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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[309]

No. 19.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


5.

Das Marktschiff hatte um zwei Uhr Nachmittags die Marina von Capri verlassen und steuerte jetzt mitten im Golfe, – die Kielspitze auf die ferne schimmernden Uferlinien gerichtet, die sich vom Leuchtthurme des Molo in der Richtung von Portici hinziehn. Klar und sonnig lag das unvergleichliche Panorama Neapels vor den Augen der Meerfahrer; ein leichter Wind belebte die azurblaue Fluth und drängte die glänzende Rauchwolke des Vesuv seitwärts, sodaß sie aussah wie eine sturmgebeugte phantastische Pinie.

Zuvorderst auf Deck saßen zwei junge Mädchen, beide in Gedanken versunken und dennoch völlig verschieden im Ausdruck ihrer traumverlornen Gesichter. Die Eine war Maria, die allbewunderte Zingarella; die Andere Giulietta, bei deren Mutter Signore Cesari, der napoletanische Rechtsgelehrte, Wohnung genommen.

Maria schwankte im Ausdruck ihres schönen Gesichtes zwischen freudiger Unruhe und banger Niedergeschlagenheit. Von Zeit zu Zeit grub sich ihr zwischen den Brauen die charakteristische Falte ein, die auf ernstes, alle sonstigen Gedanken verschlingendes Grübeln hinwies. Für die Herrlichkeiten der Gegenwart, für die leuchtende Scenerie des unvergleichlichen Golfes hatte sie kaum einen Blick.

Giulietta inzwischen, sonst die Fröhlichkeit selbst, schien weich und wehmüthig; ihre Augen schimmerten feucht, – und wie sie jetzt nach Capri zurückschaute, stahl sich ihr unter den Wimpern eine rollende Thräne hervor. Trotz dieser Wehmuth machte das Mädchen den Eindruck ruhiger Klarheit und Harmonie; man sah ihr an: was ihr diese Thränen entlockte, war kein herzbewegender Sturm, sondern das mildere Gefühl einer Trauer, die sich verwinden läßt, sobald die Seele sich ernstlich zum Entschlusse ermannt. Ihr hübsches Gesichtchen, sonst unbedeutend, ward durch diese Empfindungen gleichsam geadelt. Und wer nun das Lächeln gewahrte, das ihr nach jenem flüchtigen Aufwallen des Gemüths um den kleinen, rosigen Mund spielte, der mußte sich sagen: Diese Giulietta weiß, was sie will; und mehr noch: was sie will, das ist gut. –

Eine Stunde war vorüber gegangen, ohne daß die Mädchen von einander Notiz genommen. Maria, die später als Giulietta an Bord kam, hatte die ehemalige Gespielin mit jener Zerstreutheit gegrüßt, die Giulietta bereits an ihr kannte, und dann, ihr schräg gegenüber, auf einer roh gezimmerten Holzkiste Platz genommen. Wäre Giulietta auch weniger mit sich selbst beschäftigt gewesen, – schon Maria’s Verschlossenheit würde sie vom Versuch einer Unterhaltung abgeschreckt haben.

Gleichwohl gab sie der Zingarella freundlich Bescheid, als diese nun aufstand und vor sie hintrat mit der plötzlichen Frage:

„Hast Du Geschäfte in Napoli?“

Unvermittelt, hastig und schroff klangen die Worte; sie schienen der Ausfluß des ungestümen Verlangens, so rasch als möglich aus dem Banne der eigenen Gedanken hinauszuflüchten, aus dem Taumel der Träumereien, die ihr Herz pochen und ihr Gehirn schwindeln machten.

„Wenn Du willst, ja,“ versetzte Giulietta. „Du weißt doch, daß mein Bruder jetzt in Salerno zur Schule kommt. Das heißt: nicht, was man so alltäglich unter ‚Schule‘ versteht, wo sie das Alphabet lernen und die Zahlen; das kann er ja längst; sondern allerlei Wissenschaft und die Sprache der Kirche ...“

„Ja wohl, das weiß ich. Ganz Capri hat darüber gestaunt. Was mich betrifft, so freut’s mich von Herzen, daß Euch der Alessandro so einschlägt. Als er damals den Arm brach und schlecht geheilt wurde, da meinten Alle, es sei nun aus mit dem rechten Erwerb; aber ich dachte mir gleich: der Herr Pfarrer versteht sich besser darauf, wenn er sagt, der Junge sei klugen Kopfes, und nicht jeder Sohn eines Fischers brauche Fischer zu werden.“

„Nicht wahr?“

„Aber was soll’s nun mit Deiner Fahrt nach Neapel? Der Weg nach Salerno führt doch über Sorrent.“

„Nach Salerno geh’ ich auch nicht, obwohl’s der Mutter und mir eine rechte Beruhigung gewesen wäre, wenn ich gerade dort was gefunden hätte.“

„Gefunden! Wie so?“

„Ja, verstehst Du denn nicht ...? Die Schule, wo Latein gelehrt wird, kostet ein furchtbares Geld, und da meinte die Mutter, sie könne das Haus mit den Fremden allein besorgen. Ich muß verdienen, Maria, sonst reicht’s nicht aus, – und schon seit Juli haben wir Umschau gehalten. Zuerst in Salerno. Da war Alles besetzt, oder was sich darbot, war so kläglich bezahlt, daß der Ertrag für mich selber nicht zugelangt hätte. Dann in der Hauptstadt. Da hat’s auch Mühe gekostet. Jetzt endlich hat der Agent uns Nachricht gegeben, – ganz plötzlich und da die Stelle mir paßt ...“

„Also ein Dienst ...?“ fragte Maria.

„Im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘, – Strada del Molo,“ gab Giulietta zurück. „Als Cameriera hab’ ich vom Padrone

[310] soviel, wie ich brauche; dazu kommen die Extragelder ... Ja, Zingarella, zum Vergnügen thät’ ich das auch nicht, denn ich liebe die Freiheit wie Du: – aber der liebe Junge geht vor, das ist nun nicht anders, – und wenn die Schwester nicht mal soviel drangeben will für den Bruder, dann wär’s ja mit der Menschheit ein Jammer!“

„Du treue Seele!“ sagte Maria gerührt. „Freilich, wenn der Junge den Arm nicht gebrauchen kann, so ist’s ja wohl Eure Schuldigkeit, daß Ihr seht, wie er weiter kommt.“

„Natürlich! Davon redet man gar nicht! Zudem, Du hast keine Ahnung, wie freudig man sich ius Unleidlichste findet, wenn man sich sagen darf: Es ist zum Besten Derer, die man im Herzen trägt. Siehst Du, anfangs, wenn ich mir vorstellte: so im Gasthaus – jedem Hansnarren, der die Klingel zieht, Rede stehn, und dann für die kleine Münze, die abfällt, schönen Dank sagen, wie die Bettelkinder am Hafen – das war mir schrecklich! Nun aber bin ich schon dran gewöhnt, noch eh’ ich Einzug gehalten, – und ich sage mir: das ist ehrliche Arbeit, so gut wie daheim! Aber nun laß doch hören, Maria – da wir doch mal in’s Plaudern gerathen – was führt denn Dich über den Golf? Du siehst recht darnach ais, als wär’s etwas Großes – so ernst und gedankenvoll! Freilich, Du triffst den Apulier, und das reicht ja schon aus, um Dir den Athem zu nehmen!“

Die Falte zwischen den Brauen Maria’s vertiefte sich. Ein wenig unsicher gab sie der Gespielin Antwort auf ihre Frage.

„Mein Verlobter,“ sagte sie, „hat mir letzthin geschrieben, es sei wahrscheinlich, daß er zu Ende des Monats einen Posten in Frosinone erhielte. Eh’ es dann soweit ist, daß wir heirathen, vergeht wohl der Winter, und da verlangt’s ihn, mich noch einmal zu sehn vor der Abreise.“

„Weßhalb kommt er denn nicht nach Capri?“

„Er war ja vor Kurzem erst da – und jetzt hat er Allerlei vor ... Uebrigens, ob das mit Frosinone was wird, das liegt noch sehr in der Schwebe. Du brauchst’s nicht aller Welt zu erzählen! Hörst Du, Giulietta?“

„Wie werd’ ich denn! Im ‚Goldnen Kreuz‘ bekomm ich so wie so nur Fremde zu sehn! Und wo steigst Du denn ab?“

„Im ‚Leon Bianco‘ an der Via de’ Preti.“

„Wo ist das?“

„An der Grenze des Ostviertels. Ein bescheidnes Albergo, – aber das ‚Goldne Kreuz‘ übersteigt noch vorläufig unsere Verhältnisse.“

Die königliche Stadt mit ihren fünf Castellen rückte näher und näher. Ischia und Procida verschwanden hinter der Spitze des Posilippo. Noch zehn Minuten, und die Anker rasselten über Bord.

Die Zingarella hatte jetzt für Giulietta nur einen letzten flüchtigen Gruß. Am Uferdamme gewahrte sie die hohe Gestalt des Apuliers, schön und gebietend wie je, bleich, aber deshalb nur um so hinreißender. Er winkte ihr zu; er sprang voll Ungeduld in die Barke, die jetzt gerade vom Strand stieß, – unbekümmert um den Widerspruch der beiden zerlumpten Schiffer, die sich auf die Hafenordnung beriefen. Beim Herabsteigen half er seiner Verlobten mit der Ritterlichkeit eines vornehmen Cavaliers, küßte ihr schweigend die Hand und führte sie, als die Barke gelandet war, zu dem Einspänner, den er gemiethet hatte.

Beide kümmerten sich keine Secunde lang um Giulietta, die als eine der Letzten in das menschenüberfüllte Ruderboot sprang, leicht und geschmeidig, wie eine Gazelle, und dann am Ufer zehn Minuten lang mit dem Facchino feilschte, der ihr Gepäck nach dem ‚Goldnen Kreuz‘ bringen sollte.

Das Corricolo setzte sich in Bewegung. Die Zingarella, die seit mehreren Jahren den Strand ihrer heimathlichen Insel nicht verlassen hatte, starrte sprachlos in das bunte Gewühl der prächtigen Uferstraße, in dieses Chaos von rollenden Fuhrwerken und hastenden Menschen. Wie von Dank erfüllt, drückte sie ihrem Salvatore die Hand; es war ihr, als bedeute das ungewohnte Corricolo den Siegeswagen, auf dem der Geliebte sie hinausführen würde an das glorreiche Ziel seiner Pläne. Von sich selbst aus begehrte sie eigentlich Nichts, als die Gemeinschaft mit ihm: so groß jedoch war die Macht, die Salvatore über ihr ganzes Fühlen und Wollen ausübte, daß sie nachgerade mit seinen Augen ins Leben sah und sich für die ungestüme Rastlosigkeit eines Strebens begeisterte, dessen Beweggründe ihr unverständlich und fremd blieben.

Nach einer Weile bog das Corricolo ab. Man durchkreuzte einige Gassen und Gäßchen, und dann den unregelmäßigen freien Platz vor einem altersgrauen Palast, an dessen gothischem Thorweg eine glänzende Equipage hielt.

„Der Palazzo Seiner Eminenz,“ flüsterte Salvatore. „In den Polstern dieser Kalesche ruht sich’s noch etwas bequemer als auf den harten Kissen unseres Corricolo. Kommt Zeit, kommt Rath! Bis dahin aber wollt’ ich meiner Herzallerliebsten doch einen Vorschmack geben von den Genüssen der Gransignori. Traurig genug, daß die Braut Salvatore Padovanino’s in der verstaubten Höhle des ‚Leon Bianco‘ Logis nimmt, anstatt in einem der großen Gasthäuser von Santa Lucia; da hab’ ich’s denn zum wenigsten eingerichtet, daß die wonnige Zingarella nicht zu Fuß gehen mußte!“

Und behaglich aufathmend legte er sich zurück wider die Lehne. Wie allen Südländern, galt ihm das Fahren als der Inbegriff einer wahrhaft lucullischen Lebensführung.

Im „Weißen Löwen“ fand Maria ein besseres Unterkommen, als sie gehofft hatte. Die Padrona zollte der auffälligen Schönheit des jungen Paares unwillkürlich ihren Tribut. Das kleine Zimmer war freilich kahl, die zerbröckelnden Fliesen des Fußbodens hauchten eine kellerartige Dumpfheit aus, und der Kalk an den Wänden splitterte: aber das Ganze war für napoletanische Verhältnisse doch reinlich und ordentlich, und der Imbiß, den die Beiden im Wirthszimmer einnahmen, stand dem nicht nach, was Maria in der Heimath gewöhnt war.

Während sie aßen, ward nur von gleichgültigen Dingen geredet. Salvatore, dem der Verräther Nacosta immer und immer wieder die peinlichste Vorsicht empfohlen, hatte sich das Gelübde geleistet, von Dem, was er mit Maria zu reden hatte, nicht eher anzufangen, bis er sie hinausgeführt hätte auf die einsame Landstraße zwischen Fuorigrotta und Bauli. Hier in Neapel, wo jede Wand ein Spion war, fühlte er sich gedrückt und beängstigt.

Die Villen des Posilipp glänzten im Abendlicht, als die beiden Verliebten über die Chiaja schritten. Arm in Arm betraten sie den schwärzlichen Tunnel – für Maria ein Gegenstand unbehaglich-öder Empfindungen. Das klappernde Geräusch der Wagen und Fußgänger, das in betäubender Dumpfheit an den Felswölbungen widerhallte, wirkte beklemmend; sie schmiegte sich fester an Salvatore, der sich gleichfalls eines sonderbaren Gefühls nicht zu erwehren vermochte. Immer gruft-ähnlicher ward die finstere Umgebung; die vereinzelten Oellampen blendeten, aber erhellten nicht; die vorüberkommenden Menschen sahen aus wie die Schatten von Abgeschiedenen. Da Maria nach einer Weile sich umkehrte, lag der Eingang ebenso wie der Ausgang als ein weißlich blitzender Punkt in unabsehbarer Ferne.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

„Wenn die schmale Oeffnung sich schlösse!“ flüsterte sie. „Wenn der Berg über uns zusammenstürzte!“

Und wie sie das sprach und ihr schönes Haupt zärtlich an die Schulter ihres Geliebten schmiegte, da blieb es unentschieden, ob sie mehr an die Felsmassen des Posilipp oder mehr an den Plan dachte, dessen finstere Irrwege sie mit Salvatore durchwandern sollte. Eine unsägliche Bangigkeit überkam sie, ein heimliches Schaudern, das nicht eher wieder nachließ, bis sie im wachsenden Felsspalt die Häuser von Fuorigrotta erblickte.

Die weite Ebene jenseits des Bergrückens lag bereits im Schatten der ersten Dämmerung, als das Paar die Landstraße nach Bauli betrat. Rechts und links in den Weizen- und Maisfeldern, wo sich die Reben nach alt-römischer Weise von Baum zu Baum rankten, herrschte das tiefste Schweigen. Die ganze langgestreckte Chaussee hinab gewahrte man kein lebendes Wesen. So machten sie nach einigen hundert Schritten Rast auf der Böschung, dicht am Stamm eines der mächtigen Ahornbäume, die hier eine Stunde weit die schönste Allee der campanischen Landschaft bilden, und begannen ihre Besprechung, aller sonstigen Gewohnheit zum Trotz, mit schmerzlichen Seufzern.

Salvatore, von der Stimmung der Zingarella beeinflußt, hatte in dem dumpfigen Tunnel gleichsam einen Vorgeschmack jener Tage und Wochen bekommen, die er auf Pizzo Falcone verbringen würde, und als er sich sagen mußte, daß im Verließ dieser Veste ihm kein so reizendes Haupt an der Schulter lehnen und keine zärtliche [311] Hand die seine ergreifen würde, da verlor er auf Augenblicke die Lust und den Muth, – und die Schattenseiten der so leuchtend gemalten Idee traten zum ersten Mal deutlich in sein Bewußtsein. Auch Maria hatte sich noch nicht völlig erholt. Der Gedanke der Trennung, die Aussicht auf die bevorstehenden Kämpfe und ein leiser Zweifel an dem Gelingen – das Alles kam jetzt zusammen.

Sie bezwang ihre Anwandelungen zuerst. Mit beiden Armen den Geliebten umschlingend, bat sie ihn um genaue Mittheilung alles Dessen, was der Polizei-Aspirant mit ihm geplant hatte.

Salvatore erzählte es ihr der Wahrheit gemäß. Nur den Namen des Mitverschwornen enthielt er ihr vor: er nannte ihn Carlo Grisi. Der Polizei-Aspirant hatte dem leichtbethörten Apulier die dauernde Nothwendigkeit dieser Täuschung glaubhaft gemacht. Gesetzt, man verhöre Maria, so sei es unter allen Umständen besser, wenn der Name Nacosta, der natürlich sofort bei den Verhandlungen genannt werden würde, ihr thatsächlich unbekannt sei. Das erleichtere ihr die Rolle der Unbefangnen.

Maria lauschte mit verhaltenem Athem. Daß Monsignore De Fabris in die verlangte Audienz gewilligt und sich bereit erklärt hatte, das verwegne Project mit Salvatore und dem Polizei-Aspiranten bis in’s Einzelne durchzusprechen – das gab für die Zingarella den Ausschlag. Nun war es ja zweifellos, daß ihr Geliebter nicht nur klug, sondern auch ehrlich und als wackrer Patriot, als gut katholischer Christ handelte! Seine Eminenz selber gab ihm so zu sagen die Weihe – und den Segen, der den Erfolg verbürgte!

„Nun aber noch Eins,“ flüsterte Salvatore, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. „Was ich jetzt noch zu sagen habe, das ist – neben der Sehnsucht, Dich noch einmal in die Arme zu schließen – der Hauptgrund, weshalb ich Dein Kommen wünschte. Schreiben konnte und mochte ich’s nicht, weil das Gefahr bringt. Höre also, und versprich mir, daß Du gehorchen willst! Es ist unumgänglich, Maria, daß Du sofort nach Bekanntwerden meines Angriffs auf Monsignore De Fabris die größte Entrüstung zur Schau trägst; denn die Aussichten des Erfolgs – so sagte mir der Polizei-Aspirant – müssen gehäuft werden, und nicht eifrig genug können wir Sorge tragen, daß man das Attentat wirklich für das hält, für was wir es ausgeben. Die Partei der ‚Freiheitsfreunde‘ ist so wie so gleich mit Verdächtigungen zur Hand. Früher schon, vor neun oder zehn Jahren, als ein ähnlicher Fall sich ereignete – das heißt: ein echter, nicht ein gemachter – haben sie ohne Weitres behauptet, die Regierung habe das Attentat sich bestellt. So wird man auch diesmal jede leiseste Möglichkeit aufgreifen, um das Nämliche in Umlauf zu setzen, und deshalb, Maria, muß Alles geleistet werden, was die Echtheit unsrer Komödie wahrscheinlich macht. Da meine ich denn – so hart mir’s ankömmt – es gäbe kaum ein glaubhafteres Mittel, als wenn Du sofort nach empfangner Kunde scheinbar unsere Beziehungen lösest!“

Angstvoll blickte sie zu ihm auf.

„Ich ...?“ stammelte sie mit bebender Lippe. „Ich soll ...?“

„Ja, Maria! Auch mir widerstrebt es, – aber bedenke doch! Hältst Du der Welt gegenüber nach wie vor an mir fest, so kömmst Du, ohne es zu wollen, zuletzt auf den Standpunkt, das Attentat entschuldigen oder gar billigen zu müssen. Von diesem nachträglichen Gutheißen bis zur Mitwissenschaft ist in den pfiffigen Köpfen der Untersuchungsrichter kein weiter Schritt. Auch wär’s doch natürlich, wenn ich im Ernst ein solches Verbrechen beginge, daß Du Dich lossagtest ...“

„Niemals!“ rief Maria voll Leidenschaft. „Was auch geschähe, ich würde Dich lieben – lieben bis in den Tod.“

Sie warf sich an seine Brust.

„Diese Liebe wird Dir die Kraft geben,“ hub er nach einer Pause wiederum an, „das durchzuführen, was ich verlange. Zingarella, Du Holde, Du Einzige – was kümmert Dich das jammervolle Gerede der Welt? Selbst während Du Dich scheinbar von mir gelöst hast, werden unsere Herzen stündlich Zwiesprache halten; Du umschwebst mich im Traum; Du bist mein, wie ich Dein bin! – Aber Du mußt Dich fügen. Sieh’, Maria: und wenn Du nur das Eine erreichst: daß die Polizei Dich mit Fragen verschont! – Du glaubst nicht, wie’s die Leute verstehn, ihren Opfern die Seele aus der Tiefe der Brust zu holen! Ich werde nicht ruhig sein im Kerker von Pizzo Falcone, wenn Du nicht schwörst –“

„Was Du willst!“ sagte sie seufzend.

Nun entwarf er ihr, den Weisungen Emmanuele Nacosta’s folgend, einen Verhaltungsplan.

Sie versprach, ihn gewissenhaft durchzuführen; sie sagte zu Allem Ja; mehr als je befand sie sich unter dem Bann dieses räthselhaften, unwiderstehlich-machtvollen Menschen.

Plötzlich erhob er sich.

„Komm, es ist dunkel geworden!“ sprach er und bot ihr die Hand, um sie emporzurichten. „Bist Du müde?“

„Müde? Bei Dir?“

„So nehmen wir den Weg am Gestade entlang. Der Durchbruch unter dem Bergrücken ist mir zuwider. Jede Stunde der Freiheit muß ich jetzt auskosten! Vielleicht noch in dieser Woche ...“

„Laß doch!“ wehrte sie zärtlich. „Die Sache ist durchgesprochen – nun vergiß, was leider Gottes unabänderlich ist! Fort mit all’ den trüben Gedanken! Plaudern wir lieber von dem, was darnach kömmt! Wenn wir nun Alles erlangt haben, was Du Dir vorgesetzt – wohin wirst Du mich führen? Capri – so lieb ich’s habe – ist ein Gefängniß für Dich: der Adler kann nicht unter den Sperlingen horsten. Neapel – das fühl’ ich im Voraus – wird mir verhaßt sein, tödtlich verhaßt. Ich weiß nicht, warum; aber es ist so. Wohin also?“

Nun erging sich Salvatore Padovanino in den wildesten Phantasmen; sein beweglicher Geist erbaute die unerhörtesten Luftschlösser; Ein goldener Traum entspann sich lebensvoll aus dem andern. Die unmöglichste Welt rollte sich vor den begeisterten Blicken der Lauscherin aus: sie schweiften durch die Märchengelände Utopiens ...

Endlich, da schon die Lichter der Chiaja über den Golf blinkten, machten sie Halt. Das ferne Geräusch der unermeßlichen Stadt schleuderte sie aus den Himmeln ihrer Verzückung.

„Maria,“ rief der Apulier, „wenn wir so hätten fortwandern dürfen! Wie eine stürzende Bergwand scheint sich die Zukunft über mich herzuwälzen! Morgen schon muß ich Dich lassen – und Tags darauf diese Begegnung!“

„Sei nicht thöricht!“ bat sie mit erkünstelter Leichtblütigkeit. „Fürchtet sich mein Salvatore vor dem Antlitz des Cardinals, – vor den Goldgemächern seines Palastes? Und wär’s der König, Du dürftest ihm aufrecht entgegentreten: denn Du bist hoheitsvoll und herrlich wie er!“

„Für Dich, Du Süße! – Uebrigens – was die Goldgemächer betrifft – ich vergaß, Dir’s zu sagen, aber mich wundert’s, daß Du nicht von selber auf die Idee kommst! Sieh’ mal, – wie kann ich den Monsignore in seinem Palast besuchen, wo Dutzende von Bedienten, Kammerherren und Wachen mein Erscheinen bemerken würden? Carlo Grisi hat dies besser erwogen! Seine Eminenz giebt mir an drittem Orte ein Stell-dich-ein, – drunten auf Santa Lucia im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘.“

„Im ‚Goldnen Kreuz‘?“ wiederholte Maria. Dann ward sie schweigsam. Ein plötzlich erwachter Gedanke schien sie lebhaft in Anspruch zu nehmen.

„Was hast Du?^ frug der Apulier.

„Ich erwog, ob es nicht dennoch möglich gewesen wäre, Dich im Palast zu empfangen. Indeß, Du magst Recht haben. Jetzt aber – nicht wahr, Geliebter? – kein Wort mehr! Hier links auf der Steile kommen die ersten Landhäuser.“

Rascher als zuvor schritten die Zwei nun bergab.

In den Anlagen der Villa Reale spielte die Militärmusik. Eine bunte, lebensfrohe Gesellschaft wimmelte unter den Lorbeerbäumen und Steineichen.

Bis gegen elf Uhr führte Salvatore sein Mädchen auf und nieder an der Brüstung des Strandes; dann bestiegen sie, von plötzlicher Uebermüdung ergriffen, ein Fuhrwerk und erreichten den ‚Leon Bianco‘, als der Pförtner eben das Thor schloß. Ein letzter Kuß – und Maria stieg die Treppe hinan, während sich Salvatore vor das nächste Kaffeehaus setzte und noch bis Mitternacht dem Ungestüm seiner Gedanken nachgab.

Der folgende Tag war für das liebende Paar zauberisch.

Sie speisten zusammen auf der Veranda eines vornehmen Restaurants; das letzte Goldstück mochte vergeudet werden: es kam ja nun die Zeit der Entbehrung! – Und wie plauderten sie von [312] Diesem und Dem, von der ersten Zeit ihrer Liebe, von den Zweifeln der Hoffnung und der Seligkeit des Erringens. Salvatore, gestern beinahe ein Dämon, schien heute ein Kind, – harmlos, an jedem Sonnenstrahle sich freuend, ganz erfüllt von dem Zauber der Gegenwart.

Eine Fahrt im Golfe beschloß den Rausch dieses Nachmittags.

Gegen fünf Uhr ging das Marktschiff nach Capri. Die Zingarella jedoch hatte ihrem Verlobten erklärt, sie werde zu Wagen über Sorrent reisen, dort bei einer Verwandten zu Nacht bleiben und am folgenden Morgen in der Barke nach Capri fahren. –

Salvatore war überrascht, daß Maria in Sorrent eine Verwandte besaß; er hatte niemals davon gehört. Da er indeß keinen Grund hatte, die Wahrheit ihrer Angabe zu bezweifeln, so freute er sich, daß er noch eine Stunde länger ihre Gesellschaft genießen konnte; denn der Messageriewagen nach Sorrent ging erst um sechs.

Im Bureau der Messagerie angelangt, wollte er für seine Braut das Billet nehmen; sie aber kam ihm zuvor, bat ihn, ihr beim Händler jenseits der Straße einige Früchte zu kaufen, und erstand ihre Fahrkarte, ehe noch Salvatore zurückkam. Sie verbarg das Billet in der Tasche: die Aufschrift lautete nicht ‚Neapel–Sorrent‘, sondern ‚Neapel–Resina‘; Resina aber war die nächste Station.

Maria stieg ein; der Messageriewagen setzte sich in Bewegung.

Als der Apulier sich gegen halb neun Uhr nach Fuorigrotta begab, wo Emmanuele Nacosta ihn zu einer letzten Besprechung erwartete, da ahnte er nicht, daß seine Braut, um bei den Reisegenossen keinen Verdacht zu erregen, allerdings mit bis Resina gefahren war, jetzt aber sich bereits wieder auf dem Rückwege nach Neapel befand. …

(Fortsetzung folgt.)




Aus Heinrich Heine’s letzten Tagen.

Die Mouche. – Frau Caroline Jaubert.
Von Eduard Engel.

Heine’s lange Krankheit (von 1847 bis 1856) hatte über ihn zu allen sonstigen Leiden und Entbehrungen die schmerzlichste Prüfung gebracht: die Vereinsamung. Einst der Mittelpunkt eines geistig-geselligen Kreises, gern gesehen und gern gesucht, mit den bedeutendsten Dichtern, Journalisten, Staatsmännern auf persönlich freundschaftlichem Fuße, – und jetzt tagelang, wochenlang allein in der trostlosen Krankenstube der Avenue Matignon, seiner letzten Wohnung, in der Nähe der Champs Elysees, – so vereinsamt, daß er Berlioz, der ihn zufällig einmal aufsuchte, entgegenrief: „Was? Jemand besucht mich? Berlioz bleibt doch immer originell!“

Nur einige freundliche Frauenerscheinungen brachten zuweilen einen Sonnenstrahl in das dunkelverhangene Krankenzimmer: die Prinzessin Christina Belgiojoso erschien gelegentlich bei dem sterbenden Dichter; Frau Caroline Jaubert, der Prinzessin vertraute Freundin, blieb ihm treu bis an sein Ende, – und zu ihnen gesellte sich gegen das Ende des Jahres 1854 (oder im Anfange von 1855?) die unter dem Namen „die Mouche“ in allen Heine-Biographien genannte holde Mädchengestalt, über die wir zwar schon aus sehr guten Quellen seit Langem Näheres wissen, die aber selber erst achtundzwanzig Jahre nach des Dichters Tode mit ihren eigenen Erinnerungen an Heine’s letzte Tage hervorgetreten ist.

Ich habe zu wiederholen, daß, abgesehen von dem wahren Namen der Dame und ihrer persönlichen Geschichte, so ziemlich das Wichtigste und das Beste aus ihren Beziehungen zu Heine längst bekannt war. Sie war ihm eine erquickende Gesellschaft; ihre liebevolle, seit der Mädchenzeit gehegte Bewunderung für den Dichter des „Buches der Lieder“ that Heine wohl; dazu war sie von Geburt und erster Erziehung eine Deutsche, die bei ihrem ersten Besuche in Heine’s Wohnung aus Deutschland kam und ihm wie ein Gruß der sehnsüchtig geliebten Heimath selber erschien. Als Vorleserin, Secretärin, dienstwillige Helferin in kleinen Unentbehrlichkeiten des Schriftstellerlebens, ja selbst als Beistand bei der französischen Uebersetzung seiner letzten Schriften war sie Heine ein stets willkommener, mit einer begreiflichen Zärtlichkeit empfangener Besuch. Das reinste Verhältniß, welches zwischen Mann und Weib denkbar, – auch ganz abgesehen von der Schranke, aufgerichtet durch die Marterkrankheit des seit acht Jahren Sterbenden. So hat man von Heine und seiner „Mouche“ zu sprechen – so schildern uns die an sie gerichteten Briefe und Billete sowie die wenigen Gedichte „An die Mouche“ diese schaurig-reizende Idylle am Lager eines Sterbenden.

„Eines Tages,“ so erzählt Frau Camilla Selden, oder die „Mouche“, „eines Tages streckte er seinen Arm nach dem meinen aus und drückte ihn mit Macht. ,Verzeihung‘, sagte er, ‚aber es wird ja bald enden. Siehst Du, das ist die Schuld des Todes, der herannaht. Er naht mit langen Schritten, und wenn ich ihn so ganz nahe bei mir fühle, wie jetzt, so fühle ich das Bedürfniß, mich an das Leben zu klammern!‘“

Und in einem seiner letzten Billete[1] an die liebe Freundin heißt es – einen Monat vor seinem Tode, nach einem Jahre der Bekanntschaft –:

„Liebes Kind! Ich habe einen Anfall von Migräne, der, wie ich fürchte, noch morgen anhalten oder gar schlimmer werden wird. Ich beeile mich, Dir dies mitzutheilen, damit Du wissest, ‚morgen ist keine Schule‘, und somit über Deinen Nachmittag nach Belieben verfügen kannst. Dagegen rechne ich auf Dich für übermorgen, Sonntag. Solltest Du nicht kommen können, benachrichtige mich, liebes holdes Kind.

Prügeln werde ich Dich nie, selbst wenn Du solche Strafe durch allzu große Dummheit verdienen solltest. Um die Ruthe führen zu können, muß man mehr Kraft besitzen, als ich. Ich bin elend, leidend und betrübt. Küsse die ‚pattes de mouche‘.
Dein Freund 
H. H.“ 

Das war der Ton des Verkehrs zwischen dem damals sechsundfünfzigjährigen Dichter[2] und der etwa achtundzwanzigjährigen Mouche. Ich glaube, es bedarf einiger Romantik, um bei solcher Bewandtniß von einer „letzten Liebe“ Heine’s zu reden, wie das in manchen Schriften über Heine leider geschehen.

Die Mouche war aus Schwaben gebürtig; Heine hat sie oft genug mit ihrem „Schwabengesicht“, das an die „schwäbischen Gelbveiglein“ erinnere, geneckt. Strodtmann erzählt, zum Theil nach Meißner’s „Erinnerungen“ und „Kleinen Memoiren“, von ihr Folgendes: „Als Kind war sie nach Paris gekommen, später nach England verschlagen worden und dann wieder nach Paris zurückgekehrt. – Hellbraunes Haar umrahmte lockig ihr feines Gesicht, aus welchem die blauen Augen süß und schelmisch über dem kecken Stumpfnäschen hervorblickten. Französischer Esprit und deutsche Innigkeit verbanden sich auf’s reizvollste in ihrem holdseligen Wesen, an welchem Heine ein unsägliches Wohlgefallen fand.“

Frau Camilla Selden berichtet von der Veranlassung ihres ersten Besuches bei Heine: sie habe ihm einige Compositionen seiner Lieder von einem Wiener Verehrer (wahrscheinlich einem Herrn Vesque von Püttlingen) zu überbringen gehabt. Im Begriffe, nach Erledigung ihres Auftrages sich zu entfernen, habe Heine sie durch die Dienstmagd zurückrufen lassen; ein Gespräch entspann sich, und als sich die Dame nach einiger Zeit entfernte,

[313]

Altdeutsches Tanzlied


Altdeutsches Tanzlied.
Nach Neidhard von Reuental (um 1220).


Wohlauf! Der kühle Winter ist vergangen;
Die Nacht wird kurz, der Tag beginnt zu langen.
     Es naht die wonnigliche Zeit,
     Die Freuden aller Welt verleiht.

5
Die Vöglein singen helle; neu grünt des Waldes Kleid.


Die Mägdlein rufen sich zur lichten Heide:
Gespielin, komm zu holder Augenweide!
     Der Liebste wartet auf der Au,
     Der Anger blitzt von Morgenthau;

10
Da bricht er uns zum Kranze die Blümlein roth und blau –


Die Mutter schilt auf Tänzer und Genossen:
Du bleibst zu Haus! Dein Kleid halt’ ich verschlossen. –
     Ach laß mir’s, liebe Mutter mein!
     Spann ich nicht selbst den weißen Lein? –

15
Da zieht sie Rock und Gürtel mit Lachen aus dem Schrein.


Im Lindenschatten tanzt die Schaar der Jungen;
Die stolze Maid kommt lustig angesprungen.
     Bei Lachen, Lärm und Liederschall
     Wirft mit dem Liebsten sie den Ball

20
In ferne Blüthenthale klingt hell der Widerhall.

[314] wurde sie um Wiederholung ihres Besuches gebeten. Um ihm nicht lästig zu fallen, habe sie gezögert wiederzukommen, – da habe der Dichter sie durch ein dringliches Billet (in ihrem Büchlein abgedruckt) eingeladen.

Und nun lasse ich Meißner, welcher die „Mouche“ besser gekannt, als selbst Heine, über das Verhältniß Zeugniß ablegen:

„Sie kam wieder und der Kranke konnte endlich ohne sie kaum einen Tag bestehen. Wohl an hundert Blätter[3] liegen von Heine’s Hand mit Bleistift geschrieben vor mir, die er aus der Einsamkeit seines Krankenzimmers an das Mädchen sandte, um die beinahe Unentbehrliche herbeizurufen. So wie der Gefangene das Vögelchen liebt, das am Simse seines Fensters zu sitzen pflegt, und es zärtlich füttert, um es bald wieder herbeizulocken und ihm die Stelle angenehm zu machen, damit es den grünen luftigen Wald von Zeit zu Zeit vergesse, so überhäuft auch Heine seine Freundin und Gesellschafterin mit kleinen Geschenken, welche sinnvoll sein Wohlwollen in hundert Gestalten ausdrücken und strengt beinahe täglich seine des Schreibens kaum fähige Hand an, kleine Briefchen hinzuwerfen, die unaufhörlich mit flehenden Schmeichelstimmen zu neuen Besuchen auffordern. Sieht man die großen, zierlichen, edeln Schriftzüge, so kann man es kaum glauben, daß sie von der welken Hand eines gebrochenen Organismus herrühren, und liest man den Sinn, den sie verdolmetschen, so kann man sich über die tiefe, unausrottbare Lebensenergie nicht genug wundern.“ –

Meißner fährt weiterhin fort: „Diese Briefe werden nie die Oeffentlichkeit sehen, der Name des Mädchens ist ein Geheimniß. Ein bizarrer Zufall führte mich erst nach Heine’s Tode mit deren Besitzerin zusammen, wenn man es einen Zufall nennen kann, eine Bekanntschaft, die seit neun Jahren in den Wogen des Lebens untergegangen zu sein schien, zu erneuern.“

Die Briefe haben inzwischen die Oeffentlichkeit gesehen, und auch der Name des Mädchens ist kein Geheimniß mehr. Frau Camilla Selden[WS 1] lebt gegenwärtig als Lehrerin der deutschen Sprache an einer staatlichen Schule in Rouen.

Der Name „die Mouche“ wurde ihr von Heine in einer scherzenden Laune beigelegt, weil sie ihre Briefe mit einem Siegelring siegelte, welcher eine zierliche kleine Fliege im Wappen führte.

Heine war um die Zeit seiner Bekanntschaft mit der Mouche ohne ständigen Secretär. So bat er sie – oder sie erbot sich dazu –, ihm einstweilen bei der mühseligen Erledigung seiner Correspondenz behülflich zu sein. Ihre Handschrift gefiel ihm zwar nicht sehr, wie die Mouche selbst erzählt; manchmal ließ er sich dazu herbei, ihr die großen Buchstaben, die sie besonders nachlässig schrieb, in seiner erstaunlich schönen, geradezu kalligraphischen Schreibmanier vorzumalen. Die Mouche hat die Adressen auf die Briefe an Heine’s Mutter zu schreiben gehabt, an welche der liebende Sohn meist eigenhändig schrieb, um ihr seine Krankheit zu verheimlichen. Diese rührende Täuschung hat er bis zuletzt durchgeführt, ohne falsche Sentimentalität; wozu der alten Frau von seiner Krankheit und seinen Schmerzen Kunde geben? – „eine Mutter glaubt ohnehin nicht, daß ihr Kind so leiden könne“. Ließ er doch in den für seine Mutter bestimmten Exemplaren seiner letzten Gedichte und anderer Schriften die Stellen entfernen, welche ihr seinen körperlichen Zustand hätten enthüllen müssen!

Ferner half ihm die Mouche bei der Durchsicht der französischen Ausgabe der „Reisebilder“, wobei ihre vollkommene Beherrschung des Französischen dem zeitlebens in der fremden Sprache niemals ganz heimischen Dichter sehr gut zu Statten kam. Auch die von andrer Hand (St. René-Taillandier) herrührende französische Uebersetzung – natürlich in Prosa – der Gedichte des „Neuen Frühlings“ hat die Mouche mit Heine zusammen durchgesehen, und mit ihren Verbesserungen ist die Uebersetzung in der „Revue des Deux-Mondes“ zuerst erschienen.

An die Vorlesungen aus deutschen und französischen Dichtern, welche die Mouche Heine machte, knüpfen sich oft sehr interessante Bemerkungen des Dichters. Leider ist das Gedächtniß der Mouche für diese werthvollsten Dinge jetzt nach achtundzwanzig Jahren recht schwach; was sie uns in ihrem Buche davon erzählt, ist herzlich wenig, zumal wenn man es mit den „Erinnerungen“ vergleicht, welche Alfred Meißner unter dem frischen Eindruck des Gehörten schon 1856 erscheinen ließ.

Von Heine’s Memoiren hatte die Mouche nichts gelesen. Wohl aber hatte sie ihn zuweilen bei der Arbeit an den Memoiren getroffen. Wie sehr Heine die Vollendung derselben am Herzen gelegen, dafür legt auch folgende Stelle des Buches der Mouche Zeugniß ab: „Es geht schlecht mit ihm; nur die Energie seines Willens und der leidenschaftliche Wunsch, die Abfassung der Memoiren zu beendigen, halten ihn noch aufrecht. – Wie oft fand ich Heine, wie er die großen Bogen weißen Papiers, die vor ihm ausgebreitet lagen, mit den kraftvollen Schriftzügen bedeckte, deren äußere Erscheinung schon die Kühnheit und Klarheit seines Gedankens offenbarte. Der Bleistift, der mit fieberhafter Eile über die weißen Blätter eilte, nahm zwischen den abgezehrten Fingern des Kranken die Starrheit einer tödtlichen Waffe an.“ Von dem Inhalt aber dieser Memoiren hat sie so wenig wie irgend Jemand um jene Zeit etwas erfahren.

Auch einige Gedichte hat Heine seiner „freundlich sumsenden Mouche“ gewidmet. Bei aller Gluth der Sprache kann man ihnen sicherlich nicht den Titel von „Liebesgedichten“ beilegen. Da ist zunächst das Gedicht: „Dich fesselt mein Gedankenbann“ mit seinem zwischen tiefem Ernst und ausgelassener Tollheit abwechselnden Inhalt. Dann das ergreifende Gedicht: „Die Wahlverlobten“ mit seinem hoffnungslosen Schluß:

„Der Willkomm ist zu gleicher Zeit
Ein Lebewohl! Wir scheiden heut
Auf immerdar. Kein Wiedersehn
Giebt es für uns in Himmelshöh’n.
Die Schönheit ist dem Staub verfallen.[WS 2]
Viel anders ist es mit Poeten,
Die kann der Tod nicht gänzlich tödten.
Uns trifft nicht weltliche Vernichtung,
Wir leben fort im Land der Dichtung,
In Avalun, dem Feenreiche –
Leb’ wohl auf ewig, schöne Leiche!“

Eines der letzten Gedichte Heine’s – nach Meißner’s Ansicht wenige Wochen vor seinem Tode geschrieben – ist ausdrücklich mit der Ueberschrift: „Für die Mouche“ versehen (Band XVIII, S. 319). Einige Strophen dieses Gedichtes sind außerordentlich stimmungsvoll, wie Töne von jenseits des Grabes –:

„Zu Häupten aber meiner Ruhestätt’
Stand eine Blume, räthselhaft gestaltet,
Die Blätter schwefelgelb und violett,
Doch milder[WS 3] Liebreiz in der Blume waltet.

Das Volk nennt sie die Blum’ der Passion –

Solch eine Blum’ an meinem Grabe stand,
Und über meinen Leichnam niederbeugend,
Wie Frauentrauer, küßt sie mir die Hand,
Küßt Stirne mir und Augen, trostlos schweigend.
000000000

Geschlossen war mein Aug’, doch angeblickt
Hat meine Seel’ beständig dein Gesichte,
Du sahst mich an, beseligt und verzückt
Und geisterhaft beglänzt vom Mondenlichte.

Wir sprachen nicht, jedoch mein Herz vernahm,
Was du verschwiegen dachtest im Gemüthe –
Das ausgesproch’ne Wort ist ohne Scham,
Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüthe.“

Denen endlich, welche den holden Glauben an eine „letzte Liebe“ Heine’s für die Mouche trotz alledem hegen sollten, empfehle ich die Lectüre des Gedichtes:

„Worte! Worte!0 Keine Thaten!“

worin Heine nach wohlbekannter Manier sich und ihr jede Illusion benimmt, falls überhaupt eine solche bestanden.

Ich brauche wohl kaum noch hinzuzufügen, daß Frau Camilla Selden selbst zu viel Tact besitzt, um sich jetzt in ihren Gedenkblättern an Heine irgendwelche falsche Aureole um’s Haupt zu dichten. Sie ist nicht Heine’s „letzte Liebe“ gewesen, – aber alle Heine-Forscher und Heine-Verehrer werden ihr Andenken in Ehren halten als das einer anmuthigen Erscheinung, die auf Heine’s letzte Lebenstage einen tröstlichen Schimmer ergossen, des Wesens, an welches Heine vielleicht das letzte Wort in deutscher Sprache gerichtet hat, das seine Lippen gesprochen.

*               *
*

[315] Mit Madame Caroline Jaubert war Heine in den ersten Jahren seines Pariser Aufenthaltes bekannt geworden: auf einem Ball im Vorfrühling 1835. Sie war die Gattin des nachmaligen Rathes am französischen Cassationshof Maxime Jaubert, des Testamentsvollstreckers Heine’s. Kurz nach ihrem im Jahre 1880 erfolgten Tode erschienen die „Souvenirs de Mme. Caroline Jaubert“ bei Hetzel in Paris, enthaltend Erinnerungen an den berühmten bourbonistischen Advocaten Berryer, an Alfred de Musset, Pierre Lanfrey (den Biographen Napoleon’s I.) und – Henri Heine. Kaum 40 Seiten dieses höchst interessanten Buches umfaßt der Heinrich Heine gewidmete Abschnitt, aber ich trage kein Bedenken, ihn als das Beste zu bezeichnen, was außer Meißner irgendein persönlicher Freund über des Dichters Individualität im vertrauten Verkehr geschrieben. Die Mouche spottet an einer Stelle ihrer „Derniers jours de Henri Heine“ über „die kleine Madame Jaubert mit ihrem Sonnenschirm“, aber diese kleine Dame hatte ein scharfes Auge und Ohr und ein gutes Herzensgedächtniß für das wahre Wesen Heine’s, und es ist ungemein zu bedauern, daß sie uns nicht mehr über ihn erzählt hat.

Nach jener ersten Begegnung mit Heine auf dem Balle erhielt sie von ihm die französische Ausgabe seines Buches „Ueber Deutschland“ mit einem allerliebsten Begleitschreiben. Es entspann sich ein gemüthvoller, wenn auch nicht zu häufiger Verkehr, namentlich in dem Salon der mehrfach erwähnten Prinzessin Belgiojoso. In diesem Salon hat Heine oft genug sein glänzendes Unterhaltungstalent bewiesen, und die Geschichtchen, welche Madame Jaubert von Heine’s geistvoller Neckerei und Bosheit erzählt, sind so echtheinisch, daß man irgendeine schlimme Stelle der „Reisebilder“ zu lesen vermeint. Was sie aber an Zügen heroischen Muthes aus den Tagen seiner Krankheit berichtet, ist tief ergreifend. Auch über Frau Mathilde Heine hat sie wahrheitsgetreu und – da frei von Liebe, auch frei von Eifersucht – überwiegend wohlwollend manches Liebenswürdige erzählt; jedenfalls geht aus ihren Mittheilungen hervor, daß Heine’s Liebe zu seiner Mathilde das Echteste war, was er überhaupt an Empfindung besessen. Mathildens Stimme sei es gewesen, die Heine entzückt und immer wieder an diese Frau gefesselt habe, mit der er beiläufig über 20 Jahre zusammen gelebt. „Der Ton ihrer Stimme war für Heine ein ununterbrochener Zauber, er spielte fortwährend darauf an; oftmals hat er mir versichert, daß in seinen Todeskämpfen diese Stimme seine Seele festgehalten, die schon zum Fluge in’s Unbekannte sich anschickte.“ – „Und ließ der Zufall einmal ihre Stimme vom Vorzimmer bis in des Kranken Gemach dringen, dann mußte man sehen, wie er mitten im Gespräch plötzlich aufhörte und den verhallenden Ton mit seinem Lächeln begleitete.“

Und an einer andern Stelle erzählt die liebenswürdige Plaudrerin: „So oft von Goethe – oder von seiner (Heine’s) Frau die Rede war, erhob sich der Kranke auf dem Ellenbogen und senkte die Stimme, als fürchtete er, man möchte an der Thür horchen.“

Madame Jaubert suchte Heine zu zerstreuen. Leider war sie durch ihre zahlreichen gesellschaftlichen Beziehungen und ihre literarischen Freundschaften (namentlich mit Alfred de Musset) zu sehr in Anspruch genommen, um sich dem unglücklichen, einsamen Dichter widmen zu können, – dann schickte sie ihm wenigstens Besuche zu, welche sie für amüsant hielt. So sandte sie ihm einst die Gräfin Kalergis, eine geborne Nesselrode, zu, welche für Heine zu schwärmen vorgab. Sie war eine so imposante Gestalt mit einem blendendweißen Teint, daß Théophile Gautier sie eine „Symphonie in Weiß-Dur“ nannte.

Heine äußerte sich zu Madame Jaubert über die Dame: „Liebe Freundin, das ist ja gar keine Frau, die Sie da bei mir eingeführt haben, – das ist ein Monument: die Kathedrale des Gottes der Liebe.“ Und in seinem tollen Gedicht „Der weiße Elephant“ (Romanzero) läßt er den heiligen Elephanten des Königs von Siam an einer unstillbaren Sehnsucht nach dieser kolossalen Schönheit vergehen.

Madame Jaubert hat Heine zuletzt vier Tage vor seinem Tode gesehen. Kurz vorher hatte er einen heftigen Krampfanfall gehabt, und man glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Heine erzählte die schauerliche Scene seiner Besucherin, welche alles wörtlich wiedergiebt: „Seine Frau eilte schreckerfüllt an sein Bett; sie ergriff seine Hand, drückte sie, erwärmte sie, liebkoste sie. Sie weinte heiße Thränen und jammerte mit schluchzender Stimme: ‚Nein, Henri, nein, Du darfst das nicht thun, Du darfst nicht sterben. Du wirst Mitleid haben! heute Morgen ist mir schon mein Papagei gestorben, – wenn Du stürbest, ich wäre zu unglücklich.‘

‚Das war ein Befehl,‘ fügte Heine hinzu, ‚ich habe gehorcht und fortgefahren zu leben; Sie begreifen, liebe Freundin, wenn man mir triftige Gründe vorführt –‘“

Nach wenigen Tagen reichte der Wille, der jammernden Gattin zu „gehorchen“, nicht mehr hin. Am 17. Februar 1856 ist Heinrich Heine gestorben; am 20. Februar geleitete ein Gefolge von wenigen Dutzenden von Bekannten – darunter Dumas, Gautier, Mignet – Heine’s Leiche nach seiner letzten Ruhestätte auf dem Friedhof von Montmartre. „Ich will nicht in Passy begraben werden, der dortige Kirchhof muß recht langweilig sein,“ schrieb er an Madame Jaubert acht Jahre vor seinem Tode. Und in seinem Testament verordnete er im Jahre 1851: „Ich wünsche auf dem Kirchhofe Montmartre beerdigt zu werden, da ich eine Vorliebe für dies Quartier hege, wo ich lange Jahre hindurch gewohnt habe. – Ich verlange, daß mein Leichenbegängniß so einfach wie möglich sei, und daß die Kosten meiner Beerdigung nicht den gewöhnlichen Betrag derjenigen des geringsten Bürgers übersteigen.“




Die höheren Töchterschulen.

Ein Wort für unser Haus. 0 Von Ferdinand Sonnenburg.
(Schluß.)


Die Tochter gehört vor Allem zur Mutter; man gebe also das Mädchen mehr der Mutter, dem Hause zurück; der Unterricht beschränke sich nur auf die Vormittagsstunden, der Nachmittag gehöre dem Hause![4] Die häusliche Arbeitszeit aber übersteige auch auf der Oberstufe niemals die Dauer einer Stunde – so verlangt es auch das Straßburger Gutachten.

Durch das Freihalten der Nachmittage wird Zeit für genügende Bewegung in frischer Luft, für gemeinschaftliche Spaziergänge unter Führung des Lehrers, aber auch für häusliche Beschäftigung an der Hand der Mutter gewonnen. Diese Arbeiten werden dem Mädchen zur bestimmten täglichen Pflicht gemacht und mit demselben Ernste behandelt, wie der wissenschaftliche Unterricht in der Schule. Wo ein Garten zur Verfügung steht, da öffnet sich ein neues Feld der anmuthigsten erfreulichsten Beschäftigung, und gehört die Tochter zu den Glücklichen, denen ein wirkliches Talent für Musik oder Zeichnen und Malen zu Theil wurde, so ist für die Ausbildung desselben auch genügende Zeit vorhanden.

Auf diese Weise werden die Mädchen nicht allein dem Hause erhalten und die Lust für die Sorge im Hause in ihnen großgezogen, sondern sie werden an Körper, Gemüth und Geist auf das Wirksamste gekräftigt und werden sich in Folge davon mit weit größerer Lust und Kraft als jetzt den wissenschaftlichen Beschäftigungen hingeben; wir werden frische, fröhliche, rotwangige Mädchen in unseren Schulen haben, statt der armen bleichsüchtigen Wesen, die in jeder Stunde den überreizten, schmerzenden Kopf in die Hand stützen. Wenn aber die Schulzeit zu Ende ist, so wird das junge Mädchen nicht im eigenen Hause heimathlos dastehen, sie wird nicht genöthigt sein, nach täglichen Kaffeegesellschaften auszuschauen und hinter Romanen zu sitzen, eine edlere Beschäftigung wird ihr Bedürfniß geworden sein. Und folgt sie später einem Manne, den eigenen Herd zu gründen, so wird der Mann ihre freundlich schaffende Hand zu jeder Stunde und an jedem Orte finden, er wird nicht nöthig haben, die Sorge für [316] seine Bedürfnisse von bezahlten Dienstboten zu fordern. Wie aber die Mutter gebildet ist, so erzieht sie ihre Kinder wieder, Fluch und Segen pflanzen sich in langer Reihe fort. Wer die Frau dem Hause entfremdet, der zerstört die Grundlagen, auf denen die Wohlfahrt unseres Volkes ruht. Wie viel Elend würde den Familien unserer Handwerker und Arbeiter oftmals erspart bleiben, wenn es in diesen Kreisen nicht so viel untüchtige Frauen gäbe!

Doch mit der Erleichterung der überschweren Schullast ist erst die kleinere Hälfte dessen geschehen, was gefordert werden muß. Auch der Lehrplan unserer höheren Mädchenschulen muß völlig umgestaltet werden. Es ist ein großer Irrthum, wenn man meint, das Mädchen nach denselben Grundsätzen unterrichten zu können, wie den Knaben. Der Zwang zu anhaltendem Denken führt den Knaben zu geistiger Schärfe, das Mädchen aber zu geistiger Trägheit, denn seine Stärke liegt nicht im kampfgerüsteten Verstande, sondern in dem feinen, richtigen Gefühl. „Männer richten nach Gründen, des Weibes Urtheil ist seine Liebe“ – dieses klare Wort Schiller’s scheint heute nicht mehr verstanden zu werden.

Noch schärfer sagt Immanuel Kant in seiner Abhandlung „Beobachtungen über das Gefühl des Erhabenen und Schönen“: „In den Gemüthscharakteren des weiblichen Geschlechtes liegen eigenthümliche Züge, die es von dem unsern deutlich unterscheiden und die darauf hauptsächlich hinauslaufen, sie durch das Merkmal des Schönen kenntlich zu machen. Alle Erziehung und Unterweisung muß dieses vor Augen haben, und alle Bemühung, die sittliche Vollkommenheit zu befördern. Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln vertilgen die Vorzüge, welche dem weiblichen Geschlechte eigenthümlich sind.“

Diese goldenen Worte unseres größten Philosophen müssen die Richtschnur sein, nach welcher wir die Lehrpläne unserer höheren Mädchenschulen gestalten. Nicht „Thiergeripp’ und Todtenbein“ müssen wir unsern Töchtern bieten, sondern das volle Leben in seinen bedentendsten und schönsten Erscheinungen. Sicherlich gebührt der Religion die erste Stelle, aber wir wollen nicht einen großen Vorrath von theologischen Kenntnissen, Spitzfindigkeiten und Streitereien darunter verstehen, sondern die schlichte, warme Erfassung der Glaubenslehren, vor Allem zeige man an Beispielen aus dem Leben das Christenthum in seiner praktischen Anwendung.

Großmutters Gehülfin.
Nach einem Gemälde von Jos. Miller.


Fast alle Schülerinnen unserer höheren Mädchenschulen kennen von den Einrichtungen des bürgerlichen Lebens so gut wie nichts; in welcher Weise das Armenwesen gehandhabt wird, wie die öffentlichen Pflege-Anstalten eingerichtet sind, wie es in dem Haushalte, in der Küche des einfachen Arbeiters aussieht, das Alles ist meist gänzlich unbekannt, und doch würden passende Mittheilungen über solche Dinge für ältere Schülerinnen weit fesselnder und werthvoller sein, als dürre theologische Wissenschaft; für die Jahre der Selbstständigkeit aber würde dadurch auf dem Gebiete der wohlthätigen Bestrebungen der Blick unserer Frauen auf’s Beste geübt sein, und es würden nicht mehr, wie jetzt so oft, reiche Mittel in falscher Anwendung vergeudet werden. Gerade in Sachen der Religion wirkt nichts so mächtig, als das lebendige Beispiel, und nichts ist verderblicher und verhängnißvoller für den Charakter, als das thatenlose Sichgenügenlassen an frommen Gedanken. – Auch der Unterricht im Deutschen ist viel zu doctrinär; er müßte den Mädchen eine Freude sein, aber gewöhnlich ist gerade dieser Gegenstand ihnen besonders unliebsam. Man gebe auch hier mehr lebensvollen Stoff, und weniger dürre Theorie.

Die Schülerinnen, welche den höheren Mädchenschulen zugeführt werden, sprechen in der Regel alle von Haus aus ein richtiges Deutsch, man hört selbst bei sechsjährigen Kindern kaum jemals ein falsches Wort, sie lernen ihr Deutsch im Elternhause, und die tägliche Uebung ist die beste Lehrmeisterin, bei den Mädchen und Frauen der romanischen Völker ist sie sogar die einzige. Es ist nichts als kurzsichtige Pedanterie, wenn man behaupten will, daß die fortgesetzte praktische Uebung allein nicht rascher und sicherer zum Ziele führe, als trockene Theorie. Daß Mädchen vor jedem anhaltenden abstracten Denken stets zurückschrecken, ist längst anerkannte Thatsache, aber ebenso bekannt ist es auch, daß Mädchen durch begeisterte Liebe zu einem Gegenstande zu den größten, freudigsten, unermüdlichsten Anstrengungen veranlaßt werden.

Abstracte deutsche Grammatik in besonderen Stunden schenke man den Schülerinnen ganz, aber die Schätze unserer Literatur mache man ihnen so viel als nur irgend möglich zugänglich und erwecke in ihnen ein eingehendes und liebevolles Verständniß derselben; besonders setze man das jetzt fast ganz bei Seite geschobene deutsche Lied in seine Rechte ein.

Warum versäumt man es in unsern höheren Mädchenschulen oft so geflissentlich, den Neigungen der Schülerinnen mehr Rechnung zu tragen? Man zwingt sie zu Arbeiten, die sie nur mit Unlust angreifen, aber die Neigungen werden dadurch nicht beseitigt, sie suchen sich ihre eigenen Wege und gerathen dadurch oft auf die bedenklichsten Irrwege. So lange man daran festhält, bei dem Unterrichte in der deutschen Literatur die Mädchen nur fremde Urtheile über nie gesehene Werke auswendig lernen zu lassen, wird man sich nicht über den so häufigen Mangel an wirklichem Geschmack, an ernstlich gebildetem Verständniß für unsere classischen Werke wundern können.

Daß unsere Theater bei Aufführungen classischer Stücke leer bleiben, während jede moderne Posse sie bis auf den letzten Platz füllt, daran sind auch unsere Schulen schuld. Man führe unsere Jugend an die lebendigen Quellen heran, man gebe ihnen von klein auf passend ausgewählte Lesestücke, und zwar so viel als möglich, aber man verleide sie ihnen nicht durch die stereotypen Fragen nach Subject und Prädicat, sondern man öffne ihre Augen für die Erkenntniß von Wahrheit und Schönheit der Form und der Gedanken, dann wird man unvergängliche, edle, sorgsam gehütete und bewahrte Schätze gewinnen, statt des erdrückenden Ballastes schnell vergessener Regeln. Die Griechen schöpften lange Zeit hindurch den beste Theil ihrer Bildung aus dem Homer, sie lernten keine einzige fremde Sprache, ihre Bildung war ausschließlich vaterländisch: – standen sie in ihrer allgemeinen Bildung etwa tiefer, als wir heute? – Die Verhältnisse, in denen wir leben, sind ja viel weiter gestaltet, aber gerade deshalb müssen [317] wir uns hüten, zu viele Lasten auf die Schultern unserer Kinder, besonders unserer Mädchen, packen zu wollen! Bei weiser Einschränkung kann man in unsern Mädchenschulen dasselbe, ja man kann ein höheres Maß allgemeiner Bildung erreichen, als jetzt im Durchschnitt erreicht wird.

Bei fremden Sprachen beschränke man die ermüdende Grammatik auf das geringste Maß, für das Französische genügt das Elementarbuch von Plötz vollkommen; lesen muß man, immer lesen und das Gelesene verarbeiten, dadurch gelangen Mädchen weit eher zur Fertigkeit, als durch das Uebermaß von Grammatik, in der sie doch niemals sicher werden, trotz aller Quälerei. – Im Rechnen scheide man die schwierigen Arten ganz aus und übe besonders das Kopfrechnen im Kreise bürgerlicher Verhältnisse. In der Geschichte halte man sich nicht für verpflichtet, jeden Regenten, jede Schlacht zu registriren, wenn auf diese Weise auch ganze Jahrhunderte übersprungen werden; besonderes Gewicht aber lege man auf eingehende Culturbilder. In der Geographie behandle man das eigene Vaterland genau und gebe alles Uebrige nur in einer Uebersicht, man wird dann Zeit für Schilderungen der Sitten und des Lebens der Völker gewinnen. Von den Naturwissenschaften halte man den erstarrenden Schematismus gänzlich fern und begünstige z. B. statt der botanischen Systeme lieber die Pflanzenphysiologie. Gesang, Zeichnen, Turnen und Handarbeiten dürfen natürlich nicht fehlen. – Endlich aber führe man in den Dienst der höheren Mädchenschule auch die edle Schwester der Religion, die Kunst, und zwar in der Weise, daß man die bedeutendsten Kunstwerke in Nachbildungen, sei es Abguß, sei es Lichtdruck oder dergleichen, den Schülerinnen vor Augen stellt und in ihnen eingehendes Verständniß zu wecken sucht. Der Kunstgeschichte bedarf es nur in geringem Maße.

Es sollte auch in keiner höheren Mädchenschule die gewählte Form in Allem, was geboten wird, fehlen. Nicht allein Sitte, sondern feine Sitte ist für Töchter gebildeter Stände berechtigte Forderung.

Bei gutem Willen würde es sich einrichten lassen, daß einige Fächer der Oberstufe in einer Form gegeben würden, daß auch die Mütter der Schülerinnen dem Unterrichte als Zuhörerinnen beiwohnen könnten. Es wäre auf diese Weise eine Verbindung zwischen Schule und Haus hergestellt, die beiden Theilen nur zum Vortheil gereichen könnte. –

Die vorstehenden Zeilen konnten nur die allgemeinsten Grundzüge einer Neugestaltung unserer höheren Mädchenschulen geben. Sie sind auf Grund langjähriger Erfahrungen mit dem wärmsten Interesse geschrieben worden. Ihre Ausführung würde an die Lehrenden allerdings bedeutend erhöhte Anforderungen stellen, unsern Töchtern aber eine edlere und tiefere Bildung zugleich des Geistes und des Herzens sichern und ihre körperliche Entwickelung in der kräftigsten Weise fördern.

Möge diesen Rathschlägen eine vorurtheilsfreie Prüfung zu Theil werden!


Eine Besteigung des Aetna.

Von Ferdinand Avenarius.

Die nördliche Wand des Kraters.

Es war zu viel! Gestern erst war ich von Nicolosi, der Vorstation bei der Aetna-Besteigung, muthlos zurückgekehrt: der alte Herr hatte sich so sorgfältig in Wolken eingewickelt, daß man nicht einmal durch ein Löchelchen hier oder dort ein Stück von ihm sah, der Wind so heftig geblasen, daß ich mit meiner schwarzen Maske von vulcanischer Asche wie ein Pulcinell herumlief, und zum guten Schluß war der Regen dazu gekommen, um meine Aschenmaske in Lavaströme zu verwandeln. Don Giuseppe, der Wirth, ist ein braver Mann, aber sein Rindfleisch ist zäh, sein Wein sauer und seine Conversation langweilig – bei Regenwetter wenigstens. So hatte ich die Führer zusammengerufen und nach ihrer Meinung über’s Wetter gefragt: wird’s morgen hell sein? Sie hatten ja gesagt und nein gedacht, und mir war’s nicht entgangen, denn die Leute hier verstehen sich nicht so gut auf’s Lügen, wie die Neapolitaner. So hatte ich mich mit der Hoffnung, dem weißkragigen Raucher einmal auf’s Haupt zu steigen, auf bessere Jahre vertröstet, war gestern noch die vier Stunden nach Catania hinuntergelaufen und saß nun im Wirthshaus am Fenster, guckte hinaus und – ärgerte mich.

Ich hatte auch allen Grund dazu.

Wenn man so ein Jahr lang in Italien herumläuft, wird man allmählich das, was man dort zu Lande einen „Prattico“ nennt, das heißt Einer, der sich selbst von den Italienern kein X für ein U machen läßt. Will Einer zehn Soldi für etwas haben, so biete ich ihm gewiß nur zwei; sagt mir ein Kutscher, das eine von den beiden Gasthäusern im Orte sei das bessere, so gehe ich gewiß in’s andere. Und nun die schönen Wetterregeln vom Scirocco und Maestrale etc. – ich könnte sie an den Fingern herzählen!

Und da guckte mir nun der Aetna in’s Fenster herein, klar, wie aus dem Himmelsblau mit scharfer Linie herausgeschnitten, rauchte gemüthlich, wie ein Philister beim Morgenkaffee, und machte die unschuldigste Miene von der Welt! Und dabei blieb’s noch nicht einmal: nein, wie ich so zu ihm hinüber sah, fing er gar an zu plaudern, und harmlos, als wäre gar nichts Schlimmes dabei und als wären wir die besten Freunde, erzählte er mir behaglich und breit von all seinen Schandthaten.

„Ja, ja,“ sagte er, „wie die Zeiten sich ändern! Du weißt freilich nichts davon, mein Junge, aber ich sage Dir, als noch der Polyphem und die anderen Cyklopen und der Vater Hephaistos hier wohnten, da ging’s lustiger her – das war ein Schmieden und Hämmern den ganzen Tag, daß sie drüben in Calabrien vor den Funken Angst bekamen! Aber der Polyphem verliebte sich in den Backfisch, die Galatea, und dem Hephaistos vertrieb seine Frau, die Venus, mit der Zeit die gute Laune – weiß der Himmel, wo sie jetzt stecken mögen! Da hieß es: selber ist der Mann, und so amüsirte ich mich allein. Bin auch nicht faul gewesen dabei: frag sie nur, die rundum wohnen, sieh Dich nur mit Deinen eigenen Augen um. Sieht’s nicht rund umher wie eine Mondlandschaft aus? Und siehst Du alle die so und so viel Hunderte von Kratern? Das sind meine Jungen – ich sage Dir, sie machen mir alle Ehre! Und siehst Du nach allen Seiten hin die schwarzen, starren Ströme? Ja, damit mache ich mir von Zeit zu Zeit den Spaß, dem Menschengesindel ein paar [318] Meilen und ein paar Dörfer vor der Nase zuzudecken. Du solltest einmal sehen, was für Respect sie dann vor mir bekommen: ein paar hundert Quadratmeilen rings umher merken sie’s, wenn ich mir Motion mache – sie nennen’s Erdbeben und fallen vor Schreck durch einander, und dem kleinen Ding da drüben bei Neapel, dem Vesuv, fährt’s mitunter so in die Glieder, daß er sein bischen Feuerwerkerei hübsch bleiben läßt, bis ich wieder still bin. – Weißt Du was, komm doch einmal zu mir herauf, daß ich Dir’s besser zeigen kann!“

Ich wollte mich nicht fangen lassen, stand auf und lief in den Straßen von Catania herum, um auf andere Gedanken zu kommen.

Doch überall wurde ich an den Aetna gemahnt. Schon daß ich das Lavapflaster unter den Füßen und die Lavahäuser zu den Seiten nicht los wurde, war fatal genug. Nun ging ich in’s Museum, mich zu zerstreuen: es liegt im Benedictinerkloster – rings starrte mir der gewaltige Lavastrom von 1669 entgegen. Ich ging an den Hafen, den Schiffern zuzusehen – schwarz und trotzig ragte drüben das Vorgebirge aus dem Meer, das, eine halbe Miglie groß, die Lava jenes Schreckensjahres wie ein riesiges Denkmal desselben errichtete, als sie sich endlich in’s Meer ergoß. Ich wandte mich der andern Stadtseite zu – aus schwarzer Lava sah ich Häusertrümmer ragen, die hier vor zweihundert Jahren die Todesumarmung umschloß. Dort, über die alte Stadtmauer hingen, wie ein versteinerter Wasserfall, noch heute die schwarzen Massen herab – sie riefen das Bild vor’s Auge, das der Feuerstrom hier den entsetzten Bewohnern bot, als er vor der festen Mauer höher und höher hinaufquoll, dann aufbäumte und endlich in die Straßen niederfloß, als wollte er sie in Flammen vernichten, wie Sodom und Gomorrha. Wohin ich ging, die Spuren des Aetna!

Und jetzt, da ich auf die lange Straße trat, die ihm entgegenführt, sah er mich wieder unschuldig an. Und wieder war mir’s, als plaudere er mir zu – aber es lag etwas Dämonisches darin. – –

Am nächsten Morgen brach ich von Neuem nach Nicolosi auf.

Es giebt wenig Fleckchen, die Alles, was wir Nordländer „italienisch“ nennen, in so reichem Maße zeigen, wie die Ebene von Catania. Durch Korn-, Wein- und Mandelpflanzungen, zwischen Oliven-, Citronen- und Orangenhainen zog ich lustig dahin. Gerade vor mir, von beiden Seiten fast gleichmäßig in ruhiger Linie zum Kegel ansteigend, lag der Vulcan. Lavamauern begannen die südliche Farbenfülle der Vegetation mit ihren violetschwarzen Streifen zu durchziehen, bald ward das reine Rothgelb vom ersten Anhauch vulcanischer Asche getrübt. Gravina, der Ort, den ich jetzt durchwanderte, hat schon fast alle seine kleinen Häuser aus Lava errichtet; Mascaluccia, ein halbes Stündchen weiter, umrahmt die schwarze Lava seiner Kirche mit weißem Kalk, daß sie freundlicher dreinschaue.

Ich zog weiter: die berühmte Ueppigkeit der Pflanzenwelt begann sich zu mildern. Ein gewaltiger Lavastrom blieb mir, mit Cactus übergrünt, zur Seite. Der sicilianische Ginster, Büsche, ja Bäume bildend, trat immer mehr hervor – dort, jenen Hügel versteckte er fast in das Gelb seiner Blüthen. Der Hügel fiel mir auf, er war rund und oben eingesenkt – der erste Krater war erreicht.

Wie ich weiter wanderte, begann mir die Asche bald lästig zu werden, die dick auf dem Wege lagerte. Das ärmliche Torre di Griso, das ich nun durchzog, zeigte schon den echten Charakter der Aetnadörfer: kleine Hütten aus Lava, ohne Obergeschoß, oft ohne Fenster, Lavapflaster, Lavamauern – Alles schwarz in schwarz, bis auf ein wenig weißen Kalkverputzes, der hier und dort das öde Schwarz erheitern soll und es doch nur düsterer erscheinen läßt. Die Oliven- und Citronenanpflanzungen wurden immer spärlicher und schwanden endlich, nur noch Wein, Getreide und Feige schien angebaut. Sonst sah ich fast allein Cactus und Ginster um mich, ihr Grün aber übertönte das Grau und Schwarz nicht mehr – je mehr ich mich Nicolosi näherte, um so mächtiger herrschte das letztere vor.

Ich wurde unwillkürlich ernster – wie das Leben um mich her dem Tod, so wich die Melodie eines Liedes, die ich vor mich hinsummte, dem Schweigen. Endlich zog ich in Nicolosi ein.

Don Giuseppe begrüßte mich voller Staunen – meine Ausdauer und Wiederkehr verblüfften ihn dermaßen, daß er mich mindestens für einen Engländer hielt. Die Unterhandlungen wegen der Besteigung waren schnell beim Abschluß; hat doch der italienische Alpenclub die Organisation des Führerwesens auch für den Aetna gut geregelt. Don Giuseppe’s Mittagsmahl that ich indeß auch diesmal Unehre – heut, weil ich zu aufgeregt zum Stillsitzen war und es vorzog, noch einmal gegen die Monti rossi hin zu schlendern, von denen aus ich vor ein paar Tagen den ersten Ueberblick über die Aetnagegend genossen hatte.

Als „Monti rossi“ – rothe Berge – kennt das Volk einen Seitenkrater des Aetna, der sich 1669 öffnete und jenen gewaltigsten Verderbensstrom ergoß, dessen riesige Massen ich drunten in Catania bestaunt hatte. Ich ließ in Gedanken noch einmal die Einzelheiten jenes Ereignisses an mir vorüberziehen, dessen Schilderung mich schon oft ergriffen. Es war am 8. März 1669, als sich die Sonne drohend verdunkelte – Vorzeichen kommenden Unheils waren schon lange vorhergegangen. Am 10. März wurden Sturm und Erdstöße so heftig, daß sich die Einwohner von Nicolosi nicht mehr aufrecht halten konnten, gegen Mittag stürzten die ersten Häuser ein, am Abend war der Ort ein Trümmerhaufen. Da, in der folgenden Nacht, um ein Uhr, barst der Boden. Drei Stunden den Berg hinan gähnte, sechs Fuß breit, eine Spalte, die in unheimlichem Lichte glühte. Im Laufe des nächsten Tages öffneten sich noch sechs Krater in ihrer Nähe. Sand- und Rauchsäulen drangen aus ihnen hervor, zwanzig Stunden weit hörte man das Donnern und Dröhnen, dreißig Stunden weit stob Sand und Asche. Neue Spalten brachen auf. Am Ende jener furchtbarsten aber bildeten sich am 23. März die Monti rossi, und wie eine feurige Sündfluth brach aus ihrem Schooße die Lava. Noch in der Nacht wälzte sich ihre Gluth gegen den älteren bewaldeten Krater Mompilieri, die Bäume desselben loderten in Flammen auf, die Lava staute sich, umfloß ihn und plattete sich dann zu einem über eine halbe deutsche Meile breiten Strom aus. Erdbeben und Donner über und unter der Erde begleiteten sie auf ihrem Weiterweg. Nun theilte sie sich, ein Arm erreichte Belpasso, eine Stadt von 8000 Einwohnern, die er im Feuer vernichtete. Der andere Strom wühlte sich durch unterirdische Höhlen fort: als die Lava wieder an’s Licht trat, sank der Hügel, dessen Grund sie geschmolzen, in sich zusammen. Dann kroch sie wie ein feuriger Riesendrache, noch immer mehr als eine Viertelmeile breit, gegen Catania vor, Dörfer und Städte verschlingend und verwüstend, Weinberge auf dem Rücken tragend – „wie ein Schmelzofen“ dampfte ringsum das Land. Dem inneren Gluthenstrom einen Seitenweg zu bahnen und ihn so von ihrer Stadt abzulenken, durchbrachen jetzt besorgte Catanesen seine verhärtete Kruste. Durch den Abfluß weiter oben gemäßigt, wälzte er sich nun langsamer dahin. Im Mai erreichte er dennoch die Mauern, brach verheerungbringend ein, vernichtete einen Stadttheil und stürzte in das Meer.

Der Kampf der beiden Elemente begann: das Wasser – seine Farbe verändert, seine Fische todt – bäumte sich wuthschäumend auf und übertönte mit seinem Prasseln den Donner. Am Himmel auf Wochen keine Sonne, auf Monate kein Blau. In den vierzig Tagen seiner Wanderung soll der Strom die Wohnstätten von 27,000 Menschen verwüstet haben – man sagt, daß von den 20,000 Bewohnern Catanias nur 3000 die Schreckenszeit überlebten. Die Menge der Lava jenes Jahres aber wird auf 760 Millionen Cubikmeter, das begrabene Land auf 3800 Hektare geschätzt. Noch nach acht Jahren rauchte beim Regen die Lava.

Jetzt sind die Monti rossi, die all das Unheil geboren, ein friedlicher Berg, dem die rothe Farbe ihres vulcanischen Gesteins verbunden mit der Doppelspitze, welche der Kraterrand zeigt, seinen Namen gab. Ginsterbäume und Wolfsmilchsträucher siedeln sich auf ihm an, zu seinen Füßen gedeiht der Wein. Rings umher Schaaren von erloschenen Kratern, bald kreisrund, bald hufeisenförmig, bald hoch, bald niedrig, bald noch kahl, bald schon bewachsen, zwischen ihnen und schwarzbraunen Aschefeldern mit mühsamen Anpflanzungen hindurch die gierigen Polypenarme der Lavaströme, die die Krater umschlingen oder sich an ihnen hinaufklammern.

Hoch über Allem ragt aus schneeigem Gürtel der Gipfelkrater des Aetna hervor, welch letzterer[WS 4] uns hier – wir sind bereits 2700 Fuß hoch – den ganzen Weg zu ihm hinauf schon überschauen läßt. Auf der anderen Seite in wundersamem Gegensatz die mit [319] Ortschaften durchsäete lachende Ebene in so jubelnder Farbenpracht, daß wir fast die schwarzen Verderbensströme übersehen, die auch sie durchziehen. Und darüber die gerade, scharfe Linie des Meeres.

Als ich zurückkehrte, fand ich den Führer und den Maulthiertreiber mit ihren beiden Thieren schon vor dem Wirthshaus. Eine gute Anzahl von Kindern, Weibern und Männern stand herum und sah sich die Abreise an – obgleich eine Aetna-Besteigung durchaus keine Seltenheit ist, so giebt’s doch für die Guten so wenig „Neues“, daß sich’s immerhin lohnen mag, ihr zuzusehen. Zudem klebt dem Fremden, der an so etwas Vergnügen findet, für die Nicolosianer etwas Geheimnißvolles an, etwa so, wie bei uns dem wegtransportirten Verrückten für die Straßenjugend. Es war gegen zwei Uhr Nachmittags, als wir die primitiven Sättel bestiegen hatten und unter den Glückwünschen halb Nicolosis aufbrachen.

So ging’s denn vorwärts.

Jenseits Nicolosi liegt auf dem Aetnagebiet keine Ortschaft mehr: man merkt’s, sobald man das Nest verlassen hat, am Wege, der von nun an der Fürsorge Gottes und des Aetna überlassen bleibt, wenn auch einmal eine heroische Anwandlung vorhanden gewesen ist, ihn noch ein Stück weiter zu bauen. Die Asche liegt einen oder ein paar Fuß hoch darauf, und wer bei dem Worte „Ritt“ an munteres Traben gedacht hat, wird bald eines Besseren belehrt: die Maulthiere waten oft knietief in schwarzem Staub und, während sie zum Erbarmen schnaufen, geht’s doch nur schleichend vorwärts. Doch läßt man sich’s gefallen, weil die umgebende Natur alle Gedanken fesselt.

Zunächst geht’s noch zwischen Weinpflanzungen fort, sie ähneln mit ihren Maulwurfshügeln von Asche, aus deren jedem ein niedriger Stock herausguckt, unseren Kartoffelfeldern – Feigenbäume stehen spärlich dazwischen. Auch Roggen- und Weizenfelder sehen wir zur Seite. Noch ein halbes Stündchen, und wir kommen, immer schärfer bergan reitend, in dem an, was sich mit ererbtem Namen „bewaldete Region des Aetna“ nennt.

Vor dem Wirthshaus in Nicolosi. Von Ch. Speier.

Jetzt ist – zum mindesten an dieser Seite des Berges – von Wald wenig zu finden. Von den uralten Eichen- und Kastanienriesen, die hier einst ihre mächtigen Wurzeln zu unentwirrbarem Netze verschlangen und im sechszehnten Jahrhundert den Cardinal Bembo zu hohem Preisen begeisterten, sieht uns nur selten und vereinsamt eine abenteuerliche Greisengestalt entgegen. Die Ausbeuterei gut sicilianischer Principi hat ihre Genossen gefällt: ihr Holz wird ja so gut bezahlt, und auf dem Boden, welchen sie urbar gemacht haben, kann man es zudem mit Roggenanbau versuchen. In neuerer Zeit baut man auch wieder Kastanien an.

In einer von den Anpflanzungen der letzteren liegt, etwa 4000 Fuß hoch, die Casa del Bosco. Sie sah uns freundlich an, wollten wir doch in ihr auf ein paar Stunden Halt machen. Den Feldhüter, der die Hütte bewohnt, hatten wir schon durch einen Schuß aufmerksam gemacht; er trat uns grüßend entgegen und lud ein zum Eintritt. Wir tranken von seinem Cisternenwasser und nahmen einen Imbiß, dann stiegen wir auf einen nahen Hügel, dem Untergang der Sonne zusehend.

In mildem Roth lag unter uns das Land. Dort unten, auf der heißen Ebene, über die mein Blick jetzt träumend hinwegschweifte, war’s glühender Sommer, hier oben war’s Frühling. Die leise wogenden niedrigen Kornfelder um mich her, das erste frische Grün der Kastanien, die unseren Buchen glichen, endlich ein Finke, welcher lustig seinen Triller schlug – mir war es, als träfe mich in all dem Fremden ein traulicher Heimathsgruß. Der Führer mußte mich lange mahnen, eh’ ich wieder zur Hütte zurückstieg.

Schon aber begann die gefürchtete Aetnakälte in ihren ersten Schauern zu spuken. Sie ist’s, die die Gefahr beim Besuch des Vulcans ausmacht, weit mehr, als die Schwierigkeit der eigentlichen Besteigung, von der ja Einer, der im Alpensteigen bewandert ist, überhaupt nichts bemerkt. Der enorme Temperaturunterschied aber zwischen dem halbtropischen Catania und dem eisigen Aetnagipfel hat schon Manchem böse mitgespielt, beträgt er doch schon im Durchschnitt dreiundzwanzig Grad. Meine Leute zündeten ein tüchtiges Reisigfeuer an und machten mir eine Lagerstatt zurecht. Von Schlafen war aber nicht die Rede, ich freute mich von meiner Ecke aus an dem malerischen Bilde, das sich mir bot. Die drei rauhen Gesellen, in ihre Felle gehüllt, um’s flackernde Feuer lagernd, wie sie so halb laut vor sich hin schwermüthige sicilianische Weisen summten, der Rauch, der an der Decke der erbärmlichen Bude entlang schlich und in die Ritzen und Spalten der schwarzgeräucherten rohen Balken und Bretter hineinkroch, vertrieben mir die Zeit im Fluge.

Um zehn Uhr brachen wir wieder auf. Ich stülpte mir eine mächtige Pelzmütze über den Kopf und schlug den schweren calabrischen Radmantel um die Schulter, um so, nordpolmäßig ausgerüstet, dem Froste besser trotzen zu können. In langsamem, schweigendem Ritt zogen wir dahin – in einem Ritt, den ich nie vergessen werde. Ueber Stein und Laven, oft knapp zwischen Schlackenblöcken hindurch, ging’s hinein in die Nacht, mühsam, die schnaubenden Nüstern am Boden, suchten die Maulthiere ihren Weg, oft steil hinanklimmend, dann wieder ein Stückchen jäh abwärts, ohne Rast der schwankenden Laterne nach. Da stieß der voranschreitende Treiber mit der Laterne an – sie zerbrach und erlosch. Aber Schritt für Schritt tastend und schnobernd, fanden die Thiere doch immer den Stein zum Tritt. Ueber uns der Sternenhimmel in einer Pracht, die Keiner zu denken vermag, die wir nur sehen können.

Die Kälte ward schneidender. Nach ein paar Stunden erreichten wir den Schnee. Wir stiegen ab. Der Maulthiertreiber zündete ein Feuer an, um hier mit den Thieren bis zu unserer Rückkehr zu warten. Zu Fuß ging’s weiter – Gott sei Dank, denn die Bewegung konnten wir brauchen, war’s doch so kalt, [320] daß die erstarrende Hand kaum den Alpstock umklammern konnte. Wir durchzogen eine todesstille, nächtige Winterwelt. Noch zwei, noch eine, noch eine halbe Stunde bis zur Casa inglese, dem Alpenclubhause – so machten wir uns Muth – und dann Feuer und Glühwein! O weh – die Casa inglese lag so tief im Schnee, daß an ein Eindringen nicht zu denken war. Vergebliche Versuche, uns am Feuer einiger Halme Stroh zu erwärmen, die wohl noch vom vorigen Jahr her hier oben liegen mochten....

Also weiter, weiter! War das nicht schon ein erster Geruch von Schwefel? Dann werden wir bald dort sein, wo die heißen Dämpfe den Schnee gethaut! Im Osten ward’s ein wenig heller – die schmale Sichel des abnehmenden Mondes tauchte herauf.

Ich blieb stehen. Ich schien mir auf einen fernen, fernen Planeten entrückt, den die Sonne aus ihrer unendlichen Ferne nicht mehr erwärmt, den sie kaum noch mit mattem, träumerischem Dämmerschein überhaucht. In lautloser Majestät herrschte rings nur der Tod; mir war’s, als würde kein Wort aus meinem Munde erklingen können, auch wenn ich den Versuch wagen wollte, es zu sprechen. Soweit ich, was ich sah, unterscheiden konnte, sah ich nur Eis und Schnee, hier und dort starrte stumm, wie ein verschneites Grabmal vergangener Titanengeschlechter, ein Fels daraus hervor. Doch was war das? Hoch oben vom Himmel herab ergoß sich ein breiter Schimmer bläulich silbernen Lichtes, matt, kaum viel stärker, als das Leuchten der Milchstraße in südlichen Nächten.

Es dauerte eine Weile, bis es mir klar wurde, daß, aus dieser Höhe gesehen, das Meer so hoch am Horizont hinaufsteigt, daß jener Schein ein Wiederglanz des Mondes auf seinem Spiegel war. Vom Lande drunten erkannte ich nichts, nur hier und dort glomm es wie Phosphorstückchen; nur so schimmerte der Glanz über den von Laternen erleuchteten Städten herauf, die tief unten schlummerten.

„Weiter, Signor, weiter – es wird bald dämmern!“

Der Zuruf des Führers schreckte mich wie aus einem Traume auf. Wir schritten vorwärts. Allmählich ward es heller.

„Signor, blickt dorthin – seht Ihr den Kraterrand?“

Ich blickte aufwärts. Wie eine breite, weiße Wolke wogte es über mir – die erste Bewegung in dem erstarrten Bilde um mich her.

„Und hört Ihr, Signor?“

Wie leises Zischen kochenden Wassers klang’s vor mir aus dem Boden.

„Wir sind am Krater, Signor! Muth, jetzt gilt’s das Schlimmste, aber dann sind wir oben!“

Ritt auf den Berg. Von Ch. Speier.

Da lag, selbst noch wie ein mächtiger Berg, der Gipfelkrater vor mir, der, von der Ebene aus gesehen, wie ein qualmendes Räucherkerzchen erscheint. Der Schnee reichte kaum bis an seinen Fuß, er selbst war frei davon – ich sah weshalb: an hundert Stellen stiegen aus dem steilen Abhang kleine Dampfwölkchen verschiedener Farbe hervor, schlängelten sich aufwärts und verflogen an der Luft. Da galt’s nun hinanzuklettern. Mühsam ist’s immer, heute aber war’s gefährlich, denn wo keine Gase ausströmten, war die Wand mit Glatteis überzogen, und wo wir Dämpfe passiren mußten, waren sie heute so stark, daß wir kaum athmen konnten – bei der Anstrengung des Steigens und der Dünne der Luft hier oben doppelt lästig. Hätten wir die Dämpfe immer gesehen, so wär’s noch angegangen, so aber kam ich mir vor wie von Kobolden geneckt, wenn ich aus einer gefärbten Dampfwolke in eine farblose, unsichtbare Gasquelle gerieth, aus deren Bereich ich eben nur durch Zufall entweichen konnte. Indessen ward es heller und heller; immer krampfhafter arbeiteten wir uns hinan, die Spitze noch vor Sonnenaufgang zu erreichen.

Coraggio! Muth! Muth!“ schrie der Führer mir und sich selbst ein über’s andere Mal zu. Dann fragte er mich wieder, ob mir Blut in den Mund käme, das erste Zeichen der durch die Höhe hervorgerufenen Aetnakrankheit. Und nun wieder zur Abwechselung ein herzhafter Fluch über die Dämpfe – der aus Luftmangel im Halse stecken bleibt. Ich hätte für einen Zug reiner Luft mitunter mehr gegeben, als für den Genuß, der mir bevorstand.

Endlich, endlich sehe ich, daß der Abhang sich über mir umbiegt – wie durch einen Zauberschlag strömen mir neue Kräfte zu, im Nu bin ich oben und trotz Gasen, Dämpfen und Brustschmerzen jauchze ich von seinem höchsten Rande einen jubelnden Jodler in den Krater hinab.

„Still, still, um Gotteswillen still – ’s ist der Teufel, Signor, der dort unten wohnt; Maria Santissima, ruft ihn nicht!“

Blaß vor Entsetzen rief mir’s der Führer zu. War’s der Aberglaube allein, der aus ihm sprach, oder die Erfahrung, daß schon ein lauter Schall die durchgrabenen Wände des Kraters zum Einsturz bringt? In hundertstimmigem höhnendem Echo hallte währenddem mein Jubelruf zurück. Ich verstummte und staunte in die Tiefe.

Ein gigantischer Felsenkessel liegt der Krater vor mir, drei Viertelstunden im Umfang, groß genug, um eine Stadt in sich zu bergen – und ohne Ende, ohne Grund, denn die Tiefe drunten, die sich erst dem Auge des weit Uebergebeugten zeigt, ist ein brodelndes Dampfmeer. Aber nur auf Secunden zieht sich’s soweit in sich zusammen, wie ich’s jetzt sehe – sonst ist’s ein rastloses Wogen, Kochen, Bäumen, Emporschießen, Zurückstürzen und zischendes Wiederaufschnellen. Und doch ist es diese Hauptmasse der Dämpfe nicht, die mich am gewaltigsten fesselt – ungleich mehr bannt der Anblick, den der furchtbare Schlund als Ganzes bietet.

Aus allen Ritzen seiner Wände kriechen Wölkchen hervor, tausende, tausende. Von anderen Gasen und Dämpfen aber, die unsichtbar zwischen die sichtbaren hineinspielen, werden sie zum wunderbarsten Tanze getrieben. Ich mag mich sträuben, soviel ich will, ich muß in diesen zahllosen bleichen Gestalten, die der Schwerkraft durch eigenen Willen zu spotten scheinen, unheimliches Leben sehen. Wie sie jetzt rings hervorlugen und hervorkriechen, jetzt aufschweben, jetzt niedertauchen, sich nun umschlingen, jetzt zusammenschmelzen, sich wieder lösen und umkreisen und trennen,

[321]

Der Aetna vom Ufer des Simeto gesehen.
Originalzeichnung von A. Metzener.

[322] und nun plötzlich im Augenblick verwehen – Geisterschaaren sind’s, die nach dem Pfeifen des höllischen Musikanten drunten tanzen! Und das Alles über dem Wogen des Gischts, der die unheimlich ausgelassene lustige Schaar bald emporjagt, bald erreicht, bald hinabzieht, bald ein Weilchen mit ihr mitspielt und mittollt, während kleine Flämmchen ihn dann und wann durchblitzen oder wie Irrlichter hin und her huschen. Das ist der echte Hexentanzplatz – kein Dichter hat ihn so dämonisch fesselnd geschildert, wie ich ihn sehe.

„Die Sonne kommt!“

Und nun den Blick zur Aussicht.

Sie, die großartigste Europas, ist oft geschildert worden. Ich habe für die Aufzählung von Ortschaften und Bergspitzen keinen Sinn – was sind mir Namen, wo ich genießen will! Tief unter mir liegt ganz Sicilien, nur ein Stückchen im Westen erreicht den Horizont, sonst fließt, wie der Fluß Okeanos um die Erde, ringsum das ewige Meer. Wie eine langgestreckte Insel taucht das Festland Italiens daraus hervor, wie ein ferner Punkt im Süden Malta, im Norden – ein märchenhafter Anblick – verloren in der Fluth die rauchende Pyramidendreizahl der liparischen Vulcane.

Und jetzt glüht die Sonne empor: ihr erster Gruß trifft unter vielen Millionen heute mich. Und nun röthet sich unter mir der Schnee, nun glühen die Aetnafelsen purpurn herauf, violett die Ströme der Lava. Und nun regt sich’s im weiten Berggebiete – wo ich bisher nur grau gesehen, da hauchen Farben und wieder Farben über’s Land. Nur die Ebene liegt noch in tiefer Ruhe – nein, jetzt erwacht auch sie: das gewaltige Dreieck, das der Aetnaschatten umschließt, ist allein noch gebannt. Alle Einzelfarben aber scheinen in einem flammenden Purpur zu schmelzen, in Purpur auch das Meer. Was frag’ ich jetzt, wo Syrakus liegt und Malta und Stromboli – ich schaue hinab und hab’ nur das eine Gefühl: das ist die Welt! –

Ich mußte aufbrechen, ich mußte scheiden, denn immer wilder drangen die Dämpfe empor, und bald brannten mir Brust und Hals glühend. Bitter empfand ich’s, daß auf Erden nichts vollkommen ist und kein Genuß voll.

Bei Nicolosi.0 Von A. Metzener.

Diesmal ging’s, des Glatteises wegen, eher langsamer den Kratergipfel hinab, als schneller, wie’s natürlich sonst im Vergleiche zum Aufstiege der Fall zu sein pflegt. An der verschneiten Casa inglese machten wir Halt, um uns an Speise und Trank zu stärken. Dann besuchten wir die Torre del Filosofo. Es sind die Trümmer eines alten Baues, den die römische Kaiserzeit errichtet haben soll, man glaubt, zum Schutzhause und zur heiligen Stätte, von der die Besucher des Aetna zu den Göttern flehten. Das Volk nennt sie den Thurm des Zauberers und bringt sie mit Geschichten in Verbindung, die unschwer ihren Ursprung aus der Tradition vom Tode des Empedokles erkennen lassen. Soll sich doch der alte Herr, um seine Leiche vor dem Auffinden zu bewahren und um somit möglichst wunderbar von der Welt verschwunden zu erscheinen, in den Aetna gestürzt haben – der aber war nach Lucian indiscret genug, bei der nächsten Eruption durch Auswerfen eines recognoscirbaren Pantoffels unseres Philosophen Geheimniß zu verrathen. Vielleicht war’s auch hier, wo Hadrian, der kaiserliche Tourist, den damals schon berühmten Sonnenaufgang vom Aetna genoß. Jetzt ragen nur noch ein paar Mauerreste melancholisch aus der Oede hervor. Kein Epheu umwuchert sie mit seinen blühenden Armen, aber mit gespenstischem blassem Finger umtastet den todten Stein die Sage.

Weiter – wir blicken vom oberen Rande schaudernd in die Valle del Bue hinab, in das „großartigste Amphitheater der Welt“, aber auch das grauenvollste. Eine Kluft von zwei und einer halben Stunde im Umfang, von senkrecht herabstürzenden Wänden gebildet, mit nur einem Ausgange liegt vor uns. Drei rothe Krater brechen in der Tiefe aus dem gezackten Schwarz hervor. Der leise Rauch, der aus dem größten derselben noch aufdringt, ist das einzige Bewegte, sonst Todesstarre ringsumher.

Weiter, weiter – wir sehnen uns nach Leben, nach Vögeln in der Luft, nach Pflanzen auf der Erde, nach Stimmen, die uns verstehen. Wir verlassen den Schnee, wir begrüßen den ersten grünen Schimmer, der erste Strauch löst endlich unsere Zunge wieder zur Plauderei. Und da sind ja auch unsere Maulthiere – nun schnell, Meister Langohr, hinunter, daß wir etwas Warmes zu essen bekommen und etwas Kaltes zu trinken.

„Gute Rückkehr!“

„Ah, Sandro, da seid Ihr – hier Euer Trinkgeld für den Mantel!“

Der Hüter der Casa del Bosco reicht uns erst einen frischen Trunk, dann die Hand zum Abschiede. Bäume um uns her – wir können schon ihren Schatten brauchen, denn es wird schnell wärmer. Wieder Gehölz, wieder Lava, Felder, Gehölz, Felder, dort vor uns liegt es ja schon: Nicolosi!

Mich aber fesselte mehr als je die Aetnawelt, die mich umgab, sie, dieser gewaltige Riesenkessel, der bald hier, bald fünf Meilen davon einen neuen Krater, oder zwei, oder ein halbes Dutzend derselben aus dem Boden emportreibt. Noch einmal genoß ich mit ganzem Auge dies gewaltigste Bild des Kampfes zwischen Leben und Tod. Auf diesen selben furchtbaren Massen, die heute tiefschwarz, zerzackt und zerklüftet starren – wer weiß, ob nicht auf ihnen schon nach ein paar Jahren der Cactus mit seinen schneidenden Wurzeln frischem jungem Leben den Pfad gebahnt haben wird? Der Mensch aber baut sich aus demselben düstern Steine, der seine alten Dörfer vernichtete, seine neuen Dörfer auf, und dieselbe Asche, die seine Eltern begrub, nährt seinen Kindern den Wein. Wer freilich weiß, wann ein neuer Ausbruch den Weinberg – wieder zum Krater macht?

Nach kurzer Rast und Mahlzeit verließ ich Nicolosi wieder und wanderte nach Catania hinab. Die Sonne des Tages, die mir über Schnee und Eis aufgegangen, ging mir hinter Limonen, Palmen und Bananen unter.


[323]
Blätter und Blüthen.


„Gesellschaft der Waisenfreunde.“ So nennt sich der Verein, dessen Gründung in dem Artikel „O Weihnacht, wo kein Kind im Haus“ („Gartenlaube“ 1883, S. 766) angekündigt und der seitdem in’s Leben gerufen worden ist. Die vielen Zuschriften und Anfragen, welche in Folge jenes Artikels an die Redaction ergangen sind, machen es uns zur Pflicht, das Programm dieser Gesellschaft hier mitzutheilen und den vielen Kinderfreunden unter unseren Lesern den Weg zur Erlangung der Mitgliedschaft derselben zu erleichtern. Es folge zunächst das

Programm
der
Gründung eines Vereins zur Versorgung von Waisen in kinderlosen Familien.

§ 1. Name des Vereins: „Gesellschaft der Waisenfreunde“.

§ 2. Zweck: Versorgung von Voll- oder Halbwaisen in finanziell, sittlich und gemüthlich befähigten, namentlich kinderlosen Familien zur Annahme und Erziehung bez. Adoption.

§ 3. Mitgliedschaft. Jede selbstständige, unbescholtene Person, männlichen oder weiblichen Geschlechts, welche die Absicht hat, sich der Noth armer Waisen in Liebe zu erbarmen und im Interesse derselben zu wirken, kann Mitglied werden. Sie hat sich zu dem Zwecke bei dem Vorstande (§ 6) unter Angabe der vollständigen Adresse zu melden und einen jährlichen, freiwilligen Beitrag, nicht unter 3 Mark, zur Bestreitung der Kosten zu gewähren.

§ 4. Aufgabe der Mitglieder: Die Mitglieder haben

     1) den Vorstand auf das Vorhandensein versorgungsbedürftiger Voll- oder Halbwaisen aufmerksam zu machen;

     2) die bezüglichen Fragebogen auszufüllen und den Vorstand durch etwa nöthig sich erweisende Verhandlungen mit den Vormündern bez. der Vormundschaftsbehörde zu unterstützen;

     3) kinderlose vermögende Ehepaare, die gern ein Waisenkind als eigen annehmen wollen, auf die Bestrebungen des Vereins aufmerksam zu machen und den Vorstand davon in Kenntniß zu setzen;

     4) dem Vorstande gewissenhafteste, genaue Auskunft über die finanzielle, sittliche und gemüthliche Befähigung von Personen, welche Waisen annehmen wollen, auf dessen Anfordern zu ertheilen;

     5) durch Empfehlung des Vereins und Werbung für denselben den Mitgliederstand nach Möglichkeit zu vermehren;

     6) den nach § 3 bestimmten Jahresbeitrag alljährlich im Monat Januar für das laufende Verwaltungsjahr an den Cassirer einzusenden.

§ 5. Corporative Mitglieder. Auch Corporationen wie Stadtvertretungen, Ortsgemeinderäthe, Bezirks- und Kreisvertretungen, Freimaurerlogen können als solche die Mitgliedschaft erlangen und hat der jedesmalige Vorsteher derselben die Vertretung zu übernehmen.

§ 6. Vorstand: Derselbe besteht zur Zeit aus den am Ende dieses unterzeichneten Personen.

§ 7. Verwaltungs- und Rechnungsjahr ist das Kalenderjahr.

§ 8. Aufwand. Alle Aemter sind Vertrauens- und Ehrenämter. Nur unumgängliche Ausgaben werden aus der Vereinscasse bestritten. Etwaige Ueberschüsse sind zu einem Fonds zu Nutz und Frommen der Waisenversorgung anzusammeln.

§ 9. Generalversammlung. Sie findet während der Ostermesse zu Leipzig statt und wird Zeit und Ort durch die „Gartenlaube“ rechtzeitig bekannt gemacht.

Der Vorstand.

Dr. Friedrich Hofmann, Redacteur der „Gartenlaube“, in Leipzig, Vorsitzender. Karl Otto Mehner, Schuldirector in Burgstädt bei Chemnitz, Geschäftsführer. K. Glob. Dießner, emerit. Direktor, in Leipzig, Cassirer. Dr. Messerschmidt, Stadtrath in Leipzig, Beisitzer. O. Staudinger, Procurist von E. Polz in Leipzig, Beisitzer.

Um die Mitgliedschaft zu erlangen, sendet man einen ersten Jahresbeitrag (also nicht unter 3 Mark) an den Cassirer (Herrn Director K. G. Dießner, Leipzig, Emilienstraße 9) ein und empfängt dafür Mitgliedskarte und Programm.

Wenn in einer kurzen Reihe von Jahren und ohne die Hülfe äußerer Verbindung dem Zusammenwirken zweier Männer es möglich war, in 82 kinderlosen Ehepaaren den Wunsch nach Annahme einer armen Waise an Kindesstatt zu erwecken und der Mehrzahl derselben auch zu erfüllen, so darf man sich wohl der Hoffnung hingeben, daß ein freudiges Zusammenarbeiten von Hunderten, ja vielleicht Tausenden für denselben Zweck bald ebenso viele Elternherzen um die schönsten und seligsten Freuden des Hauses bereichern werde. Wer es erst erfahren hat, wie sanft ein Kinderhändchen streicheln, wie lieb ein Kindermund bitten, danken und lachen und wie bezaubernd ein Kindesauge blicken kann, der weiß, was der Schatz werth ist, den er in einem Kinde empfängt.

Der Wunsch nach einem Kinde will aber anders behandelt sein, als jeder andere Wunsch; er ist zarter Natur und meidet scheu die Oeffentlichkeit. Dieses Gefühl haben wir zu achten, und da es im Programm nicht ausgesprochen ist, so sei es hiermit erklärt und von allen Mitgliedern der Gesellschaft der Waisenfreunde gefordert, daß sie in ihren Bemühungen für unsere Zwecke jeden einzelnen Fall als ein Geheimniß behandeln, von welchem nur sie und der Vorstand Kenntniß haben dürfen. Gelingt der große Wurf, ein Elternpaar mit einem Kinde so glücklich zu machen, daß es selbst seine Freude offenbart, so ist das seine Sache. Wir haben auch bei unseren Berichten über die Erfolge unserer Thätigkeit stets nur Zahlen, niemals Namen zu nennen.

Einen Bericht können wir schon heute erstatten: wir dürfen unseren Anfang preisen, denn ein alter Kinderfreund ist dem Verein als Erster mit einer Jahreszahlung Von 100 Mark beigetreten.

Möge das Unternehmen der Waisenfreunde kräftig aufblühen und im freudigen Wetteifer mit dem Reichswaisenhause dem beklagenswerthesten Theil der deutschen Kindheit zum Heil gereichen! Fr. Hofmann.     



Eine südafrikanische Wüstenpflanze. Im vergangenen Sommer besuchte der wohlbekannte Meteorologe Freiherr Dr. A. von Danckelman, nachdem er über ein Jahr in der Station Vivi am Congo seinen Studien obgelegen hatte, auch die südlichen Küstenstriche von Unterguinea. In der portugiesischen Colonie Benguela unternahm er von Mossamedes aus eine Forschungstour in das Innere, erstieg das Chellagebirge und verkehrte mit den Boers, welche sich nach ihrem unheilsvollen Zuge quer durch Südafrika in Benguela niedergelassen haben. Unweit Mossamedes sammelte der Forscher das kaum seit einem Vierteljahrhunderte bekannte und von Hooker nach dem Entdecker, dem österreichischen Botaniker Welwitsch Welwitschia mirabilis benannte, in der That wunderbare Gewächs, welches wie ein Ueberlebsel längst vergangener Zeiten sich bis zur Gegenwart erhalten hat.

Es giebt nicht viele Exemplare der Welwitschia in Europa und viele Fachleute haben sie noch nicht in Händen gehabt. Außer dem Entdecker selbst hat später Monteiro, der Autor eines ausgezeichneten Buches über das südliche Unterguinea, verschiedene Exemplare nach England gesandt. Nun hat auch Dr. von Danckelman die botanischen Sammlungen von Hamburg, Dresden und Leipzig mit Welwitschien bereichert. Die nach Dresden gelangte jüngere und lebensfähige Pflanze ist in beifolgender Abbildung wiedergegeben. Es ist ferner Dr. von Danckelman geglückt, ein anderes, ebenfalls von Welwitsch in dem betreffenden Gebiete entdecktes und kaum minder seltsames Gewächs, Sesamocarpus benguellensis Welw., noch lebend nach Europa zu bringen, welches nun seit Monaten im botanischen Garten zu Leipzig trefflich gedeiht.

Welwitschia mirabilis.
Nach einer Natur-Aufnahme von Dr. Pechuel-Loesche.

Die Heimath dieser Pflanzen ist ein echtes Stück Wüste, welches wie die Sahara im Norden die begünstigteren Striche Westafrikas im Süden abgrenzt. Jenseits der Congomündung beginnt in Folge ungenügenden Regens die Küstenvegetation ärmlich zu werden. Waldwuchs findet sich nur noch an Flußufern oder auf sumpfigem Boden. Das höhere Land trägt getrennt von einander und büschelförmig wachsende Gräser, in welche lockere Gruppen starrer, wunderlich geformter Wolfsmilcharten, riesiger Affenbrodbäume, struppiger Fächerpalmen eingestreut sind, mit denen niedrige Dornhage abwechseln. Je weiter nach Süden, um so kümmerlicher wird die Vegetation, um so öder die Landschaft. Die Bäume verschwinden fast gänzlich, die Gräser decken kaum noch einzelne Stellen, die Gestrüppe lösen sich in vereinzelte graugrüne Dornbüsche auf; Aloe-Arten erscheinen, und allmählich gewinnt der Küstenstrich einen überaus trostlosen Charakter. Der nackte, aus Sand, Grus und Felsen bestehende Boden ist unbeschattet den sengenden Strahlen der Tropensonne ausgesetzt und wird manchmal jahrelang nicht durch Regen erfrischt.

Von Süden her wälzt sich ein kalter Meeresstrom an der Küste entlang und erniedrigt die Lufttemperatur, Ueber dem Meere lagern Nebel- und Dunstbänke, die bisweilen unheimlich schnell vor dem Seewinde her landeinwärts rollen, wie ein grauer Vorhang den wolkenlosen Himmel verhüllen und sich wieder auflösen.

Das ist die Heimath der Welwitschia. Auf einem so trostlosen Stück Erde ist auch das saubere portugiesische Küstenstädtchen Mossamedes erbaut, welches als eine Gesundheitsstation für alle unter dem Tropenklima Leidenden gilt. Etwa 800 Weiße wohnen daselbst und es ist der einzige Ort im tropischen Westafrika, wo auf die Dauer ein Familienleben für Europäer möglich ist, wo deren im Lande geborene Kinder fröhlich gedeihen. Wasser ist selten und wird aus Brunnen gezogen, denn die Flußbetten sind fast immer leer. Trotzdem hat Menschenfleiß an günstiger Stelle im Norden des Städtchens einige Pflanzungen und an den Häusern einige Gärten angelegt, welche künstlich bewässert werden. Da gedeihen Baumwolle und Zuckerrohr, Kohl, Kartoffeln, Gurken, Weintrauben für die Einwohner, Gras für die wenigen Hausthiere. Längs des Strandes verläuft eine mit kümmerlich gedeihenden Kokospalmen bepflanzte Promenade.

[324] Ein mühsamer Marsch von etlichen Stunden durch die Wüste führt zu den nächsten Welwitschien. Sie finden sich vereinzelt oder in Gruppen von dreißig bis fünfzig, und zwar nordwärts bis zu dem Flusse San Nicolau unter 14 Grad südlicher Breite, südwärts bis weit in das Damara-Land hinein. Eine Pflanze, die unter so absonderlichen Verhältnissen ihr Dasein fristet, muß in der That auch ganz eigenartig, den Bedingungen angepaßt sein. Sie hat die andauernde Dürre, die Gluth der Tropensonne und des übermäßig erhitzten Sandes wie die jäh eintretende nächtliche Abkühlung zu ertragen. Die Welwitschie ist ein Baum von rübenähnlicher Gestalt, der sich bis zum Wipfel in die Erde geflüchtet hat und seine Wurzeln in die Tiefe hinabsendet, wo noch ein wenig Feuchtigkeit vorhanden ist. Selbst die größten Exemplare ragen kaum einen Fuß über den Boden auf. Der freistehende Obertheil zeigt bei den jüngeren eine mehr oder minder ausgeprägte Zweitheilung, welche im Alter mehr und mehr verschwindet und sich in einer muldenähnlichen Einsenkung verliert. Sehr alte Welwitschien nehmen daher die Form eines nach der Mitte vertieften Tisches oder eines umgekehrten, des Stieles beraubten Hutpilzes an und ihr Aussehen erinnert eher an alles Andere als an eine Pflanze.

Nach den Keimblättern entwickeln sich die beiden zwei Meter und darüber lang werdenden Blätter, welche die Pflanze niemals abwirft oder ersetzt, selbst wenn sie im Laufe der Jahrzehnte an den Enden gänzlich zerfasern und vertrocknen. Diese sonderbaren Blätter oder blattartigen Lappen stehen einander gegenüber, sind mattgrün, lederartig und spalten sich mit zunehmendem Alter in ihrer ganzen Länge in viele Streifen, welche wie leicht gewellte oder geringelte Bänder sich um die Pflanze ausbreiten. Auf dem oberen Rande des Stammes sprossen die orangefarbenen, Tannenzapfen gleichenden Blüthen und Fruchtstände auf mehrfach verzweigten Stielen hervor.

Die größte von Dr. von Danckelman mitgebrachte Welwitschia, welche der Sammlung der Universität Leipzig überwiesen wurde, besitzt ohne Wurzeln ein Gewicht von 25 Kilogramm. Noch größere Exemplare sind aus der Umgegend von Mossamedes seit einiger Zeit weggeholt und als Sitzplätze im Garten eines portugiesischen Arztes aufgestellt, andere sind sorglos vernichtet worden. Alle Welwitschien zeigen ein kränkliches Aussehen; junge Pflanzen finden sich äußerst selten. So scheint dieses wunderbare Gewächs, gewissermaßen ein noch lebender Zeuge vergangener Zeiten, dem Aussterbem entgegen zu gehen.


Das Auge des Gesetzes. (Mit Illustration) Was heute so spät noch los sein mag da drinn’ in dem etwas zurückgelegenen, sonst so ruhigem Wirthshaus? Geburtstag des Wirthes oder eines Stammgastes, Tanzkränzchen oder Stiftungsfest? Ei, das müßte doch der stock- und säbelbewaffnete Herr Rottenmeyer wissen, ist er doch im ganzen Städtchen bekannt, wie wohl Keiner außer ihm! Und da sollte ihm ein so wichtiges Ereigniß, wie eines der hier genannten, nicht zu Ohren gekommen sein, ihm, dem Rottenmeyer, dem allzeit offenen Auge des Gesetzes, dem kein Winkelchen der engsten Gasse und kein einziges Menschenkind im ganzen Städtchen verborgen war? Rein nicht möglich! Da muß es sich um etwas Anderes handeln. Herr Rottenmeyer, der schon an dem Häuschen vorübergegangen war bis an die vorspringende Ecke, hielt schnell inne und horchte um sich. Hm, da wird doch nichts Geheimes im Spiele sein? Thür verschlossen, Fenster verriegelt – sehr verdächtig! Aber wartet, einen Wächter des Gesetzes überlistet man nicht und am wenigsten einen Rottenmeyer. Da macht man Kehrt und schaut sich um, und wo das Auge nicht reicht, da wird das Ohr zu Hülfe genommen. Alsbald steht Herr Rottenmeyer dicht unter dem Fenster und horcht. Sein Verdacht steigert sich merklich, denn allerlei dumpfe Laute vernimmt er von jedenfalls mindestens vier oder mehr Männern, und dazwischen Klopfen und Lachen ... Herr Rottenmeyer räuspert sich bedenklich. Da muß man sehen können, murmelt er vor sich hin, und mit großer Genugthuung entdeckt er eben ein paar runde Oeffnungen in dem einen der Fensterläden, die ihm alsbald Aufklärung geben sollen. Die eine Hand auf’s Knie gestützt, die andere gegen den Laden gelehnt, den derben Rohrstock aber unter dem Arm, so lugt er gespannt hinein in das verdächtige Zimmer. Und richtig, da drinnen werden allerlei heimliche Pläne geschmiedet, so heimlich, daß jeder der Männer sich hütet, sich selbst auch nur dem einen oder andern der Anwesenden zu verrathen. Das Auge des Gesetzes aber überschaut die Situation bald, und über die etwaigen gemeingefährlichen Bestrebungen dieser Männer schnell beruhigt, sucht es nur noch zu ergründen, ob es sich nicht täusche oder ob es wirklich auch den gestrengen Herrn Bürgermeister bei gemüthlichem Scatspiel vor sich sehe!

Das Auge des Gesetzes.
Nach dem Oelgemälde von Carl Kronberger.


Großmutters Gehülfin. (Mit Illustration S. 316.) Schon lange steht die kleine Enkelin dort neben dem Sessel der Großmutter; still und träumerisch sieht sie zu, wie die fleißige Hand der betagten Näherin Stich um Stich die für die alten Augen nicht mehr leichte Arbeit weiter fördert. Sie schaut und sinnt, und in ihrem Herzen lebt und webt nur der eine Gedanke, wie schön es sein müsse, auch so schaffen und arbeiten zu können, so still und freudig wie hier die Großmutter. Vorläufig freilich hat’s damit noch Zeit, denn die herzustellende Arbeit ist wohl noch zu schwer für die kleine Zuschauerin. Aber helfen kann sie, und sie thut es freudig: das Nadelöhr ist gar zu klein, und das Auge der Großmutter ist nicht mehr sicher genug, als daß sie den feinen Faden noch sollte hindurchleiten können, – da kann die Enkelin einspringen, diensteifrig, aufmerksam und liebevoll!


„Haarüh!“ Heine schreibt in seinen Memoiren (siehe S. 231 in Nr. 14 dieses Blattes), er wisse nicht, ob dieses Wort der Rufname von Michel’s Esel oder nur ein Stichwort gewesen sei. Viele nichtrheinische Leser werden es ebenso wenig zu deuten wissen, wie Heine. – Den letzteren geschieht, bei dem Interesse, das die „Memoiren“ erregen, vielleicht ein Gefallen, wenn wir ihnen dieses „Homonym“ von Heine’s Rufnamen Harry erklären. – Derselbe besteht eigentlich aus zwei Worten: aus „Haar“ und „Ueh“. Das erste heißt in der rheinischen Volkssprache so viel wie: „Nach links!“, das zweite ist ein Ermunterungszuruf an den Esel und lautet am Rhein auch noch: „Jüh!“ Es will so viel sagen, wie: „Vorwärts!“ Wenn ein Fuhrmann z. B. sein Gefährt – und das scheint bei Michel stets der Fall gewesen zu sein – auf der rechten Seite der Straße vor einem Hause stehen hat und er will nach Besorgung seiner Geschäfte nunmehr weiter fahren, so tritt er an die linke Seite seines Thieres und ruft ihm ein „Haarüh!“ zu, um es nach der Straßenmitte zu lenken und es zugleich zum Anziehen zu ermuntern. – Damit erklärt sich das für Heine’s frühe Jugend so verhängnißvoll gewordene tragisch-humoristische Homonym aus Michel’s Munde hinreichend. – Um auch das Pendant zum „Haarüh!“ zu geben, fügen wir noch an, daß in der Fuhrmannssprache „Hoit!“ das Entgegengesetzte von „Haar!“ sagt, also: „nach rechts!“ Hätte der rheinische Sandfuhrmann damals nur immer nach rechts fahren können, um zur Straßenmitte zu gelangen, so hätte gewiß das „Haarüh!“ durch Heine’s Memoiren nicht eine komische Berühmtheit erlangen können, da der Michel in dieser Lage dann sicher stets ein „Hoitüh!“ seinem Grauchen zugerufen hätte. X.     




Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 18:


Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.



Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 18:
Erst besinnen, dann beginnen.



Auflösung des zweisilbigen Räthsels in Nr. 18: 0 Landwehr.




Inhalt: Salvatore. Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein (Fortsetzung). S. 309. – Aus Heinrich Heine’s letzten Tagen. Die Mouche – Frau Caroline Jaubert. Von Eduard Engel. S. 312. – Altdeutsches Tanzlied. Nach Neidhard von Reuental (um 1220). Mit Illustration. S. 313. – Die höheren Töchterschulen. Ein Wort für unser Haus. Von Ferdinand Sonnenburg (Schluß). S. 315. – Eine Besteigung des Aetna. Von Ferdinand Avenarius. S. 317. Mit Illustrationen S. 317, 319, 320, 321 und 322. – Blätter und Blüthen: „Gesellschaft der Waisenfreunde“. Von Fr. Hfm. S. 323. – Eine südafrikanische Wüstenpflanze. Mit Abbildung S. 323. – Das Auge des Gesetzes. Mit Illustration S. 324. – Großmutters Gehülfin. S. 324. Mit Illustration S. 316. – „Haarüh!“ – Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 18. – Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 18. – Auflösung des zweisilbigen Räthsels in Nr. 18. S. 324.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Entnommen dem Buche „Les derniers jours de Henri Heine“ par Camille Selden (Paris 1884, C. Lévy), von welchem übrigens soeben eine deutsche Uebersetzung (bei Costenoble in Jena) erscheint.
  2. Oder neunundfünfzigiährig, denn mehr und mehr findet die Annahme Bestätigung, daß Heine am 13. December 1797, nicht 1799 geboren worden. Der Scherz, er sei am 1. Januar 1800 geboren, also der erste Mann des Jahrhunderts, ist eben – ein Scherz; übrigens würde Heine selbst dann noch ein Mann des 18. Jahrhunderts seiner Geburt nach sein, auch wenn er wirklich am 1. Januar 1800 geboren wäre, was vollkommen unbegründet ist.
  3. Die von Camilla Selden neu veröffentlichten Briefe sind zwanzig an der Zahl; dazu kommen fünf schon gedruckte; außerdem gehören zu diesen „wohl an hundert Blättern“ noch die Manuscripte der fünf bis sechs Gedichte an die „Mouche“ unter denen einige ziemlich lange, – bis auf eines übrigens längst gedruckt; dieses eine erscheint soeben in einem von mir herausgegebenen Nachtragsband zu Heine’s Werken.
  4. An verschiedenen Orten, z. B. in Leipzig, ist in der städtischen höheren Mädchenschule der Nachmittag frei.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ein Pseudonym von Elise Krinitz (1825–1896), deutsche Schriftstellerin und Pianistin. Der erste Besuch bei Heine fand am 19. Juni 1855, der letzte fünf Tage vor seinem Tod 1856 statt.
  2. Im Original folgt der Vers: „Du wirst zerstieben, wirst verhallen.“
  3. im Original: wilder
  4. Vorlage: letzerer