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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 18.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


Jch bin Staatsdiener, wie bisher,“ sprach Marsucci, während ihn Nacosta mit halb neugierigen, halb spöttischen Blicken prüfte, – „nur ganz erheblich besser gestellt, – ich meine im Punkt des Gehalts; – und was die Leistung betrifft, nun, ich kenne kein Vorurtheil, und keinenfalls werde ich sagen können, daß ich mich überarbeite. Ich besitze sogar einen Titel, der ganz pathetisch klingt und manche Leute in größere Erregung versetzt, als wenn Ihr sämmtliche Würden und Titulaturen Seiner Eminenz des Cardinals herzählt. Was meint Ihr, Nacosta, wie sich das anhört: ‚Zweiter Gehülfe des wohllöblichen Nachrichters Seiner großmächtigen Majestät des Königs von Neapel und Sicilien‘ –?“

„Ihr scherzt!“ rief Nacosta zurücktretend. Der tief eingewurzelte Abscheu des Italieners gegen Alles, was nur von ferne mit dem entsetzlichen Amte des Henkers in Beziehungen steht, hielt auch diesen Menschen gebannt, der doch so starknervig war im Planen seines Verbrechens.

„Seid nicht kindisch, Nacosta!“ sagte Marsucci. „Das Geschäft nährt seinen Mann; aller Sorgen bin ich nun ledig; – und was die Redereien der Menschen betrifft, – pah, wer von all diesen Laffen, die sich bekreuzigen, wenn der ‚Verfluchte‘ vorübergeht, schenkt mir auch nur einen schimmligen Blech-Bajocco, wenn ich die Gelegenheit ausschlage und ehrbar weiter hungere? Verkehr mit dieser Sorte hatte ich so wie so nicht, und schließlich, wenn ich am Sonntag nach Piedigrotta hinüberlaufe und der Reihe nach so die Weinschenken abzeche, da sieht doch keine von den hübschen Dirnen mir an, was für ein Gewerbe ich treibe. Die paar Jahre, die man noch jung ist, will man genießen, und geht’s nicht auf geradem Wege, nun so wählt man den krummen. Denkt Euch nur: vierzig Goldgulden als Handgeld hat mir das Schatzmeister-Amt schon gestern bezahlt, während ich, streng genommen, erst von künftigem Monat ab im Dienst der Regierung stehe. Wo in aller Welt findet Ihr eine gleiche Coulanz? Nun, ich hab’s denn auch redlich vor! Nicht umsonst will ich der Popanz sein für sämmtliche alten Weiber Neapels! Die jungen, denk’ ich, sollen mich schadlos halten, und der famose Vesuv-Wein. Ihr werdet Augen machen! Und wißt Ihr, da ich aus Rom bin, und meine Sprache für die Leute hier fremd klingt, so spiel’ ich ab und zu ’mal den vornehmen Herrn – so bei den Engländerinnen, die sich nur ein paar Wochen lang hier herumtreiben und nicht viel in Berührung kommen mit der einheimischen Bevölkerung. Ich hab’ mir das Alles schon ausgemalt. Wir Römer sind so wie so die geborenen Cavaliere im Vergleich mit hier dem Lumpengesindel; ein römischer Bettler nimmt’s mit manchem dieser Principi auf, wenn er in die richtige Jacke gesteckt wird.“

Nacosta merkte wohl, daß Marsucci ein wenig bezecht war; dennoch tauchte ihm alsbald der Gedanke auf, ob er nicht hier schon in dem ehemaligen Geheim-Polizisten den Mann entdeckt habe, den er für sein Project mit Salvatore benöthigte.

Es schlug neun. Er mußte jetzt unbedingt nach dem Orte des Stell-dich-ein. Die Begegnung mit dem Apulier würde nur kurze Zeit beanspruchen; gegen dreiviertel auf Zehn konnte Emmanuele wieder zurück sein, – und bis dahin hatte die Nachtluft den erhitzten Kopf Marsucci’s vielleicht hinlänglich klar gemacht, um ein vorsichtiges Anlegen der ersten Sonde, wenn nicht mehr, zu ermöglichen. Der Haß, den er während der letzten Zeit auf Marsucci geworfen, ging plötzlich unter im Gefühl der Genugthuung über dies unverhoffte Zusammentreffen.

„Ihr habt Recht, Marsucci,“ sagte er lebhaft. „Die Vorurtheile der Narren, die sich uns in den Weg stellen, sind nicht werth, daß man um ihretwillen einen einzigen Paolo unverdient läßt. Ihr müßt mir noch mehr von der Geschichte erzählen, – wie Ihr’s fertig gebracht, und wo Ihr die – Studien gemacht habt, die doch erforderlich sind. Setzt Euch hier an den Ecktisch und nehmt ein Glas Limonade, aber wenn’s Euch recht ist, nichts von Wein oder so. Im Vertrauen: auch ich hab’ Euch Mancherlei zu erzählen, und ich bedarf Eures Rathes. Jetzt, da Ihr nicht mehr eifersüchtig seid auf den schlauen Emmanuele – ja, ja, Ihr seid es gewesen; redet mir, was Ihr wollt! – jetzt können wir Freunde sein, wirkliche Freunde. Eh’ eine Stunde vergeht, bin ich zurück. Ich will’s Euch bekennen: ich hab’ einen wichtigen Gang vor, und er hängt mit der Sache zusammen, die ich Euch mittheilen möchte. Es ist ein ernstes Geschäft, Marsucci, und Geld läßt sich dabei verdienen wie Heu.“

Während Marsucci vor dem nächsten Kaffee-Haus Platz nahm, wandte sich Nacosta mit eiligen Schritten nach dem Gestade von Santa Lucia.

Am südlichen Ende des quadergefügten Uferdammes, der hier in stumpfem Winkel einen kurzen Ausläufer in den Golf hinausschickt, lehnte eine hohe, dunkle Gestalt wider die Brüstung, – regungslos, wie aus Bronze gegossen. Trotz der Spärlichkeit der Beleuchtung – man war außerordentlich sparsam mit den städtischen Oellampen – erkannte Emmanuele sofort den Apulier; so hoch gewachsen war Keiner unter den Schiffsleuten, die sich sonst

[294] wohl – etwa in Liebesabenteuern – an dieser einsamen Stelle herumtrieben.

„Endlich!“ murmelte Salvatore, aus seiner Regungslosigkeit auffahrend.

Man merkte jetzt an dem eigenthümlich vibrirenden Klang seiner Stimme, daß er sich zur geduldigen Rast an der Brüstung gewaltsam gezwungen hatte. Emmanuele entnahm ferner die Gewißheit daraus, daß die Begierde des jungen Mannes sich nicht abgekühlt hatte; daß Crispina im Rechte war, wenn sie hinter dem Wunsch des Apuliers, vom Cardinale gleichsam persönlich autorisirt zu werden, keinerlei Falsch gewahrte, – weder ein maskirtes Verlangen, von der Sache zurückzutreten, noch ein bedenken-erregendes Mißtrauen, sondern lediglich jene Vorsicht, die jeden Zoll des Terrains prüft, um nachher den Sprung über den Abgrund mit um so kühnerer Entschlossenheit zu bewerkstelligen.

„Ich konnte nicht früher,“ sagte der Polizei-Aspirant, dem Apulier die Hand reichend. „Gute Freunde hielten mich auf, und allzu große Eiligkeit hätte Verdacht erregt. Uebrigens – da wir jetzt mitten im Gewebe unserer Verschwörung stecken: Vorsicht ist die Mutter der Weisheit! Der Teufel könnte doch einen luchsäugigen Burschen des Wegs daher führen, der uns beisammen sähe und den malerischen Contrast zwischen Euch und mir seinem Gedächtniß einprägte. Ihr seid ein auffallend schöner Mann, Salvatore, und ich, in meiner knochigen Hagerkeit, bin auffallend häßlich. – Ja, Ihr glaubt nicht, was manche Menschen elnpfänglich sind für die Aufbewahrung solcher effectvollen Eindrücke. Ich könnt’ Euch ein Beispiel erzählen – wie ein Schurke mich wiedererkannt hat, der mich ein einziges Mal – aus nächster Nähe freilich – Sprechen wir nicht davon! Durch solche Erfahrungen wird man gewitzigt.“

Er hatte einen künstlichen Bart aus der Tasche gezogen, den er jetzt mit zwei geschickten Griffen befestigte.

„So! Nun dürfte mir mein eigner Vater begegnen ... Kommt, wir können getrost in der Richtung der Chiaja ein wenig auf- und niederspazieren. Das Ufer von Chiatamone ist wenig belebt, und so zwischen den beiden schroff gethürmten Castellen wandeln wir gleichsam auf symbolischen Wegen. Die Stimmung, guter Freund, die Stimmung thut außerordentlich viel! Ihr müßt Euch frühzeitig mit dem Gedanken vertraut machen, daß Ihr demnächst hinter den Mauern von Pizzo Falcone Quartier nehmen werdet – als Staatsverbrecher – und wenn die Sache auch nur drei oder vier Monate währt, und Monsignore De Fabris Euch jede Erleichterung verschafft, die mit dem Aufenthalte im Staatsgefängniß vereinbar ist – ungemütlich wird Euch die Quarantäne schon werden. Ueberhaupt – wenn Ihr auch nur entfernt an Eurer Fähigkeit zweifelt, die Rolle so durchzuführen wie sie gespielt werden muß, dann besinnt Euch, Signore! Seiner Eminenz ist natürlich mit einer Komödie, die schließlich durch die Schwäche des Haupt-Acteurs in die Brüche geht, nicht gedient.“

„Was ich auf mich nehme, will ich schon durchführen,“ murmelte Salvatore. „Zuvor aber – meinen Brief habt Ihr gelesen – Ihr wißt also –?“

„Vollkommen,“ unterbrach ihn der Andre. „Ich weiß, daß Ihr die Aengstlichkeit in Person, daß Ihr ein Mensch seid, der es Schwarz auf Weiß haben will, daß er geboren ist! Gleichviel! Ich habe zwar, wie Ihr begreifen werdet, in der kurzen Zeit keine Gelegenheit gehabt, den Monsignore von Eurem Verlangen in Kenntniß zu setzen; Seine Eminenz jedoch ist ein so leutseliger Herr ... Ich zweifle keine Secunde, daß er Eurem Wunsche entsprechen wird.“

Salvatore athmete heftiger, – nicht nur im Ueberschwang der Freude über die nunmehr erlangte Gewißheit, daß Alles in Ordnung sei, sondern auch im Hochgefühl über die Aussicht, dem ersten Beamten des Königreichs gegenüber zu treten, seine Stimme zu hören, ja, in Gemeinschaft mit ihm eine That zu erörtern, die er jetzt mehr als je für die preiswürdige Handlung eines wahrhaften Patrioten hielt.

„Ihr glaubt im Ernste, Signore?“ fragte er zaghaft.

„Ich möchte meinen Kopf dafür einsetzen. Natürlich, ob Monsignore in den nächsten Tagen schon Zeit finden wird, das kann ich bei der Unmasse von Geschäften, die ihn fortwährend in Anspruch nehmen, unmöglich voraussagen. Morgen in aller Frühe wende ich mich an’s Secretariat mit der Bitte um eine Audienz. O, ich gelte etwas bei dem General-Secretär, – und dann: Seine Eminenz weiß ja, um was es sich handelt! Das ist nicht so, als petitionirte der Erste, Beste um Vorlassung, – obgleich Seine Eminenz, wie gesagt, auch gegen Unbekannte voll Gnade und Huld ist.“

„Ja, ja, ich weiß,“ murmelte der Apulier. „Man rühmt seine Güte, seine Herablassung. Jüngst noch sah ich mit eigenen Augen ...“

Emmanuele blieb stehen.

„Was saht Ihr?“ fragte er lauernd.

„Seine Eminenz – oder richtiger: die Gefolgschaft Seiner Eminenz, denn der Cardinal selber saß im geschlossenen Wagen –; die beiden Lakaien aber, die hinten auf dem Sprungbrett der Equipage standen, streuten die ganze Chiaja entlang Geld unter das Volk, sodaß die Lazzaroni sich in unentwirrbarem Knäuel rechts und links über einander balgten und bei all’ dem Stoßen und Ringen unaufhörllch: ‚Es lebe seine Eminenz!‘ schrieen.“

„Ja, ja, ich kenne das,“ versetzte Nacosta; „und Seine Eminenz ließ bei diesem Jubelgeschrei die Glasscheibe hernieder und dankte dem Volk und hob die Rechte zum Segnen? Ihr habt dies milde, freundliche Antlitz bewundert, die dunklen Augen mit den buschigen Brauen, die dem Ganzen trotz der freundlichen Milde etwas Kräftiges, ich möchte sagen: Martialisches leihen ...?“

Salvatore verneinte.

„Dicht genug drängte ich mich heran,“ fuhr er nach einer Pause fort, „aber Monsignore blieb unsichtbar, und ein Muschelhändler, der mir zur Seite stand, erklärte, das sei die Regel.“

Emmanuele hatte diese Antwort vorausgesehn und deshalb in die begeisterte Schilderung, die er entwarf, mehr von der Physiognomie Marsucci's als von der Seiner Eminenz gewoben. Wie er so im Gedächtniß die beiden Köpfe verglich, meinte er, es könne nicht schwer halten, mit einiger Kunst sogar thatsächlich eine gewisse Aehnlichkeit herzustellen. Das runde, volle Gesicht Marsucci’s hatte, wenn er bei Laune war, etwas Behäbiges, Wohlwollendes; auf den martialischen Ausdruck der Stirn und der Augen hatte Nacosta den Apulier jetzt vorbereitet, und auch hier ließ ein Zuviel sich beseitigen. Proben seiner Verstellungskunst hatte Marsucci zum Leidwesen Emmanuele’s während der letzten Monate ausreichend abgelegt: wenn der Mensch also einwilligte, so lag kein Hinderniß vor.

Die beiden Männer betraten die Villa Reale und wandten sich, durch die nächste Oeffnung der Brustwehr schreitend, an’s Meeresufer, da die Spaziergänger unter den Bäumen der Villa wieder zahlreicher wurden.

„Ich bin gekommen,“ sagte Nacosta, „nicht allein um Euch mitzutheilen, daß Eurem Wunsch Nichts im Wege steht – sondern auch, um noch einmal Euch klar zu machen, wie schwer die Aufgabe ist, die Ihr Euch vorgesetzt. Es ist ja richtig, die Summe, die Monsignore uns zusichert, ist kolossal, und das Bewußtsein, dem Valerlande einen rühmlichen Dienst zu leisten, lockt Euch vielleicht noch entschiedener. Aber, aber, Signore, ich wiederhol’ es Euch: es ist ein hartes Stück Arbeit! Ich will jetzt die Entbehrungen, die Ihr Euch auferlegt, die lange Hast hinter den Mauern von Pizzo Falcone, die üble Meinung der Patrioten, die Euch bedrücken und kränken muß, nicht weiter erörtern; Eins aber macht mich noch in zwölfter Stunde bedenklich! Werdet Ihr die Kraft und die Ruhe besitzen, all die Phasen Eures Processes zu überstehen, die hundertfachen Verhöre, bei denen Ihr Nichts aussagen dürft, als was wir demnächst vereinbaren werden, die Verurtheilung, die natürlich seitens der Richter vollkommen ernst gemeint ist, und schließlich die Hinausführung nach dem Platze der Erecution, bis zu dem letzten Augenblicke, in welchem die Begnadigung eintrifft . . . ? Habt Ihr Euch das Alles kaltblütig überlegt?“

Der Apulier blickte gedankenvoll in die verschäumende Brandung. Der heuchlerische Nacosta hatte ihn vortrefflich berechnet. Bei der Veranlagung Salvatore’s gab es kein sichreres Mittel, ihn im Geleise zu halten und seine Absichten zu befestigen, als wenn man Bedenken äußerte und ihn scheinbar zurückdrängen wollte.

„Signore,“ sagte der junge Mann, „sobald ich die unzweifelhafte Gewißheit erlangt habe, daß der Cardinal unsere Pläne genehmigt, sobald bin ich zum Aeußersten fähig – darauf könnt Ihr die Hostie nehmen! Die Komödie freilich mit dem [295] Hinausführen nach dem Executionsplatze, die möchte ich mir, so gern ich auch die unerträglichsten Opfer bringe, erspart wissen! Dergleichen läßt sich kaum wieder auslöschen, – selbst durch die Gnade nicht und die spätre Enthüllung.“

„Nun, davon reden wir noch! Wenn ich nicht irre, so war Seine Eminenz der Ansicht, gerade die Scene auf dem Schaffot werde von entscheidendem Eindruck auf die Bevölkerung sein! Bedenkt, Signore: die Begnadigung im letzten Moment! Man wird sagen: der König hat sich geweigert, aber der Cardinal hat nicht abgelassen, um Nachsicht zu flehn, – um Nachsicht für seinen Todfeind; – der König schien unerbittlich: der Cardinal jedoch, in der Milde seines väterlichen Herzens, hat über die Strenge des Monarchen gesiegt, da schon die Göttin der Gerechtigkeit ihr dräuendes Schwert zückte! – In Wahrheit natürlich trägt Monsignore De Fabris das Begnadigungsdecret bereits in der Tasche, ehe noch der Tag der Execution festgesetzt wird.“

Salvatore schien heftig zu kämpfen. Endlich sprach er mit schweren Seufzer:

„Ich werde den Cardinal bitten, mir’s zu erlassen. Hält jedoch Monsignore De Fabris die Sache für unumgänglich – wohlan ...“

„Bravo!“ fiel ihm Nacosta stürmisch in’s Wort. „Aber ich wußt’ es, daß Ihr ein Held seid!“

Eine teuflische Genugthuung blitzte dem Verräther aus den stechenden Augen; – und doch, wie jetzt der bleiche Glanz des aufgehenden Mondes auf sein Gesicht fiel, da lag ein starrer, geisterhafter Ausdruck über den hageren Zügen, – etwas wie das Entsetzen vor sich selber und dem eignen grausenhaften Erfolge. ...

Salvatore hätte die sonderbare Verzerrtheit dieses blutlosen Mundes, das Spiel der Wimpern, das nervöse Vibriren des Kinns bemerken müssen, wäre er nicht völlig beherrscht gewesen von den Wallungen seiner ungeheuren Erregung.

Mit der Gluth eines Delirirenden malte er sich die Schrecknisse wie die Wonnen der Zukunft.

Die schlüsselklirrenden Kerkermeister von Pizzo Falcone, die bajonettblitzenden Schildwachen, die scharlachrot gekleideten Henkersknechte zogen, von leuchtendem Dunste umwirbelt, wie ein Heer von Gespenstern an seinem Auge vorüber, – und nickten ihm zu und drehten sich in satanischem Taumel.

Dann folgte im Prunk eines Märchenkönigs der allmächtige Cardinal, umringt von gold- und purpurstrotzenden Herolden, die unermeßliche Schätze trugen und Lorbeerkränze für Salvatore Padovanino, den Retter des Vaterlandes.

Zuletzt, in einer Wolke von Engeln, schwebte das holde Mädchen von Capri durch den Azur, die schöne Maria; – von himmlischer Glorie umfluthet, stieg sie zu ihm hernieder; ihre blühenden Arme schlangen sich zärtlich um seinen Nacken; sie küßte ihn und hauchte voll Seligkeit: „Dir dank’ ich’s, wenn sich die Engel Gottes dienend an meine Füße schmiegen!“

Salvatore träumte. Die fessellose Einbildungskraft, die seinen Geist so fortriß in ihrem rauschenden Flug, hatte ihm alle Sinne verwirrt. Vor seinen Augen schwamm es, wie ein Chaos von Licht und Glanz; in seinen Ohren ertönten wilde, lockende Melodien; er rang nach Athem. Hätte ihn Emmanuele nicht bei der Schulter gepackt, er wäre vielleicht kopfüber in die brandende Fluth gestürzt.

„Bei Sant’ Onofrio, Signore Padovanino, was habt Ihr?“ raunte der Polizei-Aspirant erschreckt. „Kommt Ihr vom Zechgelage, oder ist’s die Angst, die Euch schüttelt?“

„Nicht doch!“ wehrte der Andere. „Es überkam mich – laßt nur! – Ihr seht ja, es ist vorüber!“

„Ich will hoffen,“ sagte Emmanuele, „daß Ihr Euch besser in der Gewalt habt, wenn die Sache nun Ernst wird.“

„Seid unbesorgt! Bin ich erst richtig am Werk, so wahr’ ich mein kaltes Blut“

„Das thut uns Beiden auch Noth. Sonst wär’s Euer Verderben und meins. – Da schlägt die Glocke! ... Schon dreiviertel auf Zehn. Ich muß jetzt fort, Kamerad. Hört nun, was ich Euch vorschlage! Euch aufzusuchen in Eurer Wohnung – das halte ich für zu gewagt; Briefe aber, die mehr enthalten, als ein unverständliches Wort, sind in solchen Dingen erst recht bedenklich. Ich schreibe Euch also nur drei, vier Worte – meinetwegen mit Giovanna oder Margherita unterzeichnet – sagen wir: Margherita – und dann wißt Ihr, daß Ihr am Abend des Tages, an welchem Ihr diese Zeilen erhaltet, jenseits des großen Tunnels bei den ersten Häusern von Fuorigrotta auf mich warten sollt, Punkt neun Uhr wie heute. – Ich schreibe natürlich erst dann, wenn ich bestimmte Nachricht vom Cardinal habe. Laßt Euch nicht irre machen, wenn Ihr da zu lesen bekommt: ‚Tausend Grüße und Küsse. Margherita‘ – oder sonst eine Albernheit. Ich treibe die Vorsicht jetzt bis auf’s Aeußerste; man soll dem Zettel, falls er in unrechte Hände kommt, nicht ’mal ansehen, daß Ihr bestellt seid. Und Ihr – das bitt’ ich Euch noch –, wenn Ihr mir etwas zu melden habt, bedient Euch des gleichen Mittels. Meine Adresse könnt Ihr nun wissen: Vico Balbi, Numero siebzehn, im siebenten Stockwerk. Nur zwei Silben! Ich leiste dann gleichfalls noch am nämlichen Abend Folge! Die Osteria aber, wo wir uns kennen gelernt, müßt Ihr vermeiden. Der Wirth, der uns beisammen gesehen hat – und wenn’s auch nur in der Dämmerung seiner Spelunke war – darf sich Eure Physiognomie nicht einprägen. Man kann nicht wissen, wo und wie ’mal der Satan solch einen unbequemen Zeugen beim Schopfe nimmt. Also: die Sache ist abgemacht – und auf baldiges Wiedersehen!“

Mit erkünstelter Biederkeit schüttelte er dem Apulier die Rechte und wandte sich dann zurück nach dem Ufer von Chiatamone, während sich Salvatore noch fast eine Stunde lang in traumähnlicher Versunkenheit unter den Steineichen der Villa Reale umhertrieb.

Emmanuele traf, bei dem Kaffeehaus anlangend, den ehemaligen Geheimpolizisten Marsucci in die Lectüre der amtlichen Zeitung vertieft. Das Blatt enthielt, unter andern Merkwürdigkeiten, auf der zweiten Seite einen längeren Aufsatz über die ‚Freiheitsfreunde‘ – ganz im Stile jenes Artikels des „Giornale d’Emilia“, der Nacosta’s Uebersiedelung nach Neapel veranlaßt hatte.

„Nun?“ fragte Nacosta, neben dem ‚zweiten Gehülfen des wohllöblichen Nachrichters‘ Platz nehmend. „Ihr setzt ja eine heillos spöttische Miene auf. Was habt Ihr da Interessantes?“

„Eine Litanei über die Großthaten unsrer Polizeigenerale. Man muß dem Publicum von Zeit zu Zeit solche Brosamen hinwerfen, sonst verliert’s die Geduld und das fromme Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Sicherheitsbehörde, – zumal ihrer geheimen Abtheilungen. Man weiß genau, daß die Geheimpolizei trotz der schlechten Bezahlung ihrer unteren Organe ein riesiges Geld verschlingt, – und für die weggeworfnen Millionen will der getreue Unterthan doch hier und da die Spur eines Resultates gewahren. Uebrigens – was die Zeitungsschreiber, wenn’s Noth thut, Alles herauskriegen, das ist wirklich bewundernswerth. Da, les’t selber, Nacosta. Die Reise des Advocaten Cesari nach Capri wird hier bereits zum revolutionären Ereigniß gestempelt. Er soll – hier steht’s wörtlich – mit den Agenten einer ausländischen Regierung allerlei räthselhafte Zusammenkünfte gehabt haben, und – ‚was diese Beziehungen zwischen der Oppositionspartei und dem Auslande zu bedeuten haben, das brauchen wir der Feinfühligkeit unsrer Leser nicht klarzulegem. Signore Cesari, eines der schlauesten und vorsichtigsten, aber deshalb vielleicht gefährlichsten Mitglieder der sogenannten ‚Amici della libertà‘, hat allerdings bis zur Stunde dem Gesetz keinerlei Handhabe geboten; wenn sich indeß bewahrheitet, was wir an dieser Stelle nur andeuten können, so dürfte sich das Secretariat Seiner Eminenz in Kürze mit der Frage befassen müssen, in wie weit die politischen Umtriebe des Signore Cesari mit den Forderungen der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und mit der Wohlfahrt des Staates in Einklang zu bringen sind.‘ – Schön gesagt! Das klingt so, als wäre etwas – doch hütet der Mann sich wohl, etwas Greifbares zu behaupten, was dann späterhin widerlegt werden könnte. Da – und hier weiter unten – da wird nun im Allgemeinen über die Pläne der Umsturzpartei verhandelt, sodaß Jeder die Sache auf Cesari beziehen muß – und doch stellt’s die ‚Gazzetta‘ so pfiffig an ... Wahrhaftig, dieser Cesari beginnt mich zu interessiren! Das muß ein ganz verteufelter Bursche sein, daß die Leute so viel Aufhebens von ihm machen!“

„Möglich,“ sagte Nacosta zerstreut. „Sprecht, Marsucci, seid Ihr wieder vollständig klar im Kopfe? Ich meine, habt Ihr Lust und Stimmung dazu, etwas Ernstliches zu bereden? Vorhin wart Ihr so eigenthümlich vergnügt.“

[296] „Mein Gott, die zwei Foglietten, die ich geleert habe! Das war so für Augenblicke! Jetzt bin ich ganz und gar Euer Mann. Merkt Ihr denn nicht, daß ich’s heraus habe, was Ihr im Schilde führt? Ich meine, die Serie: die Nummer natürlich muß ich von Euch erfahren. Ein gewagter und niederträchtiger Streich ist’s – und Ihr wollt meine Mithülfe. Nicht wahr, das hab’ ich getroffen? Und glaubt Ihr denn, ich würde so frei von der Leber reden – ich als königlicher Beamter – wenn ich nicht wüßte, daß Ihr mich nöthig habt? Ich will Euch nur Muth machen, Signore Nacosta, – und nun schießt los, denn wir sitzen hier so schön abseits, und der alte Esel da drüben bei seinem Sorbetto ist stocktaub und dazu ein Grieche, der kann Italienisch kaum.“

Emmanuele war über den Scharfblick, den Marsucci bekundete, nicht wenig verblüfft.

„Die reine Wahrsagerei!“ lachte er, den Kellnerburschen heranwinkend.

Er bestellte sich einen Granita und wollte eben im verstohlensten Flüsterton anheben, als Marsucci ihm die Rede vom Munde nahm.

„Vor Allem Eins: wirft die Affaire ein gehöriges Stück Geld ab? Ich bin jetzt gut situirt: unter zweitausend Paoli riskire ich Nichts! Habe ich doch, solang’ ich Geheimpolizist war, all die kleinen Profite, die sich mir darboten, grundsätzlich von der Hand gewiesen! Denn – sagte ich mir – kommt’s heraus, so bricht Dir das Kleine ebenso sicher den Hals, wie das Große; das Kleine lohnt sich nur dann, wenn man’s in Masse betreibt: mit jedem einzelnen Fall aber wächst die Gefahr. – Nun, ich seh’ es Euch an: es ist ein Hauptcoup, der Euch das dürre Gesicht so in’s Breite zieht! Ihr müßt Euch besser beherrschen, Nacosta, sonst glückt’s nicht. Ja, ja, ich weiß, was Ihr sagen wollt: nur mir gegenüber seid Ihr so offenherherzig! Schön! Jetzt erzählt!“

Und Emmanuele erzählte, – schüchtern erst und in halben Andeutungen, dann aber mit cynischer Breite. Rückhaltslos entrollte er den teuflischen Plan, der den unglücklichen Salvatore Padovanino auf das Blutgerüst liefern sollte. –

Marsucci hatte anfangs den Sprecher hier und da unterbrochen. Allgemach ward er stiller. Als Nacosta geendet hatte, ergriff er die Tasse, leerte sie feierlich bis auf den letzten Tropfen, stellte sie auf die Schale zurück und murmelte, sich den Bart wischend:

„Gut! Aber nun weiter! Wir hätten also den armen Gimpel glücklich auf dem Schaffot ...“

„Ich verstehe Euch nicht,“ sagte Nacosta.

„Ja, zum Teufel, wie wollt Ihr’s nun anfangen, daß im letzten Moment ...“

„Ja, was meint Ihr denn? Der letzte Moment ist doch kolossal einfach!“

Er machte mit der flachen Hand eine bezeichnende Geberde.

„Donnerwetter! Daran dachte ich nicht! Bis hierher war die Sache ja gut geplant – spaßhaft sogar – aber nun –“

„Bedenkt, wir machen Halbpart! Zweifelt Ihr an der Freigebigkeit des Monsignore De Fabris? Wer Seiner Eminenz das Leben rettet, der hat doch gewiß den nämlichen Anspruch auf Dank, wie damals der Fischer von Ischia, der ihm den Einen lumpigen Brief zustellte! Ich weiß nicht genau mehr die Ziffer, aber es waren viele Tausende, die er auszahlen ließ – und damals handelte es sich um Angelegenheiten des Staates! Wenn’s aber die eigene werthe Person betrifft, dann schlägt das Herz doch wohl um einige Grade erregter, und der Dankende beugt sich tiefer über die Geldsäcke.“

„Das ist wahr, aber trotzdem – die Sache geht mir wider den Strich.“

„Seid nicht kindisch, Marsucci!“ raunte Nacosta. „Sterben müssen wir Alle, und wenn’s denn doch einmal sein muß, so wüßte ich mir, bei meiner Ehre, nichts Besseres, als so unversehens hinweg geblasen zu werden, noch bis zuletzt von der schönsten Hoffnung erfüllt, eine Zukunft des Liebesglücks, des Reichthums und des Ruhms vor den Augen ... Ihr glaubt gar nicht, was dieser Mensch für eine geistige Kraft besitzt, am Unmöglichsten festzuhalten und sich den schwärzesten Himmel mit Gestirnen zu schmücken. Der geht dahin, wie Einer, der im schwersten Rausch über Bord stürzt: eh’ er noch weiß, daß ihm die Wellen über den Kopf schlagen, ist Alles vorüber. Wahrhaftig, Euer Mitleid könnt Ihr da sparen.“

„Das stimmt,“ sagte Marsucci. „Nun, ich sage nicht Nein. Für jetzt kommt mir die Sache, weiß Gott der Allmächtige, ein wenig zu plötzlich. Ich muß das Alles erst rund kriegen. Wann sehn wir uns wieder?“

„Je eher, je besser.“

„Gut. Sagen wir: morgen. Aber nicht hier, wo doch möglicher Weise ’mal ein Gast in der Nähe sitzt, der nicht taub ist und nicht von Geburt ein Grieche. Ich dächte, um sechs Uhr, auf dem Weg nach dem Cimeterio, rechts bei dem Brunnen der vierzehn Oelbäume.“

„Ich werde zur Stelle sein. Ueberlegt Euch indeß nicht nur, ob Ihr’s versuchen wollt, sondern auch ein bischen das Wie, – den Ort, die Zeit und all die sonstigen Einzelheiten! Die Sache ist einfach, aber sie erfordert Umsicht im Vorbereiten. Für gar zu kindisch dürfen wir den Apulier nicht nehmen.“

Die Beiden erhoben sich und trennten sich dann. Marsucci begab sich nach kurzer Wanderung über die benachbarten Quais nach einem glänzend erleuchteten Tanzlocal, wo er einige von den empfangenen Goldstücken toll verjubelte, während Emmanuele Nacosta die Stiegen zu seiner armseligen Wohnung erklomm und seine Crispina von der günstigen Wendung der Angelegenheit in Kenntniß setzte.

(Fortsetzung folgt.)




Die höheren Töchterschulen.

Ein Wort für unser Haus. 0 Von Ferdinand Sonnenburg.

Als im Jahre 1882 das „Aerztliche Gutachten über das höhere Schulwesen Elsaß-Lothringens“ veröffentlicht wurde, fanden die Forderungen, welche darin von einer Commission medicinischer Sachverständiger aufgestellt wurden, vielseitigen Beifall.

Jetzt ist von derselben Commission ein gleichartiges Gutachten über das höhere Töchterschulwesen im Druck erschienen, dessen Werth um so höher anzuschlagen ist, als es von einer stattlichen Reihe durchaus berufener Männer verfaßt und überhaupt die erste Arbeit ist, welche auf diesem Gebiete in Deutschland von einer staatlichen Oberbehörde veranlaßt und veröffentlicht wurde. Die Fragen aber, welche hier sich aufdrängen, greifen in das innerste Heiligthum des deutschen Hauses hinein, und eine Erwägung derselben erweist sich gerade in der gegenwärtigen Zeit als eine gebieterische Forderung, denn in unsern Mädchenschulen sind noch ärgere Schäden zu finden, als in unseren Gymnasien und Realschulen.

Diese Schäden sind doppelter Art, sie treffen nicht allein den Körper, sondern mehr noch den Geist und das Gemüth unserer Töchter. Das Straßburger Gutachten beschränkt sich auf die Betrachtung der Gefahren, welche dem Körper aus der Schule erwachsen können, und auch von diesem Gesichtspunkte aus sieht sich die Commission veranlaßt, an die Spitze ihres Berichtes den schwerwiegenden Satz zu stellen, daß unsere höheren Mädchenschulen überhaupt auf völlig falscher Grundlage aufgebaut sind; man strebte darnach, sie ähnlich wie die Realschulen für Knaben zu gestalten, ohne die Besonderheit der Unterrichtszwecke und, „was weit schlimmer, ohne den besondern Organismus des Weibes in’s Auge zu fassen“.

Mit dieser letztern Bemerkung trifft der Bericht die eigentliche Wurzel aller Schäden unserer heutigen Mädchenschulen. Das völlig falsche System ist zu verurtheilen. Nach der Schablone der Realschule für Knaben hat man die höheren Mädchenschulen zugeschnitten und zwar so consequent, daß viele dieser Anstalten auf der einen und auf der andern Seite sich nur in den verschiedenen Zielen unterscheiden; als ob jedes Mädchen für einen bestimmten bürgerlichen Beruf vorbereitet werden sollte! Daß man zwei von der Natur auf’s schärfste unterschiedene Menschengattungen vor sich hat, das wird nicht im geringsten berücksichtigt.

[297]

Erstes Geburtstagsfest.
Nach dem Oelgemälde von Ludwig Blume-Siebert. 0 Photographie im Verlage von F. Hanfstängl in München.

[298] Ueberschauen wir in aller Kürze das, was unsere höheren Mädchenschulen ihren Schülerinnen bieten. In der Religion werden die biblischen Geschichten des Alten und des Neuen Testamentes, die Glaubensartikel mit den Erklärungen und vielen Beweisstellen für jeden Punkt und einige Dutzende Kirchenlieder gelernt; die Begriffe des Glaubens werden Wort für Wort definirt, der Unterschied von Deist und Theist wird angegeben, die Streitigkeiten des Concils zu Nicäa werden reproducirt etc.; unsere Töchter verstehen mehr Theologie, als in früheren Jahrhunderten die Geistlichen. Auf dem Gebiete der deutschen Sprache werden die Schülerinnen schon im Alter von sieben Jahren unter die Zucht der Grammatik gestellt; sie lernen im Laufe der Schulzeit jeden Begriff in sein ihm gebührendes Fach einfügen als Concretum oder Abstractum, als Stoff-, Sammel-, Eigennamen, als starkes oder schwaches Verbum, als Adjectiv oder Adverb, als entgegenstellende, erweiternde, bedingende Conjunction, sie unterscheiden „nackten“ und „bekleideten“, Haupt- und Nebensatz, Subject- und Objectivsatz, Attributiv- und Adverbialsatz (Papa Obergerichtsrath, Onkel Medicinalrath, könnt ihr das auch?). Aus der deutschen Literatur kennen sie die Regeln, nach denen ein Meistergesang angefertigt wird, sie berichten über die Verdienste des Martin Opitz um die deutsche Poeterei, sie richten in dem Streit zwischen Leipzigern und Schweizern, sie zählen die Dichter unseres Jahrhunderts an den Fingern her, auch wissen sie genaue Rechenschaft darüber zu geben, warum Schiller’s Jungfrau von Orleans die Bezeichnung einer romantischen Tragödie beanspruchen kann. „Literaturgeschichte“ ist oft nichts anderes, als Namen und Zahlen und auswendig gelernte Urtheile über Dichter, deren Werke die Schülerinnen nie gesehen haben.

Es schließen sich nun die fremden Sprachen an, die französische und die englische. Das neunjährige Mädchen lernt an der Hand der Grammatik „denken“, wöchentlich vier Stunden, später fünf oder sechs; wenn das Englische dazukommt, wöchentlich acht bis zehn Stunden. Hier geht alles nach unerbittlichen Regeln, deren unerläßlicher Vorrath schließlich nach Hunderten zählt. Lectüre wird allein auf der Oberstufe und auch dort nur nebenbei getrieben.

In der Geschichte werden alle Völker der Erde herangezogen, alle Kriege, alle Haupt- und Staatsactionen beleuchtet; das Quantum der Jahreszahlen, die gelernt werden müssen, beläuft sich an einzelnen Anstalten auf mehr als ein halbes Tausend, mindestens aber auf mehrere Hunderte. In der Geographie bleibt kein Winkel der Erde und des Himmels unbesucht, jedem Flusse werden gewissenhaft seine Nebenflüsse zugetheilt, jedem Berge die Bezeichnung seiner Höhe, jedem Lande seine Quadratmeilen, jeder Stadt die Zahl ihrer Einwohner angeheftet. Der Rechenunterricht lehrt Zinsen nach Viertelprocent auf Tage bemessen, Gleichungen und Proportionen werden tractirt. Auch geometrische Figuren werden gezeichnet, die Congruenzsätze und die Flächenberechnungen werden, wenn irgend möglich, noch in Betracht gezogen.

Das Gebiet der Naturwissenschaften eignet sich vortrefflich zum Classificiren. Jedenfalls ist es unerläßliche Forderung sowohl für die anmuthige Wirthin des reichen Hauses, als für die sorgsame Mutter am Bettchen ihres kranken Kindes, daß sie weiß, wie viel Zähne und wie viel Krallen der Waschbär hat, in welche Classe nach Linnaeus der türkische Schwarzkümmel gehört, und wie der Kopf des Bandwurms, die Füße der Spinnen und Kröten und die Sauginstrumente der Blattläuse beschaffen sind. Und von den Gebieten der Chemie, Mechanik, Optik, Akustik läßt sich ebenfalls manche schöne Beute nach Hause tragen.

Vor allen Dingen aber muß alles aufgeschrieben werden. Sprachregeln, welche eingeübt sind, werden zu größerer Sicherheit noch einmal in ein besonderes Heft geschrieben, Uebertragungen aus fremden Sprachen werden aufgeschrieben, Exempel werden gerechnet, dann in die Kladde und endlich in’s Reine geschrieben, Vorträge über Gegenstände aus den Naturwissenschaften werden ausgearbeitet, sogar Regeln über die Zeichenkunst werden zu Papier gebracht. Unsere neunjährigen Töchter beschreiben mehr Papier als ihre Väter früher in der Prima des Gymnasiums; jetzt ist freilich auch das letztere anders geworden.

Ein einziger Blick auf die Masse dieses Lehrstoffes läßt erkennen, daß viel Zeit erforderlich sein muß, ihn zu bewältigen, besonders wen man bedenkt, daß über die hier gezeichneten Grenzen öfter noch weit hinausgegangen wird. So z. B. lehren nicht wenige Anstalten auch noch Italienisch, und die Schülerinnen der höheren Mädchenschule in Zürich lesen dazu noch den Cäsar und den Cicero und übersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische.

Die Zahl der Unterrichtsstunden beträgt auf den höheren Mädchenschulen Deutschlands fast ausnahmslos schon für zehnjährige Mädchen wöchentlich zweiunddreißig, dazu kommen je nach dem Alter eine bis drei Stunden täglich für häusliche Arbeiten. Auch das Straßburger Gutachten hält eine Erleichterung dieser Last für dringend geboten; es weist auf die vielfachen schweren Leiden hin, welche gerade dem Mädchen aus übermäßiger geistiger Thätigkeit und Mangel an Bewegung in frischer Luft erwachsen. Frauenkrankheiten im engsten Sinne des Wortes, Bleichsucht, Hysterie, Nervosität, Veitstanz, Epilepsie, Scoliose in mehrfachen Erscheinungen, Kurzsichtigkeit (in der Seminaristinnenclasse zu Görlitz 67 Procent!) werden durch mangelhafte Schuleinrichtungen theils gefördert, theils geradezu hervorgerufen. Doch trifft ein Tadel auf diesem Gebiete weniger die öffentlichen Anstalten, als vielmehr die Privatschulen und besonders die Pensionate, in denen sehr oft die verwerflichsten Zustände herrschen.

Doch nicht allein der Körper leidet unter dieser Ueberzahl von Schul- und Arbeitsstunden, es gehen noch andere und schlimmere Uebel daraus hervor. Wenn das Mädchen zehn Jahre hindurch von 8 bis 12 und von 2 bis 4 Uhr die Schule besucht, wenn bei weiteren Schulwegen die beiden Mittagsstunden durch die Wege und durch die Mahlzeit in Anspruch genommen werden, wenn von 5 bis 7 Uhr, und oft noch länger, die häuslichen Arbeiten erledigt werden müssen, so ist das Mädchen gerade in denjenigen Jahren (6 bis 16), in denen sich die Neigungen entwickeln, welche das ganze spätere Leben gestalten, dem Hause und der Familie so gut wie ganz entzogen. Die Mutter wirkt nur nebenbei, die Schule hat die Tochter für sich allein in Beschlag genommen. Das Mädchen wird in der einseitigsten Weise der praktischen Thätigkeit entfremdet, es wird durch die auf falscher Grundlage aufgebaute Schule in eine Bahn gelenkt, die man als eine höchst bedenkliche gerade auch dann bezeichnen muß, wenn man den großen Fleiß, mit welchem in unsern öffentlichen höheren Mädchenschulen durchweg gearbeitet wird, ungeschmälert anerkennt.

Versuchen wir die Folgen dieses falschen Systems und dieser Unterdrückung des Hauses durch die Schule zu überschauen. Angenommen, daß die Ziele, welche der Lehrplan vorschreibt, voll erreicht werden – was bleibt von dieser hastig aufgehäuften Masse der verschiedenartigsten Kenntnisse für’s Leben? In wenigen Jahren entsinkt diese Last dem Gedächtnisse, und oft, recht oft wird sie als überlästige Bürde unwillig abgeschüttelt. Und das kann auch nicht anders sein, denn während die Realschulen ihre Zöglinge durchschnittlich bis zum zwanzigsten Jahre behalten und dadurch im Stande sind, ihnen eine abgeschlossene Bildung zu geben, brechen unsere höheren Mädchenschulen ja gerade in der Zeit ab, wo auf den vielen in Angriff genommenen Gebieten die Elemente eben überwunden sind und eigene Thätigkeit der Schülerinnen nun erst beginnen könnte und müßte.

Wenn nun aber die höhere Mädchenschule in ihrer heutigen Gestalt eine abgeschlossene Bildung ihre Schülerinnen selbst in günstigsten Fällen kaum zu geben vermag, hat die Schule dann dafür gesorgt, daß in die Seele des Mädchens ein deutlich erkanntes und fest und freudig ergriffenes Ideal gepflanzt ist, welches für das ganze übrige Leben als zuverlässiger Führer zu dem richtigen Ziele waltet?

Wenn wir diese Frage doch bejahen könnten!

Den Zusammehang mit dem wahren Lebensboden des Weibes, mit dem Hause und der häuslichen Sorge, lockert die Schule in der bedenklichsten Weise und zieht das heranwachsende Mädchen auf ein anderes, fremdes Gebiet, auf dem es seiner ganzen geistigen und körperlichen Anlage nach ewig nur ein Fremdling bleiben kann, und bei dieser Verpflanzung büßt das Mädchen so leicht sein edelstes Eigenthum, die warme, tiefe Empfindung, die freudige Bereitwilligkeit zu aufopfernder Fürsorge ein.

Der Straßburger Bericht sagt: „Der reale Unterricht schützt das Weib nicht vor Verrohung, er liefert sogar gemeinen Naturen die Waffen in die Hand, womit sie der Gesellschaft doppelt gefährlich werden.“

Aber noch gefährlicher als die gewaltthätigen Jüngerinnen der Commune sind diejenigen Frauen, welche alle häusliche Sorge in offener Verachtung gemietheten Dienstboten zuschieben, geduldige Sanftmuth und opferwillige Hingebung als etwas Erniedrigendes [299] betrachten und ihren Lebenszweck nur darin finden, zu prunken, zu genießen und „bedient im Hause zu ruhen“! Sind die vielen Klagen über die zunehmende Genußsucht, die arbeitsscheue Anmaßung gerade unter Töchtern gebildeter Stände ohne Grund? Steht die statistisch nachgewiesene Verminderung der Procentsätze der Eheschließungen in keinem Zusammenhange mit der weitgehenden Abneigung „gebildeter“ junger Mädchen gegen häusliche Geschäfte? Arbeiten nicht gerade unsere höheren Mädchenschulen in ihrer jetzigen Gestalt auf’s Wirksamste darauf hin, diese Abneigung systematisch großzuziehen?

Es soll hier keineswegs die Ansicht moderner Dunkelmänner vertreten werden, daß Mädchen „nichts zu lernen brauchten“; es soll vielmehr mit besonderem Nachdrucke hier die Forderung gestellt werden, daß die Frau sich als ebenbürtige, verständnißvolle geistige Genossin des Mannes zeige; aber eben deshalb soll hier mit nicht geringerem Nachdrucke darauf hingewiesen werden, daß ein aufgehäufter Vorrath von Regeln, Vocabeln, Geschichtszahlen und technischen Ausdrücken nicht die Bildung ausmacht. Bei Mädchen führt diese Ueberfülle lediglich zur Oberflächlichkeit, die einseitige Verstandesbildung wird nur auf Kosten der Herzensbildung erreicht, und wenn nicht gerade der deutschen Frau eine so reiche Fülle der schönsten Eigenschaften des Gemüthes zu Theil geworden wäre, so würden unsere häuslichen Verhältnisse schon längst eine schlimmere Gestalt zeigen.

„Das Beste und Schönste leistet das Weib stets als freundlicher Schutzgeist gesegneter Häuslichkeit. Wo in dieses größte Glück des Menschen zerstörend eingegriffen wird, da sehen wir Aerzte leiblichen und seelischen Verfall als unausbleibliche Folge. Aus den Häusern, in denen die Hausfrau gemein und lieblos waltet, flüchten Mann und Kinder, Vergessen und Zerstreuung suchend in Leib und Seele verderblichen Genüssen“ – so warnt der Straßburger Bericht.

Der Weg, auf dem wir heute weiterdrängen, kann uns nur zum Unheil führen, wir müssen in eine andere Bahn einlenken.

(Schluß folgt.)

Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien.

Von F. Keller-Leuzinger.
II.

Hütte eines deutschen Colonisten in Brasilien.

Zum Bau der neuen Straße, deren Bedeutung wir im vorigen Artikel besprachen, wurden Ingenieure berufen – zuerst französische, und als binnen Kurzem deren Untauglichkeit sich herausstellte, deutsche, welche, nachdem sich späterhin auch noch ein Brasilianer vorgefunden, die große Arbeit im Laufe von sieben Jahren glücklich zu Ende führten.

Für den Techniker und selbst für den Laien dürfte eine kurze Beschreibung der Procedur, welche bei den Vorarbeiten, den Aufnahmen und Nivellements befolgt wurde, von Interesse sein, da dieselbe von der in Europa üblichen doch in mancher Hinsicht abweicht.

In den Ländern alter Cultur bestehen ja Verkehrswege nach jeder Richtung hin, die in die vorhandenen topographischen Karten mit wünschenswerther Genauigkeit eingetragen sind.

Wir können also hier, wenn es sich um den Entwurf einer neuen Straße handelt, im Studir- und Arbeitszimmer mit Zirkel und Bleifeder die projectirte Straßen- oder Eisenbahntrace in aller Gemächlichkeit wenigstens annähernd auf der Karte einzeichnen, um sie dann draußen in der Natur mit einigen Correcturen endgültig festzulegen.

Es wird im Allgemeinen nicht der geringste Zweifel obwalten, welche Flußthäler zu verfolgen und welches die niedrigsten und günstigsten Uebergänge oder Pässe seien, um von einem in’s andere zu gelangen.

In der neuen Welt aber, und besonders in deren südlicher Hälfte, ist dies anders: der Ingenieur muß sich dort, da genauere, irgendwie umfassende topographische Aufnahmen durchaus nicht vorhanden sind, zuerst selbst seine Karte construiren und sich die nöthige Terrainübersicht durch Kreuz- und Querzüge, flüchtige Croquis, Höhenmessungen etc. auf die mühseligste Art verschaffen, ehe er überhaupt nur daran gehen kann, seine Straßenlinie zu ziehen und zu sagen: hier muß es durchgehen. Erst dann, wenn er darüber möglichst im Klaren ist, wird er, ohne befürchten zu müssen, eine vergebliche Arbeit zu schaffen, zur eigentlichen Vermessung der Linie mit Theodolit (Höhenmesser) und Nivellirinstrument schreiten können.

Es hat dies ohne Zweifel seinen eigenen Reiz; die damit verbundene körperliche und geistige Anstrengung ist jedoch keine geringe.

Im alten Europa und in cultivirter Gegend liegt außerdem die Bodengestaltung in den meisten Fällen klar zu Tage; in den pfadlosen Urwäldern des neuen Continentes aber müssen wir gleichsam mit verbundenen Augen herumtasten, bis es uns gelingt das Richtige zu finden.

Eine Arbeiterschaar von 20 bis 30 Mann, Neger- und Mestizenvolk, begleitet uns, um mit Axt und Machete nach unserer Angabe den Wald zu lichten und einen Durchblick in der gewünschten Richtung zu ermöglichen; es drängt uns die Vermessung in der kürzesten Zeit und mit dem kleinsten Aufwand an Mühe zu vollenden, und doch möchten wir uns nicht das geringste topographische Detail entgehen lassen, um bei der endgültigen Festlegung der Zugslinie Rücksicht darauf nehmen zu können.

Mühsam klettern wir an dem steilen Hange entlang, bei jeder Station befürchtend, der braune Bursche, der unser Instrument trägt, werde das Gleichgewicht verlieren und kopfüber in die Tiefe stürzen. Wir berechnen annähernd das Gefälle aus der uns zur Verfügung stehenden Länge und der schon früher gemessenen Höhe der zu übersteigenden Wasserscheide, um zu sehen, ob wir mit dem zulässigen Steigungsmaximum ausreichen, und siehe da: es geht! wenn wir auch im Geiste schon die Minen krachen hören, die im harten Doleritgestein Platz schaffen sollen für unser Werk – und dem Handel eine Gasse. Aber wir möchten auch die gegenüber [300] liegende Thalwand sehen, die uns von riesigen Baumkronen und von schlanken, aus der Tiefe aufsteigenden Palmenwipfeln verhüllt wird!

Also hinunter in die Schlucht, wo zwischen tausendjährigem Moder und schwarzen Humusschichten, halb verfaultem Wurzelwerk und umgestürzten Stämmen, unter üppigen Baumfarnen, Calladien, Heliconien und anderen Prachtpflanzen der Trupenwelt ein dunkelbraunes Wasser sickert, das wir trotz des brennenden Durstes nicht zu trinken wagen, und jenseits wieder hinauf bis zu einer Höhe, welche der soeben verlassenen gleichkommt, nur um zu sehen, daß wir doch von vornherein das Richtige getroffen und daß die jenseitige Thalwand noch steiler sei, als die diesseitige, und so klettern wir freudigen Muthes und schweißtriefender Stirn wieder zurück.

So geht es Tag für Tag, bis nach manchen Zwischenfällen glücklich die Endstation erreicht ist, woselbst in einsam gelegener Bauhütte, vielleicht im Zelt oder unter einem mit Palmblättern gedeckten „Rancho“ die Resultate zusammengestellt, Plan und Nivellement definitiv festgelegt und die Kostenanschläge ausgearbeitet werden.

Kostenanschläge! Welchem Techniker, der praktisch thätig gewesen, zieht sich bei diesem Worte nicht das Herz zusammen!

Ich kannte einen alten Baurath, der manche Straße durch unsere heimischen Berge geführt hatte und der jüngeren Leuten auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen folgenden Rath zur Beherzigung für’s Leben mitzugeben pflegte: „Wenn Sie einen Kostenanschlag für eine Straße und Eisenbahn zu machen haben, so rechnen Sie alle Posten so dick wie möglich; dann schlagen Sie 50 Procent dazu und multipliciren das Resultat mit Zwei. Wenn dann die Verhältnisse einigermaßen günstig liegen, wenn Sie thätig und sparsam bei der Ausführung sind, so kann Ihnen eine ‚Belobigung‘ kaum entgehen, und vielleicht springt sogar ein Orden heraus; im entgegengesetzten Falle aber stehe ich für Nichts!“

Beim Straßenbau in Brasilien.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

Welche Norm aber würde der alte Herr für transatlantische Verhältnisse aufgestellt haben, wo bei der dünngesäeten Bevölkerung die Nothwendigkeit, armselige tausend Arbeiter an einem Punkte concentriren zu müssen, nicht nur die Löhne, sondern auch die Preise der Lebensmittel auf eine vorher ungeahnte Weise in die Höhe treibt und alle Berechnungen über den Haufen wirft! Mit allen diesen Schwierigkeiten hatten auch die Erbauer der Minasstraße zu kämpfen, aber nach hartem siebenjährigen Ringen konnten sie mit zufriedenem Blick auf das vollendete Werk schauen. Die Straße ist zum Theil auch ein Werk deutschen Fleißes und darf darum unser Interesse besonders in Anspruch nehmen.

An ihrem Bau war der großherzoglich badische Bau-Inspector Joseph Keller thätig, der in seinem engeren Vaterlande die erste Anlage des Mannheimer Hafens, die Eisenbahn von Mannheim nach Heidelberg, sowie von Karlsruhe nach Rastatt, den größten und wichtigsten Theil der Rheinrectification, sowie verschiedene Straßen im nördlichen Theile des Schwarzwaldes entworfen und ausgeführt hatte. – Er ging mit vierjährigem Urlaub nach Brasilien und quittirte, als die badische Regierung ihm eine weitere, zur Vollendung der Minasstraße dringend nothwendige Verlängerung desselben nicht zugestehen zu können glaubte – den badischen Staatsdienst, in dem er während zwanzig Jahren unermüdlich thätig gewesen. –

Die Straße beginnt in Petropolis, begleitet die Ufer der Piabanha bis nahe vor deren Einmündung in den Parahyba bei Tres Barras, überschreitet auf einer eisernen Gitterbrücke von drei, je 51 Meter langen Spannweiten (also an Ausdehnung ungefähr der Straßburg-Kehler Rheinbrücke zu vergleichen) den Parahyba, ersteigt eine andere Wasserscheide, um in kürzester Linie nach der Parahybuna zu gelangen, deren Thal dann bis nach Juiz de Fóra, dem damaligen Endpunkte der Straße, verfolgt wird.

Die Gesammtlänge zwischen Petropolis und Juiz de Fóra beträgt 147 Kilometer; die Erhebung der genannten Endstationen über den Meeresspiegel ist eine nahezu gleiche, das heißt beiderseits etwa 700 Meter, während der tiefste Punkt, der Parahyba-Uebergang, etwa 100 Meter über dem Meere liegt.

Auf der 7 Meter breiten Straße findet sich alle 10 bis 12 Kilometer eine Station mit entsprechenden Wohn- und Lagerräumen, sowie Stallungen.

Die Baukosten beliefen sich im Ganzen auf 12,000 Contos de Reis, das heißt nach dem damaligen Wechselstande auf etwa 30 Millionen Mark. Bedeutende Schwierigkeiten, respective Kosten, machte das Zusammenbringen der nöthigen Arbeiterzahl, die im Ganzen zwischen 4000 und 6000 Mann schwankte und zur einen Hälfte aus gemietheten Sclaven (für die Erdarbeiten), zur andern aus freien Leuten (Deutschen, Portugiesen und wenigen Brasilianern) für Zimmer-, Stein- und Schmiede-Arbeit bestand.

Ein eigenthümliches, in mehr als einer Hinsicht interessantes Moment bei diesem Straßenbau nach der Provinz Minas-Geraës [301] bildete die Anwerbung von deutschen Colonisten, die bei der Endstation Juiz de Fora angesiedelt werden sollten. Der Gedanke, es diesen Leuten, die in Holstein, am Rhein und in Tirol durch den späteren Director der Liebig’schen Fleischextract-Compagnie in Fray-Bentos zusammen gesucht waren, durch ihre Mithülfe bei dem ihnen in erster Linie zugute kommenden Straßenbau zu ermöglichen, ihre Schulden für Transport und erste Unterhaltungskosten abzutragen, war sicherlich kein schlechter. Man machte nämlich die Erfahrung, daß, da sich auch Frauen und Mädchen dazu verstanden, die Schaufel zu handhaben und Steine zu klopfen, selbst solche Familien sich herausarbeiten konnten, welche, obwohl reich an Köpfen, doch arm an jungen Männern waren.

Hütte eines Tirolers in Brasilien.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

Leider wurde jedoch schon drei Jahre nach der Ankunft dieser Colonisten, und ehe sämmtliche Schulden abgetragen werden konnten, der Straßenbau vollendet, und wenn auch ein Theil derselben als Fuhrleute, sowie als Bedienstete der Compagnie auf den einzelnen Stationen oder in ihren betreffenden Handwerken eine lohnende Beschäftigung fand, so war eben doch das Endresultat keineswegs ein allseitig befriedigendes.

Aber, so wird man fragen, hatten denn diese Leute keine Ländereien erhalten, die sie bebauen und von deren Ertrag sie nicht nur leben, sondern auch noch etwas auf die Seite legen konnten? Man erzählt uns doch so Vieles von der Fruchtbarkeit jener Länder, von der Ueppigkeit des Pflanzenwuchses und dem hohen Werthe der dort gezogenen Producte! War die Lage der Colonie eine wenig günstige, der Boden schlecht, oder verstanden es die Neuangekommenen nicht, sich in Verhältnisse zu finden, die von denen der Heimath so gänzlich verschieden waren?

Im Anfange könnte, selbst wenn alle anderen Bedingungen zum Gedeihen einer Ansiedelung wirklich gegeben wären, das letztgenannte Moment allerdings eine Rolle spielen; wenn jedoch, nachdem Jahre darüber hingegangen und die Colonisten eine oft bittere Schule der Erfahrung durchgemacht, der richtige landwirthschaftliche Aufschwung immer noch nicht kommen will, so wird man wohl zu der Annahme berechtigt sein, daß die Schuld an der Bodenbeschaffenheit, an den speciellen klimatischen und schließlich an den Verkehrsverhältnissen liegen müsse. Und in nahezu allen deutschen Colonien in Brasilien hat es mit der einen oder andern dieser Grundbedingungen, wie man zu sagen pflegt, seinen Haken gehabt.

Das oben genannte Petropolis liegt zwischen steilen Bergen, sodaß für den eigentlichen Ackerbau so viel wie kein Land vorhanden ist, und es scheint in Wahrheit unfaßlich, wie man es wagen konnte, mehrere tausend deutsche Colonisten in solche Engthäler und Schluchten zu verweisen.

Petropolis prosperirt heute allerdings, aber nicht als Ackerbaucolonie, sondern als Luftcurort für die eine halbe Million betragende Bevölkerung von Rio de Janeiro, die sich glücklich schätzt, in nächster Nähe ein Plätzchen zu haben, wo sie sich von der Backofenhitze und dem giftigen Qualm der Großstadt erholen kann. Das Einzige, was man heute in Petropolis in größerem Maßstabe baut, ist „Capim d’Angola“, ein meterhohes, aus Afrika stammendes Gras zur Fütterung der Pferde und Maulthiere, sowie einiger Kühe, deren Milch- und Butterertrag von den Badegästen theuer bezahlt wird.

Aehnlich verhält es sich in der am andern Endpunkte der Straße, in Juiz de Fora, angelegten Colonie, die den officiellen Namen Dom Pedro II führt. Das Terrain ist allerdings weniger bergig, aber keineswegs von guter Beschaffenheit, und da es außerdem nahezu 3000 Fuß über dem Meere liegt, die Frucht des Kaffeestrauches jedoch unter jenen Breiten (das heißt unter dem Wendekreise) schon mit 1500 und 1800 Fuß Erhebung nicht mehr gleichmäßig zur Reife gelangt, so ist den dortigen Colonisten auch die Möglichkeit benommen, durch Düngung des mageren Bodens wenigstens kleinere, gartenartige Kaffeepflanzungen zu unterhalten und auszunützen. Es bleibt ihnen nur der Bau der landesüblichen Nahrungsmittel, Bohnen, Mais und Mandioca, die jedoch keinen Ausfuhrartikel bilden und selbstverständlich auf den besser gelegenen, in größerem Maßstabe betriebenen Plantagen der Brasilianer verhältnißmäßig wohlfeiler producirt werden, als auf diesen kleinen, dürftigen Parcellen.

Der Colonist leidet allerdings keinen Mangel, sondern lebt, dank der Hühner- und Schweinezucht, die er nebenbei betreibt, mit seiner Familie derart, daß ihn mancher arme Schlesier und „Hundsrücker“ in Wahrheit beneiden kann, aber von wirklichem Wohlstand, von vollständiger Entfaltung seiner Kräfte, von glänzenden Hoffnungen für die Zukunft seiner Nachkommen, kann heute wenigstens noch nicht die Rede sein. Ist er ein geschickter Schmied, Zimmermann oder Maurer, oder hat er die Mittel, um auf eigne Faust ein Fuhrwerk zu betreiben, gelangt er gar dazu, einen Kram- und Schnapsladen anzulegen, so kann er allerdings wohlhabend werden, besonders wenn ein treues, fleißiges Weib ihm zur Seite steht, aber er ist dann längst kein Ackerbauer mehr.

[302] Es ist bekannt, daß in der Colonie Dona Francisca (Provinz St. Catharina), deren Klima, wenigstens was mittlere Jahrestemperatur anbelangt, mit dem von Juiz de Fora übereinstimmen dürfte, in den fünfziger Jahren, als der Enthusiasmus der Neuankommenden bei dem Anblick der herrlichen Wälder keine Grenzen kannte und man all diese wichtigen Detailfragen der Anlage- und Betriebskosten im Vergleich zu dem Werthe der zu erhoffenden Ernten an Bohnen, Mais und Mandioca übersehen zu können glaubte, Capitalien verloren wurden, die gar nicht unbedeutend waren. Ich selbst kannte einen braven, alten Schleswiger, der im Vertrauen auf die pomphaften Anpreisungen der Hamburger Colonisationsgesellschaft Haus und Hof verkaufte, um in der neuen Welt, wo er für sich und seine Kinder ein neues größeres Heim zu gründen hoffte, schließlich Alles zu verlieren. Er ließ durch in theuerem Tagelohne arbeitende Mestizen und Mulatten den Urwald auf große Strecken niederlegen, Bohnen, Mais und besonders Mandioca in großem Maßstabe pflanzen, um, nachdem er unter Mühen und Entbehrungen von seiner Seite 60,000 Mark, sein ganzes Vermögen, ausgegeben, die Erfahrung zu machen, daß der Werth seiner Ernte deren Productionskosten nicht decke, da der Markt überfüllt und an überseeischen Export nicht zu denken war. –

Da Kaffee und selbst Zuckerrohr in jenen Breiten nicht mehr recht gedeihen, so machte man sich an den Bau jenes andern Krautes, dessen Absatzbezirk heutzutage ein womöglich noch größerer ist, als jener der obengenannten: ich meine den Tabak. Aber die Nicotiana ist ein ebenso heikles und eigensinniges Gewächs, wie die Rebe, und wie in Grüneberg kein Hochheimer, so wachsen auch in Dona Francisca keine Habana, und doch sind es nur diese, mit welchen man dem in der Provinz Bahia gezogenen vorzüglichen Tabak hätte Concurrenz machen können; so brachte auch dieser Versuch nur Aerger und Enttäuschung.

Man wäre beinahe versucht zu behaupten, daß diejenigen Klimate, welche keinen bestimmt ausgesprochenen Charakter zeigen, das heißt weder den echt tropischen, noch den der gemäßigten Zone, sondern den Uebergang von einem zum andern vermitteln (wie dies in der Provinz St. Catharina der Fall ist), dem Colonisten in dieser Hinsicht besondere Schwierigkeiten bieten. Er hat allerdings die Wahl, aber auch die Qual, welche Culturpflanzen er bauen soll.

In den noch weiter südlich gelegenen Colonien, woselbst, wie in der ganzen Provinz Rio Grande do Sul, Klima und Producte ganz entschieden der gemäßigten Zone angehören, ist wenigstens ein solcher Zwiespalt in Bezug auf die Wahl der vortheilhaftesten Culturpflanzen nicht mehr in diesem Maße vorhanden. Auf eine wirkliche, auf größeren Export gegründete Prosperität der dortigen, in den äußersten Ausläufern der Waldregion gelegenen Colonien wird aber auch da vorerst nicht zu rechnen sein, und nur diejenigen Niederlassungen von Deutschen, die sich im Süden und Westen der Provinz und auf Campland gebildet haben und noch bilden werden, können bei richtiger Leitung durch den Betrieb der Viehzucht und den Export der dabei erzielten werthvollen Producte unter den jetzigen Verhältnissen etwas Anderes werden, als idyllische Winkel, woselbst ein Paar tausend Deutsche still und zufrieden vegetiren. –

Man sieht, die Gründung und erfolgreiche Durchführung einer deutschen Colonie ist in Brasilien ein ebenso schwieriges und heikles Unternehmen, wie anderwärts, und ich für meinen Theil habe vor den Männern, die, wie Dr. Blumenau und Andere, unter unsäglichen Opfern und Anstrengungen diese riesige, ein Menschenleben füllende Aufgabe soweit glücklich zu Ende geführt haben, als es die Umstände erlauben, eine unbegrenzte Achtung; haben sie doch thatkräftig dazu beigetragen das alte, übervölkerte Europa zu entlasten, und wäre es auch in noch so minimaler Weise, haben sie doch gewußt, einigen tausend strebsamer, aber auf fremder Erde der Führung dringend bedürftiger Menschen den Weg zur Gründung eines neuen Heims zu zeigen und die brachliegenden Schätze eines jungen, dünnbevölkerten Landes für dieses selbst, wie für andere, mehr und mehr nutzbar zu machen.

Leider kommt Deutschland, seit Jahrhunderten zersplittert und machtlos, nachdem es ihm endlich gelungen durch wunderbare Fügungen die ihm gebührende Stellung wieder zu erlangen, zu spät, um ohne Weiteres eigene Colonien zu erwerben.

Es ist müßig, darüber zu planen, was und wie es gekommen wäre, wenn Preußen die an der Küste El-Mina vom großen Kurfürsten in einem kühnen Anlaufe gegründete Colonie behalten hätte; jedenfalls aber gereicht es dem Andenken jenes ausgezeichneten Fürsten zu hohem Ruhme, in so früher Zeit, da im eigenen, an den Nachwehen des Dreißigjährigen, wie des Schwedenkrieges, leidenden Reiche noch Alles zu thun war, die Wichtigkeit eigener Handels-Stationen und Factoreien mit scharfem Blick erkannt zu haben, und bleibt es ewig zu bedauern, daß es die Kräfte des kleinen Staates in der Folge nicht erlaubten, diese erste überseeische Colonie unter deutscher Flagge zu behaupten.[1]


Anna Ottendorfer.

Deutsch-amerikanisches Frauenbild von Th. Herm. Lange.

Am Nachmittage des 4. April bewegte sich ein Trauerzug in New-York von Nr. 7 Ost 17. Straße zunächst nach Union Square, dann die vierte Avenue hinab bis zur Bowery und durch die Centrestreet und über die Hängebrücke hinüber nach Brooklyn dem Greenwood-Friedhofe zu. Es war die Leiche einer Frau, welche als arme und völlig mittellose deutsche Einwanderin im Jahre 1839 hier landete und an deren Sarge nunmehr Exminister Schurz, Oberst Richard M. Hoe, Supremecourt-Richter Charles P. Daly und andere hervorragende Bürger als Bahrtuchträger fungirten. Ein echter Frühlingstag war hereingebrochen, den man um so freudiger begrüßte, als Orkane, Schneestürme und Regengüsse seit Ende März abwechselnd gewüthet hatten. Tausende gaben der Verblichenen das letzte Geleit, Hunderttausende standen auf den Plätzen und an den Straßenecken, welche der imposante Conduct passirte.

Schon seit zwei Tagen wußte es jeder Deutsch-Amerikaner von der Küste des Atlantischen Meeres bis hinüber zu den Gestaden des Stillen Oceans, daß seine größte Landsmännin, daß die beliebteste Frau der Vereinigten Staaten gestorben war.

Als ich am Morgen des 2. April wie gewöhnlich von Gree-Point mit dem „Ferry-Boote“ nach New-York hinüberfuhr, standen neben mir zwei einfach, aber sauber gekleidete ältliche Arbeiterinnen. „Ich kannte sie schon vor mehr als vierzig Jahren, als sie unten kaum ausgeschifft war und noch nicht einmal zwanzig [303] Thaler ihr Eigen nennen konnte,“ sagte die eine derselben, indem sie mit der Hand in der Richtung nach Castle Garden zeigte.

„Ja,“ erwiderte die Andere, „damals mag es ihr oft recht trüb gegangen sein, selbst für fremde Familien mußte sie bisweilen waschen und nähen …“

Eine halbe Stunde später befand ich mich an „City Hall“ in New-York. Von einem der stolzesten Paläste, die diesen Platz, den commerciellen Brennpunkt der Millionenstadt, krönen – von dem Thurme des Staatszeitung-Gebäudes herab wehte das Sternenbanner halbmast als Trauerflagge, denn die Eigenthümerin der genannten Zeitung, Frau Anna Ottendorfer, war den Abend zuvor in einem Alter von neunundsechszig Jähren verschieden. Vor wenig mehr denn drei Decennien kämpfte Anna Ottendorfer noch den schweren Kampf um’s Dasein. Mit Sorgen stand sie am frühen Morgen auf, mit Sorgen ging sie Abends zur Ruhe. Aber als sie starb, da weinten Tausende und Abertausende, denn die Helferin der Bedrängten war nicht mehr, die Frau hatte ihre irdische Laufbahn beendet, welche allein im Jahre 1882 außer zahlreichen anderen Spenden 350,000 Mark für das deutsche Hospital gab, um eine eigene Abtheilung zur ausschließlichen Aufnahme von weiblichen Kranken errichten zu lassen. Und doch hatte Anna Ottendorfer, die begeistertste Vorkämpferin des Deutschthums in der Union, erst das Jahr zuvor, in dem ihr Lieblingssohn Hermann in blühendster Jugendkraft vom Tode dahingerafft worden war, nicht weniger als 220,000 Mark als Fonds für deutsche Schulen und das deutsche Lehrerseminar in Milwaukee gestiftet. Und vor acht Jahren (1873), als sie ihre erstgeborene Tochter Isabella verlor, schuf sie mit einem Kostenaufwande von zunächst 130,000 Mark die „Isabella-Heimath“ in Astoria, zur Unterkunft betagter Frauen bestimmt, die ohne Familie und Freunde in der Welt hülflos dastehen.

Trotz alledem waren diese hochherzigen Thaten nur die letzten Glieder einer Kette des Wohlthuns und der aufopferndsten Mildthätigkeit, die bis etwa 1859 zurückreicht. Denn erst vor fünfundzwanzig Jahren war aus der armen Schriftsetzersfrau eine mehrfache Millionärin geworden, die Besitzerin einer der größten täglichen deutschen Zeitungen nicht nur Amerikas, sondern überhaupt auf beiden Continenten.

Anna Ottendorfer war von armer Familie zu Würzburg in Baiern geboren. Noch vor ihrer Uebersiedelung nach Amerika heirathete sie einen Buchdrucker Namens Uhl, mit dem sie sich 1839 in New-York niederließ. Drüben in Deutschland war es dem jungen Ehepaare recht schwer geworden, sich das Nöthige zum Lebensunterhalte zu erwerben, und die ersten Jahre wollte es in dem gepriesenen Amerika auch nicht besser gehen. Doch wenn auch der Gatte Uhl bisweilen den Muth verlor, die Frau Uhl ließ ihn nicht sinken. Sie führte den Haushalt so sparsam wie möglich; sie las Correcturen, sie arbeitete abwechselnd in fremden Häusern und 1844 konnten die jungen Leute eine kleine Buchdruckerei in Nr. 11 Frankfortstreet kaufen. Das Geschäft hob sich rasch, die junge neunundzwanzigjährige Frau war unermüdlich in demselben thätig, und wieder ein Jahr später erstand das strebsame Ehepaar die „New-Yorker Staatszeitung“. Damals war dieses Preßorgan nur ein Wochenblättchen von sehr geringer Bedeutung, in Format und Ausstattung den kleinen preußischen „Kreisblättern“ sehr ähnlich, wie sie noch heutzutage an der deutsch-russischen Grenze in den Provinzen Posen, Schlesien etc. angetroffen werden.

„Die ‚Staatszeitung‘,“ so sagte mir einmal Frau Ottendorfer lächelnd, „hatte auch damals schon Abonnenten, aber ‚die geehrten Leser‘ zahlten schlecht oder gar nicht. Wir hatten auch Annoncen,“ fuhr die edle Verblichene fort, „aber wir nahmen sie meist unentgeltlich von unsern Freunden auf. Unser Schuhmacher lieferte meinem Manne ein paar Stiefeln, die dieser nicht zu bezahlen brauchte, wogegen er gezwungen war, dem Handwerker ein Vierteljahr lang ein Gratis-Inserat in unserer Zeitung zu gestatten. In ähnlicher Weise bezogen wir unsere Waaren vom Grocer (Specereienhändler), vom Schneider etc. Das waren ganz dieselben Zustände, wie man sie noch heute in kleinen westlichen, soeben erst gegründeten Städten bei neuen Zeitungen vorfinden kann.“

Aber bereits 1846 gestalteten Herr und Frau Uhl ihr „Wochenblättchen“ zu einer täglichen Zeitung und führten dasselbe bei stets wachsendem Erfolge gemeinschaftlich bis zum Jahre 1852 fort. Da starb Jacob Uhl und hinterließ seine Frau als Wittwe mit sechs Kindern. Der plötzlich Alleinstehenden wurden höchst vortheilhafte Anerbietungen im Falle des Verkaufes ihrer Zeitung gemacht, welche die meisten Frauen unbedingt angenommen hätten. Nicht so die Wittwe Jacob Uhl’s. Ihrem Scharfblicke entzog sich die große Zukunft des deutschen Elements in den Vereinigten Staaten nicht, und sie fühlte die Fähigkeit in sich, das Ihrige zur Erhaltung und zum Wachsthum des Blattes beizutragen, das sich als Organ jenes Elements erst zu entfalten begonnen hatte. Um diese Zeit entwickelte Frau Ottendorfer (damals eigentlich immer noch Frau Uhl) eine Thätigkeit, die ihre Umgebung in’s höchste Erstaunen versetzte. Von früh bis in die Nacht hinein war sie auf dem Platze und überwachte alle Zweige des sich ständig vergrößernden Geschäftes. Die Einnahmen desselben verwandte sie auf Verbesserungen aller Art, und hierbei bewährte sich vornehmlich ihre Einsicht und ihr Unternehmungsgeist. Zwei wichtige Schritte, die von großem Einfluß auf das Emporkommen der „Staatszeitung“ waren, erfolgten in der Zeit, als Anna Ottendorfer als Herausgeberin waltete: der Beitritt zur „associirten Presse“ (1854) und die Errichtung eines eigenen Zeitungspalastes (1858). Die Einweihung dieses Gebäudes ist bis zu ihrem Tode eine ihrer Lieblingserinnerungen geblieben. Es gipfelte darin der Erfolg ihrer persönlichen Bemühungen um den Aufschwung der „Staatszeitung“.

Ein Jahr später trat sie die Leitung an Oswald Ottendorfer ab, den sie im Januar 1859 geheirathet hatte und der seit einer Reihe von Jahren schon als Redacteur bei ihr beschäftigt gewesen war. Ottendorfer, ein ehemaliger österreichischer Officier und späterer Journalist, war 1848 nach Amerika gekommen. Dennoch nahm sie bis zum October 1881 den regsten Antheil an der geschäftlichen Leitung der „Staatszeitung“, und erst als ihre Leiden ihr eine solche Wirksamkeit nicht mehr gestatteten, gab sie den Platz an dem Pulte auf, den sie über dreißig Jahre lang eingenommen.

Wahr und ergreifend sagte an ihrem Sarge Chefredacteur Dr. Paul Loeser:

„… … Sie besaß vor Allem jenes tiefinnige Gemüth, das wir für unsere deutschen Frauen, gewiß nicht mit Unrecht, vorzugsweise beanspruchen; dann den ernsten Trieb, mitzuschaffen an der Entwickelung der menschlichen Gesellschaft. In dieser Beziehung gehörte sie entschieden zu den Vorkämpferinnen der Frauenrechte, so widerlich ihr die Ausdehnung der Ansprüche von Frauen auf Rechte und Pflichten war, deren Erfüllung sie physisch nicht gewachsen sein können. Sie ist trotz ihrer exceptionellen Stellung niemals aus der Sphäre der edelsten Weiblichkeit herausgetreten und wußte den Muth, mit dem sie die Stelle des ihr durch den Tod entrissenen ersten Gatten einnahm und dessen eben erst begonnenes Werk fortsetzte, mit der zärtlichsten Mutterliebe und den wärmsten Empfindungen, mit denen ein liebevolles Frauenherz in die Sorgen und Freuden des Familienlebens eingreift, wohl zu vereinigen. Sie hat ihr reiches Theil an diesen Sorgen und Freuden erlebt. Von den sechs Kindern, die sie ihrem ersten Gatten geboren, überleben sie vier in den glücklichsten Verhältnissen: ein Sohn und drei Töchter, welche letzteren ihr eine muntere Enkelschaar zubrachten, die, nebst den Kindern des ihr im Tode vorausgegangenen ältesten Sohnes, zur Erheiteruug ihres Lebensabendes beitrug .... So ist denn die in Hinsicht auf ihre Schicksale, ihr Wirken und Walten bedeutendste deutsche Frau in den Vereinigten Staaten uns für immer entrissen worden. Sie ist in dem Lande, das ihr eine so große Lebensstellung bot, stets eine deutsche Frau geblieben, wenn sie auch eine warme amerikanische Patriotin war. Sie war durchdrungen von der Zukunft des deutschen Elements in unserem Lande und in manchen Punkten, z. B. hinsichtlich der Erhaltung der deutschen Sprache, geradezu eine Enthusiastin.……“

Jetzt hat sich die Erde über dem geschlossen, was sterblich war an Anna Ottendorfer. Ihr Leben aber möge den Hunderttausenden, welche alljährlich europamüde die neue Welt betreten, gewöhnlich mit einem Herzen voll von Hoffnungen und einem Beutel leer an Geld – ein Evangelium und eine Gewißheit sein, daß nur ernste Arbeit, gepaart mit klugem Sinn, Rechtschaffenheit und Sparsamkeit, in dieser Republik zu Wohlstand und Reichthum führen können.




[304]

Der Maibaum.

Bilder aus dem steirischen Volksleben von P. K. Rosegger.


[„]Bauer,“ sagt der Kleinhäusler Poldel, „was kostet der Baum, der oben im Schachen steht, wo sich die Wege kreuzen – der junge hochaufgeschossene Fichtenbaum?“

„An dem das Vogelnest ist?“ entgegnet der Bauer.

„Schau, Bauer, hast Du ihn schon so genau beguckt?“

„Freilich, und mir scheint, Du hast’s auch gethan, Poldel. Vielleicht nimmst einen Andern.“

„Ich brauche einen, der gut steht.“

„Eh, das weiß ich, daß Du einen solchen brauchst. Für Welche denn, wenn man fragen darf?“

„Werden wir handelseins, Bauer, so sage ich Dir’s. Was das Bezahlen anlangt: einen Tag zum Kornschneiden hast mich, im Sommer wenn’s zeitig ist.“

„Eine Red’! Poldel, der Baum gehört Dein. Für meine Dreifaltigkeit thut’s auch ein anderer.“

So wird’s ausgemacht zwischen dem Großbauer und dem Kleinhäusler. Der Großbauer ist diesem weit über, an Bäumen und an Jahren. Er denkt nicht mehr dran, einem Dirndl den Maibaum zu setzen, er wendet seine Inbrunst bereits einem Andern zu und simulirt, wie er am ersten Maitage dem lieben Gott eine Aufmerksamkeit erweisen werde dafür, daß er es wieder Frühling werden lassen, daß er das Korn, welches im vorigen Herbst in die Erde gelegt wurde, wieder aus dem Grabe ruft, und daß er den Bauer diese erfreuliche Zeit noch einmal ließ erleben. Vor dem Hofe auf freiem Anger steht eine kleine Capelle mit dem Bildniß der heiligen Dreifaltigkeit. Der Bauer wird im Walde einen jungen schlanken Baum schlachten, wird ihn entrinden bis an den Wipfel, an diesem die grünen Zweige schmücken mit bunten Bändern und rothen Rosen aus Papier, und wird diesen Baum an der Dreifaltigkeits-Capelle aufrichten, daß es ein öffentliches Dankopfer sei, oder daß – wie einmal der Hegel-Natz so unziemlich gesagt hat – die Leute sehen: der Großbauer bleibe dem Herrgott nichts schuldig und er bezahle den schönen Mai mit dem noch schöneren Maibaum. Denn um die künstlichen Blumen und Bänder ist letzterer ersterem „über“.

Dieser Maihaum braucht das Tageslicht nicht zu scheuen; am Vorabende des ersten Mai wird er gelassen und sorgfältig aufgestellt, und setzt’s für die Arbeiter hernach ein gutes Vesperbrod. Und wenn dann in der Dämmerung die Fledermäuse hin- und herzufahren beginnen, sehen sie den Stamm, der so weiß ist, daß er ihren schwachen Augen weh thut. Also wär’s, wenn die Menschen Mai machen müßten: lauter kahle, trockene Stäbe, lauter dürren, buntbestrichenen Flieder! Aber den lieben Gott freut der gute Wille doch, und reicher und gewaltiger an Schönheit und süßer Pracht läßt er den Lenz entstehen in den Thälern und auf den Bergen.

Jetzt aber, der Kleinhäusler Poldel, der muntere lebfrische Bursche, der giebt seinem Maibaum eine andere Bedeutung und einen anderen Boden. Sein Maibaum muß wachsen über Nacht, wie Pilze wachsen nach einem Regen; keinen Spatenstich darf man hören, ohne alles Geräusch muß der schwere schlanke Stamm emporgehoben und in die Grube gesenkt werden. Im Rübelhof ist sie daheim, die Kleine! die Liebe! Der Poldel ist schon so weit mit ihr in Richtigkeit, nur will sie’s immer noch nicht recht glauben, daß es sein Ernst ist. Uebermüthige Burschen machen oft Späße mit solchen Dingen, und Mädchen, die drauf gehen, werden ausgelacht – und oft mehr als das.

Da kommt der erste Mai und mit ihm ein Landesbrauch, der dem Poldel Gelegenheit giebt, es öffentlich auszurufen: Er freit das Dirndl im Rübelhofe!

Im Walde oben, wo der Baum gefällt worden, wird er auch entschält – Alles ganz heimlich – nur der grüne Wipfel mit seinen weichen Zweiglein und Kreuzlein bleibt gar sorgfältig geschont und hat sich der Poldel viel Tabakgeld kosten lassen, um ihn mit rothen und blauen Seidenbändern zu schmücken, vielleicht noch ein Herz oder einen Reiter aus Lebkuchen oder dergleichen hinaufzuhängen. Beim Entschälen des Schaftes wird geachtet, daß hoch oben ein paar Rindenkränze dran bleiben, die wie Kronen gezackt werden.

Die Cameraden sind bestellt, und kommt die Nacht, so tragen sie diesen Baum hinab in das Thal, und am Rübelhofe, gegenüber dem Kammerfenster des Dirndl’s wird er aufgestellt. – Im Hause schläft Alles; der Kettenhund ist bestochen, die Arbeit wird mit Mühe vollbracht. Oft geräth es nicht, der Baum hängt, hängt nach einer Seite – das ist des Teufels. Noch öfter steht er gerade empor zum Himmel, und das ist – Gottlob – beim Poldel der Fall.

Nun – die Arbeit gethan – wird ein wenig geminnt. Der Bursche stellt sich an’s Fensterlein und macht mit halblautem Geflüster seinen Spruch:

„Mein Herz und mein Sinn
Ist im Kamerlein drin,
Wia stell’ ih’s denn an,
Daß ih nach eini kann?“

Junges Blut hat guten Schlaf, aber derlei weckt es doch. Nur ist das Dirndl im Rübelhof so schlau und meldet sich nicht, denn sie will noch mehr so Sprüchlein hören. Daher fährt er fort:

„Du herzi liabs Schatzerl,
Du Himelschlüssl,
Steh’ auf und mach auf
A kloanwinzigs Bissl.“

Inwendig ist ihr schon über die Maßen heiß, nach außen bewahrt sie immer noch die Ruhe.

Da singt er:

„Dirndl, bist stulz
Oder kenst mih nit,
Oder is däs
’s recht Fensterl nit?“

Jetzt giebt’s für sie kein Halten mehr, denn das letzte Liedel ist voll von Irrthümern. Sie kennt ihn recht gut und ist vor ihm auch nicht stolz, daher ist es wohl wahrlich das rechte Fensterl. Da giebt’s kein Halten. Ein klein wenig thut sie den Schuber auf und flüstert heraus:

„Ih bin nit stulz
Ih ken dih wul,
Du bist da Bua,
Der kema sul.“

Weiter zu horchen geziemt uns nicht. Es muß uns genügen zu wissen, daß in stiller Nacht der Maibanm seine Weihe erhält. Und was die Nacht huldreich verhüllte, der Maimorgen macht es freudig offenbär. Als das Dirndl das Fenster aufthut, damit die Mailuft hereinkann – deull Alles trachtet an diesem Morgen der Frische zu, „Mailuft schöpfen! Mailuft schöpfen!“ – da sieht sie’s: vor dem Fenster steht schlank und blank in der hellen Sonne das Ausrufungszeichen der Liebe!

[305]

Maibaumsetzen in Steiermark.
Originalzeichnung von Fritz Bergen.

[306] Was sagen die Leute dazu? – Schau, schau! sagen die Leute dazu, und das ist sehr viel gesagt. Der Vater, die Mutter lassen ihr Töchterlein rufen.

„Vater, vielleicht hat’s der Bruder gethan, er hat mich gern.“

„Der Bruder, mein Kind, der hat das nicht gethan. Schau hinüber dort an die Berglehne, vor dem Lehmerhof steht auch ein weißer Stamm. Das hat Dein Bruder gethan.“

„Mutter, so haben sie es unserer Mägd gethan.“

„Leugne es nicht, Kind. Wenn’s sein Ernst ist! Wir können es uns ja wohl denken, wer Dir den Maibaum gebracht hat. Aber sag’ nicht zu früh ja. Laß’ ihn neunmal fragen, bis Du ja sagst. Im Ehestand kommt eine Zeit, wo er Dir das vorzeitige Ja vorhalten wird. Laß’ ihn neunmal fragen, damit Du ihm ’s vorhalten kannst.“

Das thut sie. Schon am nächsten Sonnabend kommt er und frägt sie neunmal rasch hinter einander. Nach dem neunten Mal sagt sie ebenso rasch: ja. Der Vogel, der oben im Wald sein Nest gebaut, hat den schlanken Baum nicht vergessen, er muß ihn wohl noch am Wipfel erkennen, denn er fliegt um den Maibaum, daß seine Flügel an die zitternden Bänder schlagen ...

Wenn ihr, liebe Freunde, im Frühsommer durch’s schöne steierische Land fahret, so seht ihr in den Dörfern die weißen Schafte mit den buschigen Wipfeln hoch aufragen über die Dächer. Ihr wisset nun, daß sie entweder frommen Sinn bezeigen oder helles Liebesglück bedeuten. – Anch die Wirthshäuser stellen mitunter Maibäume auf, um Gäste herbeizulocken. In einzelnen Gegenden pflegt man mit Wein gefüllte, gut verkorkte Flaschen an den Wipfel zu hängen, die dann im Frühherbst, wenn der Baum umgelegt wird, ausgetrunken werden sollen. Solcher Trunk ist für allerlei Herzweh gut. Manchmal sind auch schlimme Sachen an dem Wipfel, Sachen zu Hohn und Spott, denn so ein Maibaum verdankt seinen Ursprung mitunter der Eitelkeit, der Eifersucht, der Tücke etc.; das Bauernherz hat mehr Kammern als vier.

An Maibäumen ist schon manche fröhliche und manche tragische Dorfgeschichte gewachsen. Von schlimmer Bedeutung ist ein verstümmelter Maibaum. Es geschieht oft, daß er schon in der ersten Nacht, oder in einer späteren – denn er steht über den Hochsommer hinein – von boshafter Hand, zumeist aus Eifersucht, beschädigt wird. Da hängt er am Morgen entweder nach einer Seite hin – schief und quer, wie ein Strich durch die Rechnung, oder der weiße Stamm ist beklext, es flattern an ihm schmutzige Fetzen, oder er ist gar aus seinen Grundfesten gehoben, auf den Boden hingeworfen worden, und sein Wipfel ist zerzaust, geplündert, ist vielleicht vom Stamme getrennt, auf den Dünghaufen hingepflanzt und geziert mit zweideutigen Symbolen. Und der Baum, der von einem lieben Burschen dem Dirndl zur Ehre aufgestellt worden, wird nun ihr zum Schimpf, der nimmer vergeht. – „Ei schau! Ei guck! Das ist Die mit dem verstümmelten Maibaum!“ Das Wort verfolgt sie so lange, bis sie sich in die Arme des Ehemanns zu retten vermag. Nach Einer mit verstümmeltem Maibaume ist aber keine große Nachfrage; der ursprüngliche Geliebte wird nachdenklich und argwöhnisch. „Ganz ohne Grund kann’s doch nit sein! Es muß was dahinter stecken!“ Wenn’s auch noch zur Heirath kommt, die reinen Freuden sind dahin. Und so braucht man gar nicht abergläubisch zu sein, um an der Verstümmelung eines Maibaums schlimme Vorbedeutung zu sehen.

Ich weiß etwas von zwei Männern. Die gingen in einer Nacht neben einander über den Feldweg. Der Eine war groß, hatte übermäßig breite Schultern, der Kopf, auf dessen Nacken ein zerschlissener Hut saß, war stark nach vorn eingeknickt. Er hatte eine scharfkrumme pfusternde Nase und unter derselben einen buschigen Schnurrbart, der in der Nacht schwarz, beim Tage aber grau war. Er hatte nur noch das rechte Auge, das linke mußte er einst in seiner Jugend der Herzliebsten opfern, oder vielmehr dem wüthigen Nebenbuhler, der es ihm bei einer Rauferei aus der Höhle schlug. Das war der Holzknecht-Werfel.

Der Andere war ein schlankes behendes Bürschchen, aufrecht wie ein Kerzlein, hatte den halb städtischen Hut tief in die Stirn gedrückt und machte zwei schlenkernde Schritte, so oft der Große mit seinen krummen, hageren Beinen und mit Stütze des Stockes einen schwerfälligen Schritt that. Der Kleine war der Schuster-Sydel.

Sie waren am Kreuzwege zusammengetroffen.

„Schuster-Sydel!“ sagte der Holzknecht, „wo gehst denn heut’ noch hin – so spat?“

„Ich hab’ Dich auch nit gefragt, wo Du hingehst,“ antwortete der Andere.

Sie gingen neben einander, und so oft sie an eine Wegzweigung kamen, hoffte Jeder, der Andere würde abbiegen. Aber sie gingen nicht aus einander, sie hatten den gleichen Weg, und der führte sie zum Kogelhof.

„Bist jetzt da daheim?“ fragte der Schuster.

„Bist Du jetzt da daheim?“ fragte der Holzknecht.

„Bei der Nacht brauch’ ich keinen Schatten,“ sagte der Schuster.

„Hab’ ich Dich gebeten, daß Du neben mir dahergehen sollst?“

Beide blieben stehen. Sie standen unweit dem Kammerfenster der schönen Haustochter Thrimel.

„Ich glaube gar, der alte Schragen will auch noch zum Fenster!“ knurrte der Schuster.

„Schenirt Dich das? Mich nit, und ich denk’, sie auch nit.“

„Du Werfel! Bei dem Fenster hast nichts zu thun, das sag’ ich Dir!“

„Höllsaggra!“ fluchte der Holzknecht und schwang seinen Stock, „ich will Dir weiterhelfen!“

Im selben Augenblicke ertönte vom Hofe her eine derbe Stimme:

„Wart’s, Ihr Kater, Ihr verliebten, ich will Euch Sauborsten in die Haut schuissen!“

Die beiden Männer stoben aus einander, und nun sah man’s, wie flink auch der Werfel noch laufen konnte.

Die Thrimel weinte die halbe Nacht darüber, daß der Vater den Sydel verscheucht hatte, dessen Gasselsprüchen sie so gerne lauschen mochte. –

Einer der nächsten Tage brachte den Mai. Als die Thrimel ihre blauen Augen aufschlug, stand draußen vor dem Fenster im goldenen Morgensonnenschein ein Maibaum.

Sie erschrickt in heißer Freude; der ist vom Sydel. Aber geht denn ein Sturmwind, daß der Baum so zittert und wankt? Sie eilt ans Fenster, da sieht sie es, am Fuße des Maibaums ringen zwei Männer. Der Sydel und der alte Werfel. Den Baum haben sie in der Mitte und ringen mit verbissenen Flüchen. Der Werfel will den Stamm aus der Erde heben, der Andere sucht ihn zu halten, zu schützen. Aber der Holzknecht weiß besser umzugehen mit den Bäumen, als der Schuster – der Stamm hebt sich, noch ein Ruck! er wankt, neigt sich, fällt und reißt die beiden Kämpfenden mit zu Boden. – Ein dumpfer Schrei, ein Blutstrom aus dem Munde des Werfel – der Baum ist ihm auf die Brust gefallen.

Die Leute eilen jammernd zusammen. Die Thrimel stürzt hin auf den Sterbenden, herzt ihn, küßt ihn, als wäre es der Andere.

[307] „Ich habe genug,“ stöhnte der Werfel, „Thrinel, dieses Blut, das ist ein schlimmes Blut gewesen. Legt’s mich tief in die Erden, daß ich die Weiber in Ruhe laß. Thrinel, geh’ zum Andern, der ist noch gesund.“ –

Vor wenigen Jahren hat sich das zugetragen in einem Hochthale der Steiermark. Der Schuster wollte die Bauerstochter hierauf zum Weibe haben, sie sagte:

„Ich bin Dir nicht feind, Sydel, aber ich nehme Dich nicht. Der Werfel thäte zwischen uns stehen ...“

So hatte sie der Alte herumgekriegt. Einen, der ihretwegen lebt, thatet und leidet, können die Weiber vergessen, aber Einen, der ihretwegen stirbt, den vergessen sie nicht. Frischt schon nicht immer die Liebe das Gedenken auf, so thut’s doch die Eitelkeit gewiß. –

Es giebt Leute, denen die Liebe ohne öffentliches Ausrufungszeichen besser behagt.

„So warm is ka Feuer,
Ka Gluath is so hoaß,
As wia hoamliche Liab,
Von der Neamand was woaß.“

Oder:

„Wia stiller die Nocht,
Um so schöner sein d’Stern,
Wia hoamlicha d’Liab,
Desto mehr hab’ ih’s gern.

Ih thua dih wohl liabn,
Aba sagn därfst es nit,
Wan’s d’Leut amal wissn,
Nachher mag ih dih nit.“

Für diese Art der Liebe ist der Maibaum nichts, sie hat nicht die Wege und nicht die Absicht, den Priester am Altare in ihre Sache dreinreden zu lassen. Ein Maisträußlein von Veilchen und Rosenknospen, das in heimlicher Nacht der Bursche der Auserwählten an’s Fensterlein steckt, hat für Manche mehr Anwerth, als der hochragende weiße Baum, aber das heimliche Sträußchen – ich möchte es trotzdem der Jungfrau nicht rathen – es ist ein gefährlich Ding. Aus dem Maibaume kann man Brautstäbe schnitzen, wie solche früher als Zeichen der Würde des Ehestandes getragen worden sind. Der Strauß welkt aber, und wenn man seine dürren Blätter in’s Gebetbuch legt und sie in späteren Tagen wieder ansieht, so muß man dabei weinen. –

Ein junger Bauerndichter hat einst seiner Liebsten den Maibaum unter Couvert geschickt:

„Der Mai, der schön Mai
Is erfreuliche Zeit,
Is die ganz Welt voll Liab
Und voll Lustbarkeit.

Im Wasserl drein glanzt’s
Und in Lüften is ’s z’hörn,
Auf’m Bamerl steht’s g’schriebn,
Daß Du mein sollst wern.


Es sung schon das G’sangl,
Es sung schon dä Weis
Der Adam und d’Eva
Im Paradeis.“


Dieser Maibaum oder Maistrauß ist bis heute noch nicht verdorrt; der Poet hat die Braut zum rosengeschmückten Altare und von demselben in sein Haus geführt. Das Haus wird beschützt von einem stattlichen Fichtenbaume, der im Sommer die Blitze wehrt, im Winter die Stürme, und im Frühling ein grünender Tummelplatz ist all den munteren, jubelnden Vöglein, die das stille häusliche Glück hell hinausschmettern unter dem blauenden Himmel über die blühende Erde. Ist er euch recht, dieser Blick auf das aus der Mode gekommene Eheglück? Ich sage euch das: der wahre Liebes-Mai unseres Lebens liegt in der Ehe. Alles Andere ist – April – !


Blätter und Blüthen.


Ein Liebling der Jugend. Die Zeit ist wieder einmal da, in welcher der summende Frühlingsbote, der Maikäfer, die Lüfte durchsaust. Er ist ein bevorzugter Liebling der Jugend, die ihn gern auf den Finger setzt und dann zum Auffliegen auffordert, indem sie singt:

„Maikäfer, flieg’,
Dein Vater ist im Krieg,
Deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg’!“

Was haben diese Worte wohl für eine Bedeutung? Eine Antwort hierauf ist nicht leicht zu geben, denn die Kinderreime enthalten überhaupt nicht selten noch ziemlich unaufgeklärte mythische Elemente; aber es läßt sich in diesem Fall eine Erklärung versuchen. Wie der Storch, so wurde auch der Käfer als der Seelenbringer der Kinder angesehen, und zwar besonders der Marienkäfer (Coccinella). Ehedem der Göttin Frouwa, Fro’s Schwester, der Göttin der heiteren Lust, geheiligt, ward das Thierchen, da Frouwa vielfach mit der Göttin Frigga zusammenfällt, Frigjehönna genannt und kam später in den Dienst der Jungfrau Maria, woher es nun seine zahlreichen Namen hat. In Sachsen heißt es bei Dresden Herrgottsschäfchen, bei Leipzig Gotteskühchen, um Halberstadt Marihöne (Marienhuhn) oder Muttergotteslämmchen, in Westfalen Hiärguatshainken (Herrgottshühnchen) oder Sunnenkieken (Sonnenkühchen), in Schwaben Frauenkühli etc. Nach dem Glauben des Volks wohnte der Käfer bei der Göttin Frigga droben im lichten Gewässer oder im Kinderbrunnen. Man darf ihn nicht tödten, sondern muß ihn, wie den Maikäfer, auf den Zeigefinger setzen, unter einem Reimspruch bis an dessen Spitze hinauflaufen und fliegen lassen: dann holt er gutes Wetter oder ein kleines Kind. Auch der Storch holte die Kinder ursprünglich aus dem Wolkensee, von welchem die irdischen Seen und Brunnen nur Abbilder sind, in denen sich die Wolken spiegeln. Dem Marienkäferchen rufen die Kinder in Franken zu:

„Herrgottsvogella, flieg auf,
Flieg mir in den Himmel ’nauf,
Bring a goldis Schüssela ’runter,
Und a goldis Wickelkindla drunter.“

In Pommerellen aber singen sie:

„Herrgottspferdchen (-Kuhchen) fliege,
Vater ist im Kriege,
Mutter ist in Engelland,
Engelland ist abgebrannt,
Herrgottspferdchen (-Kuhchen) fliege.“

Und im Oldenburg’schen heißt es:

„Sünneküken flieg,
Din Vader is in Krieg,
Din Moder is in Pommerland,
Pommerland is affebrant,
Sünneküken flieg.“

Diese Reimsprüche aus Pommerellen und dem Oldenburg’schen unterscheiden sich, wie ersichtlich, durch fast nichts von dem Spruche, welcher beim Auffliegen des Maikäfers gesungen wird, Marien- und Maikäfer fließen also in einander, und letzterer ist demnach auch wohl, wie jener, Seelenbringer gewesen. Und zwar holten sie die Seelen, wie gesagt, aus Brunnen, Quellen, Teichen, den Ein- und Ausgängen der Unterwelt, aus welcher „Frau Holle“ die Kinderseelen schickt. Frau Holle ist Frigga, die Gemahlin Wuotan’s; im Mai, also in dem Monat, in welchem die verjüngte Natur Früchte ansetzt, vermählt sie sich alljährlich mit ihm auf’s Neue. Der Maikäfer erscheint in demselben Monat und hat von ihm seinen Namen; in ihm gräbt er sich in die Erde und legt Eier. Sollten da nicht unsere Vorfahren, zu deren charakteristischen Eigenschaften ein hervorstechend ausgeprägtes Naturgefühl gehörte, den Maikäfer mit Wuotan und Frigga, Frau Holle, in Beziehung gebracht, ihn zu einem denselben geweihten Wesen gemacht haben? Dann werden auch die angeführten Verse verständlich. Wuotan, der Vater, ist im Kriege und zwar gegen die bösen Nachtgeister, noch heute als „wilder Jäger“ im Kampfe mit den nahenden Winterriesen, wenn er seine herbstlichen Umgänge hält. Dann aber steht das Firmament infolge dieses Krieges in Flammen, also das Reich, in welchem der Seelenbringer, des Käfers Mutter, wohnt. Dieses Seelenreich wird gewöhnlich „Pommerland“ genannt; wie aus dem aus Pommerellen mitgetheilten Reimspruche ersichtlich ist, aber auch [308] „Engelland“. Und das ist jedenfalls die ursprüngliche Bezeichnung. Am lichtvollen Himmel, hinter den Wolken, am Wolkenbrunnen, aber auch bei den Quellen und Brunnen im Innern der Erde (Walhalla und Helheim, Ober- und Unterwelt) dachte man sich dieses Reich der Engel, und zwar als einen prachtvollen Garten, in welchem als bedeutungsvollster der Baum mit den goldenen Aepfeln stand. Er erinnert an das biblische Paradies auf Erden mit dem Baume der Erkenntniß, dessen Frucht im Lateinischen pomum heißt und nach welcher das Engelland später Pommelland, Pömmelland, endlich Pommerland genannt wurde. Damit wäre der von unseren Kindern gesungene Reimspruch vielleicht erklärt. H. S–n.     


C. A. Görner. †. Freund Hein, der Sensenmann, steht im Begriffe, seinen guten Ruf vollständig zu Grunde zu richten. Viel Rühmenswerthes haben die Menschen überhaupt nie von ihm zu erzählen gewußt, aber man mußte ihm wenigstens die Tugend der Unparteilichkeit zugestehen. „Aus allen Kreisen nimmt er seine Opfer, ihm gilt der Bettler gleich dem Edelmann.“ Doch auch dieser Unparteilichkeit scheint er untreu werden zu wollen, denn er hat es neuerdings speciell auf die deutsche Bühne abgesehen, der er in kurzer Zeit eine ganze Reihe ihrer hervorragendsten und bekanntesten Mitglieder geraubt. Die Schauspielkunst hat in den letzten Monaten einen empfindlichen Verlust nach dem andern gehabt; binnen wenigen Monaten Ernestine Wegner, Josephine Gallmeyer, Karl Laroche und nun auch der alte Görner, der norddeutsche Laroche todt! Mit dem alten C. A. Görner, der am 9. April in Hamburg während der Aufführung seines neuesten Lustspiels im Thaliatheater verschied, ist der Nestor der norddeutschen Schauspieler und Bühnenschriftsteller gestorben, denn es sind mehr als sechszig Jahre verflossen, seit er zum ersten Male die Bühne betrat und seit er sein erstes Lustspiel geschrieben. Fast klingt es uns wie ein Märchen, wenn wir lesen, wie der Mann, der noch vor wenigen Wochen als Regisseur und Schriftsteller unermüdlich thätig war, seine künstlerische Anregung durch den Umgang mit Ludwig Devrient gewann[2], wie er als angehender Kunsteleve an einem bitterkalten Februartage des Jahres 1822 zu Fuß von Berlin nach Stettin wanderte, um sich dort bei einer Wochengage von zwei Thalern als „Komödiant“ engagiren zu lassen. Im Jahre 1824 sehen wir ihn schon, einen jugendlichen Impressario von achtzehn Jahren – Görner war am 29. Januar 1806 in Berlin geboren – an der Spitze eines Hoftheaterensembles, wie wir heute sagen würden, nämlich mit der Köthener, vormals herzoglichen Theatertruppe Mitteldeutschland bereisen, bis er in Neustrelitz wieder festes Engagement annahm. Sein Rollenkreis war derselbe wie bei Altmeister Laroche, er umfaßte vorzugsweise Bösewichte und Intriguanten; doch war auch der Nathan eine Glanzleistung Görner’s, und an seinen komischen Genrefiguren, wie Falstaff u. a., konnte man noch in den letzten Jahrzehnten die unverwüstliche Frische des Görner’schen Humors bewundern. Die Eigenthümlichkeit Görner’s als Schauspieler bildete ein kräftiger, aber stets künstlerischer, nie in Naturalismus ausartender Realismus; viele aus feinster Menschenbeobachtung hervorgegangene Züge gaben seinen Leistungen jene vollendete Natürlichkeit und Wahrheitstreue, die ihn zu einem hervorragenden Schauspieler machten.

Als Görner im Jahre 1822 sein erstes Bühnenstück: „Gärtner und Gärtnerin“ schrieb, beherrschte noch die hausbackene Moral und Rührseligkeit der Iffland’schen dramatischen Familiengemälde die Bühne, und man findet bei Görner den Einfluß Iffland’s, später auch den der Birch-Pfeiffer mit Leichtigkeit heraus. Doch traf Görner auch den Ton des modernen Lustspiels mit Glück. Es giebt keine deutsche Bühne, von den ersten Hoftheatern bis herab zu den erbarmungswürdigsten Sommerbühnen, die nicht Görner’s „Geadelten Kaufmann“ zur Aufführung gebracht hätte, und noch heute ist dieses Stück, in welchem der Verfasser das reelle Landvolk der unsoliden Speculation und dem Hochmuthsteufel gegenüberstellt, überall ein gern gesehenes Repertoirestück. Die Zahl der Görner’schen Stücke beläuft sich auf anderthalb Hundert, doch zu den frischen Lorbeeren, die sie ihm eingebracht, hat der goldene Lorbeer sich nicht gesellt; denn als Görner die meisten seiner Bühnenstücke schrieb, war der Begriff der Tantièmen noch nicht erfunden und es existirte noch kein Schutz für das geistige Eigenthum. Eine gesicherte Stellung als Oberregisseur am Hamburger Thaliatheater verschaffte indessen dem greisen Schauspieler und Bühnenschriftsteller einen angenehmen, sorgenlosen Lebensabend, und in dieser Stellung ist C. A. Görner auch gestorben, wie der Soldat auf dem Felde der Ehre, in einer Theaterloge, während der Aufführung seines Schwankes: „Amerikanisch“. Ein tödtlicher Schlaganfall machte dem Leben des um die deutsche Bühne so vielfach verdienten Mannes ein rasches und sanftes Ende. W. H.     

  1. Obiger Aufsatz wurde niedergeschrieben zu einer Zeit, da die Erwerbung von Angra pequena (zu deutsch: kleine Bucht) von Seiten der unternehmenden Bremer Firma Lüderitz weder die heutige Bedeutung erreicht, noch den mächtigen Schutz der deutschen Reichsregierung erlangt hatte – wie dies nun erfreulicher Weise der Fall zu sein scheint. – Aus jener entlegenen südafrikanischen Bucht, die zuerst von portugiesischen Entdeckern angelaufen und getauft worden, weht also die deutsche Tricolore, und wenn es gelingen sollte, den Bestrebungen des deutschen Colonialvereins jene weite Verbreitung und jenen sichern Rückhalt zu geben, den sie in jeder Hinsicht verdienen, so wird sie im Laufe der Zeiten auch von andern Küsten wehen, ein Stolz für unser Volk, ein Hort und eine Stütze für dessen Handel. Der Verfasser. 
  2. Ludwig Devrient, der älteste und hervorragendste von den berühmten Trägern dieses Schauspielernamens, war am 15. December 1784 geboren; sein hundertjähriger Geburtstag fällt mithin in dieses Jahr, ebenso wie der hundertste Geburtstag Karl Theodor von Küstner’s, dem die später erwähnte Einführung des Tantièmenwesens (die Abführung eines gewissen Procentsatzes von den Einnahmen an den Dichter) zu danken ist. Die deutsche Bühne hat alle Ursache, beide Gedenktage nicht gleichgültig vorübergehen zu lassen.

Erstes Geburtstagsfest. (Mit Illustration S. 297.) Ein sonniges Frühlingsbild aus dem Leben eines jungen Menschenkindes, dem auch der Sommer und die späteren Jahreszeiten seines Lebens Glück und Heiterkeit versprechen. Vortrefflich hat es der Künstler verstanden, die Situation in ihrer ganzen lebensvollen Frische zu fassen und wiederzugeben: den heiteren Frohsinn der Geschwister, das stille Glück der Mutter und Großmutter, das neugierige und freudige Staunen der kleinen Besucher und daneben die emsige Geschäftigkeit der Schwester der Hausfrau, die draußen in der Küche sorglich die Gaben für den Geburtstagstisch ordnet und gleichzeitig den kleinen Gratulanten der benachbarten Familien als wohlbekannte freundliche Führerin dient.

Schon einmal hat der Künstler den Lesern der „Gartenlaube“ gezeigt, wie er zu schaffen versteht, und seinem prächtigen Bilde „Ball an Bord“ in Nr. 27 des vorigen Jahrganges reiht sich das „Erste Geburtstagsfest“ ebenbürtig an.


Eine Bitte. Das Loos eines Schriftstellers, welcher nicht für den anlockenden Genuß des lesefreudigen Publicums schreibt, sondern der ernsteren Pflicht lebt, aus den Schätzen der Menschen- und Völkergeschichte belehrende und erhebende geistige Nahrung für die Zeitgenossen zu gewinnen, und der dennoch darauf angewiesen ist, einzig vom Ertrag seiner Feder eine Familie zu erhalten, – dieses Loos kann ohne das geringste Verschulden selbst des fleißigsten und begabtesten Mannes oft ein recht hartes und schweres werden. Haben doch, auch „die Bücher ihre Schicksale“, von denen wieder die der Autoren abhängen. Ein solcher Schriftsteller, der in den Zeiten der Gefahr die deutsche Sache auch auswärts mit aufopferndem Muthe verfochten hat und für dessen hohe Ehrbarkeit und Tüchtigkeit wir einstehen können, steht in diesem Augenblick vor der bittern Nothwendigkeit, laut die bittende Frage aussprechen zu müssen: „Wer hilft mir?“

Unsere Leser und Freunde wissen, daß wir nur in sehr ausgewählten Fällen ihre Theilnahme einem des besten Looses Würdigen, aber vom Glück Verlassenen zuzuwenden bitten. Dies geschieht hiermit wieder einmal, und zwar mit der Besonderheit, daß wir den Namen des Bedrängten zu verschweigen uns gestatten. Dagegen wird die „Gartenlaube“ über alle Spenden in diesen Ehrenopferstock gewissenhaft quittiren.


Allerlei Kurzweil.



Bilder-Räthsel.


Dechiffrir-Aufgabe.

Levisu rilovolero Rulesusosesi visu solevisuleru velosulilebusu Verobesurile.

Visovo sovisesi veleso rolesesi-volesu Ralerileso ravusibu rele-ralosolavo.




Zweisilbiges Räthsel.

Das Ganze sucht das Erste vor Gefahren
Im Kampfe durch das Zweite zu bewahren.




Auflösung des magischen Tableaus: „Die Palette“ in Nr. 17:
Jeder der in der Palette eingesetzten Buchstaben ist durch das über demselben stehende Zeichen symbolisirt. Man braucht daher nur an die Stelle der in den einzelnen Zeichengruppen des Kreises stehenden Zeichen die betreffenden Buchstaben zu setzen und dieselben nach der Anzahl der Zeichen (jede Gruppe für sich) an einander zu reihen, um die Worte zu finden: Ohne Gunst, Kunst umsunst. S. Atanas.     


Kleiner Briefkasten.

E. R. in Köln. Ihren Vorwurf, daß wir das Heine’sche Memoiren-Fragment mit wesentlichen Auslassungen zum Abdruck gebracht, würden Sie wohl nicht erhoben haben, wenn Sie gewußt hätten, daß es nur wenige Zeilen sind, welche wir an einigen Stellen unterdrücken mußten, sicherlich nicht aus falscher Prüderie, sondern weil deren Inhalt uns für ein deutsches Familienblatt nicht geeignet schien.

Herrn Förster Sauerwald zu Beckedorf. 48 Mark, für das Forstwaisenhaus als Strafgelder gesammelt, haben wir erhalten und an die Centralsammelstelle abgeführt.

G. H. in N. Die Holzschnitte können vom Holzstock direct abgedruckt werden; wird mit mehreren Pressen gedruckt, so verwendet man Clichés. – Die älteren Jahrgänge der „Gartenlaube“ 1853 bis 1855 sind nicht mehr vorräthig.

G. G. W. in P. Das Gemälde von Bodenhausen ist eine Personifikation des Märchens.

H. M. in C. Der Maler Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, verfolgte nach seinem Wahlspruche: „Die Zeichnung von Michel Angelo, das Colorit von Tizian“ eine eigene Richtung. In den besten seiner Werke gelang es ihm, die „Großheit“ des florentinischen Stils mit den Vorzügen der venetianischen Schule zu verbinden, in der letzten Zeit erlag er jedoch einem ziemlich entfesselten Naturalismus. Das Monogramm, dessen er sich bedienten ist das folgende: T. t. T.

H. A. in M. Ein schlechter Advocat ist immer noch besser, als ein schlechter Dichter.

„Motto“. Wir haben Ihr Manuscript mit vielem Interesse gelesen, bedauern jedoch, dasselbe nicht drucken zu können, da es für ein populäres Blatt nicht geeignet erscheint.

A. O. in St. Schwindel. Wenden Sie sich an einen tüchtigen Arzt.

H. G. Vor der Pflanze Homeriana haben wir bereits in Nummer 13 des vorigen Jahrgangs gewarnt.

W. M. in Warschau. Nicht geeignet.

A. H. Ungeeignet. Bitten um genaue Adresse.


Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 293. – Die höheren Töchterschulen. Ein Wort für unser Haus. Von Ferdinand Sonnenburg. S. 296. – Ein Straßenbau und die Anlage einer deutschen Colonie in Brasilien. Von F. Keller-Leuzinger. II. S. 299. Mit Illustrationen S. 299, 300, 301 und 302. – Anna Ottendorfer. Deutsch-amerikanisches Frauenbild von Th. Herm. Lange. S. 302. – Der Maibaum. Bilder aus dem steierischen Volksleben von P. K. Rosegger. S. 304. Mit Illustrationen S. 304, 305, 306 und 307. – Blätter und Blüthen: Ein Liebling der Jugend. S. 307. – C. A. Görner. †. S. 306. – Erstes Geburtstagsfest. S. 308. Mit Illustration S. 297. – Eine Bitte. – Allerlei Kurzweil: Bilderräthsel. – Dechifrir-Aufgabe. – Zweisilbiges Räthsel. – Auflösung des magischen Tableaus: „Die Palette“ in Nr. 17. – Kleiner Briefkasten. S. 308.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.