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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[609]
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Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

„Ein Weib! Suche nach, Johannes, in der Geschichte der Welt, von Adam an bis heute – die Ursache des Bösen in der Welt ist das Weib, und einer Frauen Schönheit ist wie Gift, berauschet die Sinne und machet das Herz elend. Wenn Freunde sich entzweiten, Familienglück zerriß, Ehen sich trennten, die Kriegsfuria über die Länder sich ergoß – cherchez la femme – où est la femme? Und Voilà, sie war stets zu finden, schuldig oder unschuldig – das Böse in der Welt ist das Weib. Und wenn es wahr ist, daran Du felsenfest glaubst, daß es einen Teufel gebe, der in der Welt umhergehet und suchet, wen er verschlinge, so gehet er wahrlich um in eines schönen Weibes Gestalt. Lasse getrost Pferdefuß und Hörner bei Seite, Johannes!

Es war um die heilige Weihnachtszeit, da ich sie zum ersten Male gesehen. Ein Wetter tobte über die Berge daher, daß es schien, als sei die wilde Jagd noch niemalen so arg über den Harzwald gezogen. Es pfiff und sauste und heulte um mein altes Eulennest, als sängen alle bösen Geister einen Triumphgesang; dazu prasselte ein Regen mit Schneeflocken untermischt gegen die verschlossenen Läden meines Gemaches; ich hatt' just mein nasses Fußzeug abgestreifet; denn ich war eben mit Büchs und Hunden heimgekommen, der Teufel weiß, verdrießlich genug, ohne eine Kugel versandt zu haben.

Da klopfete es draußen, und dieweil niemalen Abends Jemand einsprach in mein einsam Haus, am wenigsten bei solchem Unwetter, so hieß ich die Hunde schweigen, ging hinaus und öffnete die Thür, die mir von dem Sturm allsogleich aus der Hand gerissen ward.

Da stund sie auf der Schwelle. Johannes, wenn ich dermalen gewußt, wen ich eingelassen! Ein Weib, so königlich, schlank und stolz, und doch so demuthsvoll das schöne Haupt gesenkt; und der Sturm zerrete an ihren Gewändern und wirbelte den Schleier von dem weißen Antlitz und ließ mich in ein paar blaue Augen schauen – Die Augen – Johannes!

„Ein Obdach,“ heischte sie, „und Hülfe“! Der Wagen liege zerbrochen nahebei am Wege; der Kutscher sei bei den Pferden geblieben. Ich öffnete meines Zimmers Thür und hieß sie eintreten; sie bückete sich unter der niedern Gewölbung, und als sie dann neben mir stand, da reichete mir das blonde Haupt doch nur bis zum Kinn. – Ich war ungeschickt immer gegen Frauen, doch flog ein Lächeln um ihren ernsten Mund, als sie sah, wie ich mich mühete ihr Höflichkeit zu erweisen.

„Ich danke, Monsieur,“ sagte sie, und warf den Mantel ab; dann nahm sie den nassen Schleier vom Kopfe, setzte sich in den Lehnstuhl am Kamin und lockete meinen Cäsar; der legete zutraulich den Kopf auf ihre Kniee, und sie streichelte ihn mit ihren weißen zarten Händlein. Ich stand in Gedanken verloren vor ihr und schaute sie an; seltsamlich kam es über mich, da in meinem einsamen Stüblein ein Weib saß. Fremd, und doch so süß vertraut dünkete es mich, und ich vergaß Alles über solch' anmuthig Bild, bis sie mich bat, ich solle ihrem Kutscher Hülfe senden.

Da hastete ich fort in Schreck und Verlegenheit und gebot dem Jobst, er solle die fremden Mähren sorglich verpflegen und den Kutscher mit Bier und Imbiß laben, und im oberen Gestock solle sein, des Jobsten, Weib ein Kämmerlein herrichten für die Dame, da sich zeigete, daß das Gefährt zu arg beschädigt und sie in diesem Wettergraus nicht weiter könne.

Und es kam, daß ich mich nicht in mein eigen Gemach getrauete vor Herzklopfen und Verlegenheit, als ich mich aber dennoch überwand und vor ihr stand, da dankte sie mit süßen Worten, und ihre Augen sahen holdselig zu mir empor, bis sie sich senketen vor den meinen und ihr lilienweiß Antlitz sich röthete. Und so saßen wir stumm bei einander, und draußen tobete das Wetter und riß ungestüm in dem Geäst der hohen Linden.

Ich bin ein unbeholfener Gesell; ich konnt' nicht reden, sah sie nur an und wehrete dem Hunde, der nicht von ihr gewichen und nun zu ihren Füßen sich gestrecket. Sie aber merkte es kaum; ihre Augen hielt sie geschlossen, und ein schmerzlich Sinnen grub ihr ein Fältlein auf die weiße Stirn. Dann kam des Jobstens Frau und brachte Wein und Imbiß, aber sie rührte kaum die Speisen an, und dann begehrete sie zur Ruhe.

Ich aber fand solche nicht. Ich lief hinaus in Sturm und Regen und starrete zu ihrem hellen Fensterlein hinauf, und die halbe Nacht wanderte ich unstät umher, und da konnt' ich sprechen zu ihr, halblaut, lange Reden, daß die Hunde mich verwundert und blöde anstarrten.

Am andern Morgen aber war das schöne Vöglein vor Thau und Tag ausgeflogen, so früh ich auch aufstand. Auf dem Tisch vor ihrem Lager aber fand ich ein offen Brieflein, und darinnen mit zierlicher Schrift die Worte:

„Friederike von Babenberg danket Euch für die Gastfreundschaft und hoffet, sie vergelten zu können.“

Das Zettelchen lieget noch im Kasten meines Tisches mit anderem Tand, Löcklein, Bändern und getrockneten Blumen, vergriffen und morsch zum Zerfallen.

Nun wußt' ich's; sie war die Tochter des alten Generals Babenberg aus Mansdorf, kaum ein Stündlein von hier, und von [610] Jobsten erfuhr ich, daß sie vom Begräbniß ihres Bruders zurückgekehrt sei, der, ein toller Raufbold, auf der Mensur sein Leben gelassen habe. Nun falle das große Majorat nach dem Tode ihres sehr alten, schier kindischen Vaters an eine entfernte Seitenlinie zurück, und dann müsse sie Mansdorf verlassen. Der Kutscher, der dies erzählet, habe hinzugefüget, er möge wohl wissen, was dereinst noch aus ihr werde; denn nach einem armen Edelfräulein renneten sich die Freier just nicht die Hacken ab.

Ich aber hatt' fortan kein ruhig Stündlein mehr. Wohin ich sah, stund vor mir das schlanke Weib in dem dunklen Trauergewand; wohin ich ging, wandelte sie neben mir und blickte mich an aus den blauen Augen, und Nachts beugte sich ihr blasses Antlitz über mein Lager. Die Liebe war über mich gekommen mit schier zauberhafter Macht; ich war vierundzwanzig Jahr, Johannes, und hatte bisher noch niemalen in eines Weibes Auge geschauet.

Und es kam so; es kam das Unglaubliche, kaum zu hoffen Gewagte: Friederike von Babenberg ward meine Braut.

Ei, das ging Alles ordentlich zu; kein Teufelsspuk, kein Hexenwerk, aber mich dünkete es das lieblichste Wunder der Welt in dem Augenblick, als ich sie im Arme hielt an des kranken Vaters Bette. „Friederike, mein Leben lang will ich Dir's danken“ – weiter konnt' ich nichts sagen, alles Andere wär' arm und klein erschienen in so feierlicher Stunde. Und sie mußt' es ja auch, zum Donnerwetter! fühlen, daß ich mein Leben für sie gelassen hätte.

So meinete ich.

Und nun kam wieder Ruhe über mich; ich wußt' ja, sie war mein. Und so trieb es mich tagelang im Forst umher, immer mit dem einen wunderseligen Gedanken, daß ich nur ein Viertelstündlein des Weges brauchte, um in ihre räthselvollen Augen zu schauen. Und sie saß daheim am Bette ihres siechen Vaters, und wenn ich eintrat in das dunkel verhängete Gemach, dann leuchteten ihre Augen, und zwo feine, weiße Händlein streckten sich mir entgegen.

Vorbei! Alter Freud, vorbei! Ich habe niemalen Anlage gehabt für sentiments, wie es just die Mode wollte; es lag nicht in mir; das Leben in Gottes freier, gesunder Natur ließ auch Solches nicht aufkommen; schnurgrade wuchsen meine Gedanken aus dem Herzen wie die weißleuchtenden Stämme unserer heimatlichen Buchenwälder, und so klar, wie die köstliche Bergluft, sagte ich, was ich wollte, ohne Deuteln und Drehen. Freilich, die Luft hier herum weht manch' Einem scharf in's Gesicht, aber ich merkte es nicht, ich war sie gewöhnt; mir erfrischte sie Kopf und Herz.

Die alte Excellenz Babenberg ging dann mit Tode ab, und acht Tage später führte ich Friederiken als mein Weib heim. Wozu auch noch zögern? Der Tod des alten Mannes war eine Erlösung von namenlosen Qualen, und Friederiken verlangete es nach einem Heim – ihres Bleibens war nicht mehr länger im Hause ihrer Väter.

In der Schloßkapelle von Mansdorf gab uns der Prediger zusammen. Hm! Eine wunderliche Hochzeit! Gegen Abend sollte die Trau sein, und der Tag wollte schier ewig währen. Da nahm ich mein Gewehr und streifete durch den Wald, meinte, der Zeit so besser Herr zu werden, und versäumete über eine Wildkatz, so mich schon lange geäffet, die rechte Stunde. Nur so viel Zeit hatte ich noch, mich, wie ich ging und stund, auf meinen Rappen zu werfen. Ich trat bei meiner Braut ein, als sie schon eine Weile auf mich gewartet hatte.

Sie harrete inmitten des großen Prunkgemaches, wo vor wenigen Tage die Bahre ihres Vaters gestanden; noch hingen die schwarzen Florstreifen über die Vergoldung des Getäfels; noch meinete ich, den Geruch von Wachholdern zu spüren und von Todtenblumen. Hinter ihr erblickete ich die beiden unverheiratheten Schwestern des jüngst Verblichenen, so in dem freien adligen Damenstift Klosterode hauseten; steif, verbissen und schier feindselig anzuschauen in ihren düsteren Gewändern. Fürwahr, ein unheimlich Hochzeitsgeleit!

Aber nur einen kurzen Augenblick achtete ich auf Solche; dann blieb mein Blick wie gebannt an Friederiken hängen; sie sah bleich aus, bleicher denn je; ihre schlanke Gestalt verhüllete ein schwarz Gewand; dunkel wob sich die Myrtenkrone in das goldschimmernde Haar; ein schöner Weib, als sie, hat wohl nie vor eines Mannes Augen gestanden.

Ich vergaß, daß ich als ein Tölpel hereingetreten war; kein Wort kam aus meinem Munde, so mein verspätet Kommen erklärete, obgleich ihr Auge fragend und vorwurfsvoll zu mir empor schauete. Zögernd anfangs, dann mit zitternder Hast reichte sie mir die Hand, und in eiligem Schritt gingen wir zur Capellen. Hinter uns wisperten die Zungen der alten Stiftsdamen; ich meinete, es gelte meinen bestaubten Jagdkleidern; da wandte sie sich um mit strafenden Blicken, und sie verstummten vor ihren Augen.

Da wir aber heim wollten nach der Trau, zeigete es sich, daß ich auch vergessen hatte, für ein Fuhrwerk zu sorgen. Friederike aber weigerte sich, in einem Wagen zu fahren, der bis annoch ihrem Hause gehöret und nunmehro, wie Alles dort, ihrem Vetter eignete. „Lieber wollen wir doch gehen,“ sprach sie herb, und ein stolzer Zug legte sich um ihren Mund. „Bitten ist nimmer meine Sach' gewesen.“

Ein peinvoll Viertelstündlein für mich, zumalen die zween verwitterten Gesichter der Stiftsdamen hohnvoll mein junges Weib maßen, und ein jeder Zug deutlich sagte: „Ei sieh', Du stolzes, ungefüges Trotzköpflein, welch' einen lumpigen Hochzeiter hast Du Dir ausgewählt, und bist doch aus edelstem Geschlecht! Ei, wer nicht hören mag, soll fühlen; Du gehst mit ihm dahin als ein Taglöhnerweib; haben wir Dich nicht gewarnt, so viel wir konnten?“

Friederike aber stund in der Halle; kein Blick streifete die alten Schwestern ihres Vaters, groß und bang schaute sie zurück in das Haus, in dem sie geboren und gelebet bis itzo, und ihre weiße Hand bewegete sich wie abschiednehmend.

„Ich bin bereit,“ sagte sie dann; das erste Wort, das sie mir gönnete an diesem Abend. Da nun aber mein Rappe vorgeführet ward, fragte ich: „Getraust Du Dich aufzusitzen, Friederike? Ich fasse die Zügel sicher – es soll Dir kein Leid geschehen.“

Ohne ein Wort zu erwidern, schwang sie sich an meiner Hand in den Sattel; ich legete meinen Arm um sie, und so führte ich mein Weib aus ihrer Väter Hause.

Als wir in den Waldweg bogen, stund schon der Mond am Himmel, und ich lenkte das Roß aus dem dunklen Schatten der Bäume in das weiße Licht – um ihre Augen zu sehen. Warm war die Luft der Augustnacht und schwül, wie vor einem heraufziehenden Gewitter, mir aber brannte Kopf und Herz, und die Augen brannten mir vom Anschauen, und sie wandte doch das stolze Haupt nicht einmal zu mir herum. So zogen wir schweigend dahin, bis das stille Haus vor uns lag, silbern beglänzet vom Mondeslicht, aber einsam, ohne Gruß und Schmuck für seines Herrn junges Weib; nicht einmal für ein Kränzlein über der Thür war gesorget, vergessen hatt' ich alles Andere über sie selbsten.

Ich trat hinzu, um sie herabzuheben vom Pferde, aber sie sah meine Arme nicht, sondern leitete das Thier bis zu dem steinernen Bänklein unter der Linde; dort schwang sie sich hinab und aus dem tiefen Schatten tönte ihre Stimme zu mir herüber, seltsam, kalt und deutlich:

„Ein Wort noch, ehe denn es zu spät ist! Mitleid begehre ich nicht; lieber sterbe ich –“

„Friederike!“ rief ich erschreckt, „was sagest Du da?“ Ich meinte, nicht recht gehört zu haben.

„Wenn mich nur Mitleid hieher geführet itzo – dann – es ist noch Zeit; noch habe ich jene Schwelle nicht überschritten.“

Da schrie es wild auf in meinem Herzen, und zornig wallte mir das Blut zu Kopfe.

„Was, zum Henker, thust Du für absonderliche Fragen!“ herrschte ich sie an, wie ein Kind am lautesten schreit, so ihm bange wird. „Meinest Du, ich werfe meine Freiheit aus Mitleid zum Fenster hinaus?“

Aber kaum hatte ich es gesaget, so lag ich zu ihren Füßen, und weinend barg ich meinen Kopf in ihren Kleidern.

Da beugte sie sich zu mir hernieder und zog mich an ihre Brust. „Ich bin ein arm verwaist Mädchen, und Du –“ sie stockte, „ich will es glauben, Heinrich, daß Du mich lieb hast; es ist so schön zu glauben.“ flüsterte sie nun mit süßem, bebendem Klang; „vergieb mein thöricht Fragen! Sieh, wenn ich es nicht glauben könnte, so wäre ich fort noch in dieser Nacht, und Du hättest mich niemalen wiedergesehen und nimmer gefunden.“

„Und ich hätte Dich doch gefunden, Friederike,“ erwiderte ich und zog sie ungestüm auf das Bänklein nieder. „und wärest Du zu jenem Stern dort oben geflohen – ich hätte Dich heruntergeholet.“

Sie schüttelte den Kopf und ließ erst jetzt die Zügel des Pferdes los, die sie noch immer gehalten. [611] „Von dort holt man Keinen wieder, Heinrich“, sagte sie, und zum ersten Male schlangen sich ihre Arme schier leidenschaftlich um meinen Hals, und ihr Haupt senkete sich an meine Brust.

Und über uns rauschte leise der Nachtwind in den Zweigen der Linde; bleicher zitterte das Mondlicht über dem spitzgiebligen Dache des Hauses, und dann und wann zuckte ein fernes Blitzen auf; still war es in dem weiten Rund, nur ein verschlafen Rauschen des Quellbrunnens drüben, und der Schrei eines Hirschen im tiefen Walde! –

Nur Geduld, Johannes, das Ende kommt, kommt rascher als Du vermuthest.

Sie blieb ein ernst und schweigend Weib, wie sie ein ernst und schweigend Mädchen gewesen; keine Spur von dem süßen Getändel des Wonnemonds, und doch, ich war der glücklichste Mensch, Johannes; ich meinete auch, es sei die Trauer um den Bruder und Vater, die sie stumm und ernst gemacht, und von Tag zu Tage hoffte ich auf ein Lächeln um ihren Mund – vergebens! Mit einer frauenhaften Milde, die schier bedrückend wirkte, waltete sie neben mir, sodaß ich vor ihr hätt' niederfallen mögen, um ihre Hände zu küssen, wär's mir nicht thöricht und läppisch erschienen. Ich sehe noch ihre schlanke Gestalt den Waldweg entlang kommen, wenn sie mir Abends bei meiner Rückkehr aus dem Forste entgegen zu schreiten pflegte; sie ging, als schwebe sie über dem Boden, daß es mich schier dünkete, kein Grashälmchen biege sich unter ihrem Tritt; um das blonde Haupt trug sie ein lose geknüpftes schwarzes Tüchlein aus Spitzen, und meistens hielt sie ein Sträußlein Waldblumen in der Hand, die sie emsig sammelte, bald hier, bald dort sich bückend, und Juno, meine alte Hühnerhündin, ging ihr klug zur Seiten. Später saß sie dann neben mir im traulichen Zimmer, geduldig horchend, wenn ich von des Tages Erlebnissen redete.

So waren vier Wochen dahin; da kam ich einst, wie immer mit dem sinkenden Abend, zurücke und spähete vergeblich den Weg entlang nach ihr, hatte einen Reiger geschossen und dachte, sie würde sich freuen an dem aschgrauen und weißen feinen Gefieder. Aber sie schritt heut nicht daher, ungeachtet es ein prächtiger Septemberabend war, und in Angst, es möge ihr etwas zugestoßen sein, ging ich rascher zu.

Als ich nun näher gelangete und mich eben anschickte, die Stufen hinauf zu gehen in das Haus, da erreichte ein Schall mein Ohr, daß ich innehielt und lauschete; er kam aus den jungen Tannen, hinter denen die Falknerei lag. Das Herz fing mir an zu klopfen; so süße und silbern scholl itzo ein Lachen aus Frauenmund zu mir herüber, und dann ein lockend holdes Sprechen:

„Rupf' an, mein Vöglein rupf' an!“

Rasch schritt ich über den Platz und bog um die Tannenwand; da sah ich im purpurnen Schein der Abendsonne mein Weib; sie hielt den Arm hochgestrecket, und mein weißer Edelfalk stund auf ihrer Hand, mit der Rechten aber bot sie ihm Atzung, und wieder scholl ihr silbern Lachen:

„Ei, Du trotziger Gesell! Rupf' an, mein Vöglein, rupf' an!“

Ich wußt' nicht, ob ein lieblich Wunder geschehen, daß mein ernstes, stolzes Weib ein holdes lachendes Kind geworden; rosenfarben erglühete das schöne Gesicht – ich weiß nicht, kam es vom Abendroth? Aber so neu und süße war sie mir, daß ich stehen blieb, um sie anzuschauen, und schier den trutzigen Vogel beneidete. Ich sahe auch den Mann, der da nicht weit von mir an dem Stamme einer Buche lehnte, erst, als ich dicht an ihm vorüberschritt, um zu ihr zu gehen.

Er war im tiefen Anschauen des lieblichen Frauenbildes verloren, aber nun wandte er sein Haupt, und im nächsten Augenblick hielt ich den heimgekehrten Jugendfreund in den Armen, und ein großes Freuen war über mich gekommen.

Er aber machte sich hastig los und fragete, nach Friederiken hinüber deutend:

„Heinz, Heinz! Was ist das?“

Meine Augen folgeten seinen Blicken und ich sah, wie itzo die schlanke Frauengestalt langsam hinter den Tannen verschwand. Der Vogel saß einsam auf seinem Gestänge, trutzig in sich geducket.

„Was das ist, Christel? Ei nun, mein Weib, mein herzliebstes junges Weib!“

Und ich fühlte, wie mir vor freudigem Stolz das Blut in das Antlitz trat.

„Heinz! Mein guter Heinz!“ rief Prinz Christian in alter vertrauter Weise, „so finde ich Dich wieder? Hast es nicht ausgehalten allein im alten Hause und Dir die schönste Elfe eingefangen, die jemals im Mondschein durch den Wald geflattert? Alter Borkenkäfer, wie hast Du's angefangen, das schönste, stolzeste Mädchen zu gewinnen, Friederike von Babenberg?“

„Wie ich es angefangen, Christel?“ entgegnete ich, und warf einen Blick da hinüber, wo mein Weib gestanden; „wie ich es angefangen?“ wiederholte ich noch einmal, und sah ihn stolz an. „Garnicht habe ich es angefangen; unsere Herzen haben sich in Liebe gefunden und –“

„Und sie kam gern in diese Einsamkeit?“ unterbrach mich Prinz Christian und wandte das Haupt nach den grauen Mauern des Hauses, aus dem die Giebelfenster gleich glühenden Augen in der Abendsonne leuchteten.

„Gern, Christel? Mein Weib liebt mich.“

„Hm!“ meinte er, und schritt neben mir durch das Tannengestelle dem Hause zu. „So schön, so jung und so allein, oder glaubst Du, Dein Edelfalk sei ihr auf die Länge ein guter Zeitvertreib?“

„Sie ist nicht wie die Andern,“ gab ich fast barsch zurück; „ihr ernster Sinn passet wohl zur Einsamkeit.“ Und so schritten wir schweigend in das Haus, und einen Augenblick wollt' es mich bedünken, als wär' mir der heimgekehrte Jugendfreund minder lieb, denn einst.

Da wir aber beim Nachtmahl saßen und uns wie sonst in die Augen schauten, nahm ich meinen Becher und stieß an den seinen: „Willkommen daheim, Christian! Laß Dir das rothe Haus nach wie vor gefallen zu gastlichem Einspruch! Du findest hier stets die alte Gesinnung.“

Mein Weib aber saß schweigend neben mir – ihr Lachen war verstummet; sie sah fast stolzer aus, denn je, nur ein rosiger Anhauch war auf dem bleichen Gesichte zurückgeblieben, und als sich unsere Becher mit vollem Klange trafen, hob sie den Blick und schauete mich an, daß ich zu trinken vergaß; ich weiß nicht, was Alles in ihren Augen lag, Angst und Vorwurf und stummes Bitten. Da ich aber den Mund aufthat, um sie zu fragen, legte sie mir sanft die Hand auf die Schulter, erhob sich und beurlaubete sich von dem Prinzen, „da sich die Herren gewißlich noch Mancherlei zu berichten hätten aus der Zeit der Trennung, und sie noch Hausfrauenpflichten zu üben habe.“

„Bleib, Friederike!“ bat ich, „es mag Dich interessieren zu hören, was man anitzo zu Paris treibet, und wie die Damen am Hofe die Hütlein tragen.“

„Erlaube, daß ich gehe!“ bat sie schier unfreundlich, „was kümmert mich Paris und die welsche Mode?“ Und mit einer tiefen Verneigung gegen den Prinzen schritt sie hinaus.

Ich aber warf einen triumpfhirenden Blick zu ihm hinüber und wiederholete:

„Sie ist nicht wie die Andern, Christel.“

Ich sehe noch sein Gesicht vor mir in jenem Augenblick; er schauete die Thür an, hinter der ihre schlanke Gestalt verschwunden war, und ein purpurn Roth überfloß sein schönes Antlitz. Ich lachete laut auf und hielt ihm den Becher hin, und als er mir Bescheid that, da sah er so bleich aus wie das Tuch auf dem Tische.

Dann aber hub er an zu erzählen von seinen Reisen und lobete Paris mit seinen schönen Frauen und manch ein verwegen Abenteuer klang da in meine Ohren. Welsche Sitte, lockere Zucht – es wollt' mir schier leid thun um den Mund, so dies erzählete, als ich aber in seine Augen sah, da leuchtete mir doch ein gut Theil alter deutscher Ehrenhaftigkeit entgegen und ich dachte, er kann sich wohl einmal in diese wirbelnden, rauschenden Wogen gestürzt haben, aber er wird niemalen darinnen untergehen, und ich dachte an seine Mutter, das Urbild einer edlen Frauen und Fürstin, und daß ihr reiner Geist ihn gefeiet habe gegen jeglich unedel Thun.

Da er heimwärts reiten wollte spät in der Nacht, schritt er leisen Fußes die Gänge entlang und in die Halle, und als ich laut nach den Knechten schrie, daß sie Leuchtung bringen sollten, verwies er mich heftig:

„Denkst Du nicht, daß Dein Weib schläft?“

Ich stutzete. Es ward mir einen Augenblick klar, welch ein ungefüger Gesell ich sei, dann aber lachte ich.

„Man merket, daß Du zu Paris die höfische Sitte noch vervollkommnet hast.“ [612] Als er sich dann auf das Pferd schwang, irrete sein Auge über die dunklen Fenster.

„Darf ich wiederkommen, Heinz?“ fragte er itzo laut.

„So oft Du willst, Christel; es ist meinem Hause eine Ehre und Freude, und bin ich nicht daheim, so triffst Du Friederiken; nur darfst Du ihr nicht von Paris sprechen,“ setzte ich lachend hinzu, „Du weißt itzo, wie sie darüber denket.“

Friederiken fund ich aber noch wach in ihrem Stüblein; sie las in einem Gebetbuch, und der Lichtschimmer floß um ihr blondes Haupt als ein Heiligenschein.

„Friederike,“ fragte ich, „warum ließest Du uns allein? Mißfällt Dir Prinz Christian?“

„Nein,“ sagte sie kurz, „er ist Dein Freund.“

„Wolltest fürderhin freundlicher sein zu ihm,“ bat ich und setzte mich zu ihr auf das gepolsterte Bänklein. Sie neigte gewährend das Haupt, aber ihr Mund blieb stumm, und die Augen blieben gesenket.

„Der weiße Falk, Friederike, er gefällt Dir?“ begann ich; ich wollt' ihr den Vogel schenken, an dem sie eine Freude hatte; ich sehnete mich nach einem Lächeln von ihr, seit ich wußte, daß sie lächeln konnte.

Sie schlug überrascht die Augen auf. „Ich hatt' einen solchen daheim,“ sagte sie leise. Dann stand sie eilig auf. „Es ist Mitternacht vorüber, und Du gehst früh in den Wald.“

Mir lag das Herz auf der Zunge; ich hätt' so gern ihr schmales Händlein erfasset und ihr gesagt: „Warum bist Du so kalt, und warum spielet nicht ein einzig Mal ein Lachen um Deinen Mund, wenn Du bei mir bist? Und ich weiß doch nun, wie hold Deine Lippen lächeln, Deine Augen strahlen können, wie ruhig Du zu erzählen vermagst! Sage mir, was Dir fehlet! Ich will Alles, Alles schaffen; nur sieh' mich einmal gütig an!“ – Aber ich blieb stumm; ich verstund eben nicht zu sprechen. O, daß ich nicht geschwiegen hätte, vielleicht wär' doch noch Alles gut geworden! Ihr Lachen aber verfolgete mich im Traum und im Wachen, und immer meinte ich, das silberne Getön zu hören und die süßen Worte „Rupf' an, mein Vöglein, rupf' an, Du trotziger Gesell!“

Ich mocht' den Vogel nicht mehr leiden seit jenem Tage.

Johannes, die Feder sträubt sich, das niederzuschreiben, was nun gekommen; ich will es rasch zu Ende bringen.

Prinz Christian kehrete täglich im rothen Hause an – wunderst Du Dich? Es war ja ohnedem auch kein Tag vergangen, an dem wir uns nicht gesehen. Mitunter fund ich sie beisammen, im Schein der Abendsonne mir entgegenschreitend, oder er saß ihr genüber im Gemach, wenn draußen Regenwolken über den Wald schauerten, und sah, wie sie spann, aber lachen hört' ich sie nie wieder, wie an jenem Abend. Sie war auch wieder bleich, noch bleicher fast, denn zuvor, und stiller, aber ein unruhig Wesen war über sie gekommen; nur secundenlang weilte ein purpurn Roth auf ihren Wangen. Einmal aber, da ich erst spät nach Hause kehrte, dieweilen mich eine halbe Mondennacht auf dem Anstande gehalten, und mich nun leise in mein Gemach stahl, ihren Schlummer nicht zu stören, trat sie bald darauf zu mir ein, rascher als ich es sonsten gewöhnt war von ihr, und da ich ihr „guten Abend!“ bot, merkete ich, daß sie geweint hatte und daß sie es gleichfalls zu verbergen trachtete.

Ich sagte daher nichts davon, und fragete nur so nebenher, ob Prinz Christian hier gewesen?

Da veränderte sich ihr Gesicht, und ein glänzend Roth flog darüber. „Er ist erst eben heimgeritten“ antwortete sie, „es sollt' mich Wunder nehmen, so Du ihn nicht getroffen auf dem Wege.“

„Ich bin aus den Reindorfer Buchen gekommen,“ gab ich zurücke.

„Ich meine, Du lässest Deinen Freund oftmalen vergeblich harren,“ sprach sie dann, und ihre Stimme klang verschleiert, als ob das Herz ihr stürmisch poche.

„Ei, trifft er doch meine Frau Liebste, so meine Stelle vertritt,“ scherzte ich und schlang meinen Arm um sie; „oder meinst Du nicht, Friederike, daß ihm solche Vertretung gar angenehm ist?“ Aber ihr Gesicht blieb weiß; sie wand sich aus meinen Armen und schritt hinaus, und ich wußt' mir nicht zu erklären, was ihr räthselhaft Wesen bedeuten solle.

Ein paar Male auch fand ich sie eingeschlossen in ihrem Stüblein, und da ich mich wunderte und sie neckte, sie habe wohl Angst vor Räubern und Dieben, und ob ich ihr solle eine gute Büchse zum Troste reichen, lachte sie auf und sagte seltsam betonend: „Ei freilich, meine thörichte Angst, was sollt' hier auch sein, das sich der Mühe verlohnte zu stehlen?“

Ich nahm dies als ein Zeichen fröhlicher Laune; wie hätt ich auch ahnden können, was für ein Sinn sich hinter diesen Worten barg? Ich plumper Gesell, dem nur eine ehrliche Sprache verständlich war. –

Und da – ja, genau weiß ich nicht mehr zu berichten, wie es war an diesem grauenvollen Tage – ich mußt' frühe fort; denn Serenissimus hatt' etliche vornehme Gäste invitiret auf eine Schweinshatz, und ich mußt' sorgen, die Garne und Lappen zu stellen und die Leute zu ordnen, doppelt sorgsam heut, dieweilen auch die hochfürstlichen Damen die Jagd mit ihrer Gegenwart zu beehren gedachten; ich vermißte auch während der Hatz Prinz Christian nicht, der sonsten niemalen gefehlet; ich that Alles rein aus Gewohnheit ab, da meine Gedanken bei Friederiken waren, hatte gemeint in der Nacht ein leises Weinen von ihr zu hören, konnte mir aber nicht klar werden, ob es im Traum oder Wachen gewesen. Wurde auch ein Keiler, nachdem er etliche Hunde darnieder geschlagen, im Garn gefangen, und ihm von dem fremden Prinzen der Fang gegeben, und fuhren die Herrschaften bald nachher zum Jagdschmaus auf das Schloß Elchsburg.

Mich aber hatte plötzlich eine Angst erfaßt, daß ich quer durch ein Tannengestelle drang, um rascher heim zu kommen. Das Geäst schlug mir die Augen wund – ich achtete es nicht; rasch athmend stand ich endlich unter der Linde neben dem Brunnen; es lag ein unheimlich fahlgelb Dämmern über dem alten Gemäuer und den herbstlichen Wipfeln der Bäume, und da ich Alles so friedlich und still vor mir sah, kam auch Ruhe über mich und ein fast übermüthig Thun. Ich schlich mich durch das Hofpförtlein, klomm an dem Epheu, der ihr Fenster umrankte, ein paar Fuß in die Höhe, und wollte schauen, was sie in der Einsamkeit wohl beginnen möge.

(Schluß folgt.)




Die Spuren des vorgeschichtlichen Menschen in Deutschland.

Betrachtungen zur prähistorischen Ausstellung in Berlin.
Von A. Woldt.
II.
Die Lücke nach dem Diluvium bis zu den Kjökkenmöddingern. – Die „Wohnplätze aus der Steinzeit“; Anmerkungen zur Frage der Herstellung und Leistungsfähigkeit von Steinwaffen. – Pfahlbautenzeit und Pfahlbautencultur; Professor Lindenschmit und die „indogermanische Hypothese“. – Die Höhlenwohnungen; oberfränkische Funde. – Gräberfelder und Hünengräber. – Die Stein- und Topfküstler des nordischen Culturkreises. – Der lausitzer Culturkreis und die Burgwall- und Schanzenfrage.

„Vielleicht niemals wird jener große Zeitraum gemessen werden, welcher die Periode der alten Höhlenmenschen, die zur Zeit des Mammuth und der übrigen diluvialen Tiere lebten, von jener sehr viel späteren Epoche trennt, die durch die ältesten Pfahlbauten u. A. m. gekennzeichnet ist. Hier haben wir nicht mehr nach Jahrhunderten, vielleicht nicht mehr nach Jahrtausenden, möglicher Weise nach noch längeren Zeiträumen zu rechnen.“ Mit diesen Worten leitete einer der bedeutendsten Forscher der Gegenwart auf dem Constanzer Anthropologen-Congreß im Jahre 1877 seine große Rede über die Pfahlbauten ein. In der That hüllt sich die Vorgeschichte des Menschen in Deutschland unmittelbar nach der Diluvialzeit in geheimnißvolles Dunkel. Was thaten unsere Urväter inzwischen? Verließen sie, scheu und flüchtig, wie sie gekommen waren, wieder das Land? Oder bevölkerten sie allmählich die Jagdgründe der deutschen Ebene und machten ihre reglmäßigen jährlichen Streifzüge. Wir wissen es nicht. Bis

[613]

Aus der Zeit der Pfahlbauten.
Nach einer Originalzeichnung von Johannes Gehrts.

[614] zu jenem Moment, wo uns der Mensch in Deutschland bereits in einer wesentlich fortgeschrittenen Cultur entgegentritt, besitzen wir fast keine einzige sichere Nachricht von ihm.

Freilich fehlt es nicht an Gelehrten, welche sich bemüht haben, diese gewaltige Kluft, wenn auch nicht auszufüllen, so doch zu verengen, indem sie annehmen, daß die Zeit der roh geschlagenen Steine, also die paläolithische Periode, sich sehr weit zurück erstreckt. Dr. Baier aus Stralsund hatte auf der nunmehr geschlossenen prähistorischen Ausstellung im Abgeordnetenhause zu Berlin unter Anderem eine Reihe geschlagener Feuersteine in schwerfälliger Form und roher Ausführung vorgeführt und sah sich veranlaßt, dabei auf die Gleichartigkeit dieser Formen mit denjenigen hinzuweisen, welche Lartet und Cristy in einer Höhle der Dordogne gefunden haben, und solchen, die Evans aus dem diluvialen Schwemmlande der Ouse und Themse mitgetheilt hat. Ein anderer Theil dieser auf Arkona und Hiddensoe gefundenen rohen Artefacte, das heißt Spuren menschlicher Bearbeitung tragenden Fundstücke, „gleicht völlig zahlreichen, aus französischen, belgischen und englischen Höhlen entnommenen paläolithischen, sowie den im alten Schwemmlande der Somme bei Amiens und Abbeville gefundenen“. Auf Grund seiner Vergleichungen und Forschungen kommt Dr. Baier zu dem Ausspruche, die Möglichkeit könne nicht bestritten werden, „daß einzelne dieser grob geschlagenen Feuersteintypen noch der Diluvialzeit angehören; jedenfalls können sie mit Sicherheit bis in die Zeit der dänischen Kjökkenmöddinger und schwedischen Küstenfunde zurückgeschoben werden“.

Die Kjökkenmöddinger! Da haben wir wieder einen neuen Ausdruck und eine neue Periode, die für einen gewissen Theil unseres prähistorischen Gebietes die „älteste“ Zeit repräsentirt. Vergebens aber würde unsere Bemühung sein, jene Epoche chronologisch genau festzustellen, in der die Strandbevölkerung der dänischen Küsten ihre riesigen Muschelhaufen, dänisch Kjökkenmöddinger, das heißt Küchenabfälle, genannt, aufthürmte. Wir sind in dieser Beziehung im Norden unseres Vaterlandes, speciell in Schleswig-Holstein, erst beim Beginn unserer Untersuchungen und dürfen uns der Hoffnung hingeben, daß noch im Laufe dieses Jahres ein in dieser Provinz gelegener Kjökkenmödding von fachkundiger Hand untersucht werden wird. Uebrigens hat die bekannte Custodin des Kieler Museums, Fräulein J. Mestorf, eine Autorität auf dem Gebiete anthropologischer Forschung, gelegentlich der prähistorischen Ausstellung darauf hingewiesen, daß sich wahrscheinlich auch auf der Insel Rügen Kjökkenmöddinger werden nachweisen lassen. Glücklicher sind wir in dieser Beziehung in der Provinz Preußen, wo sich in dem Kjökkenmödding bei Tolkemit viele Thonscherben gefunden haben.

Auch mangelt es uns im Nordosten unseres Vaterlandes nicht an einer Reihe anderer, jener entlegenen Zeit angehörender Fundstellen, welche mit dem Namen „Wohnplätze aus der Steinzeit“ bezeichnet worden sind. Nicht weniger als hundert Scherbenstellen hat man am Fuße der über zwölf Meilen langen wandernden hohen Düne der kurischen Nehrung in wenig unterbrochener Reihenfolge auf dem nun vom Sande entblößten uralten Waldboden aufgefunden und hieraus im Laufe des letzten Jahrzehnts ein recht beträchtliches Material zusammengebracht. Einige dieser alten Wohnplätze bestehen ganz aus schwarzer humoser Erde, den Scherben von unzähligen zerbrochenen Gefäßen, Knochenabfällen, Fischschuppen, Trümmern von Steininstrumenten, Knochengeräthen u. A. m. Unter den zahlreichen Steinhämmern befinden sich solche in allen Stadien der Durchbohrung; ebenso hat man eine größere Anzahl jener konischen Bohrzapfen aufgefunden, welche es wahrscheinlich machen, daß unsere Vorfahren die Bohrlöcher mit Hülfe von trockenem Sande und hohlen kurzen Hirschhorncylindern, wie dies durch den österreichischen Grafen Wurmbrand dargethan wurde, herstellten. In der Ausstellung hatte Dr. Tischler aus Königsberg ähnliche von ihm künstlich durchbohrte Steinstücke vorgeführt und dadurch bewiesen, daß jene Manipulation, zu der er nur etwa vier Stunden Zeit gebraucht hatte, nicht, wie häufig geglaubt wurde, allzu zeitraubend gewesen sein muß.

Auch nach anderer Richtung muß dem weitverbreiteten Glauben, als ob die Männer der Steinzeit zur Ausführung ihrer Arbeiten unverhältnißmäßig viel Zeit gebraucht hätten, entgegengetreten werden. Beispielsweise hat man über die Leistungsfähigkeit einer Feuersteinaxt sich oft viel zu geringe Vorstellungen gemacht. So befand sich in der Collection des Kieler Museums ein schenkeldickes Stück Baumstamm, das der dänische Kammerherr von Sehestedt auf Broholm mit einer Feuersteinaxt abgeschlagen hatte, nachdem mit derselben Axt vorher in kurzer Zeit sechsundzwanzig ebenso starke Bäume gefällt worden waren.

Das interessante Factum, daß die alten Bohrzapfen der Steinbeile aufgefunden werden und damit der Beweis geliefert ist, daß jene Werkzeuge an Ort und Stelle hergestellt worden sind, treffen wir nun noch an einer weit entlegenen Localität an, nämlich in den schweizer Pfahlbauten. Was diese Pfahlbauten selbst anbetrifft, so müssen wir uns hüten, sie für die Repräsentanten einer ganz bestimmt abgegrenzten Culturepoche zu halten. Es giebt Pfahlbauten von sehr hohem Alter, und solche, die so jung sind, daß sie zum Theil noch bis an die historische Zeit heranreichen, sodaß wir einzelne derselben noch in Beziehung bringen können zu Ueberlieferungen, welche uns die Schriftsteller des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts geben. Die Pfahlbauten sind auch nicht auf die Schweiz und Deutschland beschränkt; schon im Alterthume berichtet uns Herodot von thracischen und Strabo von italischen Pfahlbauten. Die neuere Forschung hat in manchen anderen europäischen Ländern, beispielsweise in Oesterreich, Irland etc., Pfahlbauten nachgewiesen. Auch heutigen Tages existiren noch bei vielen Völkerschaften der südlichen Erdhälfte, wie Jedermann weiß, diese Bauten. Somit haben wir es bei den Pfahlbauten lediglich mit einer bestimmten Form der Wohnung und nicht der Cultur zu thun.

Wir werden hier wieder an die oben erwähnte Rede Virchow's auf dem Anthropologen-Congreß in Constanz erinnert. Es wäre überaus thöricht, sagt er, wenn man sich heutzutage noch mit der so lange festgehaltenen Vorstellung tragen wollte: „Pfahlbau ist Pfahlbau; Pfahlbauzeit ist Pfahlbauzeit“; jeder einzelne Pfahlbau muß für sich untersucht und geprüft, er muß in seiner zeitlichen und culturhistorischen Bedeutung festgestellt werden. Dann erst dürfen wir ihn in unsere Classification einreihen und kartographisch fixiren. Man muß sich daran gewöhnen, daß die Pfahlbaucultur Europas schon in alten Zeiten so mannigfaltig war, wie sie noch heutzutage mannigfaltig ist in Afrika, Asien, Polynesien. Die Construction eines Negerpfahldorfes in Centralafrika darf man nicht als maßgebend betrachten für ein Negerdorf an der Küste von Neu-Guinea oder für ein Flußpfahldorf in Hinterindien. An allen diesen Orten giebt es Pfahlbauten, aber sie haben unter sich keinen Zusammenhang, und wir dürfen nicht etwa die Bevölkerung, welche auf dem einen wohnt, ohne weiteres als Verwandte der Pfahlbauern eines anderen Gebietes ansehen. Ethnologisch, zeitlich und culturhistorisch weit aus einander stehende Rassen haben auf dieselbe Weise ihre Wohnungen eingerichtet.

Professor Virchow unterscheidet in Mitteleuropa zwei große Gruppen von Pfahlbauten, eine südliche, zu der er die Pfahlbauten der Schweiz und Süddeutschlands rechnet, und eine nördliche, die sich durch das norddeutsche Gebiet bis nach Livland hin erstreckt. Er stellt jeden Zusammenhang zwischen beiden Gruppen in Abrede, da die nördliche einer viel späteren Zeit angehört, als die südliche. In der südlichen Gruppe sind wieder zwei durchaus verschiedene Abtheilungen zu constatiren, deren östliche die Ostschweiz, den Bodensee u. A. m. umfaßt und der reinen Steinzeit angehört, während die Pfahlbauten der Westschweiz auch Funde aus Bronze und Eisen enthalten.

Bereits in den ältesten Pfahlbauten, wie auch in den obenerwähnten Wohnstätten der kurischen Nehrung etc., documentirt es sich, daß der mühsam emporsteigende Bildungsgang unseres deutschen Volkes im Laufe langdauernder, allmählicher Erhebung von der niedrigsten Stufe der Cultur schon weit über die Zustände unbeholfener Kindheit vorgeschritten war. Nicht mehr der heimath- und wohnungslose nomadisirende Jäger, der gelegentlich in Höhlen haust, begegnet uns hier, sondern ein hoch über einer Reihe vorausgegangener tieferer Culturzustände stehender, seßhafter Mensch mit gereifter, innerer Entwickelung. Lediglich mit Hülfe von Stein und Knochen hat dieser Mensch es vermocht, den Wagen, den Kahn, den Webstuhl, den Pflug und sein ganzes Haus herzustellen, und es herrscht bereits in dieser Zeit ein geordnetes Zusammenleben in größeren Gemeinden unter Bildungszuständen, wie sie kaum durch die spätere Einführung der Metallgeräthe wesentlich gefördert wurden. Es ist das große Verdienst des Nestors der deutschen Anthropologie, des Directors vom Römisch-Germanischen Centralmuseum in Mainz, Professor L. Lindenschmit, energisch auf die [615] Selbstständigkeit der deutschen Culturentwickelung aus unmeßbarer Vorzeit her hingewiesen zu haben (vergl. die eben erschienenen ersten Hefte seines „Handbuchs der deutschen Alterthumskunde“). Lindenschmit ist auch ein Vertreter der Ansicht, daß die deutschen Stämme nicht aus Asien eingewandert seien, sondern von Uranfang sich auf deutschem Boden entwickelt haben; deshalb legt er eine „ernstliche Verwahrung gegen die indogermanische Hypothese“ ein.

Die südliche Gruppe der mitteleuropäischen Pfahlbauten gehört wesentlich derjenigen Zeit an, welche man im Gegensatz zu der älteren, paläolithischen Zeit die neolithische, die jüngere, die Zeit des polirten Steins genannt hat. Diese Epoche repräsentirt die eigentliche Entwickelung des deutschen Volkes; aus ihr finden wir in vielen Theilen Deutschlands große schöne Ueberreste. Von den süddeutschen Pfahlbauten seien hier nur zwei erwähnt: Zunächst der „Palissadenbau“ im Steinhäuserried, welchen Herr Oberförster Frank von Schussenried im Jahre 1875 entdeckt und dem er zahlreiche Knochenstrumente, ornamentirte Urnen, Knochen, Steinbeile etc. entnommen hat. Dieser eigenthümliche Bau reicht in eine ziemlich frühe Zeit hinauf, gleichzeitig aber war er sehr lange hindurch bewohnt; denn er wurde immer wieder auf's Neue überbaut, als der Wasserspiegel, über dem er sich erhob, allmählich höher gestiegen war. Nicht weniger als neun über einander liegende Fußböden, welche durch Thonlagen gestützt waren, besitzt dieser sogenannte Palissadenbau. Der zweite Pfahlbau, den wir hervorheben müssen, ist derjenige auf der Roseninsel im Starenberger See. Dieser bereits im Jahre 1864 durch den berühmten schweizer Gelehrten Professor Desor entdeckte Pfahlbau ist durch Professor W. Wagner und Landrichter von Schab in München ausgegraben worden. Die 564 Artefacte, welche in diesem Pfahlbau aufgefunden sind, geben einen Beweis, daß er während einer sehr langen Zeit, und zwar von jener Periode an, wo die Menschen nur den Gebrauch der Steinwaffen kannten, bis zur römischen Besetzung der Gegend und selbst bis zum Mittelalter hin bewohnt gewesen sein muß. Wir sind im Stande, uns fast die gesammte Lebensweise jener dort seßhaften Bevölkerung aus den Fundstücken durch viele Generationen hindurch zu veranschaulichen, die Zähmung der Hausthiere, wie Rind, Schwein, Schaf, Pferd, Hund und Ziege, zu constatiren und die Jagd auf Hirsch, Wildschwein, Reh, Bär, Biber, Fuchs, Ur, Wisent, Elen, Gemse, Steinbock, Hase, Katze, Wolf etc. als eine neben Ackerbau und Handel von den Einwohnern dieser Localität betriebene Beschäftigung zu bestätigen.

Eine andere Form der Wohnung, als die Pfahlbauten, bildeten in prähistorischer Zeit die Höhlenwohnungen. Aber die Benutzung der natürlichen Höhlen durch den Menschen ist nicht ausschließlich auf die diluviale Urzeit beschränkt. Professor Johannes Ranke aus München legte auf dem Berliner Anthropologen-Congreß einige neue Funde aus oberfränkischen Höhlen vor, wodurch unsere bisherigen Anschauungen über die Cultur der Höhlenbewohner in jenen Gegenden wesentlich verändert werden müssen. Im feuersteinreichen Norden, überhaupt in den Feuersteindistricten scheint sich an die paläolithische die neolithische Zeit unmittelbar anzuschließen. In Süddeutschland konnte man den Pfahlbautenfunden bisher noch keine Landfunde an die Seite stellen, die sie ergänzten. Die neuen Funde in den Höhlen der fränkischen Schweiz sind geeignet, diese Lücke auszufüllen. Man hat daselbst namentlich Knochenschnitzereien in einer solchen Fülle entdeckt, wie wir sie bisher aus Mitteldeutschland noch nicht kannten. Diese Knocheninstrumente charakterisiren sich theils als Waffen theils als technische Werkzeuge. Die fränkischen Höhlenfunde zerfallen in Lanzenspitzen, Harpunen, Pfeilspitzen, Netznadeln, Perlenketten etc. aus Knochen, in Spinnwirtel aus Thon und Knochen, in geschliffene Steinwaffen, Steininstrumente und ornamentale Töpferwaaren. So erschließen uns diese Felsenwohnungen Oberfrankens ein Glied der Entwickelungsgeschichte des Menschen, welches mit der Culturperiode der Pfahlbauten ungefähr auf gleicher Stufe steht.

Neben den Wohnungen sind es besonders die Grabstätten der vorgeschichtlichen Zeit, welche uns über die prähistorischen Bewohner in Deutschland Auskunft geben. Zu den ältesten Fundstücken dieser Art gehören die Reliquien des Gräberfeldes am Hinkelstein bei Monsheim in Rheinhessen. Es vereinigen sich hier eine Menge interessanter Umstände, um das hohe Alter zu beweisen. Beim Ausroden eines Feldes kamen in der Erde eine Menge flacher Gräber zum Vorschein; der Zahn der Zeit hatte aber die menschlichen Reste bereits sehr weit vertilgt; die Körpertheile waren in solchem Grade zerfallen und verwittert, daß sie nur in einzelnen Bruchstücken zu erkennen waren; bei vielen zeigten sich selbst die festeren Knochentheile nur in formlosen, auffallend leichten Fragmenten; die Stelle des Schädels wurde nur durch einige Zähne und Stücke der Kinnlade bemerkbar. Die Gräber enthielten kein Metall; dagegen wurden durchbohrte und flache Steinbeile aus Kieselschiefer, kleine spahnförmige Feuersteinmesser und einige Halsketten aus kreisrunden Stückchen von Muschelschalen sowie von durchbohrten Zähnen, einfache Handmühlen aus rothem Sandstein und eine Anzahl mit der Hand geformter ornamentirter Thongefäße gefunden. Nach Professor Lindenschmit ist die Entstehung dieser Gräber etwa um's Jahr 500 vor Christi Geburt zu setzen.

Einer anderen schon zur Steinzeit gebräuchlichen Bestattungsart verdanken die bekannten, weit verbreiteten Hünengräber ihre Entstehung. Sie sind bereits in sehr früher Zeit die Beweise einer pietätvollen Erinnerung an die Todten, deren Ueberreste inmitten der oft hoch aufgethürmten Erdmassen, in deren Centrum sich gewöhnlich eine Steinkammer befand, nebst entsprechenden Beigaben aufbewahrt wurden.

Ein in sich abgeschlossener Culturkreis umfaßte, wie von vielen Seiten angenommen wird, schon seit der Steinzeit jenes nordische Gebiet, das sich von Süd-Schweden und Dänemark abwärts durch Schleswig-Holstein, Rügen, Mecklenburg bis nach Brandenburg und in die Provinz Sachsen hinein erstreckt. Hier finden wir eine sehr große technische Ausbildung in der Behandlung des Steinmaterials, namentlich des Feuersteins, gleichzeitig aber auch eine ganz vorzügliche Kunstfertigkeit in der Keramik. Es liegt nicht im Sinne unserer Besprechung, detaillirt auf diese Verhältnisse einzugehen; nur sei darauf aufmerksam gemacht, daß der natürliche Reichthum an Feuerstein, den dieses Gebiet besaß, schon frühzeitig dahin führen mußte, daß sich namentlich auf der Insel Rügen eine große Anzahl Steinkünstler mit ihren Werkstätten etablirten und daß von hier aus ein bedeutender Export fertiger Waare aus Feuerstein weithin getrieben wurde.

Einer der fleißigsten und glücklichsten Sammler auf Rügen, Landgerichtsrath Rosenberg aus Berlin, hat aus solchen prähistorischen Wertstätten viele tausend bearbeitete Feuersteine zu einer der umfangreichsten Privatsammlungen Deutschlands vereinigt. Auf Grund seines Studiums der Localitäten ist er zu der Annahme geneigt, daß schon in sehr alter Zeit das Princip der Arbeitstheilung zur Geltung gekommen ist, indem er auf einzelnen Werkstellen vorwiegend Feuerstein-Streitäxte, auf anderen prismatische Messer und wiederum auf anderen fast ausschließlich Schleudersteine gefunden.

Gehen wir von diesem nordische Culturkreise nach Süden, so tritt uns in der Lausitz und dem Spreewalde ein neues prähistorisches Gebiet entgegen, das bis zur Völkerwanderung durch eine germanische, späterhin durch slavische Bevölkerung eingenommen war. Ob einst vor den Germanen andere Nationen hier ihre Wohnsitze aufgesucht haben, ist noch unaufgeklärt. In der Lausitz sind es überwiegend große, zum Theil weit ausgedehnte Gräberfelder und zahlreiche Schanzen oder Burgwälle, welche unser Interesse in Anspruch nehmen. Bis vor Kurzem war man geneigt, die Gräberfelder wendische und die Burgwälle germanische zu nennen, Professor Virchow hat aber durch eine Reihe von Untersuchungen den Nachweis geführt, daß es sich im Wesentlichen gerade umgekehrt verhält und daß ein großer, vielleicht der größte Theil der Burgwälle slavisch und sicher die Mehrzahl aller Gräberfelder germanisch oder vorgermanisch ist. Dieser Nachweis stützt sich in erster Linie auf das Studium bekannter slavischer Ansiedelungen, Festungswerke und Tempelplätze, wie solche namentlich in Arkona und Garz auf Rügen, in Wollin – dem alte Julin – in Alt-Lübeck noch in historischer Zeit bestanden, sowie der Mecklenburgischen Burgwälle. Somit läßt sich die Grenze zwischen der Prähistorie und Historie auf deutschem Gebiete durch verschiedene Jahrhunderte hindurch beobachten, in Südwestdeutschland beginnend und langsam im Allgemeinen nach Norden und Osten fortschreitend.

Bis in verhältnißmäßig sehr späte Zeit finden wir den Gebrauch der Steinwaffen und Steinwerkzeuge bei den deutschen Stämmen verbreitet, selbst noch lange, nachdem die Anwendung der Metalle bekannt geworden war. Wie es sich hiermit verhielt und wie die frühzeitige, bald schwächere, bald stärkere Einwirkung der alten südeuropäischen Culturwelt den Bildungsgang unseres Volkes hob, darüber werden wir in unserm Schlußartikel das Nähere mittheilen.



[616]

Ragaz.
Von Johannes Scherr.


Der Sommer von 1880 hat, wie jedermann merken mußte, neben den gewohnten ordentlichen Liebenswürdigkeiten unseres lieben „gemäßigten“ Klima's auch noch verschiedene außerordentliche entfaltet. Wir drei Freunde und Stammgäste von Ragaz, welche eine im Propheten Daniel bewanderte Kurgästin die drei Männer Sadrach, Mesach und Abednego – wenn nicht vom nebukadnezarischen Feuerofen, so doch vom kühlen „Quellenhof“ – wunderlich benamsete, wir drei Freunde also hatten im Juni sattsame Gelegenheit, im Thale zwischen dem Piz Alun und dem Falknis häufig binnen Tagesfrist zu erfahren, wie es der Epidermis eines civilisirten Menschen am Nordkap oder aber unter dem Aequator und umgekehrt zu Muthe sei. Am Johannistage, welcher doch von kalenderwegen hätte so anständig sein sollen, etzliche Hochsommerlichkeit zu entwickeln, waren die Berge bis tief herab verschneit und erfreute sich eine Dame beim Morgenspaziergang ihres vorsichtiger Weise mitgebrachten Pelzmantels. Wir durchmaßen mit langen Schritten die große Wandelhalle, eine der Zierden von Ragaz, und führten mehr oder minder anmuthige oder unmuthige Wettergespräche, als mir eine Karte gebracht wurde, welche besagte, daß der liebe alte H. aus Stralsund im „Hof Ragaz“ eingetroffen wäre. Bald kam er selbst, und wir tauschten die Erinnerungen an unser erstes Zusammentreffen am Ufer der reißenden und rauschenden Tamina. Lang, lang war's her, gerade 25 Jahre! Noch ein Jahr früher war ich zum erstenmal nach Ragaz gekommen und zwar in Gesellschaft meines Freundes und Verlegers Otto Wigand, der nun auch schon lange „ruht im Bann des ewigen Schweigens“.

Ach, eines alternden Menschen Fuß stößt überall an Gräber von Solchen, die Freud' und Leid mit uns getheilt hatten. Ja, ja, das Altwerden! Wohl dem, der auch diese schofle Einrichtung der „allgütigen Mutter“ Natur, wie noch verschiedene andere, mit Humor zu nehmen und zu tragen weiß! Es gibt auch in unserer nüchtern-realistischen Zeit glücklicherweise noch solche Humoristen. Im Wartsaal des züricher Bahnhofes war ich auf einen Herrn gestoßen, der mir bekannt vorkam. Ihm ging es mit mir gerade so. Nachdem wir eine Weile vigilirend um einander herumgegangen, trat die Idee in die Phase der Verwirklichung, d. h. wir erkannten uns. Hatten uns so etwa 26 Jährlein nicht mehr gesehen. „Nun, jünger sind Sie gerade nicht geworden, lieber Freund.“ – „Ja, lieber Freund, glauben Sie denn, ich hätte rückwärts wachsen sollen wie ein Kuhschwanz?“

Einen Genuß hat das Alter vor der Jugend voraus: den ruhigen Gedankenaustausch zwischen Freunden, welche über verschiedenes verschieden denken können, aber in den Stürmen des Lebens die Reife oder, mit dem alten Lucretius zu reden, die „Frömmigkeit“ gewonnen haben –

„Mit gleichmüthigem Sinn hinschauen zu können auf alles.“

Demzufolge vermochten alle die Nücken und Tücken unseres, wie bekannt, „gemäßigten“ Klima’s unsere Laune nicht zu trüben. Peripatetiker vom frühen Morgen bis zum späten Abend, sprachen wir mitsammen de rebus omnibus et quibusdam aliis, obzwar unsere Gespräche nicht gerade immer ordonnanzmäßig „reichsfreundlich“ geklungen haben mögen. Weder konservative Hep-Hep-Rufer, noch nationalliberale Kompromißflickschuster würden daran Freude gehabt haben. Auch die Säulenheiligen vom Centrum nicht, obzwar wir am Morgen unseres Abreisetages noch der Einweihung einer zwischen dem „Hof Ragaz“ und dem „Quellenhof“ erbauten katholischen Kapelle durch Seine Gnaden den hochwürdigen Herrn Bischof von St. Gallen aus andächtiger Ferne zusahen.

Unseren Lungen und Beinen mutheten wir nicht mehr zu, als für Beine und Lungen von, wie die Schweizer sagen, „bestandenem“ Alter ziemlich. Wenn ich meine Blicke an den Felswänden des Falknis emporschweifen ließ, kam es mir schier verwunderlich vor, daß ich vor Zeiten einmal da droben gewesen, und wie einer halbverklungenen Sage horchte ich dem, was ein anmuthiges junges Mädchen aus Mainz, welches in den letzten Tagen die langwierige und beschwerliche Ersteigung des Bergriesen kühn unternommen und tapfer ausgeführt hatte, von dem herrlichen drobigen Ausblick rundum und weithin in die Alpenpracht zu erzählen wußte. Alles hat seine Zeit. Es gab eine, wo auch ich eine Art von „Bergfex“ gewesen, obzwar nicht von jener höchsten Potenz der jetzo modischen Bergfexerei, welche zum Frühstück dieses Horn oder jenen Piz „nimmt“ und zum Vesperbrot das so- und sovielte Gletscherjoch „macht“.

Wir fassten die Resolution, daß es für uns zeit-, lungen- und beinegemäß, den Bergmajestäten unsere Huldigungen für diesmal und fortan bescheidentlich von untenhinauf darzubringen. Wer aber Jugend und einige Uebung im Bergsteigen besitzt, sollte während eines Aufenthaltes in Ragaz nicht versäumen, einen oder etliche der umherragenden Gipfel zu erklimmen. Mit dem Guschakopf und dem Fläscherberg beginnend, mag er zum Piz Alun vorschreiten, um dann an den Vasön (fälschlich Fasanenkopf geheißen) sich zu wagen und schließlich gar den Monte Luna, den Falknis, den Kalanda oder den Piz Sol zu „nehmen“. Wer jedoch in Ragaz ernstlich die Kur machen will – ich meine nicht die Damen-, sondern die Wasserkur – der lasse die Bergsteigerei überhaupt bleiben und beschränke sich auf mäßige Bewegung! Niemand sollte jedoch versäumen, von Ragaz auszufliegen – man kann es auch zu Wagen thun – über den Luciensteig nach Vaduz, der Hauptstadt des forellenreichen Reiches Liechtenstein, nach Seewis im Prätigau mit dem Blick auf die Seesaplana, nach dem kaskadengeschmückten Weißtannenthal und endlich nach Vättis. Die Fahrt nach Vättis ist von den genannten die belohnendste. Wo auf der Höhe hinter dem Dorfe Pfäfers der Weg ins Taminathal sich hinabsenkt, erschaut man rechtshin die ganze zwischen den Vasön und den Monte Luna eingespannte Reihe der Grauen Hörner mit ihren phantastisch geformten Felszacken und ihren schimmernden Schneefeldern. Vättis selbst liegt hart am nördlichen Fuße der ungeheuren Felspyramide des Kalanda, von welchem das Dichterwort:

„Aus einem tiefen, tiefen Thal
Steigt auf der Berg als wie ein Stral“ –

buchstäblich gilt. Ueberschreitet man den Bergstrom und geht die kurze Strecke bis zur Basis der untersten Felsterrasse des Kalanda hinan, zu einer Stelle, wo ich in verschiedenen Jahren noch im Monat September die Schneetrümmer einer im Frühling herabgestürzten Lawine vorgefunden habe, so thut sich ein Einblick in das wildschöne Kalfeuserthal auf, aus dessen Hintergrund, falls nämlich unser „gemäßigtes“ Klima der Sonne zu scheinen gerade allergnädigst gestattet, der Sardonagletscher hervorblitzt, der Vater der Tamina.

Weitere Ausflüge der ragazer Kurgäste gehen über Chur, Reichenau und das mit Schlössern und Burgruinen reichgeschmückte Domleschg nach Thusis zur Via mala, welche aber, unmittelbar nach der Quellschlucht von Pfäfers gesehen, keine große Figur mehr macht. Eine solche macht aber die Straße über den Schyn, welche linkshin von Thusis bei der Einmündung der Albula in den Rhein anhebt. Wer einmal dort, sollte den kühn angelegten und wahrhaft prächtig ausgeführten Paßweg hinaufwandern bis zur schwindelnd hoch über die Albula gespannten Solisbrücke. Der Blick hinunter in die Stromschluchten, hinüber zum Piz Beverin, hinauf zu den dräuenden Gehängen des Piz d'Err ist groß. In entgegengesetzter Richtung ziehen die Ausflügler von Ragaz hinunter an den düsterschönen Walensee und dort von Murg oder Mühlehorn hinauf nach Obstalden und auf guter Straße über den Kerenzerberg hinüber nach Mollis im Glarnerland, um auf dem Rückwege in der über dem Bahnhof von Weesen hübsch gelegenen Herberge „Zum Speer“ angenehme Rast zu halten. Ist man aber im Glarnerland, so müßte man ein fühlloser Barbar sein, wollte man das zwischen den Glärnisch und den Wiggis hineingespaltene Klönthal nicht besuchen, mit seinem die Felswände des Glärnisch widerspiegelnden See unbedingt eins der eigenartigsten Hochthäler der Alpen, das einmal Einer – ich glaube, ich war es selbst – treffend mit der Poesie Lenau's verglichen hat. Und thun Sie mir, meine mehr oder minder werthen Damen und Herren, thun Sie mir oder vielmehr sich selber den Gefallen, von Glarus aus auf der jetzo das Linththal hinanrasselnden Eisenbahn bis zum schöngelegenen, heilkräftigen und nahrhaften Bade Stachelberg zu fahren, von da, an den Fätschbach- und Schreienbachfällen vorbei, bis zum Tödihaus im „Thierfehd“ zu wandern und von dort – 's ist ja nicht mehr weit – über die Pantenbrücke, unter welcher, tief im Abgrund, die junge Linth dahintobt, [617] hinauf zur Ueieli-Alp, allwo euch Se. Majestät der Bergkönig Tödi unwidersprechlich darthun wird, daß er ein Prachtkerl sans phrase. Welche olympische Ruhe dort oben! Welche Sicherheit vor alle dem politischen, geschäftlichen, literarischen und musikalischen Spektakel drunten! Welche Auflösung der tausend Dissonanzen des Menschendaseins in die balsamische Harmonie feierlichen Schweigens! Mit Wonne gedenk' ich noch jetzt eines milden, wolkenlosen Herbsttages, den ich, ziellos umherschweifend, vor Jahren einmal ohne jede Störniß auf der Ueieli-Alp verbrachte. Dort ist mir der Tiefsinn von Hölderlins Wort aufgegangen: „Nun versteh' ich den Menschen erst recht, da ich fern von ihm in der Einsamkeit weile.“ …

Wer aber im Lande,[WS 1] d. h. in Ragaz bleibt, um redlich warmes Wasser zu trinken, zu baden, sich nebenbei vortrefflich – vielleicht etwas vortrefflicher als kurgemäß – zu nähren, in den schönen Gärten des Quellenhofes und des Hofes Ragaz umherzuschlendern, im Waldparke droben zu träumen oder in der großen Säulenhalle vor dem Kurhause den Weisen der vortrefflichen Kurkapelle zu lauschen, der mag Vormittags zur Ruine Freudenberg spazieren, um von dort nach den sieben oder mehr Kuhfirsten (d. h. Kuhrücken, nicht Kurfürsten) am Walensee, nach den beiden Gonzen und dem Alvier auszuschauen, und mag dann gegen Abend hin die sanft ansteigende Waldzickzacksstraße hinaufwandern bis zur Ruine Wartenstein, auf die von rechtsher der kolossale Felsblock, welcher burgartig den Piz Alun krönt, herabschaut, während links unten das Rheinthal bis Zizers sich aufthut und das Auge auf dem satten Grün der Bergwände des Prätigau's ruht, von woher die Landquart durch die Klus hervorbricht, um sich unfern der Tardisbrücke dem Rhein in die Arme zu werfen. Sind Luft und Licht dir gewogen, so siehst du jenseits des Stromes Maienfeld und Jenins aus dem grünen Kranz ihrer Weingärten weiß hervorschimmern und später, wann die Dämmerung schon ihren Duftschleier auf das Thal zu breiten sich anschickt, die riesigen Felszacken des Falknis im Abendstrale roth aufglühen. Wer im Besitz eines leidlich gut erhaltenen Piedestals, sollte auch den Besuch des Dorfes Pfäfers, des nahebei gelegenen Tabor, sowie des Bergdorfes Valens nicht versäumen.[1]

Der Gang von Ragaz die Tamina entlang zum Bade Pfäfers und zur hart dahinter sich öffnenden Quellschlucht, deren Großheit keine zweite Kluft oder Klamm im ganzen Umfange der Alpen erreicht, ist für jeden Kurgast und für jede Kurgästin selbstverständlich. Wer hier einmal gewandelt, unter sich die tosend in ihrem Felsrinnsal daherströmende Sardona-Tochter, über sich die gigantesten Wölbungen einer kyklopischen Naturarchitektur, der trägt einen Eindruck mit fort, welcher sich niemals verwischt.

In Dunkel und Schweigen liebt die Natur ihre heiligsten Mysterien zu bergen. Aber der Mensch, zugleich ihr Sklave und ihr Tyrann, dringt wißbegierig und nutzungssüchtig in ihre innersten Geheimnisse. So hat er auch hier, unter den Bergen einer an urzeitliche Erdumwälzungen gemahnenden Riesenhalle, einen Schacht in den Fels gebohrt, um die dampfende Najade bei ihrem Hervorsprudeln aus der Tiefe zu fassen und zu fangen, damit sie ihm dienstbar sei. Umwirbelt von Dampfwolken, welche die Leuchte des Führers nur schwach durchhellt, stehst du, nachdem du etwa fünfzig Schritte in einem engen Stollen gethan, in einer wie von Berggeisterhänden geweiteten Höhlung und blickst über ein hölzernes Geländer hinweg in einen tiefen Kessel hinab, von wo ein leises Gemurmel und Geplätscher heraufkommt, kaum vernehmbar in dem von draußen hereindringenden Rauschen der Tamina. Dort unten quillt die Heilquelle von Pfäfers-Ragaz, krystallhell, das klarste, reinste Urwasser von 30 Gr. R. Wärme, vergleichbar nur den schwesterlichen Wassern von Gastein und Wildbad. Alswie ein von den geheimnißvoll im Erdinnern waltenden Mächten an die Oberwelt geisterhaft heraufgesandter Gruß muthet das leise Murmeln und Plätschern dich an.

Bist du dann wieder hervorgetreten aus Dampf und Dunkel auf die schmale Plattform vor dem Quellschacht, von welchem aus die Röhrenleitung zum Bade Pfäfers und, bald über, bald unter der Erde, immer die Tamina entlang oder dieselbe überbrückend, die Wegstundenlänge bis hinab nach Ragaz geht – da mag dir wohl der Gedanke kommen, wie wildschauerlich es an dieser Stelle vor 800 und etlichen 40 Jahren ausgesehen haben müsse, dazumal nämlich, als – wie Urgroßmutter Sage zu plaudern weiß – so um das Jahr 1038 herum eines Tages ein kühner Jägersmann, der Karl vom hohen Balken aus Valens, in den Taminaschlund kecklich sich hineingewagt und den Heilquell gefunden hat. Die Sage will ihr Recht, und so soll ihr nicht verübelt werden, daß sie in ihrer naivpoetischen Weise diese Findung auszuschmücken liebte. Der Jäger hatte sein Leben gewagt, um eine von krächzenden Raben in den Abgrund hineingejagte Taube vor ihren Verfolgern zu schützen – wohl ein Anklang an die Klostersage von Pfäfers-Pirminsberg, derzufolge ja eine „schneeweiße“ Taube (die Tauben sind bei solchen Gelegenheiten bekanntlich immer weiß, schneeweiß) dem heiligen Pirmin und seinem Freunde Adalbert den Weg zu der Stelle auf der Bergterrasse rechts am Fuße des Piz Alun gewiesen hatte, allwo zwischen 721 und 730 das jetzt zum Staatsirrenhaus des Kantons St. Gallen umgewandelte Kloster gegründet und mit Benediktinermönchen aus der Reichenau bevölkert wurde. Längs des tobenden Gletscherwassers durch das Gestrüppe der bislang noch von keines Menschen Fuß betretenen Urwaldwildniß sich Bahn brechend, stand der Jäger plötzlich staunend, starrend still, als er aus einem Felsspalt weiße Dampfwolken hervorwirbeln sah, welche der heiße Quell aus der verborgenen Tiefe heraufathmete. Der Finder des „Wunders“ machte als der Gotteshausmann, der er war, seinem Herrn, dem Abte von Pfäfers, schleunige Meldung. Aber 200 Jahre lang ließ man den köstlichen Fund unbenutzt. Der Ort galt für unheimlich; denn möglicher, wahrscheinlicher Weise sogar waren ja die in grauenvoller Oede gespenstig aus der Tiefe dringenden Dampfwolken wohl nichts anderes als der Odem- oder Brodemaushauch Sr. höllischen Majestät des Satans.

Die Kunde von dem erste Quellfund war so völlig verschollen, daß, als um das Jahr 1212 zwei Jäger aus Vilters, Thuoli und Vils, im Taminaschlund zufällig den Quell wieder auffanden, ihre Entdeckung für etwas ganz Neues galt. Diese zweite Findung verscholl aber nicht wieder. Der Fürst-Abt von Pfäfers, Hugo der Zweite, machte um 1242 das heilsame Naß zuerst leidenden Menschen zugänglich. Aber dieser Zugang war geradezu mit Lebensgefahr verbunden, und zwar noch lange Zeit, auch dann noch, als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hart beim zuweggebrachten Ausfluß der Quelle und auf quer über das tosende Rinnsal der Tamina gelegten Balken ein hölzern „Badhus“ gebaut, sowie in die Felswand am linken Ufer des Bergstroms eine Kapelle gehöhlt worden war – Spuren dieser waldursprünglichen und troglodytischen Bauten sind noch jetzt bemerkbar – auch dann noch mußten die Badegäste an Stricken oder hängenden Leitern in die furchtbare Kluft hinabklettern und in derselben Halsbruch drohenden Weise wieder hinauf.

So ist auch der schwerkranke und todmüde Flüchtling Ulrich von Hutten, von Zwingli an den reformistisch gesinnten Abt Johann Jakob Ruffinger – sein Name bleibe in Ehren! – warm empfohlen, als Gast des Prälaten im Juni oder zu Anfang Juli’s von 1523 in den Quellschlund hinunter und nach erfolgloser Kur wieder herauf gelangt. Der gute Abt erwies dem verketzerten und verfemten, namentlich von dem gelehrten Klügling Erasmus von Rotterdam bis in den Tod hinein giftig gehetzten Patrioten alle Freundlichkeit, wie solche heutzutage wahrlich kein katholischer Prälat und kein lutherischer Propst mehr einem Ketzer erwiese. Bald darauf – am letzten August oder am ersten September? – ist Hutten im Pfarrhaus auf der Insel Ufnau im Zürichsee gestorben. Der gebildetste, hochherzigste und tapferste der Reformatoren, Ulrich Zwingli, hatte bis zuletzt seine „milde und feste“ Hand schützend über dem unglücklichen Mitstreiter gehalten. Am 11. October 1523 schrieb er aus Zürich an Bonifaz Wolfhart: „Hutten hat nichts, gar nichts von irgendeinem Werthe hinterlassen: keine Bücher, keine Fahrhabe, nichts als seine Feder“ (nihil reliquit, quod ullius sit pretii: libros nullos habuit, supellectilem nullam praeter calamum). „Nichts als seine Feder!“ Natürlich. Er hatte ja sein Vaterland mehr geliebt als sich selbst. Wäre er ein Opportunitätsschwabbeler, Zweiächsler und Manteldreher gewesen wie sein Denunciant und Verfolger Erasmus und alle die zahlreiche Erasmi unserer eigenen Tage, so würde er reich in seinem eigenen Haus und Bette gestorben [618] sein und die Sippschaft Erasmorum hätte ihm nach seinem Tode auch noch ein Standbild aufgerichtet. „Nichts als seine Feder!“ Man meint das verachtungsvoll-mitleidige Lächeln zu sehen, welches dieser Nachruf unsern „liberalen“ Gründern und Gründergehilfen, welche die patriotische Phrase so hübsch mit der einträglichen Jobberei und Gimpeljagd zu verbinden verstanden, auf die Lippen lockt. Sie wußten und wissen besser für sich zu sorgen, diese Herren „Realpolitiker“ und Redenseilgaukler, welche es glücklich dahingebracht haben, daß völlige Grundsatzlosigkeit für das Hauptmerkmal eines normalmäßigen deutschen „Reichsfreundes“ gilt …

Etliche Jahre später als Hutten besuchte sein berühmter Zeitgenoß Theophrastus Paracelsus den Heilquell im Taminaschlund und entwarf eine Beschreibung desselben. Diesen ersten Versuch einer sachkundigen Untersuchung und Würdigung der wohlthätigen Naturgabe ließ der Abt von Pfäfers drucken und veröffentlichen, wodurch der Ruf des Bades immer weiter in die Welt ausging. Die junge Anstalt hatte übrigens Schweres durchzumachen. Wiederholt, 1611 und 1629, brannte das Badhaus ab. Ein andermal war das nach der ersten Einäscherung wiederhergestellte durch den Herabsturz von Felsblöcken zertrümmert worden. Nach dem zweiten Brande verschritt man zu der dazumal sehr schwierigen Untersuchung der Taminaschlucht ihrer ganzen Länge nach, um einen passenderen Platz zur Anlage der Badgebäude ausfindig zu machen, und unter dem Regimente der beiden Aebte Jodocus und Johannes wurde der Bau des Bades Pfäfers da in Angriff genommen, wo das seitdem vielfach umgebaute und vergrößerte noch jetzt steht, und zugleich wurde mit unsäglicher Mühwaltung die erste Röhrenleitung von der Quelle bis zum Badhaus hergestellt. Am Pfingstfest von 1630 strömte das Quellwasser zum erstenmal durch diese an den Felswänden der Schlucht aufgehängte Röhrenleitung. Der Grundstock der jetzigen Badbaulichkeiten, deren klösterlicher Stil viele Besucher zu der ganz irrthümlichen Ansicht verleitet, das Haus wäre ursprünglich ein Kloster gewesen, rührt von dem Abte Bonifaz dem Ersten her (1704).

Alles hat seine Zeit, das Bergesteigen wie das Dasein von Klöstern. Das Kloster Pfäfers-Pirminsberg hatte im Jahre 1838 so abgewirthschaftet, daß die Säcularisation räthlich, ja nothwendig geworden war. Einer der „aufgehobenen“ Konventualen hat mir seiner Zeit auf dem Wege zwischen Mels und Flums erzählt, die Mehrzahl der letzten Mönche von Pfäfers wäre entschieden für die Aufhebung gewesen. Der Abt hätte die Rede, welche er im Kapitelsaale inbetreff der Frage: Sein oder Nichtsein? an den versammelten Konvent gerichtet, in die Schlußworte zusammengefasst: „Die Sachlage, meine Brüder, ist so, daß wir entweder zur strengen Regel unseres heiligen Stifters Benediktus zurückkehren oder aber die Regierung von St. Gallen um Aufhebung angehen müssen“ – und darauf wäre zur Antwort ein lautes: „Aufheben! Aufheben!“ erschollen. Man willfuhr dem Wunsche. Der Staat versorgte die Mönche – es waren ihrer, wenn mein Gedächtniß mir treu ist, noch 13 oder 15 – auskömmlich, richtete das Kloster zu einer Irrenanstalt her, erweiterte das Bad Pfäfers und machte dasselbe eigentlich erst recht zugänglich. Denn bislang hatte man von Ragaz her nur auf dem Umwege entweder über Valens oder über Dorf Pfäfers und nur mühsälig zu dem Bade gelangen können. Die St. Galler Regierung baute, in den Besitz der Klostergüter gelangt, die kühne und schöne Straße längs der Tamina von Ragaz aufwärts bis Pfäfers, von wo sie mittels einer Röhrenleitung einen Theil des Quellwassers zum „Hof Ragaz“ herabführte, welcher zeitweilig die Residenz der pfäferser Aebte gewesen war und jetzt ebenfalls zu einer Badanstalt eingerichtet, sowie in den nächsten Jahren mittels beträchtlicher Anbauten zu seiner jetzigen Gestalt gebracht wurde. Am 31. Mai von 1840 eröffnet, gedieh die Kuranstalt „Hof Ragaz“ bald außerordentlich, besonders vom Jahre 1844 an, wo die Gebrüder Hauser als Pächter der ganzen Staatsdomäne Ragaz die Bewirthschaftung übernahmen. Die beiden Eisenschienenwege, deren einer vom Bodensee, deren anderer vom Walensee heraufführt, haben selbstverständlich zum Aufschwunge des neuen Badorts viel beigetragen. Als ich die ersten Male nach Ragaz kam, existirte die Eisenbahn noch nicht, und dazumal durfte man, ohne beleidigend sein zu wollen, den Ort wohl ein Nest nennen. Heute ist Ragaz mit seinen Hôtels und Pensionen, mit seiner schönen „Dorfbadhalle“, mit seinen hübschen Privathäusern und Gärten ein stattlicher Flecken, den eine „Stadt“ zu nennen Fremde nicht anstehen.

Für diesen Aufschwung ist ohne Frage der Uebergang der Staatsdomäne Pfäfers-Ragaz in Privatbesitz geradezu epochemachend gewesen. Der Staat St. Gallen hatte die Verpachtung doch auch gar zu wenig einkömmlich, die Verzinsung dem Kapitalwerth der großen Domäne nicht entfernt einsprechend gefunden und finden müssen. Er suchte einen vertrauenswürdigen und tüchtigen Käufer und fand einen solchen in der Person des Architekten Bernhard Simon aus Niederurnen im Glarnerland, eines self-made man im besten Sinne des Wortes, wie es nur jemals einen gegeben. Kaufweise erwarb dieser ein- und umsichtige Mann von wahrhaft nordamerikanischer Thatkraft und Arbeitsfähigkeit die ganze Domäne Ragaz erb- und eigenthümlich, dazu die pfäferser Heilquelle, die Quellschlucht, das Bad Pfäfers und die Straße von dort nach Ragaz auf 100 Jahre (vom 1. Januar 1868 bis zum 31. December 1967). Der neue Besitzer, früher Erbauer der berühmten Eisenbahn-Sitterbrücke bei Winkeln und des neuen Stadtquartiers in St. Gallen, griff das Werk der Um- und Neugestaltung energisch an und führte dasselbe in großem Stile durch. Der mächtige „Quellenhof“, der Kursaal mit seinem imposanten Säulenportikus, die schönen neuen Bäder mit der höchst wohlthätigen Wandelhalle wurden erbaut, Gärten- und Parkanlagen mit Springbrunnen und Teichen geschaffen, zu den Ruinen und Aussichtspunkten Wartenstein und Freudenberg, wie hinunter an den mittels kolossaler Steindämme gebändigten Rhein und hinauf in den Buchenwald bequeme Wege geführt. Eine große Wohlthat für die Insassen des Quellenhofes und des Hofes Ragaz ist es auch, daß der Besitzer – wir Stammgäste pflegen ihn scherzend den „Tyrannen“ (natürlich im altgriechischen Sinne des Wortes, nicht im modernen) zu nennen – eine hoch droben am Piz Alun gewaltig hervorsprudelnde Quelle herrlichen Trinkwassers erworben und sorgfältig in eisernen Röhren zu Thale geleitet hat. Die neueste Schöpfung des rastlosen Mannes ist die katholische Kapelle, welche er über der die beiden Höfe verbindenden Galerie erfindungsreich gewölbt hat, den Wünschen gutkatholischer Französinnen und Franzosen zu Gefallen, welche ihre tägliche Messe möglichst bequem hören wollen. Ein protestantischer Betsaal findet sich in Hof Ragaz. Das nächste Jahrhundert sieht vielleicht in Ragaz auch eine Synagoge, eine Moschee und eine Pagode erstehen, vorausgesetzt, daß bis dahin die europäische Menschheit auf ihrem dermaligen Krebsgange nach Kanossa und wahlverwandten Orten nicht in dem riesigen Schafestall angelangt sein werde, welcher die Aufschrift trägt: „Ein Hirt und eine Heerde.“

Ragaz ist nachgerade ein Weltbad geworden, aber – Dank den Göttern! – kein geräuschvolles Vergnügungsbad. Hierher kommt man nicht mehr oder minder läppischer Zeitvertrödelungen wegen, sondern um seiner Gesundheit willen. Für Kurgäste von jener Sorte, welche die Schweizer sehr treffend „Lustigmacher“ zu nennen pflegen, ist der Boden von Ragaz zu heiß oder vielmehr zu kühl. Von Lärm und Tumult keine Rede! Die Kurgesellschaft besteht aus ernsten und gesetzten Leuten, welche ihre Leiden lindern, ausruhen, sich auffrischen wollen in diesem wunderbar schönen Alpenthale. Am vollsten wird der Ort im Juli und August in Folge des Touristenzuges. Am angenehmsten ist der Aufenthalt und Kurgebrauch im Juni oder im September. In diesen beiden Monaten trifft man dort auch die meisten deutschen, deutschschweizerischen und deutschösterreichischen Familien, während im Hochsommer Engländer, Amerikaner, Russen und Franzosen vorherrschen, durchsprenkelt mit Italienern und Spaniern, Polen und Skandinaviern. Seit 1870-71 hat auch das jährliche Kontingent deutscher Offiziere sehr zugenommen, und es gereicht mir zur besonderen Freude, sagen zu können, daß ein wissender und merkender Mann im Umgange mit diesen Männern unschwer herausfühlen kann, warum und wieso Deutschland in seinem großen Jahre Frankreich besiegen konnte, mußte.

Wär’ ich ein orthodoxer Heide oder ein orthodoxer Christ, so hätte ich, dankbaren Gemüthes, längst in der Quellschlucht eine Votivtafel aufhängen müssen. Da ich aber nur ein leidlich frommer Mensch im Sinne des Lucretius bin, so durfte ich mich begnügen, dir, o hilfreiche Najade von Pfäfers-Ragaz, dieses bescheidene Weihgeschenk in die „Gartenlaube“ zu stiften.



[619]
Die „Gehturniere“ und der „Autoren-Carneval“ in San Francisco.
Von Theodor Kirchhoff.
II. (Schluß.)


Im Jahre 1863 fand der erste „Autoren-Carneval“, das heißt eine Darstellung durch lebende Bilder und Declamationen aus den Werken berühmter Schriftsteller verschiedener Nationen, in Boston statt, welche Stadt auf den Namen eines westlichen Athens mit Recht Anspruch machen kann und von jeher eine Pflanzstätte der feineren Cultur in Amerika gewesen ist. Später wurden ähnliche Aufführungen in Philadelphia, St. Louis, Buffalo und zuletzt in Chicago mit großem Erfolge abgehalten, und endlich kam ein speculativer Kopf auf den Gedanken, daß San Francisco der rechte Platz sei, um einen „Autoren-Carneval“ im großartigen Stile zu veranstalten. Die kosmopolitische Bevölkerung dieser Stadt bildet ein trefflich zu verwerthendes Material, falls das Unternehmen hier von den richtigen Kräften in’s Werk gesetzt werden könnte.

Es gelang, sechs wohlthätige Gesellschaften in dieser Stadt für das Unternehmen zu interessiren. Ein Comité, bestehend aus hervorragenden Männern und Frauen und unter der Oberleitung eines in solchen Dingen geschulten Theaterintendanten, nahm die Sache praktisch in die Hand; nicht weniger als zwölfhundert Männer, Jünglinge, Frauen und Jungfrauen aus den tonangebenden Kreisen der Stadt erboten sich, als thätige Theilnehmer Rollen zu übernehmen, alle Kosten für die Costüme selbst zu tragen und für den Erfolg nach besten Kräften zu wirken. Wenn ich sage, daß hunderttausend Dollar für Costüme von Privatleuten ausgegeben wurden, so wird der Leser zugeben müssen, daß der Enthusiasmus unter den activen Theilnehmern des Carnevals fast ein beispielloser gewesen ist.

Die Werke von sechszehn Dichtern verschiedener Nationen sollten durch lebende Bilder illustrirt und einzelne Scenen daraus dramatisch aufgeführt werden. Hervorragende Schauspieler übernahmen es, die Rollen einstudiren zu lassen und die lebenden Bilder künstlerisch zu gestalten, und es wurde weder Geld noch Mühe gespart, um dem Unternehmen einen durchschlagenden Erfolg zu sichern. Die Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer, Amerikaner und Deutschen stürzten sich mit einem wahren Enthusiasmus in das neue Unternehmen, um Scenen aus den Lieblingsdichtern ihrer Nationen zur möglichst vollkommenen Geltung zu bringen. Zahlreiche Proben wurden abgehalten, prachtvolle Costüme angefertigt und umfassende Vorbereitungen für das schnelle Aufschlagen der Bühnen und der Bazare getroffen, da der „Autoren-Carneval“ schon zwei Tage nach dem Schlusse des Laufturniers beginnen sollte.

Als der siegreiche Schimmel „Pinafore“, von jubelnden Volkscohorten begleitet, erst kaum den Pavillion verlassen hatte und sich die zu Tode ermüdeten Fußgänger wie die Nachzügler eines geschlagenen Heeres mühselig daraus entfernten, rückten hundertfünfzig Arbeiter in das Riesengebäude ein, um dasselbe in zweimal vierundzwanzig Stunden aus einem Pferdestalle und einer Arena niedriger Schaustellungen in einen farbenbunten, glänzenden Musentempel umzugestalten. Eine radicalere Umwandlung in so kurzer Zeit, wie sie hier stattfand, läßt sich kaum denken, aber in San Francisco, wo das gewaltige „Palace-Hôtel“ in einem Jahre erbaut wurde, ist das Wort: „langsam“ überhaupt aus dem Wörterbuche verschwunden.

Schon die mächtige, oben von einer breite Gallerie umkränzte Halle, mit dem Gewimmel der zu vielen Tausenden sich darin drängende Menge, dem Lichterglanz, Fahnen- und Blumenschmuck bietet einen überaus fesselnden Anblick dar. Zu beiden Seiten des riesigen Raumes aber reiht sich eine lange Linie von Bühnen an einander, auf denen sich bald hier, bald dort der Vorhang öffnet, um das Auge mit Schaustellungen von oft blendendem Effect zu überraschen.

Hier erschließt sich der Bazar, in welchem sich die Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ in so verschwenderischer Pracht präsentiren, als wäre die schöne Scheherazade in eigener Person wieder erschienen, um dem Kalifen inmitten seines Harems ihre Erzählungen vorzutragen. Der Glanz der im reichsten orientalischen Stil costümirten Schönheiten aus der californischen Wunderstadt würde sicherlich auch in Bagdad Furore gemacht haben.

Auf der nächsten Bühne werden Episoden aus den Werken der deutschen Dichterfürsten Schiller und Goethe in wunderbar schönen Tableaux dargestellt. Diese Bilder waren ohne Frage das Vollendetste, was auf dem „Autoren-Carneval“ geboten wurde.

Die mannigfaltigen Scenen aus „Faust“, „Don Carlos“, „Hermann und Dorothea“, „Die Glocke“, „Götz“, „Wilhelm Tell“ etc. waren herrlich, die Darstellungen vom „Haideröschen“, „Lotte und die Kinder“ classisch schön, und alle kamen unter der trefflichen Leitung des Regisseurs der hiesigen deutschen Bühne zu einer so hervorragenden Geltung, daß sich ein wählerisches deutsches Publicum in der alten Heimath gewiß nicht minder daran gefreut haben würde, als das hier versammelte kosmopolitische Publicum der californischen Metropole.

Neben der Schiller- und Goethe-Bühne liegt die sogenannte ägyptische, auf der sich die Darsteller, sechszig an der Zahl, meistens in Massenscenen präsentiren. Die Pracht der Aegypter übertrifft noch den Pomp von „Tausend und eine Nacht“. Wenn ich beiläufig bemerke, daß die durchgängig aus Seide und Sammet verfertigten und mit Goldstickereien und (allerdings meistens unechten) Perlen förmlich überladenen Costüme der vierzig Damen dieses Bazars 12,000 Dollar gekostet haben und daß z. B. die Sphinx mit Diamanten vom Nipptische einer Bonanzaprinzessin geschmückt war, die einen Werth von 50,000 Dollar repräsentiren, so wird man sich einen Begriff von dem dort entfalteten Aufwand machen können. Unter den prächtigsten Bildern auf dieser Bühne sind „Esther vor dem Könige“, „Antonius und Kleopatra“ und „Die Auffindung des Moses“ rühmlich hervorzuheben, welche letztere Persönlichkeit zum Gaudium des Publicums durch ein veritables schreiendes „Baby“ personificirt wurde.

Weiterhin steht ein Tempel der Flora, in welchem die schönsten Mädchen der Stadt – und kein Ort der Welt vermag sich schönerer Frauengestalten und lieblicherer Mädchengesichter zu rühmen, als San Francisco – in classischen griechischen Gewändern die Blumenpracht des Goldlandes für schnöden Mammon austauschen und manchen respectablen Obolus aus den Taschen eines bewundernden Publicums locken.

Auf den nächsten Bühnen werden die Werke von Walter Scott und Tennyson bildlich dargestellt. Die holländischen und schottischen Helden des zuerst genannten Dichters sind nicht minder charakteristisch, als der „Traum von den schönen Frauen“ Tennyson’s, wobei die herrlichsten Frauengestalten allmählich aus dem Dunkel in den vollen Glanz hervortreten und langsam wieder verschwinden. Weiterhin präsentirt sich Longfellow mit seiner rührenden Idylle „Evangeline“ und den Indianern aus „Hiawatha“. Indianische Häuptlinge stolziren im vollen Kriegerschmuck dort auf und ab, und es ist eine Freude, sie anzuschauen; Sitting Bull oder die „Rothe Wolke“ hätten sicherlich nichts an ihnen auszusetzen. Einen seltsamen Contrast mit den romantischen rothen Kriegern und ihren Squaws und einem unverfälschten Indianer-Wigwam bildet der Salon der Madame Recamier mit dem Ensemble der französischen feinen Welt, welche sich um jenen Schöngeist zu sammeln pflegte. Die Repräsentanten der Madame de Staël, Madame Marat, der Herzogin von Broglie, von Chateaubriand etc. treten hier im getreuen Costüm ihrer Zeit auf.

Auf der gegenüberliegenden Längenseite der großen Halle befindet sich zunächst die Bühne, auf der die Werke von Charles Dickens durch Tableaux und humoristische Declamationen von nicht weniger als 120 Darstellern verherrlicht werden. Nikolaus Nickleby, David Copperfield und andere lebensgleiche Gestalten des berühmten Briten treten dort abwechselnd auf, und die Pickwickier erfreuen uns durch ihren unverwüstlichen Humor. Nebenan liegt die Cervantes-Bühne, auf welcher Don Quixote, der edle Ritter von der traurigen Gestalt, und Sancho Pansa ihre wunderbaren Abenteuer bestehen und wo mitunter ein Fandango von echten Spanierinnen aufgeführt wird. Minder schön und ganz unpassend für ihre Umgebung sind die in der Mitte dieser Bühnenreihe aufgebauten Korallenriffe, Muschelbänke und nie gesehenen Seepflanzen aus Jules Verne’s Zauberstück „Auf dem Meeresgrund“, die aus New-York importirt wurden. Die zwischen dem Seetang hinter einem blauen Gazevorhang beim Orgelspiel herumschwimmenden Nixen würden schwerlich einen Fischer in den „wohlig kühlen Wellengrund“ gelockt haben.

Zu den besten Darstellungen auf dem Carneval gehören die von Bret Harte. Hier ist das urwüchsige Leben in den wilden [620] californischen Minenlagern auf eine so getreue Weise wiedergegeben, daß man sich nach Roaring Camp, Red Gulch oder Sandy Bar versetzt glaubt.

Die sich auf der nebenanliegenden Bühne präsentirenden fünfzig persischen Schönheiten nebst den mit eleganten Thürflügeln versehenen Peris und ellenhohe schmale Hüte tragenden Herren Persern aus Thomas Moore’s „Lalla Rookh“ vermögen nicht den Vergleich mit Bret Harte’ s Minenlager auszuhalten. Die Bühne des amerikanischen Dichters Whittier ist der andere Nachbar von Thomas Moore und bildet mit Bret Harte den Rahmen zu dem orientalischen Flitterpomp.

Für Shakespeare ist in einem größeren Zimmer eine Bühne eingerichtet worden, wo die gewaltigen Gestalten des großen Briten wie zu Königin Elisabeth’s Zeit über die Bretter schreiten, welche die Welt bedeuten. Einhundertsechszig Darsteller haben die Rollen übernommen, welche zwischen dramatischen Declamationen und Tableaux unter einander abwechseln. Der Zuschauerraum ist stets so gedrängt voll von Menschen, daß es fast unmöglich ist, dort mehr als einen vorübergehenden Einblick zu erlangen. Hunderte, die sich gleich beim Oeffnen der Thüren einen Platz auf einer der hölzernen Bänke erobert haben, verweilen dort jeden Abend bis zum Schlusse der Vorstellungen.

Das fröhliche Italien hat sich mit seinen farbenreichen Bildern in den höheren Regionen auf einer der Hausgallerien angesiedelt. Auf zwei einander gegenüberliegenden Bühnen, die das alte und das neue Rom repräsentiren, werden dort abwechselnd Scenen aus den Meisterwerken der alten und der neuen Schule von fünfundsiebenzig Darstellern aufgeführt. Unter den im Zuschauerraume ausgestellten Gemälden bemerkt man Piloty’s „Wallenstein auf dem Wege nach Eger“, welches Werk aus der Privatgallerie eines reichen Californiers hierher gewandert ist. Ein deutsches Bild freundnachbarlich zur Verherrlichung der heiteren Italia!

Außer den bereits angeführten Bühnen befinden sich im Pavilion noch ähnliche für Bulwer, die Knickerbocker und Washington Irving, ferner eine Sennhütte, ein japanesischer Theegarten mit veritablen Japanern darin, ein kleines Amphitheater, wo die allerliebsten Märchen von Walther Crayne durch zweihundert fröhliche Kinder aufgeführt werden, der berühmte Garten „Trianon“ der Marie Antoinette en miniature, und andere mehr oder weniger hübsch arrangirte Schaustellungen, deren genauere Beschreibung hier jedoch zu weit führen würde.

Vor dem Beginn der Schaustellungen, die auf den verschiedenen Bühnen in bunter Reihenfolge einander ablösten, fand an jedem Abend ein großer Umzug sämmtlicher sich activ am „Autoren-Carneval“ betheiligenden Personen in vollem Costüm statt, welche höchst interessante Parade eine volle Stunde dauerte. Auf einer die ganze Breite der Halle einnehmenden großen Bühne wurden zu alledem an jedem Abend Massenbilder unter prächtiger Beleuchtung producirt, die einen wunderbar schönen Eindruck machten und in denen die verschiedenen Nationalitäten mit einander wetteiferten.

Die vereinigten orientalischen Darsteller producirten dort eine Haremsscene und einen Sclavenmarkt, wobei nicht weniger als 150 auf das Reichste costümirte Personen vertreten waren – ein schillerndes Farbenspiel von Roth und Gold und Geschmeide, das in Worten nicht zu beschreiben ist. Gern verzichtet hätte ich meinerseits auf die von den Amerikanern viel bewunderte sogenannte „Fächer-Brigade“ von neun Jungfrauen, welche allabends auf der großen Bühne mit Fächern kunstvolle Exercitien ausführten, und auf ein Schachspiel, wobei Herren und Damen in Costüm die Figuren darstellten und das Spiel geschwinder zu Ende geführt ward, als Murphy oder Andersen es vermocht haben würden.

Die Deutschen errangen auch auf der großen Bühne, wie von den Amerikanern bereitwillig zugestanden wurde, die höchsten Triumphe. Die „große Apotheose“ von Schiller und Goethe kam hier zu herrlicher Geltung. Um Goethe und Schiller, die lebenstreu personificirt waren, schaarten sich die Gestalten der Charaktere aus den Werken der beiden Dichterfürsten, während die Muse über der Gruppe gleichsam schwebte und einen Lorbeerkranz zu Häupten des Dichterpaares hielt. Hundert deutsche Sänger, welche sich bei dieser Gelegenheit im Vordergrunde unterhalb der Bühne aufgestellt hatten, ließen beim Aufgehen des Vorhanges ein prächtiges Lied ertönen. Nicht minder schön war das kurz darauf folgende Bild von der Kirchgangsscene aus „Faust“, welches das gesammte Publicum förmlich mit sich hinriß und einen stürmischen Beifall erntete.

Der „Autoren-Carneval“ war ohne Frage eines der schönsten Feste, die je in San Francisco stattgefunden haben, und stellt alle ähnlichen Unternehmungen in den östlichen Unionsstädten weit in den Schatten. Die Betheiligung des Publicums blieb bis an’s Ende eine solche, wie sie sich Niemand vorher hatte träumen lassen. Mindestens 10,000 Zuschauer strömten an jedem Abend im Pavilion zusammen, und es war dort ein unbeschreibliches Menschengewoge von der sich unaufhörlich hin und her bewegenden Menge. Oft war es fast unmöglich einen bestimmten Punkt zu erreichen, und Mancher konnte von Glück sagen, in einem abgelegenen Winkel bei den Japanern eine diminutive Tasse Thee oder von den Dienerinnen der Lalla Rookh ein Glas Scherbet verabreicht zu bekommen, oder auch bei den Schweizern in der Sennhütte ein gastliches Unterkommen zu finden.

Ein großer Costümball beschloß das neun Abende dauernde Fest. Die Totaleinnahme betrug etwas über 45,000 Dollar; der Reinertrag von etwa 25,000 Dollar ward den früher erwähnten sechs wohlthätigen Gesellschaften und dem Dirigenten zu gleichen Theilen eingehändigt.

Gewiß hat San Francisco ein Recht, auf den Erfolg diesem großartigen Festes mit Stolz und Genugthuung zurückzublicken. Schon jetzt ist es beschlossen, daß der „Autoren-Carneval“ im nächsten Jahre wiederholt werden soll, und es wird derselbe wahrscheinlich von jetzt an regelmäßig wiederkehren. Die unvermeidlichen Mängel der ersten Aufführung, z. B. die zu niedrige Bauart der Seitenbühnen, welche einen Ueberblick für Menschen von kleinerer Statur oft zu einem schwierig zu lösenden Problem machten, wird man zu vermeiden wissen, die alten sorgsam aufbewahrten Decorationen durch neue vermehren und das Mangelhafte und Unpassende entfernen. Der Sinn des Volkes für das Schöne und Edle hat durch das Fest einen mächtigen Impuls erhalten, und es werden die „Autoren-Carnevals“ von San Francisco eine Hochschule des feineren Geschmacks für die heranwachsende Generation dieser Stadt bilden. Daß der sich von Jahr zu Jahr steigernde Ertrag durch Verringerung der Ausgaben, welche bei der Herstellung der ersten Einrichtung enorm gewesen sind, auch künftig allein den wohlthätigen Gesellschaften zu Gute kommen soll, ist eine der schönsten Errungenschaften dieser Kunstfeste.

Wer beim Lesen meiner im vorigen Artikel gegebenen Darstellung der Wettläufe eine geringe Meinung von der Culturstufe der San Franciscaner bekommen hat, muß nach meiner Beschreibung des kurz darauf folgenden „Autoren-Carnevals“ doch wohl eingestehen, daß San Francisco trotz seiner vielen Untugenden noch lange nicht der schlechteste Platz in dieser weiten Welt ist. Wie einem fidelen Burschen, der eben seinen Flegeljahren entwachsen ist, sitzt das ernstere Manneskleid der jungen Goldstadt noch etwas unbequem. Aber die Zeit wird rasch herankommen, wo San Francisco unter den cultivirtesten Städten der Erde ebenso gut wie unter den reichsten mit in erster Reihe genannt werden muß. Manchem wird es sogar leid thun, daß die alten lustigen, wenn auch etwas rauhen Zeiten bald unwiederbringlich entschwunden sein werden, um dem Leben der großen civilisirten Alltagswelt den Platz einzuräumen.




Auf der Station von St. Pancras.
Eine Reisehumoreske von C. Schröder.
(Schluß.)


Wie ich so allein dasitze und auf Hann und meine Mahlzeit warte, ist es mir, als höre ich hinter mir einen tiefen Seufzer. Niemand da! Ich muß mich also wohl getäuscht haben.

Nach Verlauf einer guten halben Stunde naht Hann mit Geklirr. Sie setzt ein Theebrett auf den Tisch und fordert die Summe von zwei Schillingen für das lucullische Mahl, das sie mir bereitet. Während ich meine Börse hervorsuche, geht die Hausthür. Gleich darauf lassen sich schwere Schritte auf der Treppe vernehmen.

[621]

Ein „Halt!“ aus höheren Regionen.
Nach dem Gemälde von O. Becker auf Holz übertragen.

[622] „Ah! Es kommt Jemand,“ bemerke ich.

„Nur der Doctor,“ sagt Hann, ein wenig verlegen, wie mir's scheint.

Der Doctor stampft in ein Nebenzimmer. Indem er dessen Thür öffnet, dringt wiederum ein tiefer Seufzer an mein Ohr.

„Was war das?“ fragte ich.

„O! Das war nur die Mistreß. Sie stöhnt in Einem fort. Sie hat die – sie hat Zahn – sie hat K – sie hat Kopfweh, schreckliches Kopfweh,“ stottert Hann, nimmt die beiden Schillinge und poltert mit einem: „Adjö, Ma'am! Ich dank' Ihnen,“ Hals über Kopf in den Tartarus hinab.

„Wunderliche Person!“ murmele ich, indem ich anfange, mir ein Ei (besser: einen Kieselstein) zu Gemüthe zu führen. „Zeigt ein wahrhaft rührendes Vertrauen in meine Ehrlichkeit, da sie mich hier allein läßt. Wer bürgt ihr dafür, daß ich nicht mit den knöchernen Theelöffeln und dem baumwollenen Denkmal des Herzogs von Wellington davongehe? – Wunderliche Mistreß! Hat ein bischen Kopfweh und läßt gleich den Doctor kommen. Merkwürdig, wie verwirrt das Mädchen wurde, als ich fragte, wer da seufze – ganz dunkelroth im Gesicht. Wenn sie mir eine Unwahrheit gesagt hätte! Wenn Mistreß gar kein Kopfweh hätte, sondern eine schlimme Krankheit, die sie nicht zu nennen wagte – am Ende gar eine ansteck – Großer Gott! Wenn die Frau die Blattern hätte! Gerade in dieser Gegend fallen ihnen ja wöchentlich Hunderte zum Opfer.“

Ich stoße das Theegeschirr zurück, springe auf, stürze die Treppe hinunter zum Hause hinaus und höre nicht auf zu stürzen, bis ich athemlos in der Bahnhofshalle vor dem verdutzten Diener der Gerechtigkeit stehe.

„Antworten Sie mir auf Ihr Gewissen,“ rufe ich ihm zu, „haben Sie es gewagt, mich in ein Haus zu führen, dessen Besitzerin an den Blattern krank liegt?“

Rothbart zieht die Augenbrauen in die Höhe, schüttelt den Kopf und spricht, mir höflich die Thür meines Kerkers erschließend: „Daß ich nicht wüßte! Wer sagt das? Hann?“

„Ach nein. Die behauptet natürlich, ihre Herrin habe Kopfweh, wurde aber –“

„Verlassen Sie sich darauf, Ma'am,“ unterbricht er mich mit edler Begeisterung, „wenn Hann gesagt hat, daß ihre Mistreß Kopfweh hat, so hat sie Kopfweh. Hann lügt nicht.“

„Warum in aller Welt wurde sie denn so verwirrt und stürzte mit einem dunkelrothen Gesicht zur Thür hinaus?“

„Sie wird plötzlich Angst bekommen haben, der Braten könne anbrennen. Sie ist ein gewissenhaftes Mädchen – ist Hann.“

„Es ist etwas Schönes um das felsenfeste Vertrauen, das der gute Rothbart in Hann setzt,“ seufze ich, als ich mich wieder einsam in meinen vier Gefängnißwänden sehe, „ich wollte, ich könnte es theilen.“

Ich theile es nicht. Ich habe überhaupt kein rechtes Vertrauen zu den Londonern von heutzutage. Sie sind lange nicht mehr so gewissenhaft wie ihre Vorfahren zur Zeit der furchtbaren Pest. Dazumal zeichnete der ehrliche Bürger, sobald die Seuche bei ihm eingezogen war, ein großes, rothes Kreuz an seine Thür, was so viel bedeutete, als: „Wenn Du Dein Leben lieb hast, so tritt nicht über meine Schwelle!“ Heute ladet des würdigen Mannes Urenkel arglose Leute mit gleißnerischen Worten in sein inficirtes Haus und setzt ihnen inficirte Lebensmittel in inficirten Schüsseln vor, einzig und allein um ein paar armselige Schillinge an ihnen zu verdienen. Der also Betrogene ißt und trinkt, bezahlt sein Geld und – bekommt die Blattern.

Hundert alte halbvergessene Ansteckungsgeschichten kommen mir in den Sinn, während ich wie ein ruheloser Geist um den großen, polirten Tisch herum wandere. Ich denke sie nach einander von Anfang bis zu Ende durch und bringe sie auf meine Lage in Anwendung. Meine Seele leidet dabei Folterqualen, aber die Zeit vergeht mir schnell. Ich traue meinen Ohren nicht, als Rothbart plötzlich die Thür aufschließt und mir strahlenden Antlitzes verkündet, daß ich jetzt nur noch eine einzige Stunde zu warten habe.

Im Laufe der Stunde erscheinen fünf Damen, eine alte, zwei ältliche und zwei junge. Sie tragen sämmtlich Capothüte und halten Gebetbücher in den Händen, zum Zeichen, daß sie die Bahn heute nur deshalb benutzen, weil sie in irgend einer Vorstadtskirche den Nachmittagsgottesdienst zu besuchen wünschen. Sie vertheilen sich auf vier Ledersophas und sehen mich, die ich endlich wieder auf dem meinigen zur Ruhe gekommen bin, starr, stumm und vorwurfsvoll an; denn daß ich nicht in der nämlichen frommen Absicht reise, offenbaren ihnen mein runder Hut und mein Handkoffer. Fünf Minuten lang ertrage ich das Kreuzfeuer aus den zehn Augen; dann gehe ich hinaus, um den Mann des Gesetzes zu bitten, mich baldmöglichst einsteigen zu lassen.

Draußen ist es lebendig geworden. Rothbart hat Gesellschaft bekommen. Er löst sich aus einem Knäuel von Gepäckträgern und kommt mir entgegen. Einsteigen kann ich jederzeit, meint er, die Waggons halten ja vor dem Perron, aber es wird noch eine gute halbe Stunde darüber hingehen, bis der Zug reisefertig ist.

„Lieber eine halbe Stunde im Coupé sitzen, als noch eine halbe Minute im Wartesaal,“ entscheide ich.

Rothbart holt meine sieben Sachen heraus, schließt mir draußen das allerschönste Coupé auf und entfernt sich mit dem Versprechen, mich zu benachrichtigen, sobald ich mir am Schalter ein Billet lösen kann.

Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht doch. Die Locomotive langt schnaubend an. Einige Dutzend Sonntagsreisende steigen mehr oder weniger schamroth ein. Jetzt kommen die fünf Capothüte, schenken mir im Vorüberschreiten noch schnell fünf vorwurfsvolle Blicke und wählen, jede Gemeinschaft mit mir meidend, das nächste Coupé.

Und nun erscheint Rothbart, der Treue. Er hat meinen Koffer besorgt und meint, es sei nun hohe Zeit, daß ich mir ein Billet löse, der Zug fahre in sechs Minuten. Ich wage es, der guten Seele nochmals ein Geldstück in die Hand zu drücken. Er nimmt es zu meiner Freude ohne Scrupel entgegen, wünscht mir gerührt eine glückliche Reise und geht. Ich eile an den Schalter:

„Ein Billet nach W.“

„Billet nach W.! – Nach W? – W.? Bedaure! Eilzug nach Edinburgh hält nicht in W. Werden bis fünf Uhr warten müssen.“

Einen Moment stehe ich wie vom Blitze getroffen; dann fliege ich, eingedenk der eilenden Minuten, an das allerschönste Coupé und entreiße ihm mit blutendem Herzen meine Habseligkeiten.

„Einsteigen einsteigen!“ ruft, indem ich dies thue, der Schaffner. Er hat die Hälfte der Wagen bereits geschlossen.

Von Angst getrieben stürze ich auf den ersten besten Gepäckträger zu und beschwöre ihn, mir schnell, schnell meinen Koffer herauszugeben. Der Mann ist mit Freuden bereit dazu, weiß aber nicht, ob der Verlangte im Gepäckwagen Nr. 1, unmittelbar hinter der Locomotive, oder in Nr. 2, am äußersten Ende des Zuges, weilt. Ich weiß es auch nicht; drei Collegen, die er nach einander consultirt, wissen es ebenfalls nicht. Niemand weiß es, außer Rothbart, und der ist spurlos verschwunden. Ueber dem Consultiren ist es auch schon zu spät geworden. Sämmtliche Wagen sind geschlossen. In einer halben Minute reist mein Koffer auf eigene Faust nach Edinburgh und von da nach Thule – kehrt vielleicht über's Jahr, vielleicht nimmer wieder. Da erscheint plötzlich ein Rettungsengel, ein wohlbekannter, mit leuchtenden Coteletten, sieht mich unter der Last meines Grames tiefgebeugt dastehen und begreift im Nu die Situation. Auf den Schaffner zustürzen, ihm ein unverständliches Wort zurufen, einen Wagen aufreißen und einen Koffer an das Tageslicht zerren, ist das Werk eines Augenblicks. Der Zug braust davon. Aufathmend stehen wir da. Rothbart erschöpft sich in Entschuldigungen, daß er mein Eigenthum dem falschen Zuge anvertraut, ich mich in Danksagungen, daß er es ihm noch zu rechter Zeit wieder entrissen hat. Dann gehe ich traurig gesenken Hauptes in den fatalen Wartesaal zurück. Rothbart folgt mit dem Schlüssel. Es thut ihm unendlich leid, aber es ist seine heilige Pflicht, mich bis fünf Uhr wieder einzusperren.

Nachdem er gegangen, strecke ich mich auf das alte traute Lederkanapee und zolle meinem harten Schicksal einen kleinen Thränentribut. Bei dieser vergnüglichen Beschäftigung überrascht mich der Schlaf, der Allerweltströster. Mir weiß er leider keinen besseren Trost, als einen langen, verwickelten Traum, in dessen Verlaufe ich berghohe Hindernisse übersteige, um den Fünf-Uhr-Zug zu erreichen, der mir schließlich schadenfroh davondampft. Ich schicke ihm einen Jammerruf nach und erwache – erwache und fahre entsetzt in die Höhe.

[623] Im Zimmer herrscht Nacht, tiefste, schwärzeste Nacht. Rothbart hat mich vergessen. Der Fünf-Uhr-Zug ist über alle Berge.

Vernichtet sinke ich auf mein Lager zurück. Rothbart hat mich vergessen, Rothbart, der Schutzengel, der mich den ganzen Tag behütet hat, Rothbart, auf dessen Treue ich Häuser gebaut hätte. Vielleicht liegt er jetzt daheim im weichen Bett und schnarcht den Schlaf des gerechten Dieners der Gerechtigkeit und denkt nicht einmal im Traume an die Unglückliche, die er bis morgen früh an das knüppelharte Ledersopha in dem schrecklichsten aller Wartesäle gefesselt hat. Bis morgen früh! Entsetzlicher Gedanke! Bis morgen früh! Nein, ich halte es nicht aus. Komme, was da wolle, ich klopfe so lange an die Thür, bis ich mir Hülfe und Befreiung herbeigeklopft habe.

Entschlossen springe ich auf und suche im Finstern nach der Thür. Ich finde nach einander sämmtliche Ledersophas und unzählige Mal den großen Tisch, die Thür jedoch erst, nachdem ich mir am Kaminsims beinahe den Kopf zerschmettert habe. Aber was lange währt, wird endlich gut, sehr gut ! Ein schwacher Lichtschein fällt durch das Schlüsselloch – ein heller Hoffnungsschimmer in mein Herz; denn wenn draußen noch Licht brennt, so ist Rothbart noch nicht fort; wenn er noch nicht fort ist, so fahren noch Züge; wenn noch Züge fahren, so ist es ja nicht unmöglich, daß sich jetzt bei Nacht und Nebel einer von ihnen der kleinen Stadt W. erbarmt, an der man den Tag über so hochnasig vorbeigefahren ist.

Ich klopfe, rüttele, schüttele – ohne jegliches Resultat – schüttele, rüttele, klopfe – und höre ein fernes, leises Kichern, wenn mich mein Ohr nicht täuscht, ein Kichern aus weiblicher Kehle. Es kommt näher und näher. Ganz sachte legt sich von außen etwas auf den Thürgriff und bewegt ihn leise hin und her.

„Wer ist da?“ frage ich und halte den Athem an.

„Ich!“ kichert es durch das Schlüsselloch[WS 2].

Um Vieles klüger fahre ich fort:

„Ach bitte, öffnen Sie mir!“

Das unbekannte Ich dreht wieder ohnmächtig am Thürgriff und kichert dazu.

„Nein, das hilft Ihnen nichts,“ rufe ich. „Seien Sie so freundlich und sehen Sie sich nach dem Polizisten um, der mich hier eingeschlossen hat! Er ist ein Mann mit feuerrothem Backenbart – und, bitte, sagen Sie ihm, er solle auf der Stelle kommen und mir aufschließen!“

Draußen ist das Kichern verstummt. „Polizist – eingeschlossen – O, wie schrecklich!“ murmelt das Ich.

Das fehlte noch! Das Ich glaubt, ich befinde mich hier in polizeilichem Gewahrsam. In fliegenden Worten reinige ich mich durch das Schlüsselloch von dem schwarzen Verdacht. Das Ich kichert zufriedengestellt, verspricht meine Bitte zu erfüllen und geht. Lange, lange stehe ich da und warte. Endlich nähern sich Schritte, schwere, langsame, wohlbekannte. Die Thür öffnet sich. Rothbart steht vor mir.

Statt bei meinem Anblick zurückzufahren, sich mit der Hand vor die Stirn zu schlagen, sich beispielloser Vergeßlichkeit anzuklagen, mich fußfällig um Verzeihung zu bitten, lächelt er unschuldig wie ein Kind und spricht:

„Ah! Sie wünschen Licht, Ma’am? Verzeihen Sie! Ich hatte vergessen – war ein bischen eingenickt.“

Damit streicht er ein Schwefelholz an und nähert sich dem Kronleuchter. Ich bin empört ob solcher Gemüthsruhe, halte aber für’s Erste noch meinen Zorn in Schranken und sage nur sehr ernst:

„Haben Sie die Güte, einmal nach Ihrer Uhr zu sehen!“

„Im Augenblick,“ antwortet er, entzündet mit großem Phlegma drei Gasflammen, trägt das verkohlte Ueberbleibsel des Schwefelhölzchens bei Seite und zieht dann die riesige Taschenuhr hervor: „Fünf Minuten nach drei Uhr, Ma’am.“

„Drei Uhr!“ wiederhole ich entrüstet. „Und Sie sagen das mit einer Gleichgültigkeit, einer Seelenruhe, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre, daß Sie mich den Fünf-Uhr-Zug und Gott weiß wie viele Züge nach diesem haben verschlafen lassen?“

Verschlafen lassen?“ sagt er und sieht mich verblüfft an.

„Ja, verschlafen lassen!“

„Aber, mein Gott – es ist ja erst drei Uhr.“

„Und der Zug ist gestern Nachmittag um fünf Uhr abgefahren.“

Rothbart sieht mich groß und starr an, als fürchte er, ich habe den Verstand verloren.

„Erlauben Sie, Ma’am,“ sagt er langsam und nachdrücklich, „der Zug fährt heute Nachmittag um fünf Uhr – das heißt: in zwei Stunden.“

„Heute Nachmittag? Um des Himmels willen; es ist ja Nacht, pechfinstere Nacht. Sie werden mir doch nicht weißmachen wollen, daß die Sonne zu dieser Jahreszeit vor sieben Uhr untergeht?“

Bei diesen Worten löst sich die Starrheit in Rothbarts Zügen.

„Also deshalb!“ ruft er, wie von einer Last befreit. „Gott sei Dank! Ich dachte schon – – Wir haben Nebel, Ma’am,“ fährt er lächelnd fort, „einen Nebel, so dick – man könnte ihn mit dem Messer zerschneiden, diesen Erbsensuppen-Nebel.“

Krampfhaft auflachend sinke ich auf mein Lederkanapee. Rothbart lacht mit, und er hat alle Ursache. Der Aermste sah sich im Geiste schon unter der unangenehmen Nothwendigkeit, mich an diesem schrecklichen Sonntage noch nach einer Irrenanstalt transportiren zu müssen; er glaubte nicht anders, als ich habe in der grausigen Einsamkeit des Wartesaals den Verstand verloren.

Nachdem ich mir die Augen getrocknet, gehe ich hinaus und sehe mir den berühmten, unheimlichen Nebel an, den sich London aus Kohlenrauch und allen möglichen Zuthaten zusammenbraut und der mit dem unschuldigen Naturkinde, das bei uns zur Herbstzeit Wiese und Wald zudeckt, nur den Namen gemein hat; denn er wallt nicht in blaßgrauen Schleiern, sondern in schweren, düsteren, schwarzbraunen Gewändern. Lichtet er sich momentan, so zeigt er einen gelben Hintergrund, genau von der Nüance und fast so dick wie die Lieblingssuppe der Kinder Albions, die ihm den schönen Namen Erbsensuppen-Nebel erworben hat.

Ein paar Stunden später sitze ich im Zuge, brause nordwärts und habe das seltsame Schauspiel, aus stockfinsterer Nacht kommend, die Sonne in rothgoldener Pracht untergehen zu sehen.


Blätter und Blüthen.


Wie die Culturvölker essen. Soll man mit der rechten oder mit der linken Hand essen? Während in den dreißiger und im Anfange der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts Jedermann mit der Rechten aß, ist es heute bei den meisten Culturvölkern Sitte geworden, die Speisen mit der linken Hand zum Munde zu führen. Alle Reisenden unter Naturvölkern werden nun aber die Beobachtung gemacht haben, daß uncivilisirte Völker einen Unterschied von rechts und links im Gebrauch der Hände nicht kennen; ja einige unter ihnen bedienen sich häufig der Füße zu Verrichtungen, bei denen gesittete Völker nur die Hände gebrauchen. Der Beduine pflegt irgend einen Gegenstand, welcher zur Erde gefallen ist – und namentlich thut das der Targi – nicht mittelst der Hand aufzunehmen, sondern er ergreift ihn mit der großen und zweiten Zehe und hebt ihn auf.

Hieraus erhellt, daß der bevorzugte Gebrauch der Rechten, die bessere Entwickelung derselben, nicht angeboren, sondern ererbt ist. Ja, die Behauptung geht wohl nicht zu weit, daß die frühesten Menschen sich ohne Unterschied der Füße wie der Hände bedient haben; unsere eigenen neugeborenen Kinder können mit der großen Zehe noch recht kräftig greifen und mittelst derselben Dinge ebenso fest wie mit der Hand fassen.

Seit Tausenden von Jahren ist indeß die ganze Menschheit rechthändig; das heißt: die rechte Hand ist geschickter, handlicher und feinfühliger, als die Linke. Unwillkürlich bedient sich heute Jeder vorzugsweise seiner Rechten.

Ursprünglich aber haben die Menschen, wie noch jetzt die Affen, mit den Extremitäten ohne Unterschied gegessen; gewiß hat es dann Zeiträume von Zehnjahrtausenden gegeben, wo die Menschheit sich der Füße nicht mehr zum Essen bediente, sondern ohne Unterschied der Rechten und Linken, und die Jahrtausende, seitdem der Mensch sich nur der Rechten zum Essen bedient, liegen so tief im grauen Nebel der Vergangenheit, daß sie weit zurückreichen hinter unsere geschichtliche Kenntniß. Bestätigt wird dies nicht so sehr durch geschichtlich verbürgte schriftliche Documente, wie durch bildliche Darstellungen.

Es giebt kein einziges altägyptisches Bild, aus dem zu ersehen wäre, daß in alten Zeiten mit der Linken die Nahrung zum Munde geführt worden wäre, und wenn es im alten oder neuen Testament auch nirgends ausdrücklich angeführt worden ist, man bediene sich beim Essen der Rechten, so geht aus Allem hervor, daß bei den alten Völkern die rechte Hand dazu benutzt wurde. Es ist wohl unzweifelhaft, daß die Juden sich beim Essen der Rechten bedienten. Ein sehr gelehrter Rabbiner aus Nürnberg, Dr. Elwin, schreibt mir darüber: „Die Juden [624] hatten bei den Mahlzeiten die Sitte, sich nach der linken Seite hin anzulehnen, sodaß die rechte Hand für die Speisen frei war, und es mag bei den Mahlzeiten, welche als eine geweihte Handlung betrachtet wurden, als würdiger angesehen worden zu sein, mit der rechten Hand zu essen. Bei den Waschungen hatte die rechte Hand das Gefäß zu ergreifen und reichte es der Linken, sodaß diese die Rechte zuerst begieße. Es soll nämlich die Rechte, welche die Liebe bezeichnet, sich erkräftigen über die Linke, welche die Gerechtigkeit symbolisirt.“

Bei denjenigen Culturvölkern der alten Welt, welche unseren Sitten und Anschauungen am nächsten gestanden haben, bei den Griechen und Römern, finden wir zwar auch nirgends ausdrücklich hervorgehoben, daß man sich beim Essen der Rechten bediene, indeß ist aus allen uns erhaltenen Bildern und vorzugsweise plastischen Darstellungen ersichtlich, daß dies der Fall war. Seite 527 im „Leben der Griechen und Römer“ sagt Koner: „Jeder der lecti (Speise-Sophas) bot Raum für drei Personen, welche, den linken Arm auf Kissen stützend, ruhten, während sie mit der freien rechten Hand die Speisen zum Munde führen konnten.“ Etwas früher, Seite 525, sagt Koner, daß die Römer diese Sitte von den Griechen angenommen hätten.

Wenn wir gesehen haben, daß es bei den Israeliten Sitte war, sich beim Essen der rechten Hand zu bedienen, so finden wir, daß Mohammed es allen Angehörigen seiner Religion einschärfte, sich bei dieser Handlung nur der Rechten zu bedienen. Sowohl bei den Türken wie bei den verschiedenen Völkern Nord-Afrikas und den Persern, auch bei mohammedanischen Bewohnern Hindustans gilt es nicht nur für höchst unschicklich, mit der Linken zu essen, sondern geradezu für Sünde. Ja, es wird schon als ein Verstoß gegen die gute Sitte, als ein Zeichen mangelhafter Erziehung betrachtet, einen Brocken trockenen Brodes mit der Linken zum Munde zu führen.

Bei anderen Culturvölkern, bei den Chinesen und Japanesen, finden wir ähnliche Anschauungen. Nach Braun Brown, Gesandtschaftsattaché der kaiserlichen chinesischen Gesandtschaft in Berlin, existiren im „Reiche der Mitte“ zwar keine religiöse oder anderweitige Vorschriften im Gebrauch der rechten Hand und der Führung der Stäbchen[2] beim Essen, indeß ist es gebräuchlich sich der Rechten zu bedienen. Aehnlich bestehen in Japan zwar keinerlei Vorschriften über diesen Punkt, allein es ist der gewohnheitsmäßige Gebrauch maßgebend: mit der rechten Hand zu essen.

Ganz hat man auch bei uns in Europa die Rechte noch nicht zurückdrängen können; denn Niemandem wird es einfallen, mit der Linken Suppe zu essen, und kein gut erzogener Mensch wird mit der linken Hand (das Messer in der rechten haltend) Fisch essen, weil es nun einmal die Sitte so will, daß, mit Ausnahme von Häringen und geräucherten Fischen, die gekochten und gebackenen Fische nur mit der Gabel (in der rechten Hand) berührt, genommen und zum Munde geführt werden. Aber Gemüse und Zuthat, Braten, Salat und Früchte, wenn zusammen herumgereicht, ißt man jetzt in England, Deutschland, Frankreich, Rußland etc., mit der Linken, indem man in der Rechten das Messer hält.

Diese Art zu essen ist noch nicht alt und wahrscheinlich aus Amerika, das heißt den Vereinigten Staaten importirt worden; sie verbreitete sich zuerst unter den weniger der feinen Cultur huldigenden Völkern, und herrscht jetzt souverain in allen civilisirten Ländern der Welt.

Es sind übrigens kaum zehn Jahre her, daß man beim reisenden Publicum an den Speisetischen den Engländer sofort vom Nordamerikaner unterscheiden konnte: Ersterer aß nur mit der rechten Hand, während der Yankee mit beiden Händen die Gerichte bearbeitete und sich besonders dadurch auszeichnete, daß er alle Bissen mit dem Messer in den Mund schob.

Vor etwa fünf Jahren fragten nach Deutschland kommende Franzosen verwundert, wie es käme, daß Jedermann in Deutschland mit der Linken äße. Jetzt ißt man in Frankreichs besten Kreisen mit der Linken, wenigstens das Fleisch, indem man wie bei uns und in Amerika mit der Rechten das Messer hält. Aber nie ißt ein Franzose mit dem Messer; selbst ein Mann aus den weniger feinen Kreisen fühlt, ich möchte sagen, instinctartig, wie widerlich das Essen mit dem Messer ist.

Wer beobachtet hat, wie schnell die Amerikaner essen, mit welcher Gier und Hast sie ihre Mahlzeiten bewältigen, findet die Behauptung, daß die Sitte des Essens mit der Linken wahrscheinlich aus den Vereinigten Staaten zu uns gekommen, natürlich und erklärlich. So wie der Californier mit dem Messer in der Rechten sein Stück Fleisch abgeschnitten hat, führt er es auch schon mit der Linken zum Munde; das geht Schlag auf Schlag, oder vielmehr Schnitt auf Schnitt. Und so kann man ihn nicht nur in Californien, sondern auch im äußersten Osten der Union essen sehen.

Da versammelt man sich in einer Restauration, und ohne einen gedeckten Tisch wird mit Eilzuggeschwindigkeit das Essen verschlungen. Da man in Amerika, wo man mehr als anderswo das: „Zeit ist Geld“ zu schätzen weiß, diese Art zu essen sehr praktisch fand, wurde sie allgemein üblich, und daß sie zuerst nach Deutschland importirt wurde, erklärt sich nicht nur aus den intimen Beziehungen Deutschlands zur Union, sondern zum Theil auch daraus, daß man in Deutschland weniger als in den anderen beiden großen Culturländern Europas, in England und Frankreich, auf äußeren Schliff Werth legt.

Wohin hat aber innerhalb des letzten Menschenalters diese aus der Union importirte Sitte geführt? Wir finden jetzt, daß man es in allen Kreisen als vornehm betrachtet, mit beiden Händen das Essen zu bearbeiten, das heißt: links die Gabel, rechts das Messer zu halten. Da aber ohne weiteres sich die Rechte ihr Recht nicht nehmen läßt, namentlich nicht bei dem Arbeiter und dem vom Arbeiter abstammenden Menschen, so hat sich überall die Unsitte eingebürgert, mit dem Messer zu essen. Ob das schöner und graziöser aussieht, als wenn wir, wie in früherer Zeit, erst das Fleisch zerschneiden, dann das Messer bei Seite legen und endlich mit der rechten Hand essen, darüber besteht wohl kein Zweifel.

Gerhard Rohlfs.


Immerwährende Eisbahnen. Der wunderliche Sport des Skatelaufens hat, wie die „Gartenlaube“ früher (Jahrg. 1876, S. 610) berichtet, zu den größten Anstrengungen geführt, wirkliche Eisbahnen im Sommer herzustellen. Dieselben sind auch, wie dort näher beschrieben wurde, geglückt, aber sie erwiesen sich, wegen der erforderlichen beständigen Thätigkeit der Kälte erzeugenden Maschinen, als so kostspielig, daß man sie wieder aufgegeben hat. Ein gutes Surrogat ist dagegen von einem Fr. Calantarients in Scarborough erfunden worden, welches aus einer künstlichen Salzmasse besteht, die sich im Ansehen und auch sonst in den meisten Beziehungen wie eine Schicht natürlichen Eises verhält, auf der man mit wirklichen Schlittschuhen fahren kann, statt mit bloßen Rollschuhen. Es ist im Wesentlichen ein sechszig Procent Krystallwasser enthaltendes Gemisch aus gewöhnlicher Soda und Glaubersalz (kohlensaurem und schwefelsaurem Natron), welches auf der Bahn zum Erstarren gebracht wird und dann täuschend natürlichem Eise gleicht, namentlich nachdem einige Schlittschuhe die ersten Schrammen darin gezogen haben. Ist die Fläche durch starken Gebrauch völlig zerschrammt, so wird sie mittelst eines kleinen, eigens dazu construirten Dampfapparates, dessen Strahl das Kunsteis schmilzt, ohne viel Mühe wieder in eine spiegelglänzende Fläche verwandelt. Dieselbe Mischung kann auf diese Weise lange benutzt werden, zumal sie sich, wenn mit der Zeit schmutzig geworden, leicht durch Umkrystallisiren reinigen läßt. Ueberdem ist sie wenig kostspielig.


Die Zeit der Papierdrachen (s. Abbildung S. 621) ist wieder da; sie ist, wie alljährlich, mit den sich abwärts neigenden Sommertagen gekommen, und das Auge des müßigen Spaziergängers, wenn es sich wolkenwärts richtet, sieht manches langgeschwänzte Geschöpf von Buchbinders Gnaden mit den „Seglern der Lüfte“ um die Wette segeln. Da mögen denn Scenen, wie unser heutiges munteres Bild sie zeigt, nicht gerade zu den Seltenheiten gehören. So ein Drache ist ein wetterwendisch Ding, unbeständig und unbegreiflich in seinen Launen, wie das Element selbst, in dem er sich bewegt, unberechenbar, wie Wind und Wetter. Ein Windstoß fährt ihm in den papiernen Leib, und gleich verliert er Cours und Contenance und saust aus den himmlischen Bahnen erdenwärts – was weiß er: wohin? – durch Wolken und über’s Wasser, durch Baum und Busch in’s grüne Gras, oft genug den Pferden just vor die Füße: die schrecken zusammen und scheuen auf und bäumen empor, dem edlen Rosselenker aber fährt’s durch Mark und Bein ob des plötzlichen Rucks, der das ganze Gefährt erschüttert. „Na nu!“ ruft seine bessere Hälfte, die, hinten auf dem Wagen bequem in’s Stroh gekauert, eben von dem klingenden Mammon träumt, den sie auf dem Wochenmarkte der nahen Stadt für ihre ländliche Waare zu lösen hofft. Nun blickt sie sich verdutzt und mürrisch um und verschüttet dabei in Hast und Schrecken ein gut Theil der rothbäckigen Aepfel, welche sie im Korbe mit sich führt – ein Schade, den man bei der heurigen kargen Obsternte unmöglich mit kaltem Blute erdulden darf. „Jochen, holl an un sammel mi de Aeppels up!“


Kleiner Briefkasten.

D. S. in Grund a. H. Der Verfasser der Erzählung „Felix“, K. Th. Schultz, theilt Ihnen durch uns mit, daß seine Antwort nach Wolfenbüttel ihm leider als unbestellbar zurückkam. Er bittet um Ihre Adresse.

Frau Ungenannt in Bremen. Geben Sie gütigst den Zweck Ihrer Sendung an! Andernfalls wird über dieselbe beliebig verfügt werden.

F. F. in Calcutta. Nein!

E. G. in Constantinopel. Leider nicht geeignet! Besten Dank!


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.

  1. Allen Besuchern von Ragaz, namentlich meinen deutschen Landsleuten, empfehle ich angelegentlich das 1880 in zweiter, umgearbeiteter und vermehrter Auflage erschienene Buch „Ragaz-Pfäfers und ihr Excursionsgebiet“ von H. Kaiser, Reallehrer in Ragaz. Das ist ein kundiger Führer. Die balneologischen Abhandlungen über Pfäfers-Ragaz von Dr. Kaiser, Dr. Vogt, Dr. Planta u. a. sind bekannt.
  2. Diese Stäbchen, Kwei-tzĕ genannt, welche aus Bambus, Elfenbein mit Silberschlag etc. hergestellt werden, dienen statt der Gabel; man spießt damit einen Bissen auf und führt ihn dann zum Munde. Die Kwei-tzĕ können als die Mutter der modernen vierzinkigen Gabeln betrachtet werden; man bediente sich in Europa, als der Gebrauch der Gabel noch in der Kindheit lag, zuerst zweizinkiger, noch im Anfange dieses Jahrhunderts ausschließlich dreizinkiger Gabeln, während erst in unserem Zeitalter die vierzinkigen immer mehr gäng und gebe werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Laude
  2. Vorlage: Schüsselloch