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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[625]

Das Ufer der Thränen.

Eine Erzählung aus Brasilien.
Von Franz Engel.

Nach langer, beschwerdevoller Wanderung ist der ersehnte Lagerplatz erreicht. Freundlich dehnt sich ein luftiger Uferrain zwischen Strom und Wald, im Hintergrunde von dem herrlichsten, mannigfaltigsten Laubwurfe umrahmt und im Vordergrunde von dem gefüllten Wasserbecken umspült, in dessen durchsichtigen Spiegel die heiße Sonne Brasiliens ihre letzten roth-goldenen Abendstrahlen taucht. Angebrannte Holzscheiter und umhergestreutes Reisig lassen die Lagerspuren vorüberziehender Jäger und Fischer erkennen; rasch ist Reisig und Holz zusammengetragen, Wasser geschöpft, der Ochse seiner Last enthoben und auf grüner Weide angepflockt – kurz, das Lager gerüstet; ein Schuß aus dem Walde verheißt einen frischen, schmackhaften Braten für die Küche, und unter des Kochs geschäftigen Händen wirbelt alsbald die Flamme in den dämmernden Abend auf. Würzige Düfte steigen vielversprechend und begehrlich eingesogen über das bewegliche Lager, und bald schließt sich die Runde ruhend, schmausend und plaudernd um die trauliche, gesellige Herdflamme; die Nacht sinkt still herab; der Leuchtkäfer zieht seine feurigen Fäden; raunend liegt die dunkle Ferne, und aus des Himmels ewigen Tiefen leuchten die Sterne der Tropen in wunderbarem Glanze nieder über Strom und Wald.

„Compadre, das war ein saurer Gang heute,“ läßt sich eine Stimme halb seufzend, halb behaglich gähnend im Lagerkreise vernehmen; „ah, ich fühle meine Knochen! Solchen Trott macht meiner Mutter Sohn nicht alle Tage!“

„Ein saurer Gang?“ wiederholte José Maria spöttisch fragend, indem er Fleisch und Knochen mit kräftigem Gebisse zermalmte; „ich sollte meinen, auf gebahnten Wegen läuft sich auch ein lahmer Esel nicht todt; ja, als wir uns zuerst hier durchwühlten, ohne Weg und Steg – Sie hätten dabei sein sollen, als wir den ersten Durchhau machten! Es war noch vor dem traurigen Ereignisse, bei welchem wir dieses Ufer der Thränen entdeckten.“

„Trauriges Ereigniß? Erzählt doch, José Maria! Eure Kinnbacken sehnen sich überdies nach Ruhe.“

„Ja,“ sagte José, „dieses Thal, wo es sich so bequem wie in einem Herrensaale lagert, hat seinen Namen von diesem Ereignisse, und Sie sollen auch hören, was es heißt, ohne Weg und Steg die Wasserschlucht von Santa Barbara und ihr Waldgebirge zu durchlaufen.“

José Maria schiebt ein großes Stück Zucker in den Mund, gießt ein ansehnliches Gefälle von Wasser nach und beginnt, nachdem unter knirschender Arbeit der Zähne das Werk der Auflösung beendet ist und Jeder in der Runde nach seiner Art sich behaglich um das neu aufgeschürte Feuer ausgestreckt oder niedergekauert hat, die Erzählung eines seiner Erlebnisse.

„Sehen Sie,“ wendet er sich mit seinem Vortrage zunächst an den Chef der Expedition, den einzigen weißen Mann und Fremdling unter den einheimischen dunkelhäutigen Gesichtern, „wir Leute von Santa Barbara zogen schon lange auf Jagd und Fischfang aus, weit bis in’s Herz von Torcoróma hinab, bevor noch ein Landsmann von Ihnen oder sonst eine delicate Person seinen Fuß auf diesen Boden gesetzt hatte. Es war ein Jagdrevier, das uns keine Ruhe ließ; waren die Felder bestellt, so überließen wir sie den Weibern und Kindern und zogen davon; wochenlang blieben wir wohl da unten, dann aber schleppten wir Beute an’s Haus für lange Zeit.

Eines, Herr, verdroß uns lange: wir konnten keinen Uebergang für die Lastochsen über die Wasserschlucht finden; jeder Mann trug seine zwei Arrobas (eine Arroba = 25 Pfund) auf dem Rücken, aber so ein Ochse hätte vier bis sechs Arrobas getragen; wir waren immer vor dem Felsenloche abgebogen, ohne zu ahnen, daß weiter unten ein bequemer Paß sich aufthun würde, und hatten den Alto de las Palmas immer in langen, unbequemen Windungen überschritten.

Unter uns war der alte Ignacio; wir nannten ihn den ‚grimmen Wolf‘, da er immer grimmig neben uns herlief, immer verwegen voran war, niemals lachte, kaum ein Wort sprach und immer that, als ob er ganz allein auf der Welt sei. Wir Anderen trieben doch auch keine Kinderspiele, aber er rümpfte über all unser Thun spöttisch die Nase. Oft genug verschwand er und kam wieder mit einem Puma- oder Jaguarfell, oder ihm war auch selbst das Fell geschunden. Wir sammelten Vorräthe ein und bereiteten sie zu; er verübte nichts, als derartige Vagabondenstreiche – das verdroß uns.

Weit unten in Torcoróma schlugen wir unser Standlager an einer Stelle auf, wo viele Mandel- und Táguapalmen und dichte Haufen von Wijádo (Pisanggewächse) wuchsen, deren Blätter uns zum Decken unserer Ranchos, zum Aufschütten unseres Nachtlagers, zum Einpacken unserer Vorräthe, kurzum zu allen unseren Verrichtungen unentbehrlich waren; dort ließen wir uns nieder, weideten das Wildpret aus, wuschen und salzten das Fleisch ein, trockneten es an der Sonne und spannten daneben die Felle und Häute aus; auch hatten wir eine Bananen-, Zuckerrohr- und Maispflanzung angelegt, die nothdürftig in Stand gehalten wurde und [626] uns mit Zubrod und Zucker versah. An Fleisch fehlte es nicht; Salz, Kaffee, Cacao, Pulver und Blei und was sonst zu unserem Unterhalte und Jagdzuge nöthig war, schleppten wir auf unserem Rücken mit. Wir waren Tag aus, Tag ein thätig – nur der ‚grimme Wolf‘ starrte müßig in’s Feuer; wir murrten darüber – er ging.

Wir glaubten, er würde schon wiederkommen; denn seine Launen und Einfälle waren uns ja bekannt. Aber das Nachtmahl war längst verzehrt, das Feuer zusammengesunken – der ‚grimme Wolf‘ blieb aus. Wir legten uns schlafen, standen wieder auf, sahen die Silberdämpfe des Morgens wallen, die Mittagssonne in ihrer Gluth schwimmen, das Kreuz wieder auf- und untergehen – Ignacio blieb aus. Nun ließ es uns keine Ruhe mehr; wir schürten die Feuer die ganze Nacht hindurch, stießen in’s Horn, schossen – der ‚grimme Wolf‘ blieb aus.

Herr, so vergingen drei Tage und drei Nächte; Ignacio schien verloren; wir glaubten, diesmal habe der Jaguar ihm das Fell über die Ohren gezogen. Da saß ich eines Nachts am Feuer; das Fieber hatte mich gebissen, und Frost schüttelte alle meine Glieder. Ich wärmte mich und kochte mir einen Trank, während die Cameraden schliefen. Vor meinen Augen stiegen allerlei Gesichte auf; nach dem Froste kam die Hitze über mich, und ich sah unklar und dachte falsch.

Da knackte es im Busch; ich schrak zusammen; die Zweige bogen sich aus einander – ich hörte schleichen. Schon griff ich nach meiner Lanze und glaubte ein Thier zu sehen, das auf mich zukam. Plötzlich aber stand im grellen Feuerscheine vor mir der ‚grimme Wolf‘. Wild und zerzaust hingen ihm die Haare über’s Gesicht; seine Augen lagen tief; sein hageres Gesicht glich einem Todtenkopfe. Schmutz und Blut klebte ihm an, und blutige Felle hingen über seiner Schulter; kaum noch einen Hemdfetzen am Leibe, an allen Gliedern zitternd, in die Flamme stierend – so stand er vor mir. Ich wollte rufen; denn ich wußte nicht, ob mein Geist klar sei oder nicht, aber die Gurgel war mir wie zugeschnürt; ich schlug das Kreuz und betete zur heiligen Jungfrau.

Endlich stieß er mich an und redete mit heiserer Stimme: ‚Hasenfuß, was träumst Du? Gieb mir zu essen! Mich hungert. Ich kann Euch Euern Bettel bezahlen.‘ Dabei starrte er in den Topf; die Flamme leckte ihm förmlich in die hohlen Augen hinein, und ich glaubte seine hageren Glieder klappern zu hören. ‚Hörst Du nicht? Ich kann bezahlen. Aber schnell; der Hunger zerfrißt mir die Eingeweide.‘

‚Ave Maria!‘ stammelte ich. ‚Ignacio, bist Du’s in Fleisch und Blut?‘

‚Hasenfuß!‘ rief er heiser, ‚mich hungert; hungern die Geister auch?‘

Nun erwachten Alle; sie sprangen hinzu, und schnell war Speise und Trank herbeigeschafft. Er schlang gierig, wie ein Wolf; keine Frage beantwortete er.

‚Laßt mich in Ruh’, mich hungert!‘ krächzte er den Fragenden entgegen.

Nachdem er sich satt gegessen, stand er auf, sprach kein Wort, schüttete sein Lager auf, legte sich hin und schlief bis in den hellen Tag hinein. Keiner störte ihn aus seinem todesähnlichen Schlafe auf.

Ich lag frierend in der Sonne auf dem brennenden Sande; im Walde krachten die Schüsse, und über dem Feuer brodelte der Maistopf. Nun trat der ‚grimme Wolf‘ an den Fluß, beugte sich unweit von mir nieder und spülte und wusch etwas in einem alten Lappen.

‚Ignacio, was machst Du da?‘ fragte ich.

‚Ich wasche Gold,‘ antwortete er gleichgültig, als ob er sich die Hände wüsche.

‚Gold?!‘ fragte ich.

‚Ja, Gold!‘ erwiderte er trocken und spülte weiter; dann trat er zu mir und hielt mir die Hände unter die Augen; ich sah das Gold in Staub und Körnern blinken.

Alle Fragen und Vorwürfe fertigte er spöttisch ab.

‚Das könnte Euch gefallen. Euch das Gold suchen und mich von Euern armseligen Töpfen wegjagen! Behaltet Euer Futter und sucht Euch das Gold allein!‘

Umsonst die Versicherung, daß unser Groll so böse nicht gemeint sei – umsonst die Vorstellung, daß wir gemeinschaftlich viel mehr Gewinn aus der Goldgrube ziehen würden – umsonst der Vorwurf, daß zwischen uns der Vertrag bestehe, alle Beute zu theilen. Wir brachten nichts aus ihm heraus, und unser eigenes Suchen war vergeblich.

Die Zeit des Aufbruches und des Rückmarsches kam heran. Das Lager wurde aufgegeben, die Beute getheilt und verpackt und der Reiseproviant hergerichtet. Der ‚grimme Wolf‘ ließ Alles ruhig geschehen, als gehe ihn das nichts an; wir achteten auch seiner weiter nicht, da wir seine Art ja kannten. Doch als wir unseren Rückweg antraten, schob er uns den Lappen mit Gold zu und sagte:

‚Ich will Euch Euer Salz, Pulver, Blei und was ich sonst gebrauche, abkaufen; da habt Ihr reichliche Bezahlung; sagt Miguela, sie soll nicht auf mich warten; ich hätte noch lange hier im Walde zu thun.‘

Als wir sein Gold zurückschoben, weil wir meinten, er rede in den Tag hinein, erwiderte er kurz und trotzig:

‚Nun, ich werde auch ohne Euch fertig werden; lebt wohl!‘

Damit steckte er sein Gold zu sich und ging.

Wir hielten ihn zurück und drangen nachdrücklich in ihn; auf alle unsere Vorstellungen, daß er umkehren müsse, da Miguela vor Schreck und Sorgen sterben werde, grunzte er vor sich hin und fragte kurz:

‚Wollt Ihr mir verkaufen, was ich gebrauche, oder nicht?‘

Was half es? Wir nahmen sein Gold, mehr als ein Zeugniß für uns, als uns bezahlt zu machen, und gaben ihm, was er begehrte. Wir gingen, und er blieb; er stand am Ufer und sah den Strom hinab, den wir hinaufgingen.

Der alte Ignacio hatte schon früh Weib und Kind verloren; seines Bruders Tochter, welche er mit deren jüngerem Bruder zu sich genommen, führte seinen Haushalt. Miguela war ein gutes, redliches Mädchen, das dem Alten treu diente und alle Pflege anthat, und ob er auch kaum ein Wort sprach, seiner Wege ging wie ein grimmer Wolf und wenig zart umging mit den Seinen, so waren Unfriede und Mißmuth doch unbekannt unter seinem Dache. Die beiden Kinder liebten den Alten ebenso sehr, wie sie vor ihm zitterten, und für ihn gab’s nur ein Wesen auf der ganzen Welt, auf das er hörte und sah und das er als Seinesgleichen achtete, ja, mit rauher Zärtlichkeit hütete wie seinen Augapfel und höher hielt, als sein Leben – das war Miguela.

Zu unserer Verwunderung hörte Miguela uns, die schnell Zurückgekehrten, ruhig an.

‚Ist Alles so wahr, wie Ihr sagt?‘ fragte sie, und als wir die Wahrheit unserer Aussage bekräftigten und unsere Mißbilligung über des Alten Beginnen aussprachen, wies sie allen Tadel kurz mit den Worten zurück:

‚Er wird wissen, was er zu thun hat, und es geht Keinen weiter etwas an.‘

Uns aber jammerte die Arme doch; denn so gleichgültig sie auch that, wir merkten doch, daß sie innerlich litt. Als Woche auf Woche schwand und der Alte immer noch nicht, wie wir glaubten, durch die Noth gezwungen, zurückkehrte, konnten wir’s nicht länger mit ansehen, wie Miguela immer mehr in sich versank; auch die Ungewißheit über unseren alten Gefährten ließ uns keine Ruhe mehr. Zwei von uns machten sich also auf den Weg, um den alten ‚Wolf‘ aufzusuchen.

Wir fanden seine Fährte und endlich ihn selbst. Er hatte sich einen festen Rancho aus Rohr und Palmen aufgeschlagen und war eben dabei, eine kleine Lichtung aufzuräumen und Bananen- und Rohrsetzlinge aus unserer Pflanzung einzusetzen. Der Alte aber sah aus, als wäre er der leibhaftige Waldmensch.

‚Oho!‘ empfing er uns, ‚Ihr kommt früh. Das Gold macht Euch wohl läufig? Kehrt um! Ich habe kein Gold.‘

‚Ignacio, wir wollen Dein Gold nicht. Wir beschwören Dich bei Allem, was Dir heilig ist, um Miguela’s willen, kehre mit uns zurück!‘

Er hörte uns höhnisch an, als ob wir leere Worte sagten.

‚Schon gut. Miguela braucht mich nicht, sie ist alt und gesund genug, sich mit ihrem Bruder selbst zu helfen; ich habe ihnen das größte Feld zu eigen gegeben, das in Santa Barbara zu sehen ist; das ernährt sie Beide, wenn sie wollen. Nun laßt mich und sie in Ruhe, schwatzt ihr nichts vor! Ich werde leben und wohnen, wie mir’s beliebt, und es beliebt mir, hier zu bleiben – adios!‘

[627] Was war zu thun? Wir konnten doch den alten ‚Wolf‘ nicht binden und wie eine Bestie nach Hause schleppen. Er würde uns das Binden auch gut eingesalzen haben. Wir mußten also abziehen, wie wir gekommen waren, und erschienen ohne ihn vor Miguela, die auch diesmal ruhig und gelassen that; sie fragte, wie das erste Mal, doch viel bestimmter:

‚Ihr schwört mir, daß es wahr ist, was Ihr sagt?‘

Und als wir schwuren, sagte sie wie damals, doch mit müder Stimme und müden Augen:

‚Nun gut, er wird wissen, was er zu thun hat, und Niemand hat darnach zu fragen.‘

Allmählich lebte sich auch Miguela immer mehr in ihre eigenen Gedanken ein und sah wieder frischer und freier um sich. Die Ernte kam; sie trug vom Morgen bis zum Abend den Mais und anderes Getreide ein, welches der Alte bergauf, bergab gepflanzt hatte; drei, vier Männer arbeiteten den ganzen Tag in ihrem Dienste. Sie aber regierte und schaffte wie die Herrin des Hauses, und doch rührte sie kein Stück Geld als ihr eigen an. Es fehlte nicht an guten Rathgebern für dies und das; ‚wartet, bis Ignacio, mein Oheim, kommt!‘ antwortete sie. Es fehlte nicht an Freiern, welche ihre Hand begehrten; ‚meine Hand dient meinem Oheim Ignacio, und der Hof gehört ihm,‘ rief sie und warf die Thür zu.

So verging die Zeit. Da – der Teufel kann nun einmal keinen Frieden unter den Christen leiden – wird von verruchten Zungen das Gerücht herumgetragen, der Alte hätte einen Schatz gefunden, welchen die alten Indios dort vergraben, und wir Leute von Santa Barbara hätten ihn kalt gemacht und seinen Schatz geraubt. Kann man den Teufel sehen, wenn er umgeht? Das Gerücht hatten wir da, ohne das verdammte Hirn zu kennen, das dieses Gift ausgegohren.

Anfänglich hörte Miguela nicht auf das Geschwätz; aber immer wieder ausgestreute Saat geht endlich doch auf; so krallte sich Satan in ihre Seele ein, und der Argwohn faßte Wurzel; die Goldprobe, die für uns zeugen sollte, wurde nun als Zeuge gegen uns angerufen, und als die Zeit unseres Jagdzuges herangekommen war, erklärte Miguela:

‚Wenn Ihr diesmal wieder ohne meinen Oheim Ignacio zurückkommt, so werde ich das Gericht gegen Euch aufbieten.‘

Verdrießlich über das Gerede und Miguela’s offene Anklage und Drohung, riefen ihr Etliche von uns zu:

‚So geh doch selbst und hole Dir den Alten! Sind wir etwa zu Euern Hütern und Wächtern bestellt?‘

Miguela sah den Sprechenden scharf in’s Auge, und trotzige Entschlossenheit lag in ihrem Gesichte – der Pfeil war abgeschossen und saß. Miguela wies jede Beschwichtigung zurück und entgegnete heftig:

‚Gut, wenn Ihr von heute ab (es war Sonntag) bis zum Samstag nicht zurückgekehrt seid mit Ignacio, so werde ich selbst gehen und nach ihm suchen, und finde ich ihn nicht, so melde ich’s dem Gericht!‘

Ich redete ihr in’s Gewissen, mir zu glauben, da ich ihr doch nie eine Lüge gesagt, erinnerte sie, daß ich von jeher Ignacio’s Freund gewesen, aber sie schüttelte abwehrend den Kopf und blieb dabei:

‚Euch, Compadre, trau ich nichts Schlechtes zu, aber was ich gesagt habe, habe ich gesagt.‘

Ich rüstete sofort zum Aufbruche; denn es war keine Zeit zu verlieren, um die von Miguela gestellte Frist einhalten zu können; daß sie aber nach Ablauf derselben ihren Vorsatz ausführen werde, stand so fest, wie Petri Fels. Ich suchte unsere zuverlässigsten Leute zusammen und ging mit ihnen voraus; die anderen folgten uns in verschiedenen Abtheilungen nach; einen jungen Freund aber, auf welchen ich wie auf mein eigen Auge vertrauen konnte, hatte ich zurückgelassen und ihm auf die Seele gebunden, Miguela nicht aus Hand und Augen zu lassen, sobald sie den wahnsinnigen Gang unternehmen sollte.

Diese Weisung, Herr, war überflüssig; denn mein armer junger Freund trug das Mädchen mehr auf dem Herzen, als Vater und Mutter; auch Miguela war ihm nicht böse, aber in der Treue zu dem Alten nahm sie keinen Freier an.

Wir zogen davon – still, freudlos; wie so ganz anders, als wohl sonst! Es war, als ob auf Jedem die Ahnung eines Unglücks lastete. Der ‚grimme Wolf‘ empfing uns mürrisch und knurrte uns an: ‚wir sollten ihm vom Halse bleiben, uns das Gold allein suchen.‘ Sonst hatte sich der alte Bursche ganz leidlich eingerichtet.

Alle Ueberredung scheiterte an seinem trotzigen Eigensinne; wir kramten Lüge auf Lüge aus: Haus und Hof gehe dem Verfalle entgegen; Miguela härme und arbeite sich zu Tode; sie sei schon so weit herunter, daß sie die Wirthschaft nicht mehr überwachen könne; sie werde bestohlen und betrogen, leide Noth und Kummer und bringe Tag und Nacht in Thränen zu. Er zuckte über Alles gleichgültig die Achseln; sein Gewissen schien so ausgetrocknet, wie sein Fleisch und Blut. ‚Es möge geschehen, was geschehe!‘ autwortete er trocken und eigenthümlich grinsend, ‚Miguela werde bald aus der alten Hütte herausfliegen, wie der Schmetterling aus der Puppe.‘

‚Ignacio,‘ rufe ich, ‚welch ein Dämon ist in Dich gefahren! Du hieltest doch sonst nicht so an Geld und Gut. Wenn Du’s so weiter treibst, geht Miguela zu Grunde.‘

‚Zu Grunde, Narr, zu Grunde?‘ krächzt er grinsend. ‚Leben soll sie, sag’ ich Dir, leben, erst recht leben.‘

‚Vom Teufel bist Du besessen, daß Du mich nicht hörst!‘ fahre ich ihn endlich zornig an. ‚Du ließest Dir doch sonst wenigstens von mir noch ein Wort sagen. So höre denn: Miguela glaubt, daß wir Dich todt geschlagen haben, und wenn Du jetzt nicht mit uns zurückkommst, so macht sie sich selbst auf den Weg, Dich zu suchen, sich von Deinem Leben oder Tode zu überzeugen, und daß sie nicht lebendig bis hierher kommt, weißt Du selber.‘

Einen Augenblick zuckte der Alte zusammen; sein aschgraues, vertrocknetes Gesicht zittert, aber nur ein kurzer Ruck war’s, wie etwa ein Zittern durch den Stamm geht, wenn die Axt an seine Wurzel gelegt wird; dann grinst er uns wieder höhnisch an und poltert die Worte stoßweise hervor:

‚Possen, Possen! Mit Speck fängt man Mäuse. Spart Euch die Mühe! Und Euer Spüren nützt Euch auch nichts; ich habe meine Löcher gut verstopft.‘

‚Ignacio, ich sage Dir bei Allem, was uns heilig ist, wenn Du nicht mit uns kommst, so geht Miguela in den Tod. – Nun denn,‘ fahre ich ungeduldig und zornig fort, als alle Reden nichts fruchten, ‚so laß sie hinfahren, ewig verdammt, ohne Absolution!‘

Das wirkt. Der Alte steht wie eine Steinsäule da; er starrt mich an mit Augen, mit Augen, sage ich, welche wie die eines Raubvogels durch die Nacht glühen; dann geht ein fliegendes Zittern durch seine dürren Glieder.

‚José Maria – bei den Gebeinen Deiner Mutter sage mir, daß Du nicht lügst! Hier hast Du Gold, aber sprich ehrlich!‘ Krampfhaft packt er meinen Arm.

Ich wiederhole, was ich gesagt.

‚Miguela’s Seele verdammt?‘ ruft er aus rauher Brust heraus. ‚Verflucht, wer das sagt! Leben soll sie, sag’ ich, leben, glücklich hier und selig da! Zurück! Packt auf! Eilt Euch, geht voran – ich, ich will nur noch ein Paternoster beten.‘

Wir treten frohlockend aus seiner Hütte heraus; zwei Leute von uns aber sehen durch die Wandspalten, daß der Alte, während er sein Paternoster oder was sonst murmelt, einen Topf aus der Erde holt; er schüttet den Inhalt in einen Beutel und schlägt um den Beutel ein Fell. Wir sehen einander an und legen den Finger auf den Mund; was der Alte aus dem Topf schüttete, war Gold, vieles, gutes Gold gewesen.

Inzwischen war auch die zweite, größere Abtheilung unserer Leute herangekommen; sie hatten bald heraus, was wir gesehen, denn gieriger, als wir, nach des Alten Geheimniß, witterten sie gleichsam, wie Raubvögel, in der Luft, was wir mit unseren Augen sahen. Sie waren mit der Absicht gekommen, dem Alten nachzuspüren, mit ihm zu theilen oder ihm das Handwerk zu legen; darum blieben sie, als wir abzogen, und auch uns trauten sie nicht mehr. Aber der Alte hatte ‚die Löcher gut verstopft‘; so viel sie auch suchten, wühlten, spürten und Zeit vergeudeten, sie entdeckten keine Leitspuren; der Alte hatte jedes Merkmal verwischt, ja, um sich vor jeder Ueberrumpelung zu sichern und uns von der rechten Fährte abzuleiten, schlau und täuschend falsche Spuren augelegt.

Wir aber ließen uns nicht länger weder durch Ueberredungen, noch durch Drohungen zurückhalten; es war uns schon zu viel Zeit durch den Trotz des Alten verloren. Der sprach kein Wort weiter, kaum aber vermochten wir ihm zu folgen, so eilig schritt er aus.

Bald jedoch fanden wir den Weg verlegt; eine Stromfluth [628] hatte den alten Pfad neben dem Ufer theils weggerissen, theils ungangbar gemacht; wir mußten auf weite Strecken hin einen neuen Pfad bahnen, stießen immer wieder auf neue Hindernisse, suchten hin und her, vorwärts und zurück, verloren und suchten wieder die rechte Richtung, arbeiteten uns matt und müde und doch nur langsam weiter – es war, als habe Wald und Strom sich gegen uns verschworen. Die Kost ging aus; kein Wild kam zu Schuß, selbst die Thiere schienen verscheucht. Kein Nachtlager bot Ruhe und Schlaf, und die Kräfte wollten uns fast verlassen.

‚Am Samstag,‘ hatte Miguela gesagt, ‚erwarte ich Euch.‘

Der Sonntag war herangekommen; unser Kampf um’s Leben hatte uns Tag und Stundenschlag vergessen lassen, und der Gedanke an meinen jungen Freund, welchem ich Miguela auf die Seele gebunden, schläferte mich vollends ein.

Miguela aber gedachte des Tages besser; sie führte mit dem bestimmten Stundenschlage ihre Drohung aus und machte sich, von ihrem kleinen Bruder und meinem jungen Freunde, der sich unabweisbar an ihre Sohle heftete, begleitet, auf den Weg, den Weg, der uns gestählten Männern zum Grabe zu werden drohte.

Die Morgendämmerung lag über Santa Barbara; alle Menschen schliefen; die ersten Stimmen im Walde regten sich, und freundlich blaute der Himmel aus der grauen Dämmerung auf, aber der dunstige, sengende Glanz der Sonne und der flimmernde, schwefelige Dunst, der sich über die Erde lagerte, kündete alsbald einen heißen, schwülen Gewittertag an.

Rüstig schritten die drei Wanderer auf unserer, noch erhaltenen Pfadspur fort. Miguela schrak vor nichts zurück, nicht vor den angeschwollenen Stromwellen noch vor den über den Grund hinrollenden Steinen; bald blutete sie aus der zerrissenen Haut und die Kleider sogen sich schwer voll Wasser; Felsen- und Baumtrümmer sperrten den Weg. Umsonst baten und riethen die beiden Burschen vor den Schrecken der Wildniß zur Umkehr; Miguela spornte nur noch entschiedener zum rastlosen Gange an und mahnte, vorsichtig nach unserer Spur zu spähen. Das Alles hat ihr Bruder uns nachher erzählt.

So kamen sie in das Felsenloch. Mein junger Freund sah den schmalen Schluchtpaß oben durch einen gestürzten Baum gesperrt; er kletterte schnell voraus, um einen Durchhau mit der Axt zu machen, während Miguela so lange unten auf einem Stein ruhte. Zwischen den lichtlosen, schmalen Felsenufern sahen sie nicht, daß der sengende Gluthdunst anfing zu rauchen, daß das Auge der Sonne trübe und blind ward, der Himmel sich aschgrau umzog, und an den Bergen dicke Wolken niederrollten.

‚Bruder – es donnert auf den Bergen!‘ ruft der Bube da unten dem Anderen oben ängstlich zu, der unter den Schlägen der Axt nichts sieht und hört.

‚Eile Dich, Knabe, und hilf ihm oben bei der Arbeit!‘ treibt Miguela den Bruder mit aufmunterndem Zurufe an.

Kaum hat der Knabe den halben Weg hinter sich, da stürzen sich donnernd die Wasser herab; erschreckt wendet er das Gesicht; Miguela steht auf einem Felsblocke mitten in der Schlucht.

‚Schwester – die Fluth! Bruder – die Fluth!‘ ruft er voll Todesangst hinunter und hinauf.

Kaum stößt er den Schreckensruf aus, da rast auch schon donnernd die Fluth herbei. Schlammigen, rothen Schaum aufwerfend, drängt sich die Sturzwelle in das Felsenloch ein. Dumpf rollt das Gerölle über den Grund; Bäume brechen und zersplittern an den Felsen; die schweren Quadern wanken, und die Erdfeste scheint zusammenzubrechen.

‚Bruder, mein Bruder, hilf!‘ ruft es mitten aus dem kochenden Gischt heraus. Miguela steht auf einem wankenden Felsblocke, von der rothschäumenden Brandung umtost. Sturmschnell wächst die Fluth, und in rasender Eile spannt sie die wilden Flügel aus; gleich brüllenden Geschossen rollt Gestein gegen Gestein. Da prallt, vom wilden Wirbel gepackt, ein Baumstamm gegen den Felsblock, über welchen die Wellen die gierigen Arme nach Miguela zusammenschlagen. Der Stein wankt – kippt; ein markerschütternder Schrei: Miguela sinkt, von der Fluth erfaßt. Der Bursche aber sieht die heranwälzenden Wasser, sieht Miguela von den Wogen umbrandet, sieht den Felsblock wanken, Miguela untersinken; in einem Augenblick ist alles Das geschehen. Zwei Arme noch heben sich aus dem rothen Gischt – da stürzt auch er in das grause Grab. Noch einmal hebt die Welle Miguela empor – Arm streckt sich gegen Arm; und wieder schnellt ein Sturmbalken heran – und mit umschlungenen Armen liege Beide in den Grund gebohrt.

Den, der das Alles sieht, den hülflosen Knaben, faßt dieselbe Welle – doch sie schleudert ihn an das steile Ufer, ihn im Gebüsche zurücklassend, als sie wieder hinabfällt und weiter rollt. Betäubt, wund und zerschlagen, bleibt er liegen; vor seinen dunkelnden Augen taucht unten noch einmal das Haar, das Haupt, das Kleid aus der Fluth; dann schwindet Alles vor seinen Blicken, und dunkle Nacht umfängt seine Sinne. –

‚Auch hier ging das Wasser hoch,‘ sprechen wir, als wir zu dem Felsenloche der Schlucht von Santa Barbara hinabsteigen.

‚Still, Cameraden,‘ rufe ich, hinaushorchend; ‚mir ist’s, als hörte ich jammern.‘

Wir gehen weiter; die Rufe treffen deutlicher unser Ohr; vernehmlicher wird das Stöhnen und Wehklagen. Noch einige Schritte – und vor uns liegt der Knabe, blutig und zerschlagen, in’s Gestrüpp eingeklemmt. Winselnd ruft er uns entgegen:

‚Die Fluth hat sie Beide hinweggerissen.‘

Der ‚grimme Wolf‘ stiert versteinert auf den wunden, jammernden Knaben; dann plötzlich sprüht ein düsteres, wildes Feuer aus seinen verglasten Augen; er blickt in die Runde und brüllt auf, wie eine angeschossene Bestie:

‚Das habt Ihr gethan. Ihr habt sie hinausgetrieben.‘

‚Mann,‘ rufe ich ihn an, ‚weshalb beschuldigst Du uns? Das ist Dein Werk – habe ich es Dir nicht immer gesagt?‘

Wüthend schleudert er meinen Arm zurück und stürzt hinab, dem Strome nach, in das Felsenloch.

Wir Anderen legen den Knaben ruhig nieder; die Einen bleiben bei ihm zurück, die Anderen – unter ihnen ich – eilen dem Alten nach.

Wir laufen, klettern, steigen und keuchen lautlos neben einander her – immer weiter die Quebrada hinab; wer uns durch das Felsenloch geführt und wie wir hindurchgekommen, weiß ich bis heute nicht; es wird ein Wunder der heiligen Barbara gewesen sein. Bäume liegen umgerissen, Ufer eingestürzt, neue Ufer angeschwemmt; endlich sehen wir den Strom quer gesperrt durch eine mächtige Palissade; vor einem Zackenjoch von Steinen liegt der Länge nach ein dicker Baum, einen festen Damm durch das Wasser treibend; murrend beugt sich der Strom dem zwingenden Joche, seinen Nacken unterhalb hindurchzwängend. Wir bahnen uns den Weg mit Fäusten und Messern durch das verschlammte Wurzel- und Zweiggestrüpp, treten das Reisig nieder und zerreißen die Schlingruthen, welche sich um Brust und Füße wickeln. Da plötzlich steht der Alte vor uns – ein Anblick des Entsetzens. Er rührt sich nicht und bohrt den Blick in das trübe Wasser. Ich folge seinem Auge; es haftet auf einem Streifen blauen Zeuges, das, von dem Zacken eines gebrochenen Astes aufgefangen, ein wenig aus dem Wasser taucht; mir stockt fast das Blut – auch ich wage nicht, mich zu rühren. Da beugt sich der Alte, von uns aus seiner Erstarrung gerissen, langsam nieder, reißt das Gezweige aus einander – und, wie der Jaguar über sein Junges brüllt, so schreit er seine Wuth, seinen Schmerz, seine Verzweiflung aus:

Dios, misericordia! Ich hab’ sie gemordet; sie ist ohne Absolution hinabgefahren.‘

Zum ersten Mal höre ich den ‚grimmen Wolf‘ Gott um Erbarmen anrufen, und während er sich ausschreit und die Zweige auseinander zerrt, taucht das untergesunkene Haupt Miguela’s mit dem langen, aufgelösten Haare aus der trüben Tiefe auf, und als wir sie aus dem Wasser ziehen, finden wir sie welk zusammengeknickt, die Rückenwirbel wie Glas zersplittert. Wir lösen sie aus dem Gestrüppe – da scheint sich eine Hand, ein Arm nach ihr auszustrecken; wir fassen auch diesen Arm und ziehen mit zerschmetterter Brust meinen armen, jungen Freund herauf. Er hatte sein Wort gehalten – und nun hielt er im Tode, was ihm das Leben versagt.

Der Alte wirft sich auf den Stein vor Miguela nieder, stützt das Kinn in beide Hände und vergräbt sein Auge, wie ein Wahnsinniger, lautlos, bewegungslos in das Antlitz der Todten. Endlich erwacht er aus seiner dumpfen Verzweiflung; er sieht mich im Sande knieen, die Hände falten und beten; als ob ein Erz aus einander schmilzt, so überkommt es ihn weich und weh, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben. Er gleitet von dem Steine, kniet, wie ich, in den Sand nieder und ruft mit bebender Stimme und die gefalteten Hände gegen Miguela’s Leiche ausgestreckt:

[629]

Auf dem Rheine. Nach dem Gemälde von C. E. Böttcher auf Holz übertragen.

[630] ‚Miguela, nur für Dich suchte ich Gold und Herrlichkeit – und gab Dir den Tod! – José Maria,‘ wandte er sich dann gegen mich, ‚reich sollte sie sein, glücklich, stattlich, prächtig und herrlich, wie die vornehmen Leute – und das hab’ ich aus ihr gemacht!‘

Doch bald fiel er in seinen alten grimmen Trotz zurück; heftig sprang er auf und schrie uns wild an:

‚Ich sag’ Euch, Miguela ist nicht verdammt. Gold hab’ ich, Gold für ihre Seele.‘

Sonst kündeten wir, wenn wir, mit Beute beladen, heimzogen, laut jubelnd in Santa Barbara unsere Heimkehr an; jetzt zogen wir in Trauerprocession vor Miguela’s Haus und legten, von den Weibern und Kindern heulend umstanden, unsere Todten und unsern Kranken nieder.

Der ‚grimme Wolf‘ ward noch stummer als bisher; man hörte kein Wort mehr von ihm, aber er sah nicht grimmig und trotzig mehr in die Welt, knurrte nicht mehr, ging jedem Kinde aus dem Wege, und seine Flinte stand unberührt im Rauch. Sein Kopf hing gesenkt; seine Augen sahen nicht mehr von der Erde; auf seinem Gange murmelte er viel zwischen den Zähnen, und seine Hände griffen oft in die Luft. Ganz hager und mager trocknete der Alte aus; die Leute steckten die Köpfe zusammen und zischelten: ‚Er ist verrückt geworden.‘

Er ging zum Pfarrer und sagte: ‚Da ist Gold für Miguela’s Seele; ich bringe mehr Gold, so viel Ihr braucht und wollt für ihre Seligkeit.‘

Und so ging er von einem Pfarrer zum anderen und ließ Messen lesen und trug sein Gold in alle Kirchen für Miguela’s Seele – die Arme! Auf Erden durfte sie nicht herrlich leben, so sollte sie nun selig leben im Himmel.

An jedem Morgen, bevor der Tag sich noch regte, war Ignacio aus dem Dorfe verschwunden; seinen Knaben ließ er als Haushalter zurück; an jedem Abend kehrte er wieder; er trug einen groben Sack als Hemde, das er mit dem Messergurt um die Hüften zusammenschnürte, darunter kurze, kaum über’s Knie fallende Hosen. So ging er tagein, tagaus; so schlief er des Nachts auf einer Kuhhaut.

Niemand wußte, wo er sich den Tag über aufhielt; sein Junge wagte nicht und hatte keine Zeit, ihm nachzuspüren. Von den Nachbarn aber hörten wir, daß der ‚grimme Wolf‘ heute hier, morgen dort gewesen, überall habe Messen lesen lassen, überall, wo eine Procession stattgefunden, derselben gefolgt sei. Ob noch so weit, noch so beschwerlich, er folgte jedem Glockenstoße, jedem Rosenkranze und sank des Abends wieder auf sein hartes Lager hin, aber er gab keinen Laut von sich.

So sah und kannte Jedermann in Nähe und Ferne den ‚grimmen Wolf‘; die Kinder flohen vor ihm; die Erwachsenen ließen ihn gehen, und wo er sich in den Schatten eines Baumes oder einer Veranda setzte, gab man ihm Speise und Trank.

Eines Morgens endlich stand der Alte nicht mehr auf; er lag steif, kraftlos und von einem hitzigen Fieber befallen auf seiner Kuhhaut. Erschöpft war er am Abend vorher zusammengesunken und hatte tief aufgeseufzt; der Knabe ahnte, was das zu bedeuten habe; er eilte hinaus und rief den Nachbarn; ‚der Alte hat geseufzt,‘ sagte er, ‚er wird sterben; bleibt diese Nacht bei mir!‘

Als der Alte sich nicht aufzurichten vermochte, rief er den Knaben zu sich; seine tiefliegenden Augen brannten heiß und trocken.

‚Muchacho,‘ stotterte er mühsam, ‚Muchacho, ich sterbe – am Sonntag, um dieselbe Zeit, als Miguela in der Fluth umkam, saß ich und ruhte unter dem großen Higuerote;[1] da saß über mir im dichten Laube die Todtentaube und klagte; drei Abende hinter einander saß ich dort, und immer klagte über mir die Todtentaube; gestern Abend blieb sie aus – und der Tod kam und schüttelte meine Knochen. Nun lauf und hole den Pfarrer, schnell!‘

Der Pfarrer kam.

‚Ich sterbe,‘ murmelte der Alte. ‚Ich will keine Absolution; begrabt mich, wo Ihr wollt! Ich gebe meine Seele für Miguela’s Seele,‘ röchelte er laut mit letzter Anstrengung, ‚und hier ist Gold; schnell, Padre, sagt mir, daß ihre Seele gerettet ist!‘

‚Ignacio, beichtet!‘

‚Schnell, Padre, antwortet: Miguela ist –‘

‚Der Heiligen Fürbitte wird nicht ausbleiben, und Gottes Barmherzigkeit ist groß,‘ sagte der Geistliche.

‚Gewißheit – Padre. Ich will – Gewißheit.‘

Der Pfarrer senkte sein Haupt:

‚Ignacio, beichtet!‘

Ein ersticktes Wuthgeschrei entrang sich röchelnd des Alten Brust; sein Gesicht verzerrte sich; das erlöschende Auge blitzte noch einmal in wildem Feuer auf; dann griff er mit Zusammenraffung der letzten Kraft hinter sich, zerrte aus der Wand-Ecke einen Beutel mit Gold hervor und stieß keuchend die nur halb verständlichen Laute aus:

‚Nimm – Kirche – Miguela – Miguela’s Seele!‘

Der Alte sank zurück; sein Auge brach. Der ‚grimme Wolf‘ war todt.

Das Geheimniß von Torcoróma’s Gold nahm er mit in sein Grab; Niemand hat es wieder entdeckt; von seinem Vermächtnisse an die Kirche aber werden noch heute für die Seelen der in der Fluth Verunglückten Messen gelesen.“ –

„Das ist die Geschichte vom ‚grimmen Wolf‘“ sagte José Maria und erhob sich; er stieß schweigend die Gluth zusammen, kauerte auf sein Lager nieder und sprach flüsternd sein Gebet; dann schlug er über Stirn, Mund und Brust das Kreuz und lag bald in tiefem Schlafe.

„José Maria,“ sprach am anderen Morgen der weiße Mann zu dem braunen Manne, als Wald und Strom unter dem feurigen Sonnenpurpur erglühten und die Morgenröthe mit rosigen Lippen das Thränenufer küßte, „kommt, laßt uns ein Kreuz für Miguela und ihren getreuen Gefährten setzen!“

„Herr,“ erwiderte der Sohn der Wildniß, „die Männer des deutschen Landes sind zwar keine Christen, und ich beklage ihre Seelen, doch immer fand ich Euch als gute Menschen.“

„Seid ohne Sorge, José Maria, auch die Männer Deutschlands sind Christen – und alle Menschen sind Gottes Kinder.“

José Maria segnete das Kreuz und schlug das Zeichen seiner Kirche; er bewegte dabei flüsternd die Lippen, und bald lag wieder still hinter den Wanderern im duftigen Morgenschimmer die Vega de las Lagrimas, das Ufer der Thränen.




Die Spuren des vorgeschichtlichen Menschen in Deutschland.

Betrachtungen zur prähistorischen Ausstellung in Berlin.
Von A. Woldt.
III. (Schluß.)
Fußstapfen der umbrischen Cultur in Deutschland: die Bronze-Eimer. – Etrurisches. – Lindenschmit’s Auffassung der „Bronzezeit“ und die nordische Opposition. – Von der norischen Kunst und von einem ungarischen Zigeuner. – Römische Einflüsse bis zur Merowingerzeit; die Römerfestung Regensburg und ihre Friedhöfe. – Verschiedene Ansichten über die „Eisenzeit“. – Das Grab des Königs Childerich.

Wie vereinzelte Lichter in Waldesdunkel, so fällt in die allerälteste Cultur in Deutschland hier und da ein heller Strahl fremder glänzender Culturentwickelung, namentlich aus den südeuropäischen Ländern. Wir müssen weit, sehr weit zurückgehen. bis in jene entlegene Zeit vor beinahe dreitausend Jahren, wo in Italien die uralten Culturen der Etrusker und Umbrier herrschten, um die ersten Spuren dieser Einstrahlung aufzufinden. Es war das jene Zeit, wo in den Mittelmeerländern die Kunst der Metallbearbeitung sich bis zu einer gewissen Höhe entwickelt hatte und wo die zahlreichen Erzeugnisse dieser Technik einen mächtigen Handelstrieb hervorriefen, der die Kaufleute bis in die entlegenen Länder des Nordens führte. So wurden für Mittel- und Nordeuropa [631] die Handelsstraßen die ersten Culturwege und die Krämer und Kaufleute die Pionniere der Cultur.

Zu dem Guten und Werthvollen, welches der diesjährige deutsche Anthropologen-Congreß und die Ausstellung prähistorischer Funde im Abgeordnetenhause zu Berlin uns gebracht haben, gehört auch die endgültige Aufklärung über diese entlegene Epoche unserer Vorzeit. In der vorletzten Sitzung war es, wo Virchow drei Gegenstände vorführte, die, wie er bemerkte, „künftighin als Merksteine gerade für die chronologische Betrachtung von erheblichem und dauerndem Werthe sein werden.“ Es waren dies drei sogenannte Bronze-Eimer oder Bronzecysten, die gegenwärtig von den italienischen Gelehrten vielfach mit dem Namen der „situlae“ bezeichnet werden. Von diesen drei durch ihre ganze Erscheinung, ihre Größe und ihre Technik besonders auffallenden Gefäßen ist das eine in einem Moor des Großherzogthums Posen, das zweite in der Nähe von Lübeck und das dritte in Hannover gefunden worden, und ihre Vergleichung ergiebt sofort, daß man es hier mit fabrikmäßigen Erzeugnissen zu thun hat. Ihr Material besteht aus sehr fein gehämmerter, nicht gegossener, auch nicht gewalzter Bronze. An keiner Stelle ist eine Spur von Löthung oder Guß zu finden; die Verbindung der einzelnen Theile ist lediglich durch Nieten und Ineinanderrollen der Kanten hergestellt.

Der nächste größere Platz, von wo diese Bronze-Eimer uns schon früher in guten Exemplaren bekannt waren, ist das berühmte prähistorische Gräberfeld von Hallstadt in Oberösterreich; dieses aber hat gerade in den letzten Jahren eine Reihe von hervorragenden Funden ergeben, welche die Identität der Muster mit etrurischen Vorbildern positiv aufweisen. Je weiter wir nach Süden gehen, um so reicher gestaltet sich die Zahl der dort ausgegrabenen Bronze-Eimer. Aus Oberitalien ist eine ganze Reihe dieser eigenthümlichen Gefäße bekannt, und das eigentliche Centrum der bis jetzt bekannten Funde ist Bologna, in dessen Museum man eine große Auswahl derselben erblicken kann. Als vor wenigen Jahren der internationale Anthropologen-Congreß in Bologna tagte, hatte man ihm zu Ehren eine große Ausgrabung auf dem alten Kirchhof der Certosa, des alten Karthäuserklosters, angestellt; man hatte selbst den Untergrund der Kirche bloß gelegt, und die Forscher waren in der Lage, die Bronze-Eimer zu sehen, wie sie da standen, gefüllt mit den gebrannten Gebeinen der Todten, wie unsere deutschen Gräberurnen. Ein Theil dieser Bologneser Bronze-Eimer aber stimmt mit den drei bei Posen, Lübeck und Hannover gefundenen so genau überein, daß die letzteren ganz unzweifelhaft als etruskische Handelsartikel, welche ihren Weg nach dem Norden gefunden haben, zu betrachten sind.

Was nun die Zeit betrifft, in der diese Bronze-Eimer in Italien gearbeitet worden sind, so geht aus der schon erwähnten Technik hervor, daß man damals weder zu gießen noch zu löthen verstand. Da aber von dem Augenblicke an, wo man diese Manipulationen kannte, die gegossenen Gefäße nach berechtigter Vermuthung die ältere Art verdrängten, so haben die Gelehrten in Bologna kein Bedenken getragen, die Funde dieser Periode in eine Zeit zu verlegen, welche der gewöhnlichen etrurischen sogar noch etwas vorangeht. Die neuesten Annahmen gehen dahin, vor der etrurischen noch eine besondere umbrische vorauszusetzen, welche einen großen Theil dieser Funde mit einschließt.

Jedenfalls also werden wir berechtigt sein, diese Funde in Bezug auf ihre Chronologie mindestens in die allerälteste Zeit Roms zurück zu versetzen. Aber dies sind nicht die einzigen Bronzegegenstände, welche das kunstfleißige Etrurien, dessen Metallindustrie bekanntlich im Alterthum von höchster Bedeutung war, in unser Vaterland einführen ließ; zahlreiche in Grabhügeln gefundene Gefäße, Bronzeschwerter und Speere, Sicheln, Meißel und Gewandnadeln, ferner Brustschilder, Diademe, Ringe, Armbänder u. A. m. gehören hierher. Auch die bekannten Bronzewagen, deren zwei bei Burg im Spreewalde, einer in Frankfurt an der Oder und einer im Trebnitzer Kreise in Niederschlesien gefunden wurden, müssen in jene Periode der etrurischen Handelsverbindungen gerechnet werden.

Wir begreifen nunmehr, wie Lindenschmit in der Einleitung zu seinem „Handbuch der deutschen Alterthumskunde“ zu dem Ausspruch kommen konnte, daß die sogenannte Bronzeperiode bei uns nur als die Zeit eines belebten Verkehrs des Handels und der Industrie der Mittelmeervölker nach dem Norden erscheint. Ihre dorthin gelangten Producte zeigen so wenig irgend welches Merkmal eines Aufwuchses aus der Eigenthümlichkeit keltogermanischer Anlage, eine Verwandtschaft mit früheren heimischen Dingen, wie eine Fortentwickelung, einen Nachwuchs in den späteren. Sie bekunden einen so fremdartigen und so überlegenen Culturzustand sowohl in Bezug auf die Gebilde der vorhergegangenen Steinzeit, wie der folgenden Eisenzeit, daß sie unmöglich als Zeugnisse einer selbstständigen Bearbeitung der Metalle, als Nachweise einer naturgemäßen Uebergangsstufe nationaler Bildung ältester und spätester Zeit in irgend einer Art zu betrachten sind. Freilich fehlte es nicht ganz an Versuchen, die fremden Gußstücke nachzuahmen und dazu Gußformen für Aexte, Messer, Sicheln, Nadeln etc. zu benutzen, welche, wie es scheint, gleichfalls aus Italien zu uns gebracht waren. Aber, wie der letztgenannte Forscher sagt: „Weder ihre technische noch gegenständliche Bedeutung ist entfernt von der Art, daß sie als Grundlage für die Bildung eines besonderen Culturabschnittes einer nordischen Erzperiode sich verwerthen ließe.“

Bekanntlich steht diese neue Auffassung unserer prähistorischen Verhältnisse durchaus nicht im Einklange mit dem von den nordischen Forschern aufgestellten Dreiperiodensystem, wonach auf die Steinzeit eine Bronzezeit und darauf eine Eisenzeit gefolgt ist. Die nordischen, und mit ihnen eine Anzahl der deutschen Gelehrten verknüpfen die Bronzefunde mit jenem im vorigen Artikel erwähnten vorgeschichtlichen nordischen Stein-Culturkreise, der sich von Südschweden über Dänemark, Schleswig-Holstein und das Land zwischen Elbe und Oder bis hinein nach Provinz Brandenburg und Sachsen erstreckte, und nehmen an, daß dessen Bewohner jene schöne Bronzen hergestellt hätten, welche heute die antropologischen Sammlungen jener Gegenden zieren. Es kam auf dem Berliner Anthropologen-Congreß dieser Unterschied der Auffassung direct zur Sprache, indem sich ein nordischer Forscher, Dr. Undset aus Christiania, in einem Vortrag über die alte Bronzezeit darüber ausließ. Er bezeichnete die Verschiedenheit zwischen den echt etrurischen und den nordischen Bronzesachen in Beziehung auf Stil, Gesammtcharakter, Technik, Materialbehandlung, Ornamentik etc. als so durchgehend, daß kein Zweifel aufkommen könne. Die nordischen Arbeiten seien in technischer Beziehung sehr unterlegen, sie zeigten oft eine wunderbare Virtuosität im Gießen, aber auf der andern Seite einen Mangel an voller, freier Beherrschung des Materials, einen Mangel an guten stählernen Werkzeugen. Bei Lindenschmit's Ansicht müsse man, wenn man beispielsweise das Material an Gewandnadeln, den sogenannten Fibeln, behandelt, zu der Schlußfolgerung kommen, daß in einer Zeit, wo man schon in Italien vorzügliche Fibeln hatte, man daselbst in gewissen Fabriken andere Fibeln arbeitete, und zwar in Typen und Constructionen, die in Italien nie in Gebrauch gewesen sind und die den italienischen in jeder Beziehung weit untergeordnet sind; diese Typen arbeitete man in einer Technik, die der bei den einheimische Fibeln angewandten weit unterlegen war, für den Export nach den nordischen Ländern, und zwar eine Form für Hannover, eine für Mecklenburg, eine für Pommern, eine andere ganz speciell für die Insel Bornholm; denn an allen diesen Orten hätten sich ausgeprägte Localformen der Gewandnadeln nachweisen lassen.

Es ist hier nicht der Ort, die so schwierige Bronzefrage, welche bereits eine ganze Literatur hervorgerufen hat, zu entscheiden; es sollte im Vorhergehenden nur die Verschiedenheit der hierüber herrschenden Auffassung angedeutet werden. Eine Uebernahme der Bronze-Industrie in den Arbeitskreis der Bevölkerung Deutschlands geben ja beide Ansichten zu, und in dieser Beziehung ist es interessant, den Grafen Wurmbrand, den berühmten österreichischen Archäologen, constatiren zu hören, wie die Verhältnisse in Oesterreich lagen, als die Römer in's Land kamen. Er kommt zu dem Ausspruche, daß die Römer in den österreichischen Ländern die Bevölkerungen noch im lebendigen Besitze jener Bronzen angetroffen haben, welche vor sehr langer Zeit auch in Italien hergestellt wurden und deren Stilistik sich besonders in Etrurien hoch entwickelt hatte. Was nun die Frage beträfe, ob diese alten Bronzen nicht am Ende durchgehends aus italienischen Werkstätten stammten und sich in Oesterreich bis auf die Römerzeit als Erbstücke erhalten hätten, so glaubt Graf Wurmbrand aus den ganz gleichartigen Verzierungen der Eisen- und Bronzegeräthe, welche Verzierungen sich auf den Thonurnen wiederholen, schließen zu können, daß zu jener Zeit, also zu Zeiten des Kaisers Augustus, die meisten Geräthe nach alter Form von den längst als Metallarbeiter bekannten Norikern selbst erzeugt wurden. Damit ist nicht [632] zu viel gesagt; es handelt sich im Wesentlichen nur um das Geschick, die fremden Muster nachzuahmen, und wie sehr sich bei manchen auf primitiver Culturstufe befindlichen Menschen persönliche Geschicklichkeit und Handfertigkeit auszubilden vermag, davon erzählt Graf Wurmbrand ein eclatantes Beispiel aus der Gegenwart. Das Gewerbe des Schmiedens treiben in Ungarn zumeist die Zigeuner, die ärmste und verachtetste Volksgruppe. Es wurde einem solchen Zigeuner die Aufgabe gestellt, im freien Walde, ohne irgend ein Werkzeug oder eine Beihülfe, aus einigen Stücken alten Eisens eine Kette zu schmieden. Der Mann suchte sich sofort Steine für Ambos und Hammer, verfertigte sich einen merkwürdig einfachen Blasebalg aus einem Stück Ziegenfell, brannte sich Kohlen, und in wenigen Tagen war die Schmiede im Gange. Zuerst wurden die nöthigen Werkzeuge und dann die Kette selbst gemacht, die ganz vortrefflich ausgefallen ist. Wenn man diesen herumwandernden Zigeunern einige Silber- und Goldmünzen giebt, so wird unter den Augen des Bestellers in einigen Stunden ein Armband oder Ohrring von geflochtenen Drähten mit Filigranarbeit entstehen, welche künstlicher gearbeitet sind, als unsere modernen plumpen Goldschmiede-Arbeiten, und die manchmal directe Formverwandtschaft mit etruskischem Schmuck besitzen.

Die römische Cultur, zu deren Einwirkung wir nun übergehen, war im Allgemeinen so überwältigend, so abgeschlossen, daß in verhältnißmäßig kurzer Zeit in den Ländern südlich der Donau die Romanisirung auch des Gewerbes sich vollzogen hatte, während in rein germanischen Gegenden die alten Gewohnheiten sich noch forterhielten. In Deutschland haben wir in Bezug auf den römischen Einfluß in vorgeschichtlicher Zeit zwei Gebiete von einander zu unterscheiden, nämlich das südliche, unmittelbar von den Römern besetzte und das nördliche, nur durch Handelsbeziehungen berührte.

Wir können bis hoch hinauf in den Norden unseres Vaterlandes eine große Menge römischer Funde verzeichnen, so sind beispielsweise in unmittelbarster Nähe Berlins an nicht weniger als sieben Stellen Funde römischer Kaisermünzen gemacht, so ist in Hinterpommern bei Schlawe eine ganz wundervolle, der römischen Zeit angehörende Bronzecyste, welche gravirt, mit Silber ausgelegt und mit feinen Zeichnungen verziert ist, so ist bei Schivelbein und in der Nähe von Berlin je eine Statue des Jupiter hastatus, bei Bahn eine silberne Statuette u. dergl. m. gefunden worden. Die Beschreibung aller echt römischen Funde in Mittel- und Norddeutschland würde einen ganzen Katalog füllen.

Wie sich in Süddeutschland, soweit es von den Römern besetzt war, der Einfluß dieses weltbeherrschenden Volkes geltend machte, davon haben wir sehr eclatante Beispiele. Hier hatte das gewaltige Reich, welches damals gerade auf dem Höhepunkte seiner Entwickelung stand, sogar die Macht und den Einfluß, ganze Städte, wie beispielsweise Regensburg, zu erbauen, welches etwa in den Jahren 170 bis 180 nach Christi Geburt nach allen Regeln römischer Kriegskunst als bedeutendste römische Festung zwischen Wien und der Schweiz angelegt wurde. Wir finden in Süddeutschland, am Rhein, in Elsaß-Lothringen viele andere römische Anlagen, namentlich auch zahlreiche römische Friedhöfe. Werfen wir einen Blick auf die durch Pfarrer Dahlem und den Grafen von Walderndorf in Regensburg untersuchten römischen Begräbnißplätze, so finden wir, daß sich diese Anlagen vor fast allen Thoren dieser Stadt längs den Straßen, insbesondere aber an der Hauptstraße nach Augsburg hinziehen. Der letztgenannte Beerdigungsplatz ist der interessanteste und instructivste; von ihm wurde beim Bau der Ost- und der Staatsbahn, als stellenweise zwölf bis vierzehn Fuß Erdreich abgehoben werden mußte, eine Reihe von Urnen und Erdbegräbnissen bloßgelegt, deren Gesammtzahl 6000 übersteigt, und es ist in hohem Maße belehrend, sich dieses Todtenfeld, das eine Reihe von Generationen und Beerdigungsarten umfaßt, einmal etwas genauer anzusehen.

Zunächst findet sich in diesen merkwürdigen Regensburger Begräbnißplätzen der alten Römer der Uebergang in den Bestattungsarten sehr schön ausgedrückt. In den älteren Theilen, etwa bis gegen das Ende des dritten Jahrhunderts, kommen auf je eine Leichenbestattung etwa neun bis zehn Verbrennungen, späterhin ändert sich das Verhältniß immer mehr; die Leichenbeisetzung tritt häufiger auf, ohne daß man jedoch die Todten mit dem Gesicht der aufgehenden Sonne zugekehrt bestattet, bis endlich der volle Eintritt auch der letzten Sitte zu bemerken ist. Nach beinahe drittehalbhundertjährigem Bestehen wurde zur Zeit des Kaisers Honorius, etwa zu Anfang des fünften Jahrhunderts nach Christi Geburt, das römische Commando von Regensburg wegverlegt und Augsburg genähert; damit hörten auch die Beerdigungen auf diesen römischer Friedhöfen auf. Für unsere Prähistorie haben wir so durch die Erforschung dieser Localitäten eine sehr schöne Zeitbestimmung dafür gewonnen, wann im Süden und Westen Deutschlands die heute noch übliche Bestattungsweise eingetreten ist. Allein diese Friedhöfe von Regensburg führen uns noch weiter bis an die Grenzscheide des altnationalen Heidenlebens und der neuen Christuslehre, bis zu den Grabalterthümern aus der nachrömischen glänzenden Zeit der Merowinger-Könige, in welcher die Summe der selbstständigen technischen Errungenschaften aller vorhergehenden Bildungsphasen sich zu großartigen Leitungen vereinigte. Die Auflösung des römischen Reiches hatte nicht sofort die Zurückziehung aller byzantinischen Romanen aus dieser Gegend zur Folge; diese Leute lebten dort vielmehr, sich selbst überlassen, lange Zeit, den veränderten Verhältnissen Rechnung tragend, bis im sechsten Jahrhundert die Bajuwaren das Land in wahrscheinlich höchst friedlicher Weise für sich eroberten.

Wir haben bisher fast ausschließlich von der Bronzezeit gesprochen, obgleich mit dem Eintritt der genannten Periode der Gebrauch des Eisens schon vielfach bei uns eingeführt war. Bei einer Betrachtung dieses Verhältnisses müssen wir uns zunächst wieder jenem nordischen Dreiperiodensysteme zuwenden, wie es von den skandinavischen und dänischen Forschern S. Nilsson, Worsaae, Montelius, Hildebrand, Wiberg u. A. m. in einer Reihe von Werken beschrieben ist, welche durch die unermüdliche Interpretin der nordischen Anschauungen, Fräulein J. Mestorf in Kiel, in's Deutsche übersetzt und schon seit Jahren im Verlage von Otto Meißner in Hamburg erschienen sind. Es dürfte vielleicht angemessen sein, hier mitzutheilen, wie sich der dänische Forscher J. J. A. Worsaae nach seinem 1878 veröffentlichten Buche „Die Vorgeschichte des Nordens“ die Chronologie dieses Systems denkt. Hiernach stellt sich die Eintheilung der Culturverhältnisse für den skandinavischen Norden annähernd folgendermaßen: Aeltere Steinzeit circa 3000 Jahre vor Christo; jüngere Steinzeit circa 2000 bis 1000 vor Christo; ältere Bronzezeit circa 1000 bis 500 vor Christo; jüngere Bronzezeit circa 500 vor bis 100 nach Christo; ältere Eisenzeit circa 100 bis 450 nach Christo; mittlere Eisenzeit circa 450 bis 700 nach Christo; die Wikinger- oder jüngere Eisenzeit circa 700 bis 1000 nach Christo. Höchst auffällig muß es erscheinen, sagt der dänische Forscher, daß die Eisencultur, welche in den classischen Mittelmeerländern rasch eine so reiche Entwickelung erfuhr und schon um 800 bis 900 Jahre vor Christo ein neues historisches Zeitalter dort begründet hatte, fast tausend Jahre brauchte, um bis an das nördliche Gestade der Ostsee hinaufzudringen, ja, daß fast zweitausend Jahre nöthig waren, um in der Zeit von 800 bis 900 nach Christo der vorhistorischen Zeit im skandinavischen Norden ein Ende zu setzen, mit andern Worten, diese bis dahin so gut wie unbekannten Länder in das Gebiet der Weltgeschichte hineinzuziehen.

Dieser Ansicht gegenüber treten unsere deutschen Anthropologen – für das deutsche Gebiet – mit großer Entschiedenheit auf. Weit entfernt – ruft Lindenschmit aus – daß die Geräthe aus Knochen oder Stein ausschließlich nur eine fern abliegende und streng isolirte Zeit bezeichnen, bilden sie vielmehr eine durchgehende Grundlage des gesammten vorgeschichtlichen deutschen Culturstandes, welche mit mehr oder minder bedeutender Beimischung von Bronzegeräthen bis zum Eintritt des allseitigsten Eisengebrauchs hinabreicht. Dr. Hostmann in Celle kommt in seiner verdienstvollen Arbeit über den Urnenfriedhof bei Darzau in der Provinz Hannover (Verlag von Fr. Vieweg und Sohn in Braunschweig) unter Anderem zu der Ueberzeugung, daß die feine Bearbeitung vieler der ältesten und schönsten Bronzen gar nicht ohne genügende Stahlwerkzeuge habe ausgeführt werden können, sodaß man also vor der Hand nur eine Eintheilung der Prähistorie in eine „vormetallische“ und in eine „metallische“ Zeit annehmen dürfe. Das Eisen sei jedenfalls gleichzeitig oder noch vor der Bronze bearbeitet worden und in Gebrauch gewesen. Auch in seiner neuesten, im Archiv für Anthropologie erschienenen Abhandlung über die von Schliemann ausgegrabenen Metallarbeiten von Mykenae und ihre Bedeutung für die allgemeine Geschichte der Metallindustrie bleibt dieser Forscher durchaus auf seiner Meinung bestehen; er führt an, daß nicht die Technik des Gießens, sondern [633] die Kunst des Schmiedens das ursprünglichste Handwerk des Metallarbeiters gewesen sei, und daß zur Zeit der Akropolisgräber von Mykenae, um die Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christo, das Eisen zu Arbeitsgeräth wie zu Waffen verwendet wurde.

Eigenthümlich ist es allerdings, daß wir kaum irgend welche alten Bronzefunde in Deutschland besitzen, die nicht gleichzeitig Beigaben von Eisen enthalten hätten. Es steht fest, daß im Gräberfelde zu Hallstadt überall neben den uralten Bronzen Eisen vorkommt. Jene alten, oben erwähnten drei etrurischen Bronze-Eimer hatten sämmtlich eiserne Beigaben: eiserne Deckel, eiserne Messer, eiserne Nägel, sodaß wir uns genöthigt sehen, jene entlegene Zeit, in der man die Kunst des Löthens und Gießens der Bronze noch nicht einmal kannte, als schon zur Eisencultur gehörig anzunehmen. Es ist nicht schwierig, sich vorzustellen, daß überall neben dem Import der vorwiegend zu Schmuckgegenständen verwendeten Bronze auch ein solcher von eisernen Waffen bereits in sehr früher Zeit auf den von Italien nach dem Norden Europas führenden Handelswegen stattgefunden habe. Der Grund, warum sich verhältnißmäßig so wenig Eisensachen erhalten haben, wird theils dahin erklärt, daß das Eisen durch den Einfluß des Sauerstoffs der Luft sehr viel schneller vernichtet und von Rost aufgefressen werde, als die durch ihre schöne grüne Patina geschützte Bronze, theils aber auch dahin, daß man zu Grabmitgaben, Weihgeschenken und Prunkwaffen als Ersatz der echten Stahlschwerter schon in ältester Zeit solche aus Bronze genommen hat. Daß sich natürlich im Laufe der Jahrhunderte bei uns in Deutschland, wie überall, an günstigen Localitäten allmählich eine eigene Metalltechnik entwickeln konnte, daß wir in den Donauländern späterhin, zur Zeit des Kaisers Augustus, von den berühmten Eisenschwertern aus Noricum, daß wir von gallischen Schwertern sprechen hören, ist eine leicht erklärliche Sache.

Wie vorher bemerkt, bildet die halb sagenhafte Zeit der merowingischen Könige, im fünften bis achten Jahrhundert nach Chr., die letzte und glänzendste aller prähistorischen Entwickelungsperioden unseres Volkes. Obgleich wir, namentlich im Osten und Norden von Deutschland, noch manche slavische, lettische, arabische und skandinavische Funde zu verzeichnen und gewisse Cultureinströmungen daraus herzuleiten haben, so kommen diese doch im Ganzen nicht sonderlich in Betracht. Wie aber zur Merowingerzeit die Waffen aller Art, die eigenthümlich verzierten Schmuckstücke aus Gold und Silber, die Gefäße aus Glas und Thon, Holz und Metall, die zahlreichen Geräthe für jeden Bedarf ein anziehendes Bild der äußeren Lebenserscheinung jener entlegenen Periode gewähren, davon sei als ein hervorragendes Beispiel das Grab des Frankenkönigs Childerich angeführt.

Es war im Jahre 1653, als auf dem Friedhofe zu Sanct Brixius in Doornick ein taubstummer Arbeiter beim Graben eines Fundamentes plötzlich auf eine so große Zahl blinkender Goldmünzen und glänzender Goldgeräthe stieß, daß er vor Schreck und Ueberraschung die Sprache gewann und laut aufschrie. Man fand und sammelte im Boden und der bereits ausgeworfenen Erde eine Menge Goldschmuck und Reste von golddurchwirkten Gewändern; man fand goldene, mit Edelsteinen besetzte Schwertbeschläge an verrosteten Klingen, eine Axt und eine Speerspitze von Eisen, zwei menschliche und einen Pferdeschädel sowie einen Siegelring, der das Brustbild eines Mannes mit langen geflochtenen oder gelockten Haaren und eine Lanze in der Hand zeigte. Die Umschrift enthielt die Worte. Childerici regis. Man erkannte sofort, daß hier das Grab jenes Frankenkönigs zu Tage gekommen, in welches derselbe mit seinem Streitrosse, seinen Waffen sowie mit einer reichen Beigabe sowohl von Schmuck wie von geprägtem Gold und Silber im Jahre 481 nach Chr. beigesetzt wurde, und zwar, wie wir jetzt erkennen, an der Seite einer ebenso königlich ausgestatteten Frau, ohne Zweifel seiner Gemahlin Basina, der Mutter Chlodowech’s, des Begründers der merowingischen Königsmacht.

Dieser Fund war der Beginn einer Fülle weiterer Funde, die aber erst in allerneuester Zeit, in den letzten vierzig Jahren, gemacht worden sind und zur Entdeckung und Erforschung jener großen Friedhöfe in den alten Gebieten der Alamannen, Burgunder, Franken, Angelsachsen und Baiern geführt haben, mit deren Erwähnung wir die Aufgabe dieser Artikel als abgeschlossen betrachten dürfen.





Auf dem Rheine.

(S. Abbildung auf Seite 629.)


Ich fuhr zu Kahne stromab den Rhein;
Es blinkten so silbern die Wellen,
Und bei mir saßen im Sonnenschein
Vielliebe Fahrtgesellen –

5
Jungfrisches Blut und graues Haar,

Dazu die Liebste, wem eine war;
Wir führten die Römer zum Munde
Und priesen die glückliche Stunde.

Da scholl Musik, da stieß es vom Land

10
Mit fliegender Purpurfahne,

Dahinter schimmerndes Meßgewand –
Wallfahrer waren’s im Kahne;
Und als sie zogen vor uns vorbei,
Sie sangen so klagend die Litanei,

15
Sie sangen von Kreuz und von Büßen,

Den sonnigen Rhein zu den Füßen.

Da hub sich mein liebster Gesell beim Mast,
Auf sprühte sein Glas in Funken;
Er sang: „O süßeste Lebenslast,

20
Ich grüße dich liebetrunken!

Ich liebe den Berg, dazu das Thal,
Ich liebe so Regen wie Sonnenstrahl,
Das Glück und die Thräne vor Leide –
Ich liebe sie alle beide.

25
Und wenn sich Staub an den Schuh mir hing,

Ich schüttle ihn von den Füßen,
Und hab’ ich gethan ein unrecht Ding,
So brauch’ ich darum nicht büßen:
Ein Adler, steig’ ich in Himmelsluft;

30
Da badet die Seele der Sonnenduft,

Und schweb’ ich zur Erde nieder,
So lächelt der Friede mir wieder.

Ihr lieben Heil’gen von Rauhenthal,
Du Milch von unsrer Frauen,

35
Ihr Aßmannshäuser und Andren zumal,

Euch will ich fröhlich trauen;
Die Ihr vom Himmel der Welt geschenkt,
Ihr habt die Lehr’ mir in’s Herz gesenkt:
Froh Herz und feurigen Willen,

40
Die fressen nicht Motten noch Grillen.“


So scholl sein Lied. Es nickte der Kahn,
Es nickten die lustigen Wogen;
Sein leeres Glas flog himmelan
Geschleudert in mächtigem Bogen.

45
Doch weiter tönte der Bußgesang,

Von Kreuz und Sünde der trübe Klang;
Sie fuhren langsam von dannen,
Bis daß sie das Ufer gewannen.

Victor Blüthgen.




Der Dom zu Köln.[2]
Zum Weihefest eines deutschen Nationalbaues.
Von Dr. L. Ennen.

Als die einzelnen, mit reichen Gütern ausgestatteten Stifter Kölns begannen, Kirchen zu erbauen, welche die alte, aus dem zehnten Jahrhundert stammende Kathedrale, die Ruhestätte der heiligen drei Könige, an Pracht, an ruhiger Majestät, an äußerer Schönheit, an verschwenderischer Ausstattung übertrafen, mußte das Bedürfniß nach einer Mutterkirche fühlbar werden, welche auch im Aeußern das richtige Verhältniß des Domes zu den übrigen Stiftskirchen kund gab. Der fromme, gewaltige, prachtliebende [634] Erzbischof Engelbert war es, der zuerst den Plan anregte, den Dom des heiligen Petrus neu zu erbauen; er gewann das Capitel für diesen Gedanken und versprach fünfhundert Mark zum Beginne der Ausführung, sowie jährlich bis zur Vollendung eine gleiche Summe.

Wir verdanken diese Nachricht dem Biographen Engelbert’s, dem Novizenmeister Cäsarius von Heisterbach, der sie niederschrieb, noch bevor der Dombrand des Jahres 1248 den Neubau nothwendig machte.

Diesseits der Alpen gab es keine Reliquien, die in so hohem Ansehen gestanden und ihre frommen Verehrer so massenhaft angezogen hätten, wie die Leiber der heiligen drei Könige. Engelbert durfte sich daher überzeugt halten, daß der größte Theil der ganzen Christenheit freudig seinen Beitrag darbringen werde, wenn über dem Grabe der morgenländischen Weisen ein Tempel aufgeführt würde, der auf dem ganzen Erdenrunde vergebens seines Gleichen suchte. Ehe er selbst Hand an das große, gewaltige Werk legen konnte, erlag er den Streichen ruchloser Mörder, und sein Nachfolger, Heinrich, ließ den Plan seines Vorgängers ruhen. Nach dessen Tode scheint das Capitel die Dombaufrage in die Hand genommen zu haben.

Die älteste Nachricht über die Absicht des Capitels, eine neue Domkirche zu bauen, findet sich in einem in das Kalendarium der Domthesaurarie eingetragenen Capitelsbeschluß vom 23. März 1247, also dreizehn Monate vor dem Dombrande. Sobald sich das Capitel entschieden hatte, traf es mit dem Thesaurar Philippus ein Abkommen, wonach dieser sämmtliche Opfer, welche auf den Altar des heiligen Petrus gelegt würden, sechs Jahre lang zur Baucasse abführen solle; nur dreißig Mark solle er für sich behalten. In gleicher Weise wurde der Custos angehalten, die Opfer, welche in der goldenen Kammer bei den daselbst ruhenden Reliquien niedergelegt wurden, nach Abzug von drei Mark an die Rendanten der Baucasse abzuliefern. Diese Uebereinkunft wurde in das Kalendarium des Ober-Custos, der zugleich Thesaurar war, eingetragen. Es geht aus diesem Actenstücke unwiderleglich hervor, daß im Jahre 1247 der Gedanke an Herstellung einer neuen würdigern Domkirche bei der zuständigen Stelle zur Geltung und Anerkennung und zu bindendem Beschlusse gekommen und nicht etwa ein blos theilweiser Neubau oder eine gründliche Reparatur der alten Domkirche beabsichtigt war.

Wie Engelbert der Heilige, wird auch der nunmehrige Erzbischof Conrad, welcher die Anregung des Capitels freudig begrüßte und welchem denn auch beschieden war, den Grundstein des Baues zu legen, sich zu reichlichen Beiträgen für den beabsichtigten Neubau bereit erklärt haben. Den bei weitem größten Theil der Baukosten hoffte man durch Opfer, Vermächtnisse und Collectionen zu decken; die Opferwilligkeit der Christgläubigen aber konnte am erfolgreichsten zu Gaben geweckt und lebendig erhalten werden, wenn der Papst sich der Sache annahm.

Der Ablaßbrief, durch welchen Papst Innocenz am 6. April 1247 allen Denjenigen, welche am Tage der Kirchweihe den Kölner Dom mit reumüthigem Herzen besuchen würden, Nachlaß der zeitlichen Sündenstrafen verhieß, wird denn auch seinen guten Einfluß auf die Bereicherung der Baucasse nicht verfehlt haben. Das Capitel aber hat sicher, so gut wie es sich die Gründung und Füllung einer Baucasse angelegen sein ließ, auch alsbald auf einen Plan für die Ausführung des neuen Werkes Bedacht genommen, und so will es mich denn, gegenüber den Ausführungen Schnaase’s, als zweifellos bedünken, daß der ganze Grundriß des Kölner Domes schon im Laufe des Jahres 1247 entworfen ist. Zwar ist es richtig, daß der Plan zu Langhaus und Querschiff, so wie unser Jahrhundert ihn in unvollendeter Form vorfand, nicht im Geiste der Baukunst des dreizehnten Jahrhunderts componirt ist. Der Grund für diese Thatsache kann aber sehr wohl darin gesucht werden, daß die Ausführung des ursprünglichen Planes nur stückweise vorging und der Plan zu Langschiff und Seitenschiff, bevor dieselben in Angriff genommen wurden, nach den im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert zur Geltung gekommenen Bauprincipien umgeändert wurde.

Aus Rücksicht auf den Stiftsgottesdienst dürfte man sich entschlossen haben, zuerst das Chor hinter der alten Domkirche fertig zu stellen und dann erst den alten Bau niederzulegen und den Ausbau des Langhauses und Querschiffes in Angriff zu nehmen. Daß es im ursprünglichen Plane gelegen habe, den alten Dom nur durch das neue Chor zu vergrößern, dafür kann die auf die Einweihung des Chores bezügliche Inschrift nicht entscheidend sein; es liegt in der Inschrift nur der Sinn, daß man im Jahre 1322 den Chorbau als eine factische Erweiterung des alten Domes ansah, keineswegs aber, daß man im Jahre 1248 weiter nichts als eine solche Erweiterung beabsichtigt habe.

Einen werthvollen Beweis, daß von Anfang an die Absicht bestand, an die Stelle des alten Domes ein ganz neues Prachtgebäude aufzuführen, bietet Folgendes dar. In diesem Falle mußte das Capitel, da die zwischen dem Porticus und der Johannis-Capelle liegenden „Gademen“ in den Bauplan fielen, alle diese Häuschen eigenthümlich erwerben; und wirklich wurden sie, wie das Domcapitel ausdrücklich erklärt, schon gleich beim Beginne des Baues der Fundamentirung wegen niedergelegt und vernichtet. Erst einige Jahre später, als die alte Kirche wieder nothdürftig reparirt worden und man sich vorläufig auf die Ausführung des Chorbaues zu beschränken entschlossen war, konnten die Gademen wieder hingesetzt werden, und der Custos erscheint im Maihinger Kalendarium als Zinsherr derselben.

Die Werkleute – so erzählen nun zwei Handschriften des siebenzehnten Jahrhunderts – welche mit dem Abbruche der östlichen Mauer beauftragt waren, wollten den Einsturz dadurch herbeiführen, daß sie den Boden aushöhlten, die Fundamente untergruben, die Höhlen mit Holz füllten und dieses dann anzündeten. Die Unvorsichtigkeit der Arbeiter und ein ungünstiger Wind verursachten ein weiteres Umsichgreifen der Flammen, als man erwartet hatte. Hierdurch brannte das alte Gebäude bis auf die Mauern ab; die zwei in der Kirche hängenden goldenen Kronleuchter wurden gänzlich zerstört, der Schrein der heiligen drei Könige aber war beim Beginn der Arbeit, damit er nicht durch den Einsturz der Mauer beschädigt werde, von seiner Stelle inmitten der Kirche an den Ausgang derselben gebracht und hierdurch vor jeder Verletzung bewahrt worden.

Den Nachrichten dieser Handschriften ist aber nicht viel Glauben beizumessen. Gerade die Umständlichkeit, mit der die Einzelheiten bei der ganzen Operation erzählt werden, erweckt die gerechtesten Zweifel, und ich halte mich für berechtigt, der Thatsache, die von keinem gleichzeitigen Localschriftsteller berichtet wird, den Glauben zu versagen. Die ganze Erzählung ist weiter nichts, als ein willkürlicher, dazu noch unwahrscheinlicher Versuch, den Dombrand des Jahres 1248 zu erklären, welcher im Uebrigen zweifellos am Quirinus-Abend den alten Dom beschädigt hat.

Es sagt Papst Innocenz in seiner Bulle vom 21. Mai 1248, daß die Domkirche durch Brand zerstört worden. Der Chronist Matthäus Paris schreibt, daß die Kathedrale des heiligen Petrus bis auf die Mauern durch Feuer vernichtet worden. König Heinrich der Dritte von England empfiehlt die Collecte für den Kölner Dombau mit dem Bemerken, daß in Köln die Kirche, in welcher die Leiber der heiligen drei Könige ruhen, durch einen traurigen, unvorhergesehenen Unfall in Flammen aufgegangen, und die Kölner Annalen von St. Gereon berichten zum Jahre 1248, daß am Tage des heiligen Quirinus der hohe Dom abgebrannt sei. Was die Ausdehnung des Dombrandes anbelangt, von dem auch das Kalendarium der Custodie spricht, so war derselbe keineswegs so bedeutend, daß die Kirche dadurch völlig vernichtet oder unbrauchbar geworden wäre; es handelte sich allem Anscheine nach um ein Brandunglück, welches zeitweilig die Fortsetzung des Gottesdienstes hinderte, jedoch keinen vollständigen Um- oder Neubau bedingte, und ist es richtig, daß bei diesem Brande die beiden goldenen Kronleuchter geschmolzen sind, so wird der Brand das Dach und das Gewölbe des Schiffes zerstört haben.

Rasch und energisch wurde die Reparatur in Angriff genommen. Wenn nicht schon früher, war die Kirche im Jahre 1251 wieder dem Gottesdienste geöffnet, da im Mai dieses Jahres eine Rechtshandlung im Dome vor vielen Zeugen aus dem geistlichem und weltlichen Stande vorgenommen werden konnte. Auf diese Reparatur bezieht sich die so vielfach angeführte und angefochtene Urkunde des Papstes Innocenz des Vierten, durch welche jeder Beitrag zu den Reparaturkosten mit einem Ablasse belohnt wird.

Der Grundstein zum neuen Dome wurde vom Erzbischof Conrad 1248 am 14. August in Gegenwart des deutschen Königs Wilhelm, des Herzogs Heinrich von Brabant, des Herzogs Walter von Limburg, des päpstlichen Legaten, des Bischofs von Lüttich und vieler anderen weltlichen und geistlichen Großen unter pomphaften [635] Feierlichkeiten gelegt. Er ruht an der Stelle, wo später die Ueberreste des Erzbischofs Conrad beigesetzt wurden. Während der Bau des Chores inmitten der gewaltigsten Aufregung, der bittersten Parteistreitigkeiten und der blutigsten Bürgerkämpfe gegen die Erzbischöfe langsam fortschritt, blieb, wie schon angegeben, die alte, zureichend wieder hergestellte Domkirche bestehen und für kirchliche und gottesdienstliche Benutzung erhalten. Es sind uns viele Nachrichten und Urkunden aufbewahrt, welche auf’s Unzweideutigste bezeugen, daß bis zur Einweihung des Hochchores in dem alten Dome Rechtshandlungen stattgefunden haben, gottesdienstliche Verrichtungen gefeiert und Beerdigungen vorgenommen worden sind.

Bei der Einweihung des Chores 1322 bestand die alte Kirche noch; erst bei dieser Gelegenheit wurde der Schrein der heiligen drei Könige in feierlicher Procession aus der alten Kirche in den neuerbauten Chor versetzt.

Dem Chorbau, dessen Geschichte wir hier kurz zusammenstellen, fielen die alte Sacristei und die goldene Kammer zum Opfer; sie wurden abgebrochen, und an einer gelegeneren Stelle wurde die neue goldene Kammer errichtet, wie wir in dem Maihinger Kalendarium finden. Das Dormitorium, das Gewandhaus, der Kreuzgang, der Holzschuppen, die Waschkammer konnten während des Chorbaues stehen bleiben, unser Kalendarium führt diese Räumlichkeiten gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts als noch vorhanden auf. Nur mäßig gingen die Fonds ein. Collectengelder, Opfer, Zinsen, Vermächtnisse, die Einkünfte suspendirter Beneficien, versessene Präsenzgelder boten den Provisoren der Baucasse die Mittel, die ungeheueren Kosten des großartigen Baues zu bestreiten. Unter den Wohlthätern des Domes ist uns speciell der Voigt Gerhard bekannt, der im Jahre 1256 für den Bauzweck eine Mark Rente vermachte. Von großem Gewichte für den glücklichen Fortgang des Unternehmens war die eindringliche Sprache, welche Papst Innocenz in der Bulle von 1248 gebrauchte.

Im Jahre 1264 entsandte der Erzbischof Engelbert einen Priester und Provisor der Casse, den Magister Gerhard, mit einem offenen Hirtenschreiben an alle Kirchenvorstände der kölnischen Provinz, um die Opferwilligkeit anzuregen. Das wilde Parteigetriebe in der Stadt, die wüthenden Kämpfe zwischen der Bürgerschaft und den Erzbischöfen, die blutigen Fehden, welche unablässig alle Einwohner des Niederrheins in Athem hielten, hemmten von Zeit zu Zeit den Zufluß der Beiträge und stellten die Vollendung des großartigen Unternehmens in Frage. Zur Gewinnung der nöthigen Quadersteine hatte das Domcapitel einen eigenen Steinbruch am Drachenfels angeraumt und in Betrieb gesetzt, und mittelst Vertrages vom 26. August 1267 erwarb es von dem Burggrafen von Drachenfels einen von diesem Bruche in gerader Richtung zum Rheine führenden Weg. Im Jahre 1274 ward mit dem Burggrafen ein Abkommen getroffen, wonach sechs Arbeiter, von denen drei Steinbrecher und drei Vorschläger sein sollten, fortwährend beschäftigt sein müßten. Wiederholt wird dieser Vertrag erneuert und 1294 die Zahl der Steinbrecher auf vier erhöht; ebenso tritt 1306 eine Vermehrung der Arbeitskräfte ein, nachdem das Capitel den Dombruch durch Ankauf eines Weinberges erweitert hat. In dem Aufrufe, durch welchen Erzbischof Siegfried seine Diöcesen zu Beiträgen für den Dombau auffordert, heißt es: „Der Bau unserer Kirche, der in Folge von Freigebigkeit schon zu ziemlicher Höhe emporgestiegen ist und bereits in herrlicher Pracht dasteht, bedarf zu seiner Vollendung noch vieler und reicher Beiträge.“

Im Jahre 1297 war der Bau bereits so weit vorgeschritten, daß die Errichtung und Dotirung der einzelnen Altäre in’s Auge gefaßt werden konnte. Der Domvicar Gerhard von Xanten stiftete in diesem Jahre schon eine Vicarie an dem Altare der heiligen Johannes Baptist und Laurentius im neuen Chore; unter den achtzehn Altären, für die er Meßdenare auswirft, sind nicht die Altäre der alten Kirche, sondern die des neuen Baues, des Chores zu verstehen. Die Altäre mochten schon an Ort und Stelle stehen, hatten aber ihre Benennung noch nicht; darum werden sie in den Urkunden auch nicht namentlich aufgeführt. Jedenfalls, obwohl vom Ende des dreizehnten Jahrhunderts bis zur Einweihung des neuen Chores der Gottesdienst beständig in der alten Domkirche gehalten wurde, hatte das Capitel sein Augenmerk auf den Neubau gerichtet, und die einzelnen Stiftsherren wetteiferten, die im neuen Chore errichteten oder noch zu errichtenden Altäre zu dotiren oder mit Stiftungen zu bedenken.

Gegen 1320 wurden die prachtvollen gemalten Fenster im Chore und in den Seitencapellen eingesetzt; durch die in ihnen eingelassenen Wappen bekunden sie sich als Schenkungen des Erzbischofs Heinrich von Virneburg sowie der ihm verwandten Grafenhäuser Holland, Jülich und Cleve, der Stadt Köln und einer großen Anzahl vornehmer Kölner Familien.

Nach Westen erhielt das Chor durch eine starke bis in die höchste Spitze reichende Mauer einen provisorischen Abschluß; nur so konnte dasselbe bis zur Vollendung des Hauptschiffes mit den Nebenhallen als eine selbstständige Kirche benutzt werden. Der Umgang um das Chor wird ebenso gegen die Seitenschiffe hin durch Mauern geschlossen worden sein. Diese Schlußmauern wurden aufgeführt, bevor man zum Abbruche der alten Domkirche schritt; sonst würde ohne Zweifel ein Theil der Quadern des alten Baues benutzt worden sein.

Im Jahre 1322 war endlich das Chor mit seinen Seitencapellen vollendet. „Innerhalb umgaben doppelte, von schlanken Säulenbündeln gestützte Nebengänge das 150 Fuß aufsteigende Mittelgewölbe. Außerhalb bildeten die Nebengebäude mit ihren einfachen Strebepfeilern und Fenstern einen mächtigen, siebenundsechszig Fuß hohen Untersatz, auf dem sich reich mit zierlichem Thurmwerk geschmückte Widerhalter erhoben und mit ihren Strebbogen das eigentliche Chor stützten.“ Das Dach war mit Bleiplatten gedeckt, welche mannigfache Ornamente und verschiedene auf die heiligen drei Könige bezügliche Inschriften zeigten. Auf der westlichen Giebelspitze war ein zierliches Dachthürmchen errichtet, welches mit seiner reichen Vergoldung weithin in die Umgegend glänzte. Die feierliche Einweihung fand am 27. September, am Jahrestage der Weihe des alten Domes, unter Assistenz einer großen Anzahl von Bischöfen, Aebten, Pröpsten und anderen Geistlichen durch den Erzbischof Heinrich statt. Bei dieser Feier wurden die Gebeine der heiligen drei Könige in pomphaftem Zuge aus dem alten Dome in ein provisorisches Mausoleum im östlichen Seitenchörchen übergeführt.

Von den Baumeistern, unter deren Leitung das Chor aufgeführt wurde, sind uns bekannt: Gerhard von Rile, Arnold und Johann. Ob Gerhard von Rile und der „Werkmeister Gerart vonme Doyme“, der in „einer alder tzedulen“ als Eigenthümer eines Erbes bei St. Marien-Garten genannt wird, identisch sind, kann nicht festgestellt werden. Dem Letztgenannten begegnen wir als Wohlthäter der Kirche St. Martin.

Erzbischof Heinrich wollte die Begeisterung für den Fortbau der herrlichen Domkirche nicht erkalten lassen. Nach der Einweihung des Hochchores wurden sofort die Fundamente zu den zuerst in Angriff zu nehmenden Bautheilen der eigentlichen Kirche gelegt, nachdem man für diesen Zweck mit der Niederlegung der alten Domkirche begonnen. Die Glocken erhielten vorläufig ihre Stelle in einem zwischen der Johannis-Capelle und dem Hohen Gericht aufgeführten provisorischen hölzernen Thurme. Den Anfang der Umwandlung scheint man mit der östlichen Mauer des nördlichen Kreuzschiffes gemacht zu haben. Erst im Jahre 1325 wurde zur Fundamentirung des südlichen Kreuzschiffes der an der Südseite der alten Kirche gelegene Porticus niedergelegt. Mit der Erwerbung eines westlich an diesen Porticus grenzenden Besitzes scheint man auf Schwierigkeiten gestoßen zu sein; darum konnte an dieser Stelle für die westliche Seite des Südportals die Fundamentirung nicht vorgenommen werden. In einer Urkunde des Jahres 1325 heißt es, daß „ununterbrochen zur Förderung des Bauwerkes mit großen Anstrengungen gearbeitet werde“. Zur Beschaffung der erforderlichen Baumittel wurde wiederum vom Erzbischofe wie vom Papste die Opferwilligkeit des gläubigen Volkes angerufen. Schon Erzbischof Wichbold hatte allen Denjenigen, welche in ihrem Testamente die Baucasse bedenken würden, einen vierzehntägigen Ablaß bewilligt, und sämmtliche Priester der Diöcese hatte er beauftragt, ihren Einfluß bei den Pfarrinsassen zu Gunsten des Dombaues zu verwenden. Auf Grund dieses Erlasses setzte sich in der Kölner Diöcese der Gebrauch fest, daß kein Testament errichtet wurde, in welchem nicht wenigstens etwas für den Dombau bestimmt worden wäre. Nach allen Richtungen zogen Sammler aus, welche in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen die Gläubigen durch feurige, begeisternde Reden und mit Zusicherung der göttlichen Gnade und des Nachlasses zeitlicher Sündenstrafen ermunterten, mit freudiger Hand nach Kräften für das heilige Werk des Dombaues beizusteuern.

Die Sammlungen erhielten eine fördernde Organisation und

[636]

[637] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [638] Leitung, als sie in die Hand der im ersten Drittel des vierzehnten Jahrhunderts gegründeten Petri-Bruderschaft gelegt wurden. Allen, welche sich als Mitglieder der Petri-Bruderschaft aufnehmen ließen und ihren bestimmten Jahresbeitrag entrichteten, wurde die Vergünstigung zugestanden, auch an Orten, auf welchen das Interdict lastete, die heiligen Sacramente zu empfangen und des feierlichen kirchlichen Begräbnisses theilhaftig werden zu können. Der Papst Johann der Zweiundzwanzigste ertheilte in einem besonderen Schreiben allen Indulgenzen und Privilegien, welche der Erzbischof den für den Dombau Beitragenden bewilligt hatte, seine oberhirtliche Genehmigung. In dem Diöcesanstatut des Jahres 1327 wurde bestimmt: „Niemand solle Denjenigen, welche für den Dombau sammeln, hindernd in den Weg treten. Alle Gelder, welche für die Petri-Bruderschaft eingehen, sollen sorgfältig aufgehoben und den Collectaren unverkürzt übergeben werden. Den Collectaren soll es freistehen, bei ihrer Anwesenheit in einer Parochie bei der Pfarrmesse gleich nach verlesenem Evangelium in einer besonderen Predigt die Sache des Dombaues zu empfehlen und zu reichlichen Gaben aufzufordern.“

Leider wurde die allerwärts geweckte Opferwilligkeit sehr bald von Schwindlern gemißbraucht. Gerade weil Jeder bereit war, seine freigebige Hand zu öffnen, so oft ein Collectant im Namen des Domes einen Beitrag forderte, lag für Geistliche wie Laien die Versuchung nahe, unter dem Vorwande, Beiträge für den Dom zu sammeln im Lande umherzuziehen, die für den Bau der Metropolitankirche bestimmte Spenden in Empfang zu nehmen und dieselben zu eigenem Nutzen zu verwenden. Erzbischof Wilhelm sah sich bewogen, diese Mißbräuche auf's Strengste zu rügen und alle Diejenigen mit den härtesten Kirchenstrafen zu bedrohen, welche die für den Dom bestimmten Beiträge zurückhalten und so den Fortgang des Baues gefährden würden.

Die Verwaltung der Verwendung der aus Sammlungen, Opfern und Vermächtnissen in die Dombaukasse fließenden Gelder stand unter zwei Provisoren, wovon gemäß einem Abkommen vom Jahre 1365 der eine vom Erzbischof, der andere vom Capitel bestellt wurde. Nach Maßgabe einer Urkunde vom Jahre 1452 stellte sich allmählich der Gebrauch fest, daß die ganze Verwaltung der Dombaukasse, die Disposition über die vorhandenen Gelder, die Beaufsichtigung des Baues, die Anstellung des Werkmeisters und der Arbeiter einem Capitularen übertragen wurde, der mit Zustimmung des Capitels seine Bestallung vom Erzbischof erhielt und „Baumeister der Kirche zum Dome“ (fabrice ecclesie Coloniensis magister, rector, provisor et administrator) genannt wurde. Als solche Baumeister kennen wir: Bernard de Castro, Pfalzgraf Stephan, Graf Philipp von Oberstein.

Einen ganz anderen Geschäfts- und Wirkungskreis hatte der technische Werkmeister, welcher ebenfalls vielfach unter dem Namen „Baumeister des Domes“ erscheint. Nach dem Tode des bereits erwähnten dritten Werkmeisters Johann tritt als dessen Nachfolger ein gewisser Rütger an die Spitze des Baues. Gegen die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts treffen wir als obersten Werkmeister den Steinmetzen Michael Lapicida. In einem Actenstücke, durch welches 1398 „Bürgermeister, Rath und Bürger gemeinlich der Stadt Köln“ vor das kaiserliche Hofgericht zu Rottweil geladen werden, erscheint unter den Vorgeladenen Andres, Meister „im Turm“; es ist dies Meister Andreas von Everdingen der noch 1412 als „Werkmeister in dem Doyme zo Coelne“ erscheint. Darauf finden wir Meister „Clais“, das ist Nicolas von Büren als Dombaumeister, und nach ihm erhielt der Gemahl seiner Nichte Sophie, Meister Conrad, die Leitung des Dombaues. Im Jahre 1463 wurde ihm auf der Tagsatzung zu Regensburg das Obermeisterthum für die Steinmetzbruderschaft in dem Gebiete von Niederdeutschland zugestanden. Auf diesem Obermeisterthum beruhte es, daß durch einen Schiedsspruch in Steinsachen zwischen den Steinmetzen und Malern 1491 dem „Doymmeister“ ein gewichtiges Wort eingeräumt wurde. Johannes von Frankenberg scheint damals Dommeister gewesen zu sein. Schon seit dem vierzehnten Jahrhundert nehmen die Steinmetzen in der Dombauhütte eine bevorzugte Stellung unter ihren Zunftgenossen ein, wie der Zunftbrief vom Jahre 1308 zeigt.

(Fortsetzung folgt.)




Unverstanden.
Alle Rechte vorbehalten.
Von W. Heimburg.
(Schluß.)

„Zuerst sah ich nichts; denn mein Auge konnt' sich nicht gewöhnen an die Dämmerung da innen, aber dann – Johannes! Wie bin ich nur herunter gekommen von dem Fenster, und zu dem Bänklein, wo ich mich hernach wieder fand!

Mein Weib – und mein Freund! Er lag auf den Knieen vor ihr, die im Sessel ruhete, hatte ihre Hände gefasset und den Kopf darüber gebeuget – kein Hauch, kein Laut, der sie störete in dem einsamen Hause! Der das Recht dazu gehabt, war ja tief im Walde. Da faßte mich ein finsteres böses Wesen; ich riß das Gewehr von meiner Schulter und legete an auf das Fensterlein, aber dann warf ich jenes weit von mir und barg den Kopf in meine Hände, und die finstersten Stunden meines Lebens senketen sich über mich.

Erst spät ging ich in mein Gemach und lauschte auf ihre Tritte – was ich mit ihr beginnen wollte, war mir selbst nicht klar, ein Zorn hatte mein Herz erfasset, eine Verachtung, daß ich sie mit dem Fuße hätte hinwegstoßen mögen, wie einen Hund. Und endlich hörte ich sie kommen; die Thür des Zimmers that sich langsam auf, und sie stand auf der Schwelle, so schlank, so süß, wie nur jemals; verweint und bleich schritt sie zu mir herüber, und vor mir stehen bleibend, sank sie zu Boden. „Heinrich! Heinrich!“ klang es in mein Ohr, und ihre gefalteten Hände reckten sich empor zu mir. Was sie noch sonsten sagte, verstand ich nicht; die Worte erstarben auf ihren Lippen.

Da sprang ich auf in wildem Zorne und riß sie jäh empor; mit festem Griffe packte ich ihre Hand und führete sie hinaus aus dem Gemache durch die Halle, über die Schwelle meines Hauses. Willenlos folgete sie mir, nur ein schier vergehender Blick brach aus ihren Augen, wie der eines todtwunden Rehes.

Ich sagte nichts und deutete nur mit der Hand den Weg entlang, aber nun verstand sie mich; hoch und stolz hatte sie sich aufgerichtet, das schöne Haupt in den Nacken zurückgeworfen – so stand sie vor mir, als wär' nicht sie, sondern ich schuldig. Ihre Lippen bewegten sich, als wollt' sie sprechen; dann wendete sie sich mit fast verachtungsvoller Geberde und schritt in den dämmernden Abend hinaus – und als sie mir entschwunden, da warf ich das Gewehr über und im wilden Schmerze lief ich die Nacht im Walde umher.

Als ich nach Hause kam im Morgennebel, hatte ich nur den einen Wunsch, sie möge wiedergekehrt sein, schuldig oder nicht; ich lag zu tief in des unseligen Weibes Fesseln. Jobst aber berichtete mir erschreckt, die Frau sei über Nacht nicht daheim gewesen, also daß ich bitter auflachte: „sie wird ein Obdach wohl gefunden haben.“ Doch im selbigen Momente sprengte ein Reiter daher, und ich erkannte an dem isabellenfarbigen Rosse Prinz Christian; da warf ich Jobsten mein Gewehr zu, auf daß kein Unglück geschehe, stemmete meine Hände in die Seiten und sah ihn finster herankommen.

Er streckte mir die Hand entgegen; das Haar hing ihm verworren um die Stirn; unordentlich saßen ihm die Kleider, und bleich und überwacht sah er aus, wie Jemand, der in schwerem Leid die Nacht durchsorget oder sie durchschwelget hat.

„Ich habe mit Dir zu reden, Heinz,“ sagte er tonlos und schwang sich vom Pferde.

„Was zwischen uns zu reden ist, vermag nur ein eiserner Mund,“ entgegnete ich. Er stutzte und sah mich forschend an.

„Ich meine, Du verstehst mich falsch, Heinz; ich will für Dein Weib sprechen –“

Da lachte ich gellend auf. „Mein Weib? Ich wüßte nicht, daß ich annoch eines hätte, und daß ich eines besaß, hab' ich vergessen.“

„Um des Himmels willen, Heinrich!“ schrie er entsetzt, „was soll dieses Gerede? Wie siehst Du aus? – Wo ist Friederike?“

[639] „Das magst Du wohl besser wissen, denn ich,“ erwiderte ich.

Er aber war blaß geworden wie der Tod.

„Fort ist sie,“ rief er, „Du hast –“ Dann brach er ab. „Heinz, Du bist ein roher, ein gefühlloser Gesell,“ schrie er, „Du bist nicht werth, daß sie Dir einen Blick gegönnt; Du hast sie niemalen geliebt.“

Da brach das Lachen wieder von meinen Lippen. „Du magst es freilich besser verstehen,“ entgegnete ich, „bin ich doch kein Höfling und kein Prinz und habe es nicht zu Paris erlernet, wie man seines Freundes Weib verführet.“

Aber er achtete meiner bitteren Worte kaum, schier verzweifelt geberdete er sich, und wie ein Rasender bot er Knechte und Jägerburschen auf, die Frau zu suchen, und jammernd und schreiend lief Jobstens Weib umher, immer dasselbe wiederholend: die Frau habe sich ein Leides angethan; sie sei schon lange so wirr und verstört gewesen und habe zuweilen so arg geschrieen und geweinet.

„Herr,“ jammerte das Weib und fiel vor mir nieder auf die Stufen der Freitreppe, wo ich noch immer stand, als sei ich zu Stein geworden, „Herr, ich überleb's nicht; sie ist in den See gegangen, in den See.“

Mir aber klangen die Worte in die Ohren, die Friederike am Hochzeitsabend gesprochen:

„Dann wäre ich fortgegangen, und Du hättest mich nicht wiedergefunden.“

Warum wollte sie damals fort? Weil sie wähnte, ich könne sie nicht lieben, und doch galt ihr diese Liebe ein Nichts; sie ward treulos bei der ersten Versuchung, so ihr entgegentrat.

Dann packte mich wieder eine wilde Verzweiflung; Gott, wenn es wahr wäre, wenn sie im See läge, bleich und todt!

Ich stürzte die Stufen hinunter; ich wollte sie suchen, aber – was ging sie mich an? Ein Anderer suchte sie ja schon mit aller Liebesangst – sie selbsten hatte mir das Recht dazu genommen.

Ich ging in mein Gemach und begann dorten auf und ab zu wandern; dann und wann streifte mein Blick das Schießzeug, und ich dachte, ob's nicht besser sei, dem elenden Leben ein Ende zu machen. „Um eines Weibes willen, die treulos?“ fragte ich dann, „ist dein Leben nicht mehr werth, denn solchen Preises?“

Ich stieß die Thür zu ihrem Zimmer auf; es stund und lag Alles, als sei sie nur eben hinausgegangen – auf dem Tischlein am Fenster Bücher, die ihr Prinz Christian gebracht, ein Spitzentüchlein, wie sie es so gern über dem Haar trug, und in einem Krystallgläschen ein Waldstrauß, rothe Ebereschen und bunt gefärbtes Eichenlaub; das kleine Spinnrad mit den Elfenbeinverzierungen war zur Seite geschoben; ich meinete, das blasse Händlein an dem feinen Faden zu sehen, den schmalen Fuß auf dem Trittbrett.

„Friederike, Friederike!“ rang es sich aus meiner Brust, „es kann ja nicht sein; es ist nur ein Träumen gewesen, ein entsetzlich Träumen; Du mußt wieder kommen; es muß werden wie früher, nein, besser, schöner noch; was hab' ich Dir gethan, daß Du mich so elend gemacht?“

Aber es blieb still um mich, todtenstill – und so lag ich vor ihrem Stuhle, Stunde um Stunde, und hielt das Tüchlein an meine brennende Wange gedrückt, bis die Dunkelheit herniedersank; nur das Ticken der Uhr mahnte, daß die Zeit nimmer stillstund.

Dann ein Gewirr von Stimmen, das Jammerrufen der Jobstin, und als ich hinausstürzete, da sah ich in dem unstäten Lichte einer Fackel – mein Weib! Prinz Christian trug sie in seinen Armen und legte sie eben auf ein Bänklein, und dorten lag sie seltsam starr und bleich, und von den langen blonden Haaren und den Gewändern rieselte es klar und hell, und eine lange nasse Spur zog sich durch die Haare.

Das Herz stand mir still; ich mußte mich an die Wand stützen, und still und lautlos war es rund umher geworden unter den Menschen, so die Halle fülleten. Dann wollte ich hinüber zu ihr, aber Prinz Christian vertrat mir den Weg und erhob abwehrend die Hand. „Was willst Du noch von ihr?“

Da wandte ich mich zurück; und schritt wieder in mein Gemach. – Johannes, und als das Frühroth hereinbrach, da war ich ein Anderer geworden – Sie sagten ja, ich habe ein Herz von Stein, sie wußten aber nicht, wie weich es gewesen.

Ich fragte nicht einmal, wohin man sie betten wollte – was ging es mich auch an? Man behandelte mich, als sei ich ein Fremdling in diesem Hause; die alten Tanten kamen aus dem Stifte, aber nach mir forscheten sie nicht; ich war ja ein herzloser Mensch, gefühlloser denn ein Stein; ich hatt' sie verkümmern lassen an meiner Seite – ich hatt' sie in den Tod gejagt.

Die Nacht vor dem Begräbniß aber schlich ich mich in den Saal, da man sie aufgebahret hatte; hell schien der Mond durch die Fenster und zeigte mir das Antlitz, so ich mehr geliebt als mein Leben, und das itzo im kalten grauenvollen Todesschlummer erstarret war; ich wollte die feinen weißen Händlein ergreifen, die gefaltet auf dem stillen Busen ruheten, aber es durchschauerte mich wiederum ein unfaßbar Grauen; die Hand war ja treulos gewesen, ein Truggebilde das holde Weib, Lug und Trug ihre Liebe, Lug und Trug die Freundschaft, Lug und Trug die ganze Welt.

Ein halberstickter Fluch kam über meine Lippen, und dröhnenden Schrittes verließ ich das Todtengemach; schallend flog der Hall der Thür durch das stille Haus. Dann pfiff ich meinen Hunden, warf das Gewehr über und schritt in die Nacht hinaus, ruhelos, ruhelos. Wie oft seitdem bin ich so gewandert in langen Nächten, bei süßem Mondenschein zur Sommerzeit, bei schauerlichem Sturm und Unwetter des Herbstes, immer das bleiche Frauenbild vor Augen!

Den Morgen aber, da man sie zur Ruhe brachte, tobte ein Sturm daher, daß die Knechte, so den Sarg trugen, kaum zu stehen vermochten und die halbentlaubten Bäume sich ächzend bogen unter der Windsbraut Gewalt; in den Lüften wirbelte der erste großflockige Schnee des kommenden Winters und streute seine leuchtenden Sternlein als weiße Blumen auf das dunkle Grün der Tannenkränze, mit welchen die Jobstin den Sarg geschmücket. Ich hatte die Stirn an die Scheiben meines Fensters gedrücket und schauete dem kleinen Zuge nach, wie er anitzt durch den Wettergraus dahin schwankte, aber mein Herz fühlete nichts und konnt' nicht mehr schreien und jammern; es war gestorben, Johannes, so kalt und todt, als jenes dort im Sarge. – Der Hund winselte neben mir; das unvernünftige Thier fühlete gar wohl, was es verloren, aus der Halle aber scholl das Schreien und Klagen der Frauen.

Da raffte ich mich empor, als der letzte Mann des Grabgeleites hinter den Bäumen verschwunden war, hieß mein Pferd satteln und ritt auf das Schloß, als ich aber Prinz Christian zu sprechen heischte, da ward mir der Bescheid, daß er in aller Frühe gereiset sei, es wußte aber Keiner wohin; nur ein Brieflein, so Seine Durchlaucht für mich zurückgelassen, sei eben zu mir gesendet. Da wandte ich mich um, und ein spöttisch Lachen kam mir auf die Lippen, „so ist's recht,“ sagete ich mir, „treulos und feig, und der ist erlauchten Blutes!“

Die Leute aber, denen ich begegnete, wichen mir aus und blickten mich schier entsetzt an, und ein jung Dirnlein hört' ich sagen:

„Da siehet man, was eines Mannes Treue gilt; vor einer Viertelstund ist die Frau eingesenket, und itzo reitet er dahin, als sei ihm nichts Böses geschehen – Mutter, ich nehm' keinen Mann.“

„Gott soll Dich behüten vor solch einem Unhold,“ war die Antwort der Alten.

Daheim aber öffnete ich den Brief. „Es ist das Beste“, hieß es darinnen, „es bleibet Alles zwischen uns für jetzt unausgesprochen; denn annoch würdest Du es nicht ertragen, die Wahrheit zu hören. Ich gehe, dieweilen ich mich nicht mit Dir schlagen will. Auch itzo noch Dein aufrichtiger Freund –“

Das zu glauben, wäre wohl mehr gewesen, als von mir zu verlangen stund.

Nach Jahren erst führete mich der Zufall an Friederikens Grab; an jenem Tage war es, an dem ich sie einst heim geholt. Ich streifte umher, verzweifelter denn jemalen, ich war ein verlassener, finsterer Mann, den die Menschen flohen; hatten doch die bösen Zungen wer weiß welche Märlein von mir herumgetragen, die mich als Ungeheuer, als einen Wütherich ausmaleten.

– Unter einer uralten Eiche hatte man sie gebettet; rings umher war Waldesrauschen, Waldesfrieden und feierliche Einsamkeit; schmucklos und einfach war der aus Steinen errichtete Hügel, gegenüber dem Grabe aber hatten sie einen Durchhau gemacht, und in dem grünen Rahmen der Zweige erschien fern das herzogliche Schloß, und die Fenster leuchteten und blitzten herüber, als grüßeten [640] sie das einsame Grab, als wollten sie eifersüchtig über seinen Frieden wachen.

„Auch im Tode noch!“ murmelte ich und wandte mich bitter lächelnd ab.

Prinz Christian kehrete erst nach Jahren wieder heim, als ich zwar körperlich noch jung, aber ein Greis an meiner Seele geworden. Er zehret, Johannes, solch ein Jammer; er macht alt vor der Zeit.

Der Prinz trachtete mit mir zu sprechen; ich wies ihn ab, maßen mein Herz vor Kummer und Zorn mich leichtlich hinreißen kunnt', die Ehrfurcht, die ich ihm als meines durchlauchtigsten Herzogs Bruder schuldig, zu verletzen; meines Herzogs Bruder – weiter war er nichts mehr für mich. – Doch nicht einmal, hundertmal wiederholete er den Versuch, aber ich wußte ihm dennoch auszuweichen.

Und wieder nach Jahren warf ihn ein hitzig Fieber danieder, und da sie mir sagten, es gehe mit ihm zum Sterben, ich möge kommen, da ging ich und stand an seinem Bette – nicht liebevoll und vergebend, nein, als ein Richter.

Und da bekannte er mir, daß er sie still geliebet, schon ehe ich sie gekannt, doch daß sie niemalen davon erfahren; nun habe er sie wieder erblicket als mein Weib und habe entdecket, sie sei nicht glücklich, und da sei ihm die Leidenschaft arg in Kopf und Herz gestiegen, also daß er nichts Anderes mehr gesehen als sie und ihr kummerschweres Antlitz. Und da er sie eines Tages in Thränen und Weh gefunden, habe er ihr, nicht mehr Herr seiner Leidenschaft, seine Liebe gestanden.

„Du weißt, Heinz, welchen Tag ich meine,“ setzte er hinzu, und sein farbloses Gesicht ward noch bleicher. „Sie aber wies mich ab mit harten Worten, sie liebe nur Einen, sagte sie – Dich Heinz, Dich Heinz!“ Er richtete sich in den Kissen empor und fassete meine Hände, „Dich allein, Heinz!“ wiederholte er mit vergehendem Athem, ihr Gram, ihr Kummer – sie meinte, Du liebtest sie nicht; armer Heinz, Ihr habt Euch nimmer verstanden – unverstanden! Das ist hart.“

Dann sank er matt in die Kissen zurück, und nach einer Weile flüsterte er nochmalen:

„Vergieb mir, Heinz, um ihres Angedenkens willen! Sie hat Dich, Dich allein geliebet.“

Ich saß bei ihm und hielt die erkaltenden Hände, bis sich der ewige Schlummer auf seine müden Augen gesenket. Von seinem Sterbebette aber eilte ich zu ihrem Grabe – Johannes, weißt Du, was Reue ist? Mag Gott es Dir ersparen! –

Es ist spät! die Dämmerung sinket hernieder; draußen schweiget schon lange das Lied. Es schauert kalt durch’s offene Fenster – ich bin alt.

Vorbei Liebe, Haß und Leiden – vorbei, Johannes!

Kommst Du einmal in unsere Berge, so kehre nicht bei mir ein, wenn ich noch leben sollt', behalte mein jugendfrisches Bild im Gedächtniß! Es ist besser so. Aber gehe nicht vorüber an ihrem Grabe, Du weißt, an dem Tannengestelle unter der Eiche! Und wenn Du die Worte liesest auf dem Täflein, so gedenke ihrer, und meiner – meiner, Johannes, als Eines, der es nimmer verstund, glücklich zu sein.

Geschrieben im rothen Hause.

Dein Freund
Heinrich Mardefeld.“

Nun war der Laut meiner Stimme verhallt und das Gemach erfüllte rosiger Abendschein, noch ebenso rosig, wie vor langer, langer Zeit, als ein einsamer unglücklicher Mann diese Zeilen aufschrieb. Der goldene Schein lag draußen auf den Wipfeln der alten Linden und färbte purpurn die schlichten Wände des kleinen Gemaches, und wie ein rother verklärender Schleier wob es sich um die weiße Mädchengestalt in meinen Armen.

„Friederike!“ sagte ich leise und küßte die weinenden Augen.

Wer von uns Beiden zu dem Andern gekommen ? Ich weiß es nicht mehr.

„Ich war schuld,“ sagte sie endlich nach langem Schweigen, „ich war bös und trotzig.“

„Nein, nein, ich; ich hätte Dich doch ehrlich fragen können,“ entgegnete ich.

„O, ich dachte, Du wärst mir nicht mehr gut, weil Du nicht ein Mal geschrieben hast.“

„Ich durfte ja nicht, Liebchen, ich hatte es dem Vater versprochen –“

„O Ulrich, wie unglücklich war ich doch!“

„Und ich erst, Frieda!“

Und wie ich ihr nun so tief in die blauen verweinten Augen sah, da las ich ein süßes Versprechen darin: Nie, niemals will ich wieder stolz gegen Dich sein. Und in meinem Herzen versprach ich ihr auch etwas, und Beide haben wir es gehalten, dieses stumme Versprechen, bis zu dieser Stunde, und schon lag vor einem halben Decennium der silberne Myrthenkranz auf der Stirn meines Weibes.

Auf dem Heimwege aber sind wir noch an das einsame Grab getreten, und Frieda hat einen Tannenkranz auf den epheubewachsenen Hügel gelegt. Hand in Hand saßen wir dort auf dem kleinen Bänkchen, und über uns flüsterten und rauschten die Blätter im Abendwinde, und aus dem Rauschen klang es wunderbar an unser Ohr, bald Jubel und Weh, bald Klagen und Jauchzen; der Abendwind erzählte uns von Denen, die hier schlummerten, und die er gar gut gekannt, von der holden, unglücklichen Frau, von dem biederen, sie über Alles liebenden Manne, von einem unendlichen Schatz des süßesten Erdenglückes, der sich unter diesen Steinen barg, weil jene Beiden es nicht verstanden, ihn zu heben.

Am Gatterthor kam uns der Onkel entgegen; schon sah der Mond über die Berge.

„Nun?“ fragte er, „hast Du die Geschichte gelesen?“

„Ja, Vater!“ sagte ich. Und er nickte, lächelte erst, drückte uns die Hände und küßte sein Töchterlein auf die Stirn.

Ich wußte nun, weshalb er mir jene Blätter gegeben, jene alten, vergilbten Blätter.




Thier-Charaktere.

Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
Talentvolle Vorstehhunde.

Wie lebhaft weckt das Deicker’sche Bild in mir die Erinnerung an meinen unvergeßlichen Bruno glorreichen Angedenkens! Ja, dasselbe Bravourstück, wie das des Musterhundes aus der Illustration meines waidmännischen Freundes, hat gar manchmal mein braver, langjähriger Gefährte auf der Geflügeljagd bestanden.

Bruno war von echtem deutschen Stamme und hatte die Vielseitigkeit seiner Rasse. Er bethätigte seine Anhänglichkeit an seinen Herrn in glänzendem Maße, indem er seine Heimath – Staden in der Wetterau – von Darmstadt aus, wo er meine Spur während eines Platzregens verloren hatte, vierzehn Stunden Weges weit in kurzer Zeit wiederfand, nachdem er den Schienenweg in verschlossenem Raume von Friedberg nach der hessischen Hauptstadt zurückgelegt. Er ist trotz seiner reinen deutschen Abkunft mein flüchtigster, temperamentvollster Hühnerhund gewesen, von jener hochläufigen Art, deren Suche und Ausdauer mit der des englischen Pointer wetteifert, deren Vielseitigkeit aber die immer beschränkteren Eigenschaften des letzteren weit überragt.

Noch gedenke ich des Tages, wo Bruno die erste praktische Probe auf der Hühnersuche ablegte, sein „erstes Feld“ bestand. Ich, damals noch ein Jüngling, sollte von dem Zöglinge auf das Schlagendste an diesem Tage belehrt werden. Das Wetter war windig, weshalb die Feldhühner nicht gut „hielten“. Als der Hund auf das erste „Geläufe“ (Spur) von Hühnern kam, stand er einen Augenblick mit hoher Action, um sogleich in einem Bogen fortzustürmen und im Nu auf etwa fünfzig Schritte wieder nach mir herumzufahren und gleichsam in eine Bildsäule sich zu verwandeln. Nicht durch das Gebahren des Thieres, sondern durch mein lautes Rufen und corrigirendes Hinzulaufen nach demselben stand die zwischen ihm und mir liegende „Kette“ Hühner auf, und das feurige, noch unerfahrene Thier eilte den

[641] 

Vorstehhund. Originalzeichnung von F. Deiker.

[642] Herausstreichenden nach. Es war unbesonnen, daß ich den Hund strafte. Noch einmal wiederholte sich dieses Vorkommniß bei der rasch wieder aufgefundenen Kette, weshalb ich das verkannte, unverstandene Thier abermals hart schlug.

Ich gewahrte damals bei der ersten Führung meines Schülers, wie Faust am Pudel:

„Von Geist nicht eine Spur,“

denn ich wähnte:

„Alles ist Dressur.“

Befangen im Dogma der alten nimrodischen Schultyrannen, hatte ich Kurzsichtiger meinem braven Bruno so das seltenste Talent eines Hühnerhundes, das sogenannte Coupiren oder abschneidende Umkreisen, für immer ausgeprügelt. Aber dafür nahm der Hund mir schließlich durch sein festes Auftreten gänzlich alle Glaubensseligkeit an die Unfehlbarkeit der sogenannten Parforcedressur. Bald lag hinter mir „in wesenlosem Scheine“ der ganze Unsinn aus der Rumpelkammer jägerischer Ueberkommenheiten, und ich kehrte meinem Thiere gegenüber von nun an den freundlichen, humanen Führer statt des einseitigen kurzsichtigen Drängers und Gänglers heraus. Sein „Appell“ – ah! wie brachte er mir den Begriff davon und die einfache Kunst, denselben zu erwecken und zu fördern, bei! Das Thier belehrte mich, daß Gehorsam beibringen nichts Anderes bedeute, als durch liebevollen, häufigen Umgang Vertrauen und Anhänglichkeit zu erwecken, welchen dann natürlich Willigkeit und Folgsamkeit auf dem Fuße folgen.

Bald hatte Bruno inne, daß ich auf manchen Ausgängen Vogelnester zur Beobachtung aufsuchte, und rasch war er der eifrigste und beste Finder derselben. Ein Gleiches lernte er an meiner Schonung junger Häschen, an welchen er, wie noch mehrere meiner Hühnerhunde, die ausgesprochenste Großmuth übte. Er beleckte die Kleinen sogar, als wenn er sie liebkosen wolle. Auch selbst schon aus dem Lager rutschende Häschen machte er nie Miene zu schnappen: das kluge, überlegende Thier sah sie als nicht jagdbar an. Ebenso war er behutsam und schonend gegenüber den aufgefundenen Nestvögeln. Mit wahrhaft verächtlichen Blicken sah er dem „herausfahrenden“ Hasen nach, oder er ignorirte diesen förmlich, wenn er im „Ausmachen“ von Feldhühnern oder der Schnepfe auf der Waldsuche begriffen war. Wie der „ferme“ Hund auf unserem Bilde dem eben aufgestandenen „Lampe“ wohl lebhaft, aber mit bezähmter Leidenschaft nachblickt, weil er sich seines Apportirdienstes wohl bewußt ist, so sah mein Bruno, ein eben erlegtes Huhn im „Rachen“ (Maul), oft genug den neben und um ihn aufstehenden Hühnern nach, dabei noch obendrein das „Einfallen“ derselben beobachtend.

Talentvolle Vorstehhunde überragen in der Praxis sogleich ihre geistlosen Cameraden von gröberem Sinne und plebejischerer Natur. Das Talent ist eben auch in der Thierwelt aristokratisch. Deswegen ist es auch der Grundsatz und das Bestreben jedes einsichtsvollen, thier- und naturkundigen Waidmannes, nur beanlagte Hühnerhunde heranzuziehen und zu führen. Der feinsinnige Jäger will auch einen analogen Hund, an dessen „Arbeit“ er sein waidmännisches Vergnügen nur erhöht sieht. Und hierdurch gerade unterscheidet er sich so entschieden von dem dilettantenhaften Sonntagsjäger, der sich mit dem gemeinen, talentlosen Köter herumtreibt. Ein guter Hund bildet einen guten Jäger. Vortreffliche Leistungen ermuntern, spornen einander an. Aber Ungeschicklichkeit des Jägers schädigt wiederum ein nicht daran gewöhntes Thier auch um so empfindlicher.

An Bruno erlebte ich einmal Folgendes: Nach einer schlaflosen Nacht stand ich vor Tag auf, um Hühner zu „verhören“, das heißt in der Absicht, deren Aufenthalt an ihrem „Rufen“, ihrem Aufstreiche und alsbaldigen Einfallen in der Morgendämmerung zu erforschen und sie sodann bei vorgerückter Zeit mit dem Vorstehhunde anzusuchen. Dies geschah auch, und alsbald stand Bruno vor der Kette in gewohnter Sicherheit und Meisterschaft. Doch ich fehlte das günstig aufstehende „Volk“ zweimal; ich fehlte gleich darauf noch mehrmals die in einer Kleeflur zersprengten, von dem braven Hunde Stück für Stück „ausgemachten“ und einzeln herausstreichenden Hühner. Das war dem Hunde angesichts seiner tadellosen Arbeit ein waidmännisches Verbrechen, und er lohnte es mir endlich mit einer gleichen auffallenden That; er sprang förmlich ein und jagte die Hühner im Unmuthe heraus. Ja, zuletzt bei einer wiederholten Ungeschicklichkeit meinerseits fing er an, vor mir zu heulen. Welch eine sprechende That der Rüge, des Mißbehagens!

Erwähnen muß ich noch einen merkwürdigen Seelenzug, der an einem andern Hunde beobachtet wurde; in ihm bethätigte sich eine Regung, welche der Mensch gewöhnlich nur für sich in Anspruch zu nehme pflegt: das Gewissen. Mein verstorbener Vater hatte eine Hündin, Bella mit Namen, die Mutter Bruno's, welche es bei ihrem sanften Herrn gut hatte. Das gab Veranlassung, daß Frau Bella eine Feinschmeckerin wurde, und dieses sociale Laster bewegte die in Haus und Hof wie auf der Hühner- und Schnepfensuche sonst so Tadellose, eine Diebin zu werden. Sie stahl die Hühner- und Enteneier. Aber wie verrieth jedesmal nach vollbrachter That die Ruthe, dieser sprechendste Theil des Hundes, mit der ganzen Haltung des Körpers das, was in ihrem Innern vorging! Gekrümmt nach unten stand die Ruthe, und das Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an, so, als ob es das Licht des Tages scheute. Dies geschah aber nicht etwa nach schon empfangener Rüge oder gar Bestrafung, nein, es machte sich stets geltend, so oft man die Bella von der Stube aus auf der Dieberei beobachtete. Der Pfiff aus dem Fenster verwandelte Madame Bella plötzlich in eine erbärmliche Büßerin. Verlegenheit, Scham, Angst spiegelte sich in der kriechenden, sich windenden, ertappten Sünderin, die mit den Augen blinzelte, den „Behang“ rückwärts legte und mit der Ruthe in kurzem, abgebrochenem Wedeln beichtete.

Zum Schluß noch ein Beispiel von der Charakterstärke eines Hühnerhundes!

Mein Caro war es, der auf einem Hasentreiben der Spur eines von mir angeschossenen Hasen folgte, denselben zuletzt in einem ungefähr eine Viertelstunde fernen Wäldchen fing und sofort zu bringen sich anschickte. Holzhauer gewahrten den Hund mit dem gefangenen Hasen und ließen sich zu dem Versuch verleiten, die Beute dem Thiere abzujagen. Caro, ein gewaltiger Hühnerhund deutscher langhaariger Rasse, der bei Bedrohung auf den Mann ging, wich anfangs, seines Dienstes eifrig eingedenk, aus, setzte sich aber gegen einen ihn mit einem abgebrochenen Aste bedrängenden Holzhauer zuletzt entschieden zur Wehr, biß ihn empfindlich, sodaß der Dränger und die übrige Rotte Holzhauer zurückwichen. Der tapfere Hund galoppirte nun mit seiner Beute großartig davon und brachte vor der Fronte der applaudirenden Schützenlinie seinem hochbefriedigten Herrn den Hasen.

Caro war ein Zögling meiner späteren Abrichtungsmethode, die dem Thiere von der zwölften Woche an durch frequente Beschäftigung mit ihm Alles spielend beibringt. Schon der sechszehnwöchentliche Hund brachte das Verlorene auf weite Strecken und suchte und fand das Verborgene in allen möglichen Verstecken, sogar auf Baumästen. Caro hatte nie einen Schlag von mir bekommen und war der beste Apporteur, den ich je besessen; er ging halbe Stunden Weges, Verlorenes suchend, mit sicherem Erfolge zurück. Bei seiner für einen Hühnerhund auffallenden Stärke (er maß reichlich siebenundfünfzig Centimeter Höhe) war es ihm ein Leichtes, einen Hasen in anhaltendem Galopp über Gräben und sonstige Hindernisse hinweg, den Fuchs, welchen er tapfer würgte, in schnellem Trabe zu bringen.

Solche Bravour entwickeln aber nur geistig und körperlich hervorragende Hühnerhunde, und ich wende mich deshalb am Schlusse dieser Plauderei an alle Waidgenossen und Thierfreunde mit der Befürwortung der praktischen Regel: nur begabte Thiere auszubilden.

Adolf Müller.




Blätter und Blüthen.

Die Dampfkalesche (richtiger Dampfomnibus), welche zur Zeit in Berlin so viel Aufsehen erregt, ist zwar keine ganz neue Erfindung, aber in ihrer vollendeten Gestalt von so bestechenden Vorzügen, daß man wohl nicht irre geht, wenn man ihr eine bedeutende Zukunft prophezeit. Es ist ein Dampfwagen, der in den verschiedensten Größen hergestellt, ohne Schienen auf jeder beliebigen Straße als Last- oder Personenwagen benutzt werden kann und mit dem Vorzuge einer leichten Lenkbarkeit denjenigen großer Schnelligkeit verbindet. Er wurde vom Fabrikbesitzer A. Bollé in Le Mans ursprünglich für seinen Bedarf construirt und bereits vor dem Jahre 1876 benutzt. Der Erfinder legte damals den 200 Kilometer betragenden Weg (Chaussee) von Le Mans nach Paris in 18 Stunden zurück, doch kann er mit seinem Wagen in der Ebene und auf weniger [643] belebten Straßen sogar eine Geschwindigkeit von 20 bis 25 Kilometer in der Stunde erreichen. Schon damals bewegte sich der Wagen auf den am dichtesten bevölkerten Pariser Straßen mit einer solchen Sicherheit, daß er die allgemeinste Bewunderung erregte. Einer der Pariser Akademie der Wissenschaften vorgelegten und in deren Schriften abgedruckten Beschreibung des Wagens entnehmen wir folgende Einzelnheiten. Der (ursprüngliche) Wagen wog mit 12 Passagieren und seinen Vorräthen an Wasser und Kohle 4800 Kilogramm, von welchem Gewicht die Hinter- und Triebräder nahezu Dreiviertel, die beiden etwas kleineren Vorderräder den Rest tragen. Letztere sind in ihrer Bewegung sehr frei und können durch eine einfache Lenkvorrichtung sogleich senkrecht auf jeden beliebigen Drehungsradius eingestellt werden, sodaß man mit großer Leichtigkeit ausweichen und sogar ziemlich kurz umdrehen kann. Es wird dies zugleich dadurch erleichtert, daß die Last weniger auf den Achsen als unmittelbar (durch ein Federgestell) auf den Rädern ruht. Hinten am Wagen befindet sich ein aufrechter Field'scher Röhrenkessel mit Schnellfeuerung, während die vier Triebcylinder unter dem Wagen zwischen den Rädern liegen. Alle Theile des Wagens und der Maschine sind aus Stahl construirt.

Vorn am Kutschersitz vereinigen sich die Lenkvorrichtungen derart, daß der Kutscher den Dampfzufluß durch Pedale, die Räderstellung mit den Händen regiert. Er kann sogar, indem er sich einer sogenannten Stephenson'schen Coulisse bedient, rückwärts fahren. Das Steuer, welches auf die Vorderräder wirkt, befindet sich beständig in seiner rechten Hand; es ist an die Stelle der Zügel getreten. Die linke kann, unabhängig von der Geschwindigkeit der Maschine, je nach der Beschaffenheit des Weges die Gangart regeln. Das Manometer befindet sich ebenfalls unter seinen Augen, während die Kesselbedienung einem hinten postirten Heizer zufällt. Von zehn bis zehn Kilometer etwa muß der Wasservorrath ersetzt werden, was mittelst einer Dampfpumpe sehr schnell geschieht. Der Kohlenverbrauch beträgt bei dem zur Beförderung von zwölf Personen dienenden Wagen und bei einer Leistung von circa dreizehn Pferdekraft pro Stunde anderthalb Franken. Wie sich sowohl in Paris, wie bei der verbesserten Einrichtung, mit welcher man in Berlin Probefahrten anstellt, gezeigt hat, arbeitet die Maschine fast geräuschlos und verursacht bei den begegnenden Pferden keinen Schrecken. Die Lenkung geht, da der Dampfomnibus weder Langbaum noch Gespann besitzt, entschieden leichter von statten, als bei unserm gewöhnlichen Straßenomnibus; der Wagen bleibt mit überraschender Präcision stehen, geht vor- und rückwärts, weicht aus und rangirt sich in einer Reihe anderer Wagen.

Den Bau dieser Wagen hat die Wöhlert'sche Fabrik in Berlin übernommen, sie beabsichtigt, nicht nur Omnibus für zwanzig bis dreißig Personen, sondern auch Lastfuhrwerk bis zu achthundert Centner Tragkraft herzustellen; auch sind bereits trotz der ansehnlichen Preise (zehn- bis fünfzehntausend Mark) sehr zahlreiche Bestellungen eingegangen. Ein nach ähnlichen Principien hergestellter Dampffrachtwagen ist übrigens seit einigen Monaten bereits in Chemnitz in Betrieb und hat sich auf den verschiedensten gepflasterten und chaussirten Wegen, zum Theil mit erheblicher Steigung, vortrefflich bewährt. Allem Anscheine nach liegt in dieser Erfindung der Keim einer längst angestrebten Umwälzung unseres Straßenfuhrwesens.




Der Fischfang mit Kormoranen in China. Die große internationale Fischerei-Ausstellung, welche im Sommer dieses Jahres zu Berlin über eine halbe Million Zuschauer angelockt hat, brachte, wie durch die Zeitungen wohl allgemein bekannt geworden, auf dem Teiche daselbst unter Anderem einen Kahn aus China; eine lebensgroße Puppe darauf versinnbildlichte den rudernden chinesischen Fischer, und auf dem Bord des kleinen Fahrzeuges hatte ein Dutzend ausgestopfter Kormorane[3] Platz gefunden.

„Diese Vögel werden von den Chinesen zum Fischfang benutzt.“

Das war die einzige Erklärung, die uns damals zu Theil werden konnte. Durch einen glücklichen Zufall ist uns jetzt aber der in Shanghai gedruckte Katalog der chinesischen Abtheilung zu Händen gekommen, der einen so interessanten Bericht über diese Fischerei giebt, daß seine Mittheilungen hier Platz finden mögen.

Am besten werden, sagt der Bericht, die Kormorane in T'anghsichên, einer kleinen Stadt fünfzig Li nordwestlich von Hangchow, aufgebracht. Der Volksglaube schreibt den Bewohnern dieser Stadt den Besitz eines Geheimnisses zu, das ihnen ermöglicht, die Vögel besonders geschickt zu dressiren. Der gewöhnliche Name für dieselben ist Yü-ying (Fischfalke), oder Yü-ya (Fischkrähe). In Büchern werden sie mit dem Namen Lu-tsu bezeichnet.

Zweimal im Jahre, im ersten und achten Monat, legen die Weibchen drei bis acht Eier von grüner Farbe von der Größe eines Enteneies. Das Eiweiß darin ist grünlich, und die Eier werden ihres abscheulichen starken Geruches wegen nie genossen (das will bei einem Chinesen viel sagen). Nur die im ersten Monat gelegten Eier werden zum Ausbrüten zurückbehalten. Hühner müssen das Brütgeschäft übernehmen, da die Kormoranweibchen durchaus unzuverlässige Mütter abgeben. Nach einem Monat des Brütens schlüpfen die Jungen aus. Sie können dann noch nicht auf ihren Beinen stehen und sind gegen Kälte besonders empfindlich. Man nimmt daher die Jungen von den Hühnern weg, legt sie in Körbe, die mit Baumwolle und Wolle gefüllt sind, und birgt sie an einem warmen Orte. Im achten Monat, wo, wie bemerkt, die Vögel auch legen, ist die Witterung zum Brüten zu kalt; die Eier werden daher entweder weggeworfen oder armen Kindern geschenkt. Die jungen Vögel füttert man zuerst mit einem Brei von Bohnenhülsen und Aalfleisch. Sind Aale nicht zu haben, so wird das Fleisch eines Fisches, des Ophicephalus niger, dem Vogel in kleinen Kugeln eingegeben. Nach einem Monat fangen die Federn an zu wachsen; dann erhalten die Vögel mehr Fischfleisch und weniger Bohnenhülsen. Nach Ablauf des zweiten Monats werden die ziemlich herangewachsenen Jungen zu Markte gebracht und die Männchen zu vier bis acht Mark, die Weibchen für die Hälfte verkauft.

Die Vögel werden von jetzt an mit jungen Fischen, die man ihnen zuwirft, gefüttert. Wenn sie vollständig ausgewachsen sind, wird ihnen das Ende einer Schnur um ein Bein gelegt, das andere Ende derselben aber an dem Ufer eines Teiches oder Canales festgebunden. Die Vögel werden hierauf gutwillig oder mittelst einer Bambusstange in das Wasser getrieben, und der Züchter pfeift dazu eine besondere Melodie. Man wirft ihnen kleine Fische zu, auf die sie sich gierig stürzen; denn während der Zeit der Abrichtung wird ihnen die Nahrung geschmälert. Mit einem anderen Pfiff ruft der Züchter alsdann die Vögel aus dem Wasser; folgen sie nicht sofort, so werden sie mittelst der Schnur an's Land gezogen. Die eingefangenen Fische geben sie ab, und erst nachdem die Lection vorüber, erhalten sie ihre Fischmahlzeit auf dem Lande. Diese Dressur dauert ungefähr einen Monat (wir fügen hinzu, daß nur die Geduld eines Chinesen im Stande ist, die Dressur des freßgierigen Vogels zu Ende zu führen); dann avanciren sie zur Dressur für den Fischfang von Böten aus. Nach vier bis fünf ferneren Wochen sind die Vögel so abgerichtet, daß man der Schnur entbehren kann.

Alte, gut abgerichtete Vögel begleiten nun die Jungen und erleichtern das Anlernen derselben. Lernen einige Exemplare durchaus nichts, so werden sie – wie der Bericht sich höflich für todtschlagen ausdrückt – bei Seite geschoben. Nach vollendeter Dressur füttert man die Vögel spärlich mit Fischen; ein kleiner Ring aus Hanfgarn wird um ihren Hals gelegt, um das heimliche Naschen zu verhindern. Jetzt sitzen zehn bis zwölf Kormorane auf dem Rande des Bootes und, gelehrig wie die Hunde, stürzen sie auf einen Pfiff des Fischers in die Fluthen. Sie tauchen unter; ihr scharfes Auge erspäht den Fisch; der hakenförmige Schnabel nimmt ihn gefangen, und die Beute wird treulich – dank dem hanfenen Ringe! – dem Herrn apportirt. Hat dieser oder jener Kormoran den Schnabel einem Fisch in die Flanken geschlagen, der stark und kräftig genug ist, den Feind abzuschütteln, so kommt ein anderer, ein dritter Vogel hinzu; sie packen den Unglücklichen mit vereinten Kräften, und vereint heben sie ihn zum Boot, um ihn als Beute abzuliefern. Allerdings hat auch der Kormoran seine Launen: manchmal fällt es ihm ein, sich für einen freien Vogel zu halten; er verweigert den Gehorsam, doch – der arme Schlucker! Ihm bindet der Fischer die Beine zusammen und zieht ihn mit einem Haken durch das Wasser in's Boot zum Arrest – und dann legen sich seine Freiheitsgedanken.

Nachdem die Vögel zwei bis drei Stunden gefischt haben, dürfen sie in's Boot zurückkehren und sich ausruhen. Abends wird der ominöse Ring gelockert oder ganz weggenommen. Dann erhalten die Vögel die gnädige Erlaubniß, für eigene Rechnung zu fischen, oder sie werden gefüttert, das heißt: sie werden, wie bei uns die Gänse, genudelt. Der Fischer nimmt die Vögel der Reihe nach an dem Oberschnabel, füllt ihren Rachen mit einer Handvoll kleiner Fische und einem Kloß aus Bohnenhülsen und drückt dann mit der Hand die Ladung langsam den Hals hinunter. Der Vogel verdreht dabei die Augen zum Erbarmen, aber kaum ist der Kloß im Magen, so reißt er schon wieder den Schnabel auf und drängt sich an das Knie des Fischers, um schleunigst einen zweiten Bissen zu erhalten.

Ein Kormoran kann fünf Jahre dienen; dann verliert er seine Federn und stirbt. Ein Paar gut abgerichtete Kormorane kostet sechszig, ein Männchen allein sechsunddreißig bis zweiundvierzig Mark; die Weibchen legen, wenn sie ein Jahr alt sind, zum ersten Male.

C. F. Liebetreu.




Kriegskämpfer und -Invaliden in Bedrängnis. (Schluß der „Zweiten Folge“.)

18) Tapezier und Pionnier gewesen. Wieder Einer von den nicht Wenigen, welche, trotz ihrer braven Dienste, ihrer Verwundung im Kriege und bittern Noth in Folge des Kriegsdienstes, von der Pensionswohlthat ausgeschlossen sind, weil sie die Meldungsfrist versäumt haben. Der Mann, dem 4. Magdeburgischen Pionnier-Bataillon angehörig, wurde am 26. August am linken Oberschenkel verwundet, kehrte aber nach fünfwöchentlichem Lazarethlager zu seiner Truppe zurück, die eben vor Paris lag. Dort platzte ihm durch Ueberanstrengung die Muskelhaut am rechten Kniegelenk; trotzdem wohnte er, auf den Ausspruch des Arztes hin, mit in Binden gewickeltem Beine dem Feldzug ohne Unterbrechung bis zu Ende bei, kam aber mit einer zwei Faust dicken Geschwulst am Kniegelenk nach Hause. Im Vertrauen auf seine sonstige Gesundheit ging er wieder an sein Geschäft. Das Beinübel verschlimmerte sich jedoch und machte ihn endlich ganz arbeitsunfähig. Seine Bitte an das betreffende Bezirkscommando kam, wie bereits gesagt, zu spät; er erhielt, als gänzlich unbrauchbar im Dienst, seinen Abschied. All sein Hab und Gut fraßen die Cur und die Nothdurft, und das Letzte wurde ihm abgepfändet. Zu dem Muskelbruch, aus welchem sich nun Knochenstücke absonderten, kamen noch Brustleiden und rheumatische Schmerzen. Und in diesem Zustande soll der Mann sich, seine Frau und drei Kinder mit Arbeit ernähren! Nur die wohlthätige Fürsorge eines edlen Porcellanfabrikherrn in Moabit rettete bis jetzt die Familie vor dem Untergange. Hier thut Hülfe dringend noth. Wenn dem Mann zu seiner Genesung [644] verholfen und dann eine Stelle als Verwalter oder Portier herrschaftlicher Häuser verschafft würde, wobei er sich als geschickter Tapezier sehr nützlich machen würde, so könnte auch er sich den Seinen wohl noch lange erhalten.

19) Eine verlassene Krieger-Wittwe. Vor uns liegt das pfarramtlich beglaubigte Bittgesuch der Wittwe eines Kriegs-Invaliden, welcher in Frankreich verwundet worden und an den Nachwehen der erhaltenen Wunden gestorben ist. Die beklagenswerthe Frau, der man die Pension von fünfzehn Mark monatlich seitdem entzogen hat, heißt: Kunigunde Schlichter; dieselbe wohnt mit ihren vier Kindern in bitterster Noth zu Schoppershof bei Nürnberg und verdient, nach dem erwähnten Zeugniß, die Unterstützung wohlthätiger Vaterlandsfreunde. – – In Nordamerika bezieht bekanntlich jedes Kind eines im Kriege gefallenen Kämpfers Pension bis zu bestimmtem Alter!

20) Ein invalider Zimmermann. Bei Beaumont in die linke Hüfte verwundet, konnte der Mann in seinem Handwerk nicht wieder arbeiten; er erhält 21 Mark Pension und besitzt auch den Civilversorgungsschein, aber ohne einen Dienst erlangen zu können. Eine schwere Herzkrankheit seiner Frau stört ihn im sonstigen Erwerb. Giebt es keine Stellung für den Mann, der eine gute Handschrift schreibt und die Prüfung für das Steuer- und Postfach bestanden hat?

21) Ein preußischer Musketier in Gohlis bei Leipzig. In der 4. Compagnie des 1. Magdeburger Infanterie-Regiments Nr. 26 dienend, wurde er vor Toul von der Gicht befallen. Der kräftige Mann glaubte, durch das Marschiren von der Krankheit wieder befreit zu sein, doch brach dieselbe während der Belagerung von Paris von Neuem aus. Auch er versäumte die Anmeldungsfrist zum Pensionsgenuß und muß sich nun recht schwer durch das Leben helfen.

22) Da heutzutage Niemand sich der Einsicht verschließt, daß ohne das Jahr 1866 und seine militärischen Umwandelungen und Bündnisse in Deutschland unser Sieg von 1870 schwerlich so glänzend ausgefallen wäre, so wird auch ein Invalid von jenem ersten Wendejahre im deutschen Schicksal noch Berücksichtigung verdienen. Ein Mann des zweiten preußischen Garderegiments wurde bei der Erstürmung einer Batterie in der Schlacht bei Königgrätz im rechten Handgelenk verwundet und erwarb sich, da er trotz der Verwundung im Gefecht bis zu Ende aushielt, das Militärehrenzeichen. Die Verwundung hatte jedoch spätere Folgen, sodaß er im October 1869 als dauernd unbrauchbar vom Landwehr-Commando entlassen wurde. Nach vollendeter Heilung suchte er in seinem Berufe als Landwirth mit Realschulbildung wieder für sich und seine Familie (zwei Kinder) thätig zu sein, mußte aber so schwere Schicksalsschläge erleben, daß er jetzt mit der Noth um das tägliche Brod zu ringen hat. Für den gesunden Mann sollte es doch wohl eine landwirtschaftliche Stellung geben.

So haben wir denn zur diesjährigen Feier und Nachfeier des Sedanfestes (in Nr. 20, Nr. 35 und in dieser Nummer unseres Blattes) den deutschen Vaterlandsfreunden zweiundzwanzig arme hülfsbedürftige Mitkämpfer in harter Bedrängniß vorgeführt. Möge das Fest der zehnten Wiederkehr des Sedantages, nachwirkend, ihnen den Segen eines späten patriotischen Dankes bringen!




Nachtrag zu unserer Dom-Illustration. (S. 636 und 637.) Die drei Hauptbilder unserer Illustration, die Seitenansicht sowie die West- und Ostansicht des vollendeten Prachtbaues, bedürfen keiner Erklärung; diese darf sich auf die dem Rahmen des Ganzen mit eingefügten kleineren Darstellungen beschränken. Die in dem Bilde zur Linken oben wiedergegebene Domansicht ist nach einem alten, im Kölner Stadtarchive befindlichen Stiche genommen, der unserm Künstler von dem Archivar Dr. Ennen selbst als der geeignetste vorgelegt worden ist. – Unter diesem alten Dombilde sehen wir das Grabdenkmal jenes Conrad von Hochstaden (auch Hochstätt und Hochstetten), unter dessen erzbischöflicher Regierung der Bau des Domes in demselben Jahre begonnen wurde, wo dieser streitbare Kirchenfürst den ersten deutschen Kaiser des Namens Wilhelm zu Aachen krönte. Sechshundertzweiunddreißig Jahre mußten vergehen, bis auf diesen, der Legung des Grundsteins beiwohnenden Wilhelm von Holland ein Wilhelm von Preußen folgen, nach einem neuen und zwar fünfundsechszigjährigen Interregnum das Reich wiederaufrichten und des vollendeten Domes Weihe vollziehen konnte. – Unter dem Mittelbilde vom Dom sind die berühmtesten Reliquien desselben dargestellt, namentlich der Schrein der heiligen drei Könige, einige der werthvollsten Monstranzen und andere Stücke, welche dem Kölner Domschatze angehören. – Das Bild zur Rechten oben zeigt uns den fertigen Dom mit seinen Baugerüsten, sowie weiter unten die Kaiserglocke, die durch ihre Entstehungsgeschichte lange Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Wappenschilder zu beiden Seiten des Kölner Stadtwappens geben die beiden Jahreszahlen der Gründung und der Vollendung des Domes an.




Ein französischer Gefangener angeblich noch in Deutschland! Während der Vorbereitungen zum diesjährigen Sedanfeste circulirte in militärischen Kreisen Dresdens der Brief einer französischen Frau mit der Aufschrift: „A Monsieur L'Aumônier de Mr. le Directeur de la Forteresse de Dresde.“ Obgleich ein solcher Adressat in Dresden nicht existirte, hielt man sich doch militärischerseits für verpflichtet, den Brief zu öffnen. Derselbe enthält die ergreifende Klage einer französischen Soldatenfrau über das grausame Schicksal, das sie betroffen: ihr Gatte ist aus dem Kriege von 1870 und 1871 nicht zurückgekehrt, und ein sehr bestimmt auftretendes Gerücht sagt ihr, er sei noch immer in der Festung Dresden internirt. Sie beschwört nun den „aumônier“ in den beweglichsten Worten, ihrer zehnjährigen Qual ein Ende zu machen und ihr Auskunft über ihren Mann zu geben. Der Brief ist aus Vezins (Departement Maine-Loire) datirt und „Madame Poislâne“ unterschrieben. Der Name des gesuchten Mannes ist: Alphonse Poislâne.

Wenn wir bedenken, wie lange bei uns der Glaube festgehalten wurde, daß Tausende unserer nach den Kriegsberichten „Vermißten“ als deutsche Gefangene in Algier zurückgehalten würden, werden wir es einer trauernden Französin nicht verargen, wenn sie einen ähnlichen Verdacht gegen Deutschland hegt. Eine sichere Nachricht vom Tode ihres Gatten würde auch sie beruhigen. Man hat von Dresden aus die Hülfe der „Gartenlaube“ für Madame Poislâne in Anspruch genommen – und so bitten wir denn unsere Leser: sollte eine Kunde über den Verbleib jenes französischen Gefangenen ihnen zukommen, uns dieselbe mitzutheilen. Es wäre schön, wenn hier der versöhnliche Geist sich bethätigen könnte, den wir für unsere westlichen Nachbarn hegen.




Der deutsche Verband von Vereinen für öffentliche Vorträge, welcher die Pflege des Vortragswesens in Deutschland durch Veranstaltung gemeinverständlich-wissenschaftlicher Vorträge sich besonders angelegen sein läßt und auf den, als ein äußerst dankenswerthes Unternehmen zur Hebung der Volksbildung, wir bereits früher nachdrücklich hingewiesen haben, hat erfreulicher Weise an Ausbreitung erheblich gewonnen. Im Jahre 1876 von sechs mitteldeutschen kaufmännischen Vereinen begründet, umfaßt er heute bereits zweiundsechszig Vereine mit zusammen gegen 32,000 Mitgliedern. Fast jeden Monat schließen sich weitere Vereine dem Verbande an, zu dessen Vorsteher Edmund Lotz in Coburg erwählt worden ist. Im vorigen Winter wurden in den Verbandsvereinen 174 Vorträge gehalten, und auf der diesjährigen Liste sind 44 Redner und 7 Recitatoren verzeichnet.

Ein Blick auf die Liste zeigt die hervorragendsten Namen und eine Auswahl höchst interessanter Themata. Die meisten Vereine machen diese Vorträge, welche allenthalben große Anziehungskraft ausüben, auch Nichtmitgliedern, insbesondere Damen, durch Errichtung von Abonnements zugänglich. Zu den Kosten der Verbandsleitung steuert jeder Verein, der über 200 Mitglieder zählt, 20 Mark jährlich bei, während Vereine, welche weniger als 200 Mitglieder zählen, nur 15 Mark jährlich zu entrichten haben. Alljährlich findet ein Verbandstag (Hauptversammlung der Vereinsabgeordneten) statt, und zwar wird der nächste im Juni 1881 in Gotha zusammentreten. Die Organisation des Verbandes ist aus dessen Statut ersichtlich.



Kleiner Briefkasten.

U. in Königsberg. Der Preis des in unserer Nr. 36 beschriebenen Notenanzeigers von Bartmuß beträgt fünf Mark für Sopran, sechs Mark für Baß.

X. Y. Z. Herzlichen Dank! Die kleine Summe wurde zu einem milden Zwecke verwendet.

A. Z. in Providence (Amerika). Beides leider ungeeignet, sowohl der offerirte Artikel, wie die eingesandten Gedichte!

P. G. P. Wir bedauern, Ihnen in der besagten Angelegenheit einen Rath nicht ertheilen zu können. Auf dem Gebiete der Uebersetzungsliteratur ist das Angebot übrigens bedeutend größer als die Nachfrage; es eröffnen sich hier also wenig Chancen.

Br. in Amsterdam und Abonnentin in Wien. Geben Sie gütigst Ihre volle Adresse unter Wiederholung Ihres Gesuchs an! Derartige Anfragen werden nur brieflich beantwortet.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Die Verlagshandlung.



Das mit der nächsten Nummer beginnende Quartal werden wir mit der Erzählung

„Schwester Carmen“ von M. Corvus

eröffnen, der sich die Novellette „Zwischen Fels und Klippen“ von Ernst Ziel und einige kleinere Erzählungen anschließen werden. An belehrenden und unterhaltenden Artikeln aus dem Bereiche der Wissenschaft und der Zeit haben wir eine reiche Auswahl auf dem Programm.

Die Redaction der „Gartenlaube“.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Higuerote ist ein Baum aus dem Geschlechte Ficus, in dessen hohlem Riesenstamme der Verfasser einst vor einem Gewitter mit seinem Führer und zwei Pferden Schutz fand und, ohne aus dem Sattel zu steigen, bequem wendete und wieder hinausritt.
  2. Der Verfasser obigen werthvollen Aufsatzes, langjähriger Archivar und Bibliothekar der Stadt Köln und bedeutender Geschichtsforscher, ist unerwartet am 14. Juni dieses Jahres aus dem Leben geschieden, die eben vollendete, von ihm erbetene Arbeit als die letzte seines Lebens uns hinterlassend. Indem wir dieselbe heute, als am Vorabende der Einweihungsfeste des Kölner Doms, unsern Lesern darbieten, fügen wir noch ein Wort über die Person ihres Verfassers hinzu. Leonhard Ennen, am 5. März 1829 zu Schleiden in der Eifel geboren, war früher katholischer Geistlicher und lebte als Curatvicar in Königswinter, bis Köln ihm, der eben in das Abgeordnetenhaus gewählt worden, 1857 Archiv und Bibliothek der Stadt anvertraute. Obwohl mehr ein friedfertiger Gelehrter, als ein Mann der That hat er doch schon im Jahre 1848 sich durch Betheiligung an einer liberalen Bewegung innerhalb des kölnischen Clerus Maßregelungen zugezogen und war bis zu seinem Tode ein erklärter Gegner des Unfehlbarkeits-Dogmas, ohne Altkatholik zu werden. Seine Hauptwerke behandeln die Geschichte Kölns.
    D. Red.
  3. Der Kormoran (Wasser- oder Seerabe) gehört zu den Ruderfüßlern, hat einen ziemlich langen, an der Spitze abwärts gebogenen Schnabel, kurzen Schwanz, lange Zehen, nackte Kehle und ausdehnbaren Kehlsack. Seine Durchschnittslänge beträgt vierundneunzig Centimeter, er ist auf Oberkopf, Hals, Brust, Bauch und Unterrücken glänzend schwarzgrün, auf den Flügeln und dem Vorderrücken bräunlich geschuppt, an der Kehle und den Weichen weiß; seine Augen sind meergrün, sein Schnabel und seine Füße schwarz. Man findet den Kormoran in Europa bis zu Mittelnorwegen hinauf, in Mittelasien und Nordamerika; sein Winterquartier schlägt er in südlichen Landstrichen auf, hinab bis nach Nordafrika, Westindien und Südasien.
    D. Red.