffen gehörender krystallinischer weißer Körper, der aus Steinkohlentheer dargestellt wird, sich leicht verflüchtigt und, wenn entzündet, mit stark rußender Flamme brennt. Er hat einen durchdringenden, an Steinkohlentheer erinnernden Geruch, läßt sich in Wasser nicht, wohl aber leicht in fetten Oelen auflösen und kostet in der Fabrik 80 bis 100 Pfennig das Kilo, was schon eine große, weit reichende Masse darstellt. – Gegen die gefährliche Spargelfliege (Ortalis fulminans Melg.) bezw. ihre Larve, die im Mai bis Ende Aufust den Stengel durchbohrt und die nächstjährige Ernte vernichtet, reibt man die Spargelköpfe mit genanntem Stoff ein oder bestreut mit ihm das Beet, was zuweilen wiederholt werden muß, weil er sehr flüchtig ist; die Blattläuse vertreibt man durch Ueberstreuen, die Blutlaus durch Einreiben, den Erdfloh, die Raupen auf Kohl etx., die zahlreichen Pilze auf dem Kartoffelkraut u. a. durch Ueberstreuen mit dem Stoff. Den Blasenfuß und Thrips im Gewächshaus vertreibt man durch das Verdunsten des Naphtalin. Handelt es sich um Vertreiben derselben an Zimmerpflanzen, so läßt man das Naphtalin unter einer Glasglocke, einem Trinkglas oder dergl., das man im Innern aufeuchtet, verdunsten. Es schadet den Pflanzen in keiner Weise, weil es in Wasser, also im Saft derselben nicht löslich ist. Eine Hand voll davon im Kleiderschrank vertreibt die Motten, auf frische oder alte Wunden gestreit und sorgfältig verbunden, hindert es die Eiterung, stillte, wenn in Oel aufgelöst, bei Verbrennungen den Schmerz. O. H.     




Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 277. – Emanuel Geibel † 6. April 1884. Gedicht von Emil Rittershaus. S. 280. Biographie von Emanuel Geibel. Von Franz Muncker. S. 280. Mit Portrait Geibel’s S. 281. – Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien. Von F. Keller-Leuzinger. I. S. 283. Mit Illustrationen S. 283 und 284. – Heinrich Heine’s Memoiren über seine Jugendzeit. Herausgegeben von Eduard Engel. IX. S. 285. – Ein armes Mädchen. Von W. Heimburg (Schluß). S. 290. – Blätter und Blüthen: Vor dem Aufstande in Tirol. Von J. C. Maurer. S. 292. Mit Illustration S. 288 und 289. – „Freundinnen des jungen Mädchens“. Von Natalie Schohl. – Allerlei Kurzweil: Magisches Tableau. 0Die Palette. Von S. Atanas. – Auflösung des Quadraträthsels in Nr. 15. – Auflösung des Akrostichons in Nr. 15. – Kleiner Briefkasten. S. 292.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. [Das Manuscript fährt fort:] und es wäre rathsamer daß er, wenn nicht alle seine Energie erloschen, an ganz andren und sehr weißen Brüsten wo nicht Ruhe, sondern heilsame Unruhe suchte; denn das wirksamste Gegengift gegen die Weiber sind die Weiber
  2. Aus Heinrich Heine’s letzten Tagen, Heft 19, S. 312