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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[849]

No. 51.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Nach Tische befand sich das Ehepaar allein im Wohnzimmer; der Professor ging ganz gegen seine Gewohnheit auf und nieder. Er bemühte sich vergebens, eine innere Unruhe zu verbergen, und war so tief in Gedanken versunken, daß er gar nicht die Schweigsamkeit seiner sonst so lebhaften Frau bemerkte. Gretchen saß auf dem Sopha und beobachtete ihn eine ganze Weile. Endlich schritt sie zum Angriff.

„Emil,“ begann sie mit einer Feierlichkeit, die der Hubert’s nichts nachgab. „Ich werde hier empörend behandelt.“

Fabian sah erschrocken auf. „Du? Mein Gott, von wem?“

„Von meinem Papa, und was das Allerschlimmste ist, auch von meinem eigenen Manne.“

Der Professor stand bereits neben seiner Frau und ergriff ihre Hand, die sie ihm mit sehr ungnädiger Miene entzog.

„Geradezu empörend!“ wiederholte sie. „Ihr zeigt mir kein Vertrauen; Ihr habt Geheimnisse vor mir; Ihr behandelt mich wie ein unmündiges Kind, mich, eine verheirathete Frau, die Gattin eines Professors der Universität zu J. – es ist himmelschreiend.“

„Liebes Gretchen –“ sagte Fabian zaghaft und stockte dann plötzlich.

„Was hat Dir Papa vorhin gesagt, als Du in seinem Zimmer warst?“ inquirirte Gretchen. „Weshalb hast Du es mir nicht anvertraut? Was sind das überhaupt für Geheimnisse zwischen Euch beiden? Leugne nicht, Emil! Ihr habt Geheimnisse mit einander.“

Der Professor leugnete keineswegs; er blickte zu Boden und sah äußerst gedrückt aus – seine Gattin sandte ihm einen strafenden Blick zu.

„Nun, dann werde ich es Dir sagen. In Wilicza besteht wieder einmal ein Complot, eine Verschwörung, wie Hubert sagen würde, und Papa ist diesmal auch betheiligt, und Dich hat er gleichfalls mit hineingezogen. Die ganze Geschichte hängt mit der Befreiung des Grafen Morynski zusammen –“

„Kind, um Gotteswillen schweig’!“ rief Fabian erschrocken, aber Gretchen kehrte sich durchaus nicht an das Verbot; sie sprach ungestört weiter:

„Und Herr Nordeck ist schwerlich in Altenhof, sonst würdest Du Dich nicht so ängstigen. Was geht Dich Graf Morynski und seine Flucht an? Aber Dein geliebter Waldemar ist auch mit dabei, und deshalb zitterst Du so. Er wird es wohl gewesen sein, der den Grafen entführt hat – das sieht ihm ganz ähnlich.“

Der Professor war völlig starr vor Erstaunen über die Combinationsgabe seiner Frau; er fand, daß sie unglaublich klug sei, entsetzte sich aber doch einigermaßen, als sie ihm die Geheimnisse, die er undurchdringlich glaubte, an den Fingern herzählte.

„Und mir sagt man kein Wort davon,“ fuhr Gretchen in steigender Gereiztheit fort, „obgleich man doch weiß, daß ich ein Geheimniß bewahren kann, obgleich ich damals ganz allein das Schloß rettete, indem ich den Assessor nach Janowo schickte. Die Fürstin und Gräfin Wanda werden wohl Alles wissen; freilich die Polinnen wissen das immer – die sind die Vertrauten ihrer Väter und Gatten; die läßt man an der Politik, sogar an den Verschwörungen theilnehmen, aber wir armen deutschen Frauen werden von unsern Männern stets zurückgesetzt und unterdrückt; uns erniedrigt man durch beleidigendes Mißtrauen und behandelt uns wie Sclavinnen –“ und die Frau Professorin fing im Gefühl ihrer Sclaverei und Erniedrigung laut zu schluchzen an. Ihr Gatte gerieth fast außer sich.

„Gretehen, mein liebes Gretchen, so weine doch nicht! Du weißt ja, daß ich keine Geheimnisse vor Dir habe, sobald es sich um mich allein handelt, aber diesmal betrifft es Andere, und ich habe mein Wort gegeben, unbedingt zu schweigen, auch gegen Dich.“

„Wie kann man einem verheiratheten Manne das Wort abnehmen, seiner Frau etwas zu verschweigen!“ rief Gretchen immer noch schluchzend. „Das hat keine Geltung; das darf Niemand von ihm fordern.“

„Ich habe es doch aber nun einmal gegeben,“ sagte Fabian verzweiflungsvoll. „So beruhige Dich doch! Ich kann es nicht ertragen, Dich in Thränen zu sehen; ich –“

„Nun, das ist ja eine allerliebste Pantoffelwirthschaft!“ fuhr der Administrator dazwischen, der unbemerkt eingetreten war und die Scene mit angesehen hatte. „Meine Frau Tochter scheint sich hinsichtlich der Unterdrückung und Sclaverei doch in der Person geirrt zu haben. Und Du läßt Dir das gefallen, Emil? Nimm es mir nicht übel – Du magst ein tüchtiger Gelehrter sein, aber als Ehemann spielst Du eine traurige Rolle.“

Er hätte seinem Schwiegersohne nicht wirksamer zu Hülfe kommen können als durch diese Worte. Gretchen hörte sie kaum, als sie sich auch sofort auf die Seite ihres Mannes stellte.

„Emil ist ein ganz ausgezeichneter Ehemann,“ erklärte sie entrüstet, während ihre Thränen auf einmal versiechten. „Du brauchst ihm keinen Vorwurf zu machen, Papa; daß er seine Frau lieb hat, das ist nur in der Ordnung.“

[850] Frank lachte. „Nur nicht so hitzig, Kind! Ich meinte es nicht böse. Uebrigens hast Du Dich umsonst ereifert. Wir müssen Dich jetzt nothgedrungen mit in das Complot ziehen, das Du ganz richtig errathen hast. Es ist soeben eine Nachricht angelangt –“

„Von Waldemar?“ fiel der Professor ein.

Der Schwiegervater schüttelte den Kopf. „Nein, von Rakowicz! Herrn Nordeck kann überhaupt keine Nachricht mehr vorangehen. Entweder er kommt selbst, oder – wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Aber die Fürstin und ihre Nichte treffen jedenfalls im Laufe des Nachmittags ein, und sobald sie da sind, müßt Ihr hinüber nach dem Schlosse. Es wird auffallen, daß die beiden Damen, die Wilicza seit einem Jahre nicht betreten haben, jetzt so unerwartet und in Abwesenheit des Gutsherrn hier anlangen, daß sie die ganze Zeit über allein im Schlosse bleiben. Eure Anwesenheit giebt der Sache einen harmloseren Anstrich und läßt an ein zufälliges Zusammentreffen glauben. Du machst der Mutter Deines ehemaligen Zöglings einen Besuch, Emil, und stellst ihr Gretchen als Deine Frau vor; das ist glaublich für die Dienerschaft. Die Damen wissen, um was es sich handelt. Ich selbst reite nach der Grenzförsterei und warte, wie verabredet, in der Nähe derselben mit den Pferden. – Und nun laß Dir das Uebrige von Deinem Manne auseinandersetzen, mein Kind! Ich habe keine Zeit mehr.“

Damit ging er, und Gretchen setzte sich wieder auf das Sopha, um die Mittheilungen ihres Gatten entgegenzunehmen, sehr befriedigt darüber, daß man sie endlich auch wie eine Polin behandelte und an der Verschwörung Theil nehmen ließ. –

Es war Abend oder vielmehr Nacht geworden. Auf dem Gutshofe schlief schon Alles, und auch im Schlosse hatte man die Dienerschaft möglichst früh zu Bett geschickt. Im oberen Stockwerke waren noch einige Fenster hell; der grüne Salon und die beiden anstoßenden Gemächer waren erleuchtet, und in einem der letzteren stand der Theetisch, den man hatte herrichten lassen, um den Dienern keinen Anlaß zur Verwunderung zu geben. Das Abendessen blieb natürlich eine bloße Form. Weder die Fürstin noch Wanda waren zu bewegen, auch nur das Geringste zu sich zu nehmen, und jetzt wurde auch Professor Fabian rebellisch und weigerte sich, Thee zu trinken. Er behauptete, auch nicht einen Tropfen davon herunterbringen zu können, wie ihn seine Frau auch von der Nothwendigkeit einer Stärkung zu überzeugen suchte. Sie hatte ihn halb mit Gewalt an den Theetisch gebracht und hielt ihm dort eine leise, aber eindringliche Strafpredigt.

„Aengstige Dich nicht so, Emil! Du wirst mir sonst noch krank vor Aufregung, wie die beiden Damen da drinnen. Gräfin Wanda sieht aus wie eine Leiche, und vor dem Gesichte der Fürstin könnte ich mich beinahe fürchten. Dabei spricht keine von ihnen ein Wort. Ich halte es nicht länger aus, diese stumme Todesangst mit anzusehen, und auch ihnen ist es eine Erleichterung, wenn sie einmal ohne Zeugen sind. Wir wollen sie auf eine halbe Stunde allein lassen.“

Fabian stimmte bei, schob aber die ihm aufgenöthigte Theetasse weit von sich.

„Ich begreife gar nicht, weshalb Ihr Euch Alle so verzweifelt anstellt,“ fuhr Gretchen fort. „Wenn Herr Nordeck erklärt hat, daß er noch vor Mitternacht mit dem Grafen hier sein werde, so ist er hier, und wenn sie an der Grenze ein ganzes Regiment aufgestellt hätten, um ihn einzufangen. Der setzt Alles durch. Es muß doch etwas an dem Aberglauben seiner Wiliczaer sein, die ihn für kugelfest halten. Da ist er wieder mitten durch Gefahren gegangen, bei deren bloßer Erzählung sich uns schon das Haar sträubt, und keine einzige berührt ihn auch nur. Er wird auch glücklich die Grenze passiren.“

„Das gebe Gott!“ seufzte Fabian. „Wenn nur dieser Hubert nicht gerade heute in W. wäre! Er würde Waldemar und den Grafen in jeder Verkleidung erkennen. Wenn er ihnen begegnete!“

„Hubert hat sein Lebenlang nur Dummheiten gemacht,“ sagte Gretchen verächtlich. „Er wird in der letzten Woche seiner Amtsthätigkeit nicht noch etwas Kluges anstiften. Das wäre wider seine Natur. Aber in Einem hat er doch Recht. Kann man wohl den Fuß in dieses Wilicza setzen, ohne gleich wieder mitten in einer Verschwörung zu sein? Das muß wohl hier so in der Luft liegen, denn sonst begreife ich nicht, wie wir Deutsche uns sämmtlich zwingen lassen, zu Gunsten dieser Polen zu conspiriren, Herr Nordeck, Papa, sogar wir Beide. Nun, hoffentlich ist dies das letzte Complot, das in Wilicza angestiftet wird.“

Die Fürstin und Wanda waren in dem anstoßenden Salon zurückgeblieben. Hier wie in sämmtlichen Zimmern der ersteren war nichts verändert worden, seit sie dieselben vor einem Jahre verlassen hatte. Dennoch hatten die Räume den Anstrich des Oeden, Unbewohnten; man fühlte, daß die Herrin ihnen so lange fern geblieben war. Die auf dem Seitentische brennende Lampe erhellte nur zum Theile das hohe düstere Gemach; die ganze Tiefe desselben blieb in Schatten gehüllt.

In diesem tiefen Schatten saß die Fürstin, unbeweglich und starr vor sich hinblickend. Es war derselbe Platz, an dem sie an jenem Morgen gesessen hatte, als Leo’s unseliges Kommen die furchtbare Katastrophe auf ihn und die Seinigen herabrief. Die Mutter rang schwer mit den Erinnerungen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, als sie wieder den Ort betrat, der für sie so verhängnißvoll geworden war. Was war aus jenen stolzen Plänen, aus jenen Hoffnungen und Entwürfen geworden, die einst hier ihren Mittelpunkt fanden! Sie lagen alle in Trümmern. Bronislaw’s Rettung war noch das Einzige, was man dem Schicksale abringen konnte, aber diese Rettung war erst zur Hälfte vollbracht, und vielleicht in diesem Augenblicke bezahlten er und Waldemar den Versuch, sie zu vollenden, mit dem Leben.

Wanda stand in der Nische des großen Mittelfensters und blickte so angestrengt hinaus, als könnten ihre Augen die Dunkelheit durchdringen, die draußen herrschte. Sie hatte das Fenster geöffnet, aber sie fühlte es nicht, daß die Nachtluft scharf hereindrang, wußte nicht, daß sie zusammenschauerte unter dem kalten Hauche. Für die Gräfin Morynska hatte diese Stunde keine Erinnerung an die Vergangenheit mit ihren gescheiterten Plänen und Hoffnungen. Für sie drängte sich Alles zusammen in dem einzigen Gedanken der Erwartung, der Todesangst. Sie zitterte ja nicht mehr für den Vater allein, es galt jetzt auch Waldemar, und das Herz behauptete trotz alledem seine Rechte – es galt zumeist ihm.

Es war eine kühle, etwas stürmische Nacht, die von keinem Mondesstrahle erhellt wurde. Der Himmel, leicht bedeckt, ließ nur hin und wieder einen Stern aufblinken, der bald hinter den Wolken verschwand. In der Umgebung des Schlosses herrschte die tiefste Ruhe, der Park lag dunkel und schweigend da, und in den Pausen, wo der Wind ruhte, hörte man jedes fallende Blatt.

Plötzlich fuhr Wanda auf, und ein halb unterdrückter Ausruf entrang sich ihren Lippen. In der nächsten Minute stand die Fürstin an ihrer Seite.

„Was ist’s? Bemerktest Du etwas?“

„Nein, aber ich glaubte in der Ferne Hufschlag zu hören.“

„Täuschung! Du hast ihn schon oft zu hören geglaubt – es ist nichts.“

Trotzdem folgte die Fürstin dem Beispiele ihrer Nichte, die sich weit aus dem Fenster beugte. Die beiden Frauen verharrten in athemlosem Lauschen. Es kam allerdings ein Laut herüber, aber er klang fern und undeutlich, und jetzt erhob sich der Wind von Neuem und verwehte ihn ganz. Wohl zehn Minuten vergingen in qualvollstem Harren – da endlich vernahm man in einer der Seitenalleen des Parkes, da wo dieser einen Ausgang nach dem Walde hin hatte, Schritte, die sich offenbar vorsichtig dem Schlosse näherten, und jetzt unterschied die auf’s Aeußerste angestrengte Sehkraft auch mitten in der Dunkelheit, daß zwei Gestalten aus den Bäumen hervortraten.

Fabian kam in das Zimmer gestürzt. Er hatte von seinem Fenster aus die gleiche Beobachtung gemacht.

„Sie sind da,“ flüsterte er, seiner kaum mehr mächtig. „Sie kommen die Seitentreppe herauf. Die kleine Pforte nach dem Parke ist offen; ich habe erst vor einer halben Stunde nachgesehen.“

Wanda wollte den Ankommenden entgegenstürzen, aber Gretchen, die ihrem Manne gefolgt war, hielt sie zurück.

„Bleiben Sie, Gräfin Morynska!“ bat sie. „Sie sind nicht allein im Schlosse, nur hier in Ihren Zimmern ist Sicherheit.“

Die Fürstin sprach kein Wort, aber sie ergriff die Hand ihrer Nichte, um sie gleichfalls zurückzuhalten. Die Folter der Erwartung dauerte nicht mehr lange. Nur noch wenige Minuten, – dann flog die Thür auf. Graf Morynski stand auf der [851] Schwelle; hinter ihm zeigte sich die hohe Gestalt Waldemar’s, und fast in derselben Secunde lag Wanda in den Armen ihres Vaters.

Fabian und Gretchen hatten Tact genug, sich bei diesem ersten Wiedersehen zurückzuziehen. Sie fühlten, daß sie hier doch nur Fremde waren, aber auch Waldemar schien sich zu den Fremden zu rechnen, denn anstatt einzutreten, schloß er die Thür hinter dem Grafen und blieb im Nebenzimmer, wo er seinem ehemaligen Lehrer herzlich die Hand reichte.

„Da sind wir glücklich,“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge. „Die Hauptgefahr wenigstens ist überstanden. Wir sind auf deutschem Boden.“

Fabian umschloß mit beiden Händen die dargebotene Rechte. „In welches Wagniß haben Sie sich wieder gestürzt, Waldemar! Wenn Sie entdeckt worden wären!“

Waldemar lächelte. „Ja, das ‚Wenn‘ muß man bei solchen Unternehmungen von vorn herein ausschließen. Wer über den Abgrund will, darf nicht an den Schwindel denken, sonst ist er verloren. Ich habe die Möglichkeiten nur insofern in Betracht gezogen, als es galt, ihnen vorzubeugen. Im Uebrigen habe ich fest auf mein Ziel geschaut, ohne rechts oder links zu blicken. Sie sehen, das hat geholfen.“

Er warf den Mantel ab und zog aus der Brusttasche einen Revolver, den er auf den Tisch legte. Gretchen, die in der Nähe stand, wich einen Schritt zurück.

„Erschrecken Sie nicht, Frau Professorin!“ beruhigte sie Nordeck. „Die Waffe ist nicht gebraucht worden; die Sache ist ohne jedes Blutvergießen abgegangen, obgleich es anfangs nicht den Anschein hatte, aber wir fanden einen unerwarteten Helfer in der Noth, den Assessor Hubert.“

„Den neuen Regierungsrath?“ fiel die junge Frau erstaunt ein.

„Ja so, er ist ja Regierungsrath geworden! Nun kann er die neue Würde drüben in Polen geltend machen. Wir sind mit seinem Wagen und seinen Legitimationspapieren über die Grenze gefahren.“

Der Professor und seine Frau ließen gleichzeitig einen Ausruf der Ueberraschung hören.

„Freiwillig hat er uns diese Gefälligkeit allerdings nicht erwiesen,“ fuhr Nordeck fort. „Im Gegentheile, er wird nicht verfehlen uns Straßenräuber zu nennen, aber Noth kennt kein Gebot. Für uns standen Freiheit und Leben auf dem Spiele, da galt kein langes Besinnen. – Wir langten gestern Mittag in dem Wirthshause eines polnischen Dorfes an, das nur zwei Stunden von der Grenze entfernt liegt. Daß man uns auf der Spur war, wußten wir und wollten um jeden Preis hinüber auf deutsches Gebiet, aber der Wirth warnte uns, die Flucht vor Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, es sei unmöglich, man fahnde in der ganzen Umgegend auf uns. Der Mann war ein Pole. Seine beiden Söhne hatten bei der Insurrection unter dem Grafen Morynski gedient; die ganze Familie hätten ihr Leben für den ehemaligen Chef gelassen. Der Warnung war unbedingt zu trauen – wir blieben also. Es war gegen Abend, und unsere Pferde standen bereits gesattelt im Stalle, als der Assessor Hubert, der von W. zurückkam, plötzlich im Dorfe erschien. Sein Wagen hatte irgend eine Beschädigung erhalten, die schleunigst ausgebessert werden sollte; er hatte ihn in der Dorfschmiede gelassen und kam nun in das Wirthshaus, hauptsächlich, um sich zu erkundigen, ob keine Spur von uns aufzufinden sei. Sein polnischer Kutscher mußte ihm, da er der Landessprache unkundig war, als Dolmetscher dienen. Er hatte ihn deshalb auch nicht bei dem Wagen gelassen, sondern mitgenommen. Der Wirth behauptete natürlich, von nichts zu wissen. Wir waren im oberen Stocke verborgen und hörten ganz deutlich, wie der Assessor unten im Hausflure in seiner beliebten Art von flüchtigen Hochverräthern declamirte, denen man auf der Spur sei. Dabei war er so freundlich, uns zu verrathen, daß wir in der That verfolgt wurden, daß man den Weg kannte, den wir genommen hatten; er wußte sogar, daß wir unser zwei und zu Pferde seien. Jetzt gab es keine Wahl mehr. Wir mußten fort, so schnell wie möglich. Die unmittelbare Nähe der Gefahr gab mir einen glücklichen Gedanken ein. Ich ließ dem Wirthe durch seine Frau schnell die nöthigen Weisungen zukommen, und er begriff sie auf der Stelle. Dem Assessor wurde gemeldet, daß sein Wagen vor Ablauf einer Stunde nicht herzustellen sei; er war sehr ungehalten darüber, bequemte sich aber doch, so lange im Wirthshause zu bleiben und das angebotene Abendessen einzunehmen. Inzwischen gingen wir zur Hinterthür hinaus und nach der Dorfschmiede. Der Sohn des Wirthes hatte bereits dafür gesorgt, daß der Wagen im Stande war. Ich stieg ein; mein Oheim,“ – es war das erste Mal, daß Waldemar diese Bezeichnung von dem Grafen Morynski gebrauchte – „mein Oheim, der auf der ganzen Flucht für meinen Diener galt, und auch die Kleidung eines solchen trug, nahm die Zügel, und so fuhren wir auf der anderen Seite des Dorfes hinaus.

Im Wagen machte ich noch einen unschätzbaren Fund. Auf dem Rücksitze lag der Paletot des Assessors mit seiner Brieftasche und seinen sämmtlichen Papieren, die dieser umsichtige Beamte ganz einfach hier zurückgelassen oder vergessen hatte, ein neuer Beweis seiner glänzenden Befähigung für den Staatsdienst. Von seinem Passe konnte ich mit meiner Hünengestalt leider keinen Gebrauch machen, dagegen fand sich unter den anderen Papieren manches Nützliche für uns. So zum Beispiel eine Ermächtigung des Polizeidepartements von L., den flüchtigen Grafen Morynski auch auf deutschem Boden zu ergreifen, ein Schreiben, das den Assessor zur Rücksprache über diese Angelegenheit bei den Behörden in W. legitimirte, endlich noch verschiedene Notizen dieser Behörden über die wahrscheinliche Richtung, die wir genommen, und über die bereits getroffenen Maßregeln zu unserer Ergreifung. Leider waren wir gewissenlos genug, die gegen uns gerichteten Documente für uns zu benutzen. Der Assessor hatte im Wirthshause erzählt, daß er heute Morgen über A. gekommen sei; dort hätte man jedenfalls den Wagen wiedererkannt und den Wechsel der Insassen bemerkt. Wir machten also einen Umweg bis zur nächsten Grenzstation und fuhren dort ganz offen als Herr Regierungsrath Hubert nebst Kutscher vor. Ich zeigte die betreffenden Papiere vor und verlangte schleunigst durchgelassen zu werden, da ich den Flüchtigen auf der Spur sei und die größte Eile noth thue. Das half augenblicklich. Niemand fragte nach unseren Pässen. Wir wurden für hinreichend legitimirt erachtet und passirten glücklich die Grenze. Eine Viertelstunde diesseits ließen wir den Wagen, der uns nur verrathen hätte, auf der Landstraße in der Nähe eines Dorfes zurück, wo er jedenfalls gefunden werden muß, und erreichten zu Fuß die Waldungen von Wilicza. Bei der Grenzförsterei fanden wir verabredetermaßen den Administrator mit den Pferden, ritten in voller Carriére hierher – und da sind wir.“

Gretchen, die eifrig zugehört hatte, war sehr ergötzt über den Streich, den man ihrem ehemaligen Bewerber gespielt hatte, Fabian’s Gutmüthigkeit aber ließ eine Schadenfreude nicht aufkommen. Er fragte im Gegentheile in besorgtem Tone:

„Und der arme Hubert?“

„Er sitzt ohne Wagen und ohne Legitimationen drüben in Polen,“ versetzte Waldemar trocken, „und kann von Glück sagen, wenn er nicht selbst noch als Hochverräther angesehen wird. Unmöglich wäre das nicht. Wenn unsere Verfolger wirklich im Wirthshause eintreffen, so finden sie dort die beiden Fremden nebst zwei gesattelten Pferden, und der Wirth wird sich hüten, einen etwaigen Irrthum aufzuklären, der unsere ungestörte Flucht sichert. Der Kutscher, der in jedem Zuge den Polen verräth, und überdies von imposanter Figur ist, kann zur Noth für einen verkleideten Edelmann gelten, der Regierungsrath für seinen Befreier und Mitverschworenen. Legitimiren kann sich der letztere nicht; die Sprache versteht er auch nicht, und unsere Nachbarn pflegen bei solchen Verhaftungen weder viel Umstände zu machen, noch sich streng an die Formen zu halten. Vielleicht genießt der Herr Regierungsrath jetzt selbst das Vergnügen, das er uns bei unserer Ankunft in Wilicza zugedacht hatte: als verdächtiges Individuum geschlossen nach der nächsten Stadt transportirt zu werden.“

„Das wäre ein unvergleichlicher Schluß seiner Amtsthätigkeit,“ spottete Gretchen, ohne sich an den ernsten Blick ihres Gatten zu kehren.

„Und nun genug von diesem Hubert!“ brach Waldemar ab. „Ich sehe Sie doch noch, wenn ich zurückkomme? Für diese Nacht bin ich freilich nur incognito im Schlosse; ich kehre erst in den nächsten Tagen officiell von Altenhof zurück, wo man mich die ganze Zeit über glaubte. Doch nun muß ich die Mutter und meine – meine Cousine begrüßen. Der erste Sturm des Wiedersehens wird jetzt wohl vorüber sein.“

[852] Er öffnete die Thür und trat in das anstoßende Gemach, wo sich die Seinigen befanden. Graf Morynski saß in einem Sessel. Er hielt noch immer seine Tochter in den Armen, die vor ihm auf den Knieen lag und das Haupt an seine Schulter lehnte. Der Graf hatte sehr gealtert in der letzten Zeit. Die dreizehn Monate der Haft schienen ebenso viele Jahre für ihn gewesen zu sein. Haar und Bart waren weiß geworden, und sein Antlitz zeigte unauslöschliche Spuren der Leiden, die Kerker, Krankheit und vor Allem das Schicksal seines Volkes über ihn verhängt hatten. Es war ein energischer, lebenskräftiger Mann gewesen, der vor kaum einem Jahre hier in Wilicza Abschied nahm – jetzt kehrte ein Greis zurück, dessen äußere Erscheinung schon seine Gebrochenheit verrieth.

Die Fürstin, welche neben dem Bruder stand, bemerkte zuerst den Eintritt ihres Sohnes und ging ihm entgegen.

„Kommst Du endlich, Waldemar?“ sagte sie im Tone des Vorwurfs. „Wir glaubten schon, Du wolltest Dich uns ganz entziehen.“

„Ich wollte Euer erstes Wiedersehen nicht stören,“ erwiderte er zögernd.

„Bestehst Du noch immer darauf, ein Fremder für uns zu sein? Du bist es lange genug gewesen. Mein Sohn –“ die Fürstin streckte ihm plötzlich in tiefster Bewegung beide Arme entgegen – „ich danke Dir.“

Waldemar lag in den Armen der Mutter, zum ersten Mal wieder seit seiner Kinderzeit, und in dieser langen, innigen Umarmung versanken die Jahre der Entfremdung und Bitterkeit, versank alles, was sich je kalt und feindselig zwischen sie gestellt hatte. Auch hier war eine unsichtbare und doch so unheilvolle Schranke niedergerissen. Sie hatte lange genug zwei Menschen getrennt, die durch die heiligsten Bande des Blutes einander angehörten. Der Sohn hatte sich endlich die Liebe seiner Mutter erobert.

Der Graf erhob sich jetzt auch und bot seinem Retter die Hand. „Danke ihm immerhin, Jadwiga!“ sagte er. „Ihr wißt noch nicht, was er alles für mich gewagt hat.“

„Das Wagniß war nicht so groß, wie es schien,“ lehnte Waldemar ab. „Ich hatte mir zuvor die Wege geebnet. Wo Gefängnisse sind, ist auch Bestechung möglich. Ohne diesen goldenen Schlüssel wäre ich nie bis in’s Innere der Festung gedrungen, und noch weniger wären wir beide wieder hinausgelangt.“

Wanda stand neben ihrem Vater, dessen Arm sie noch immer festhielt, als fürchte sie, er könne ihr wieder entrissen werden. Sie allein hatte noch kein Wort des Dankes gesprochen, nur ihr Blick war Waldemar entgegen geflogen, als sie sich bei seinem Eintritte umwandte, und dieser Blick mußte ihm wohl mehr gesagt haben, als alle Worte. Er schien zufrieden damit und machte keinen Versuch, sich ihr direct zu nähern.

„Noch ist die Gefahr nicht ganz überstanden,“ wandte er sich wieder an den Grafen. „Wir haben es ja leider schwarz auf weiß in Händen, daß Ihnen auch hier die Verhaftung und Auslieferung droht. Für den Augenblick freilich sind Sie sicher in Wilicza. Frank hat versprochen, uns als Wachposten zu dienen, und Sie bedürfen auch dringend einige Stunden der Ruhe, aber morgen früh müssen wir weiter nach S.“

„Ihr wollt also nicht den directen Weg nach Frankreich oder England nehmen?“ fragte die Fürstin.

„Nein, das dauert zu lange, und gerade auf diesem Wege wird man uns vermuthen; wir müssen versuchen, so schnell wie möglich die See zu erreichen. S. ist der nächste Hafen und morgen Abend können wir bereits dort sein. Ich habe alles vorbereitet; schon seit vier Wochen liegt ein englisches Schiff dort, über das ich mir die alleinige Disposition gesichert habe, und das jeden Augenblick bereit ist, in See zu gehen. Es bringt Sie vorläufig nach England, mein Oheim. Von dort aus stehen Ihnen ja Frankreich, die Schweiz, Italien offen, gleichviel, wo Sie Ihren Aufenthalt wählen. Einmal auf hoher See, sind Sie gerettet.“

„Und Du, Waldemar?“ – der Graf gab seinem ältesten Neffen auch das Du, das er so lange nur dem Jüngeren zugestanden – „Wirst Du Deine Kühnheit nicht noch büßen müssen? Wer weiß, ob das Geheimniß meiner Flucht streng bewahrt bleiben wird – es wissen zu Viele darum.“

Waldemar lächelte flüchtig. „Ich habe allerdings diesmal meine Natur verleugnen und an allen Ecken und Enden Vertraute haben müssen; es ließ sich nicht anders durchführen. Zum Glück sind es sämmtlich Mitschuldige – sie können nichts verrathen, ohne sich selbst preiszugeben. Die Befreiung wird man aber unbedingt meiner Mutter zuschreiben, und wenn in Zukunft wirklich einmal Vermuthungen oder Gerüchte über die Wahrheit auftauchen, nun so leben wir ja auf deutschem Boden. Hier ist Graf Morynski weder angeklagt, noch verurtheilt worden, und hier wird seine Befreiung also auch nicht als Verbrechen gelten. Man wird es begreifen, daß ich, trotz allem, was uns politisch trennt, die Hand zur Rettung meines Oheims bot, wenn man erfährt, daß er auch – mein Vater geworden ist.“

In dem Antlitz Morynski’s zuckte etwas auf bei dieser Mahnung, was er vergebens zu unterdrücken versuchte, ein Schmerz, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Er wußte ja längst um diese Liebe, die ihm wie seiner Schwester so lange als ein Unglück, ja beinahe als ein Verbrechen erschienen war. Auch er hatte sie mit allen Mitteln bekämpft, die ihm nur zu Gebote standen, und noch in der letzten Zeit versucht, Wanda davon loszureißen; er hatte es geduldet, daß sie sich entschloß, mit ihm in ein fast sicheres Verderben zu gehen, nur um diese Verbindung zu hindern. Es war ein schweres Opfer, das er den nationalen Vorurtheilen, dem alten Nationalhaß abrang, der so lange die Richtschnur seines Lebens gewesen war, aber er sah auf den Mann, dessen Hand ihn aus dem Kerker geführt, der Leben und Freiheit daran gesetzt hatte, um ihm beides zurückzugeben – dann beugte er sich zu seiner Tochter nieder.

„Wanda!“ sagte er leise.

Wanda blickte zu ihm auf. Das Antlitz des Vaters war ihr nie so düster, so gramvoll erschienen, wie in dieser Minute. Sie war ja darauf vorbereitet gewesen, ihn verändert zu finden, aber so furchtbar hatte sie sich diese Veränderung nicht gedacht, und als sie jetzt in seinen Augen las, was ihn die Einwilligung kostete, da trat jeder eigene Wunsch zurück, und die leidenschaftliche Zärtlichkeit der Tochter flammte auf.

„Jetzt noch nicht, Waldemar!“ flehte sie mit bebender Stimme. „Du siehst, was mein Vater gelitten hat und noch leidet. Du kannst nicht fordern, daß ich mich im Augenblicke des Wiedersehens schon wieder von ihm trenne. Laß mich noch einige Zeit an seiner Seite, nur ein Jahr noch! Du hast ihn vor dem Furchtbarsten bewahrt, aber er muß doch immer in die Fremde, in die Verbannung hinaus – soll ich ihn krank und allein gehen lassen?“

Waldemar schwieg. Er fand nicht den Muth, Wanda an das Wort zu erinnern, das sie ihm bei ihrem letzten Zusammensein ausgesprochen; die gebrochene Gestalt des Grafen verbot jeden Trotz und sprach zugleich mächtig für die Bitte seiner Tochter, aber in dem jungen Manne bäumte sich jetzt der ganze Egoismus der Liebe empor. Er hatte so vieles gewagt, um die Geliebte zu besitzen, und nun ertrug er es nicht, daß man ihm den Preis noch länger versagte. Finster, mit zusammengepreßten Lippen sah er zu Boden, als plötzlich die Fürstin dazwischen trat.

(Schluß folgt.)




Die Christnacht des Bahnwärters.


Heut’ jagt man keinen Hund hinaus –
Ich steh’ pflichtschuldig vor meinem Haus.

In Ordnung ist Alles, Signal und Bahn,
Und der Nacht-Courierzug braust heran.

O, wie viel Lebens Glück und Heil
Ist hier für fünfzehn Groschen feil!

Für fünfzehn Groschen Tag und Nacht
Halt’ ich für Leben und Gut hier Wacht.

Gottlob, daß mein der Wald gedenkt,
Zur Christnacht mir eine Tanne schenkt!

D’rauf leuchten drei Pfenniglichter so schön,
Daß wir unser ganzes Elend sehn. –

Nur die Kinder – o seliges Weihnachtslicht! –
Sind glücklich – sie sehen das Elend nicht.



[853]

Bahnwärters Weihnachtsabend.
Originalzeichnung von P. Püttner.

[854]
Die Bouquetbinderei in Erfurt.

Es ist für das sinnige Gemüth ein großes Vergnügen, zu beobachten, wie ein erster unvollkommener Versuch, dem Bedürfnisse oder dem Luxus einen neuen Gegenstand des Verlangens zu bieten, die Mutter immer größerer Erfolge und immer höherer Ziele wird, wie dieser Gegenstand, einmal von der Speculation erfaßt und folgerichtig entwickelt, seiner Bestimmung mit jedem Tage mehr entspricht, und wie endlich der feine Geschmack die letzte Hand an ihn legt, um ihn in seiner Art zu etwas Vollkommenem zu machen. Aus den ersten schwachen Anfängen bildet sich eine neue Industrie heraus, wie der schatten- und fruchtreiche Baum aus dem winzigen Samenkorne.

Dieses Vergnügen, der allmählichen Entwickelung einer Industrie nachzugehen, ist natürlich um so größer, je näher der Beobachter ihren Ausgangspunkten gestanden. So wird derjenige Blumenfreund, der sich der ersten unbedeutenden Anfänge der Bouquetfabrikation erinnert und im September dieses Jahres in der Erfurter Ausstellung die Fülle und ästhetische Vollendung der Erzeugnisse derselben zu bewundern Gelegenheit hatte, in den zu beiden Seiten des Portals gelegenen Hallen ein doppeltes Interesse an diesem Industriezweige gewonnen haben.

Blumen bildeten wahrscheinlich den ersten und zugleich den natürlichsten Schmuck der Töchter Evas. Im Alterthume bekränzten sich die Gäste beim fröhlichen Mahle, ebenso die Opfernden; auch die Todten, die Mischkessel und die Becher bei Trinkgelagen wurden bekränzt, sowie bei besonderen Gelegenheiten Götterbilder, Häuser, Schiffe etc. In blüthenarmen Monaten wurden aus der Ferne Blumen, insbesondere Rosen, oft zu ungeheuren Preisen bezogen, und im alten Rom waren die Blumenmädchen für das Colorit des Straßenverkehrs ebenso charakteristisch, wie im modernen Paris.

Die Vergänglichkeit der Blumen führte wahrscheinlich schon früh zu dem Gedanken, dieselben bei der Bereitung von Kränzen und ähnlichen Gegenständen, denen man eine längere Dauer zu geben wünschte, durch Kunstblumen zu ersetzen, wie solche noch heute auf Damenhüten prangen. Dergleichen aus Seide, Papyrus oder aus anderen Stoffen gefertigte Blumen hat man nicht selten in Mumiensärgen aufgefunden.

Nicht minder wahrscheinlich ist es, daß schon in früheren Jahrhunderten die Aufmerksamkeit der Kranzbinder auf gewisse Blumen gelenkt wurde, die wegen der trockenen Beschaffenheit ihrer Blätter eine längere Dauer verhießen. Da aber bei der geringen Zahl von Arten der Formen- und Farbenkreis, in dem sie sich bewegen, ein sehr enger ist, so machte man von ihnen wohl nur einen beschränkten Gebrauch. Erst in neuerer Zeit kam man darauf, diesen Trockenblumen auf künstlichem Wege mannigfaltigere und lebhaftere Farben zu verleihen, und dadurch wurden sie und die aus ihnen bereiteten Kunstgebilde zum Gegenstande einer lebhaften Industrie und eines gewinnreichen Handels erhoben.

Wir geben gern zu, daß ein Strauß ausgetrockneter Blumen nichts anderes bedeuten kann, als ein Ersatzmittel für die frisch gepflückten duftigen Kinder des Frühlings. Aber jedes Surrogat, das für den von ihm vertretenen Artikel in Zeiten eintritt, in denen man diesen selbst nicht haben kann, ist zur Existenz vollberechtigt, und den Werth eingemachter Pfirsichen und getrockneter Kirschen lernt man erst in denjenigen Monaten schätzen, in denen die Natur uns frische Früchte versagt.

Als die wichtigsten unter den Materialien, mit denen die Bouquetbinderei arbeitet (wenn wir von frischen Blumen absehen), sind die Immortellen zu bezeichnen. Hierunter versteht man die schon erwähnten, der natürlichen Pflanzenfamilie der Compositen angehörigen Blumen, bei denen die Hüllkelchblätter des Blüthenköpfchens von trockenhäutiger und selbst rasseldürrer Beschaffenheit sind. Durch letztere ist ihnen, wenn sie kurze Zeit vor ihrer vollkommenen Ausbildung sammt den Stielen abgeschnitten und im Schatten getrocknet werden, eine mehr oder weniger lange Dauer gesichert; jener Name charakterisirt sie als Unverwelkliche, Unsterbliche.

Eine in unseren Gärten sehr häufig cultivirte Pflanze ist die Strohblume. Die Blumen der Stammform sind goldgelb, bei einigen ihrer Varietäten goldbraun, rosa oder purpurroth, und je intensiver diese Färbung ist, desto höher werden sie geschätzt, besonders wenn sie gefüllt, das heißt wenn mehrere Reihen der Hüllkelchblätter kräftig entwickelt sind. Durch Behandlung mit Säuren wird die Lebhaftigkeit der natürlichen Farben bedeutend erhöht. Die Blumen der weißblühenden Varietät aber werden verschiedenartig gefärbt.

In derselben Weise verfährt man mit der Papierblume, die für diesen Zweck gleich der Strohblume in vielen zum Theil dicht gefüllten Spielarten in Menge erzogen wird. Auch der ursprünglich weißen Blume der sogenannten Sand-Immortelle, einer neuholländischen Composite, versteht man die mannigfaltigsten Färbungen zu geben, wozu man sich meistens der Anilinfarben bedient; wir wollen jedoch nicht behaupten, daß diese Art von Schönfärberei immer ein angenehm in das Auge fallendes Product zu Tage fördert.

Eine andere für die Bouquetbinderei gern verwendete, jedoch nicht zu den Compositen gehörige Blume ist der Kugelamaranth. Hier ist es jedoch nicht die Blumenkrone, welche seine Schönheit ausmacht, ebenso wenig der winzige Kelch, sondern es sind die trockenhäutigen Deckschüppchen, welche den Kelch einhüllen und dem Blüthenköpfchen eine glänzend violette Farbe verleihen.

Zwei ausgezeichnet charakterisirte immortellenartige Blumen sind in Anbetracht ihres frischen Rosacolorits die nur in Haideboden gedeihende Rhodante Manglesii und das robustere Acroclinium roseum mit ihren zum Theil dicht gefüllten Formen, jene in Australien, diese in Texas einheimisch, beide aber außer einigen anderen Arten in den Blumistengärten und für die Zwecke der Bouquetbinderei häufig und in großer Menge gezogen.

Das wichtigste aber aller Materialien dieser Art ist ohne Zweifel die eigentliche Bouquet-Immortelle, welche im südlichen Frankreich, nicht fern von der Seeküste, in Massen gezogen wird und fast verwildert ist. Sie ist für die Bouquetbinderei um so werthvoller, als die Blumen kleiner und zierlicher gebaut sind, als die meisten übrigen Blumen dieser Kategorie, und deshalb ist sie zur Verwendung für Bouquets von kleineren Dimensionen wohl geeignet. Doch hat sie keine strahlenartig ausgebreiteten Kelchschuppen, wie die Strohblume. Diese Immortellenart wird jährlich in vielen Tausenden von Bunden in Deutschland eingeführt. Man bereitet sie für die Färberei vor, indem man sie mit kochendem Wasser überbrüht und sie dadurch eines Theiles ihres gelben Farbstoffes beraubt, oder man giebt ihr durch ein Chlorbad eine klare, weiße Farbe, wenn sie nicht gefärbt werden soll.

So ist nun in diesen und anderen immortellenartigen Blumen für die nöthige Mannigfaltigkeit der Farben ausreichend gesorgt, dagegen leiden sie an einer nur zu sehr in die Augen fallenden Übereinstimmung der Form, denn fast alle sind sie Compositen mit oder ohne Strahl.

Man sah sich deshalb bald genöthigt, das Material durch abweichende Blüthenformen zu vervollständigen. Es konnte dies aber nur dann geschehen, wenn es gelang, die Blumen dergestalt zu trocknen, daß allen ihren Theilen nicht nur mehr oder weniger ihr natürliches Colorit, sondern auch, zumal den Blumenblättern, die ihrem Gewebe eigenthümliche Spannung erhalten blieb.

Durch das Verfahren, nach welchem Pflanzen zur Aufbewahrung in Herbarien vorbereitet werden, war dieses Ziel nicht wohl zu erreichen, wohl aber dadurch, daß man die Blumen unter naturgemäßer Ausbreitung ihrer Theile in staubfreien Quarzsand (in einzelnen Fällen auch in Sägemehl) einschichtete und unter Glas und unter der Einwirkung der Sonnenwärme oder in einem mäßig erwärmten Raume langsam trocken werden ließ. – Nach vielen erfolglosen Versuchen fand man endlich auch die Mittel, die natürlichen Blüthenfarben zu befestigen oder unscheinbar gewordene wieder zu beleben. Aber es ist natürlich, daß das zu erzielende Product um so schöner ausfällt, je sorgfältiger die Blumen beim Trocknen, Schwefeln, Beizen etc. behandelt werden, Operationen, bei welchen, wie es scheint, jede Bouquetbinderei besondere Vortheile in Anwendung zu bringen weiß. Wir haben getrocknete Blumen gesehen, welche an Lebhaftigkeit des Colorits wie an natürlicher Haltung frisch abgeschnittenen Blumen in keiner Weise nachstanden, freilich auch andere, welche an eingeschrumpfte, mißfarbige Mumien erinnerten.

[855] Von künstlich getrockneten Blumen findet man mit Vorliebe verwendet: Pensées, Pelargonien, Rosen, Malven, Päonien, gefüllte Granaten, Rittersporn, Gartenwinden und Nelken, sodann wieder eine ganze Reihe der unvermeidlichen Compositen, wie gefüllte Zinnien, Astern, Marienblümchen, Kornblumen, Ringelblumen, Georginen, Wucherblumen, die niedliche Sanvitalia procumbens und viele andere.

Während in dem Bouquetmaterial mehrere Moosarten unserer Wälder, insbesondere das gemeine Astmoos, denen man verschiedene Nüancen zu geben versteht, die wichtige Rolle übernehmen, in den Gebilden der Bouquetbinderei an die Stelle des Laubes zu treten, Leerräume auszufüllen und die einzelnen Blumen auseinander zu halten, ist den Gräsern die nicht minder wichtige Aufgabe zugewiesen, zu lockern und die Contouren des Bouquets, des Kranzes etc. in angenehmer Weise zu unterbrechen, je lockerer aber, zierlicher und leichter ihre Aehren und Rispen gebildet sind, desto besser sind sie dieser Aufgabe gewachsen, und je geringer die Dimensionen eines solchen kleinen Kunstgebildes sind, desto luftiger muß die zur Lockerung gewählte Grasart sein. Diesem Zwecke entsprechen in ausgezeichneter Weise mehrere Straußgräser, wie Agrossis nebulosa und pulchella, deren niedliche, zu einer Rispe vereinigte, von haarfeinen Stielchen getragene Aehrchen wie leichter Nebel über der Blüthenfläche schweben, und die Rasenschmiele, deren Rispen an zierlichem Habitus und an Eleganz diesen Straußgräsern kaum nachstehen.

Diesem Material schließen sich die Blüthenrispen einiger nicht zu den Gräsern zählender Gewächse an, die der weißblühenden Hainsimse und des rispigen Gypskrautes, einer im Süden einheimischen, aber bei uns mit Erfolg cultivirten Staude.

Kaum minder elegant als die oben genannten Grasarten ist das Zittergras unserer Wiesen, dessen reizend gebildete Aehrchen gleich an Fäden ausgehängten Glöckchen durch den leichtesten Windhauch in Bewegung gesetzt werden, und das auch auf den Kalkhügeln Thüringens vorkommende Federgras, das in Ungarn Waisenhaar genannt wird und einen charakteristischen Zug der Pußtenpoesie bildet; dasselbe wird wegen der wehenden, zartfederigen, silberweißen Grannen der Blüthenspelzen für große Bouquets häufig benutzt und verleiht ihnen eine unnachahmliche Leichtigkeit und Grazie.

Dem Zittergrase in manchem Betracht ähnlich ist die Zittergras-Trespe, doch sind die rispig geordneten Aehrchen massiger und so schwer, daß sich die Rispenäste in graziösen Bogen abwärts neigen. Diese und viele andere Grasarten verschiedenen Charakters kommen entweder blos getrocknet und so, wie die Natur sie gegeben (naturell), oder gebleicht oder auch künstlich mit zarten oder lebhaften Farben ausgestattet zur Verwendung. Bisweilen werden diese Grasarten für sich, ohne Laub und Blumen, zur Ausstattung von Vasen benutzt.

Hiermit haben wir den Haupttheil des Materials zusammengestellt, aus welchem die verschiedenartigsten Kunstgebilde bereitet werden, welche Jahr für Jahr, hauptsächlich zur Herbstzeit, als wandernder Frühling in unglaublicher Menge nach allen Gauen Deutschlands, nach Oesterreich, Rußland, selbst nach Amerika an Händler versandt werden, Bouquets, Blumenkörbe, Blumenampeln, Blumentische, Tafelaufsätze, Geburtstags- und Trauerkränze, sowie Kreuze, Anker und Kronen als Symbole der Hoffnung, „die der Mensch noch am Grabe aufpflanzt“.

Wenngleich die Bouquetbinderei so wenig, wie die Anzucht und Bereitung des Materials sich auf Erfurt beschränkt, so giebt es doch keine andere Stadt Deutschlands, von welcher diese Artikel so massenhaft ausgeführt werden, wie von dieser. Dieser Industriezweig ist somit für jene Stadt in sofern von Wichtigkeit, als viele arbeitslustige Hände in ihm Beschäftigung finden beim Aufsuchen wildwachsender und beim Sammeln cultivirter Gräser, beim Schneiden und Trocknen der Blumen, beim Befestigen derselben an Draht und beim eigentlichen künstlerischen Arrangement, das schon eine mehrjährige Beschäftigung mit diesen Gegenständen, entwickelten Farbensinn und Geschmack voraussetzt.

Meistens sind es junge Mädchen, denen die verschiedenen Zweige der Bouquetbinderei anvertraut werden, und mit Recht, denn es bedingt ja die zartere Organisation des schönen Geschlechtes – und zu diesem rechnen sich ja auch wohl die Blumenmädchen – eine höhere Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke aus dem Gebiete des Schönen und darum ein feineres und unmittelbares Urtheil über Sachen des Geschmacks, während die meisten Männer erst auf dem Umwege der Reflexion zu einem solchen gelangen. Ueberdies ist das Gemüth des Weibes bei jenen Blumenarrangements unendlich mehr interessirt, als das des Mannes; Ballbouquet, Haarputz, Brautkranz – wie viel ahnungsvolles Herzklopfen, wie manche Paradieshoffnung, aber auch wie manche herbe Täuschung knüpft sich an diese kleinen Kunstgegenstände!

Die jungen Mädchen, welche in der Bouquetbinderei ihren Erwerb suchen, entstammen zwar fast ohne Ausnahme ärmeren Familien und entbehren daher selbstverständlich einer besonderen Bildung, dennoch eignen sie sich bald die nöthigen technischen Fertigkeiten, und die Begabteren durch mehrjährige Uebung meistens auch das an, was man feinen Geschmack nennt. Die geschmackvollsten Gegenstände dieser Art aber haben wir in der Hand von Damen mit echter Bildung entstehen sehen, von denen man annehmen durfte, daß ihr Herz noch im Vollgenusse des Jugendglückes und in poesievoller Weltanschauung schlüge. Ohne sich der Regeln der Kunst bewußt zu sein, schafft ihre Hand, gehoben durch ein sinniges Gemüth und ein fein organisirtes Auge, oft vollendet Schönes.

Der am meisten begehrte Artikel der Blumenbinderei ist ohne Zweifel das Bouquet. Man hat von demselben verschiedenartige Formen, je nachdem sie in Vasen gesteckt, in der Hand oder am Herzen getragen werden sollen. Leider aber sieht man in den Blumenläden nicht gar selten mißglückte, ja wahrhaft monströse Gebilde dieser Art. Die Kunst nimmt ihre Vorbilder aus der Natur; diese allein ist ihre erste und reinste Quelle. Es wird somit auch die Bouquetbinderei ihre Modelle in der Natur suchen müssen und findet sie in den zusammengesetzten Blüthenständen, den Cymen oder Doldensträußen, den Rispen, den wirklichen Dolden und anderen mehr oder weniger regelmäßigen Blüthenständen. Aber alle diese Blüthenstände bauen sich graziös und locker auf und lassen in ihren Zwischenräumen das Spiel des Lichtes und des Schattens zu. Betrachten wir dagegen die Bouquets, wie sie von manchen vermeinten Blumenkünstlern componirt werden, so finden wir in ihnen nichts weniger, als den Anschluß an die Natur, indem sie, abgesehen von den Contouren, eine festgeschlossene Blumenmasse darstellen, welche geradezu unschön und geschmacklos ist. Was aber die Zusammenstellung des Materials und seiner Farben anlangt, so leidet sie zu oft an Buntscheckigkeit und zu auffallender Regelmäßigkeit, die sich bisweilen sogar bis zur Darstellung concentrischer Ringe und sonstiger geometrischer Figuren, selbst bis zur Wiedergabe von Namenszügen. Wappen etc. versteigt. Letzteres allerdings auf Bestellung, wogegen sich ja selbstverständlich nichts einwenden läßt.

In neuerer Zeit verwendet man für Bouquets viele Kunstblumen und zur Anfertigung der letzteren bisweilen die heterogensten Dinge. Vor einer Reihe von Jahren waren in Paris in Folge des ungünstigen Sommers im darauf folgenden Winter Blumen selten und theuer. Zur Deckung des Bedarfes wurden unter Anderem Rüben zu Hülfe genommen, die sich unter geschickten Händen in reizende blumenartige Gebilde umwandelten. Kamellien wurden so täuschend aus dem weichen Material geschnitzt, Blättchen für Blättchen und so genau in Übereinstimmung mit der Natur, daß selbst ein im Anschauen solcher Blumenformm geübtes Auge getäuscht werden konnte. Diese Rübenblumen befestigte man an das Ende junger Zweige des Kirschlorbeers, welche in einiger Entfernung jungen Kamellienzweigen ähnlich sehen.

Welche Vollendung man aber in neuester Zeit Kunstblumen aus Seide oder ähnlichen Stoffen zu geben weiß, davon zeugten in der erwähnten Ausstellung zwei mit solchen Gebilden gefüllte Körbe, welche allgemeine Bewunderung hervorriefen.[1] – Wie hoch sich in Erfurt der Export von Erzeugnissen der Blumenbinderei beziffert, der hauptsächlich durch die Firmen N. L. Chrestensen, G. A. Schmerbitz und J. C. Schmidt repräsentirt wird, läßt sich auch nicht einmal annähernd angeben.

Die Unterhaltung eines solchen Ateliers erfordert aber nicht allein mancherlei Vorrichtungen zum Trocknen, Färben, Beizen und Schwefeln der betreffenden Pflanzentheile, sondern auch die Beschaffung der verschiedenartigsten Hülfsmittel, wie Kranzreifen, Gefäße und Gestelle für die zahlreichen Formen der Erzeugnisse der Binderei, Blumenkästchen und Körbchen aus allerlei Material, [856] Weiden-, Draht-, Stroh- und Rohrgeflecht, Porcellan, Terracotta etc., in einer reichen Auswahl von Mustern. Vor Allem wichtig aber ist die Manchette, welche, wie der Kelch die Blume, die Rückseite des Bouquets zu umfassen, während der Bouquethalter die zusammengebundenen Stiele, den Stengel des Bouquets, zu verhüllen bestimmt ist.

Wie groß aber auch bei den Manchetten die Mannigfaltigkeit der Muster und Stoffe ist, aus denen sie gefertigt werden – Papier, Gold- und Silberpapier mit oder ohne durch Farbendruck hergestellte Madaillons, Tarlatan, Blonden, Atlas etc., – immer haben sie, worauf auch ihr Name deutet, einen mehr oder weniger breiten, in der Weise der Spitzen ausgeschlagenen Rand von bald aufrechter, bald hängender Stellung.

So hat sich in dem verhältnißmäßig kurzen Zeitraume von noch nicht zwanzig Jahren aus kaum beachteten Anfängen eine Industrie entwickelt, welche zwar dem in Erfurt bis zur Einführung des Indigo florirenden Waidbau an Großartigkeit nicht im Entferntesten zu vergleichen ist, nicht einmal dem vormals so berühmten Erfurter Weinbau, welche aber doch eine Summe von Kräften in Bewegung setzt, die nur Eingeweihten in ihrer ganzen Bedeutung erkennbar wird. Sie ist die nachgeborene Schwester des Samenhandels, der seine Fäden über den ganzen bewohnten Erdball geschlagen hat, und konnte nur hier so rasch und kräftig sich entwickeln, wo das Verständniß für die Blumen so allgemein und Gelegenheit zum Studium etwa verwendbarer Materialien so reichlich geboten ist.




Aus den Erinnerungen eines russischen Publicisten.
Von Friedrich Meyer von Waldeck.
2. Ein Stündchen beim Kanzler des norddeutschen Bundes.

Als der Sommer des Jahres 1866 in’s Land gekommen, erschien auch uns im hohen Norden der politische Horizont nicht vollkommen klar, aber an einen Krieg, einen unmitttelbar bevorstehenden Krieg glaubte Niemand. Ich beurlaubte den treu mir zur Seite stehenden ersten Gehülfen in eine weit entlegene Sommerfrische und gedachte mich in der ruhigeren Zeit des Sommers mit der verdoppelten Arbeit allein durchzuschlagen. Das erschien an sich diesmal schon keine kleine Aufgabe, da eine wahrhaft saharische Hitze den Körper lähmte und den Geist erschlaffte.

Die Differenzen zwischen Preußen und Oesterreich hielt man in unseren Kreisen nicht für tiefgreifend genug, um einen Krieg zwischen verwandten Stämmen herbeizuführen. Die Vermittelung des Kaisers Alexander schien die Gefahr eines blutigen Conflicts vollständig auszuschließen, und wir sahen dem Kommenden ruhig entgegen. Da brachte der plötzliche und unvermuthete Ausbruch des Kampfes zwiefache Ueberraschung, und dazu mir keinen gelinden Schrecken, da ich nun einer vielfach gesteigerten Arbeit ohne kräftige Unterstützung entgegensehen mußte. Aber die Nachricht, welche die in Petersburg lebenden eingewanderten Deutschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, trug ein Moment in sich, wohl geeignet, auch die schwerste und anstrengendste Arbeitslast leicht zu machen. Wie ein dunkler Schleier zerriß es vor meinen Augen; ich sah das Buch der Zukunft vor mir aufgeschlagen und las darin in goldenen Riesenlettern: „Das ist der Weg zu Deutschlands Einheit.“

Mancher Leser wird bei diesen Worten denken: „Es ist keine Kunst, die Vorhersagung von Thatsachen für sich in Anspruch zu nehmen, die seit einem Decennium der Vergangenheit angehören,“ aber die täglichen Leitartikel der „St. Petersburger Zeitung“ aus jener Zeit, die ich damals sämmtlich allein zu schreiben hatte und die in den gesammelten Exemplaren des Blattes im Archive der Redaction, in der Bibliothek der Akademie und in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt sind, können jedem Ungläubigen sofort zum Beweise dienen, daß ich beim Eintreffen der Kriegsbotschaft in der That die richtige Ansicht von der Tragweite des Ereignisses hatte und öffentlich aussprach.[2]

Und das kostete keinen geringen geistigen Kampf, mir selbst und den Petersburger Deutschen gegenüber. Fast ausnahmslos gehörten wir in der Politik einer liberalen Richtung an und hegten für das preußische Regiment, und namentlich für den Minister Graf von Bismarck-Schönhausen, nichts weniger als sympathische Gefühle. Als ich mich nun in mehreren fortlaufenden Artikeln ganz entschieden auf die Seite Preußens stellte und darauf hinwies, daß hier die Zukunft Deutschlands sei für alle Zeit, stieß ich auch in deutschen Kreisen, und gerade bei den besseren, zunächst auf Widerstand, der sich aber bald in herzliche und begeisterte Zustimmung verwandelte. Das Mißtrauen, welches die deutschen Landsleute in Russland anfänglich dem Vorgehen Preußens entgegengetragen, verwandelte sich bald in enthusiastische Anerkennung, die man nicht selten mir persönlich zubrachte und die mich mit Freude und Befriedigung erfüllte. Man wird es begreiflich finden, daß mir unter diesen Umständen die in der That sehr bedeutend anwachsende Arbeit leicht von der Hand ging, und ich habe – die Zeit des Krieges gegen Frankreich ausgenommen - nie wieder mit solcher Lust, und ich darf wohl sagen, mit solchem Erfolge die Feder geführt.

Meine Stellung war dabei eine eigenthümliche und keineswegs dornenfreie. Der russische Hof und die gesammte russische Presse stand auf österreichischer Seite; natürlich auch das Journal de St. Petersbourg, das officiöse Organ des Ministeriums des Auswärtigen, welches in den Jahren 1870 und 1871 einen völlig unparteiischen Standpunkt einzunehmen wußte. Tag und Nacht trafen Telegramme ein, bald aus dem preußischen, bald aus dem österreichischen Lager. Die russische Presse erklärte die letztere für die reine, ungeschminkte und unangreifbare Wahrheit, [857] während es mir nicht schwer wurde, die tatsächliche Unmöglichkeit dieser Nachrichten aus den begleitenden Umständen nachzuweisen. So führte ich täglich mit den Waffen des Humors und der Satire den Kampf gegen die gesammte Presse St. Petersburgs.

Unter diesen Verhältnissen war es natürlich, daß sich zwischen der diplomatischen Vertretung Preußens am russischen Hofe und mir Beziehungen bildeten, welche mich in meiner Arbeit und meinem Streben ermuthigten und förderten. Der damalige Geschäftsträger, der leider zu früh verstorbene, hochbegabte Graf Heinrich von Keyserling-Rautenburg, welcher mir, neben seinem Dank für die kräftige Unterstützung der preußischen Politik, persönlich zugethan war, versah mich mit allen Nachrichten von Wichtigkeit, die er erhielt, und gab mir so neue und zuverlässige Waffen zur Fortsetzung des Streites in die Hand.

Gegen Ende des Krieges erließ ich im Verein mit dem nun längst entschlafenen Akademiker von Kämtz einen Aufruf zu Beisteuern für die Verwundeten, wobei jeder, welcher eine Gabe darbrachte, bestimmen konnte, welcher von beiden Armeen sein Schärflein zu Gute kommen sollte. Der Ertrag unserer Sammlung belief sich auf viele Tausende von Rubeln und eine ganze Schiffsladung Leinwand, Wäsche, Charpie u. dgl. Alles war für Preußen bestimmt, mit Ausnahme von hundert Rubeln, welche der österreichische Consul für Oesterreich gespendet hatte.

Welchen Anstrengungen ich mich während des freilich wunderbar schnellen Verlaufs des Krieges hatte unterziehen müssen, machte sich erst nach eingetretener Ruhe fühlbar, und ich sah mich genöthigt, im Sommer 1867 eine längere Cur- und Erholungsreise anzutreten. Beim Abschiede äußerte Graf Keyserling den Wunsch, ich möchte mich in Berlin dem inzwischen zum Kanzler des Norddeutschen Bundes gewordenen Grafen von Bismarck vorstellen, für dessen Größe ich jetzt die aufrichtigste und begeistertste Verehrung empfand. Ich brauche nicht zu sagen, mit welcher freudigen Bereitwilligkeit ich auf die Idee des befreundeten Diplomaten einging.

Am 11. August um halb neun Uhr Abends wollte mich Graf Bismarck empfangen. Er war erst in der Nacht vorher in Begleitung des Legationsraths von Keudell nach Berlin von Ems zurückgekehrt, wo er bei seiner Majestät dem Könige verweilt hatte. Punkt halb neun Uhr befand ich mich in dem Empfangszimmer des Bundeskanzlers. Er war ausgefahren, wurde aber in kürzester Frist zurückerwartet. Zehn Minuten später rollte ein Wagen auf die Rampe, und ich wurde ersucht, in das Cabinet des Bundeskanzlers zu treten.

Graf Bismarck kam mir entgegen und reichte mir die Hand. Er bat um Entschuldigung, daß er mich habe warten lassen, er habe jetzt viel mit der Einrichtung des Sitzungslocals für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu schaffen.

Nach einigen Worten von meiner Seite sagte Graf Bismarck:

„Sie sind uns eine so kräftige, eine mit so viel Dank anerkannte Stütze, daß ich, obgleich ich eben von der Reise zurückgekommen und mit Geschäften überhäuft bin, es mir nicht habe versagen wollen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Der Graf reichte mir einen Sessel und ersuchte mich, Platz zu nehmen. Wir setzten uns.

„Sie sind kein in Russland geborener Deutscher,“ fuhr Graf Bismarck fort, „man hört das sogleich an Ihrer Mundart.“

„Ganz richtig, Herr Graf,“ erwiderte ich, „ ich bin ein Waldecker. Eigenthümlicher Weise wollen aber gerade in meiner Sprache viele erkennen, daß ich aus Russland komme.“

„Die müssen für die Nuancen der Dialekte kein feines Ohr haben; bei Ihnen kann durchaus kein Zweifel sein. – Ihre Stellung ist jetzt eine sehr schwierige geworden, wie ich höre.“

Ich bestätigte diese Ansicht und schilderte dem Bundeskanzler die ununterbrochenen Angriffe und Machinationen der nationalen Partei, ihren brennenden Haß gegen die Deutschen und alles deutsche Wesen und ihre Versuche, das russische Volk gegen die Deutschen aufzuhetzen.

„Und doch sind die höheren Regionen der russischen Gesellschaft von diesem Hasse durchaus frei geblieben,“ entgegnete der Kanzler. „Ich habe viele vornehme Russen gesprochen, welche die Gesinnungen und Stimmungen jener Partei keineswegs theilen.“

Ich bestätigte, daß die unteren und oberen Schichten des russischen Volkes von dem Haß der politischen Spitzführer gegen die Deutschen noch nicht inficiert worden, der seinen Herd vorzüglich in der mittleren Sphäre, den Kreisen der niederen Beamten, Literaten etc. habe.

„Ich glaube nicht, daß dieser Haß jemals in andere Kreise vordringen wird,“ sagte Graf Bismarck. „Es kann ja auch nicht anders sein; der Russe wird den Deutschen nie entbehren können. Der Russe ist ein sehr liebenswürdiger Mensch. Er hat Geist, Phantasie, ein angenehmes Benehmen, gesellige Talente – aber täglich auch nur acht Stunden arbeiten, und das sechs Mal in der Woche und fünfzig Wochen im Jahr – das wird in Ewigkeit kein Russe erlernen. Ich erinnere mich der treffenden Worte, die ein russischer Militär in meiner Gegenwart äußerte. Die Unterhaltung berührte den Umstand, daß so viele Officiere deutscher Abstammung in der russischen Armee bis zum General avanciren. ‚Wie sollte ein Deutscher nicht General werden!‘ sagte jener Militär, ‚er trinkt nicht; er stiehlt nicht; er ist nicht liederlich; er reitet sein Pferd selbst – da muß er es schon bis zum General bringen.‘“

„Ein vortrefflicher Beitrag zur Charakteristik des russischen Volkes,“ sagte ich, „ist die Schilderung der Art und Weise, wie der russische Edelmann zu Bette geht. ‚Jesim,‘ sagt er zu dem Diener, ‚entkleide mich!‘ Es geschieht. ‚Gieb mir zu trinken!‘ Jesim gehorcht. ‚Lege mich in’s Bett!‘ Jesim thut es. ‚Decke mich zu!‘ Jesim deckt ihn zu. ‚Bekreuzige mich!‘ Jesim schlägt das Kreuz über seinen Herrn. ‚So,‘ sagte derselbe, ‚nun kannst Du gehen; das Einschlafen werde ich selbst verrichten.‘“

„Und ich bin überzeugt,“ sagte Graf Bismarck herzlich lachend, „daß gerade die ärgsten jener Schreier keine Arznei einnehmen würden, die ein russischer Apotheker bereitet hat. Die deutschen Apotheker, Bäcker, Wurstmacher etc. wird man in Russland nie entbehren können. Aber auch in ganz anderen, viel höheren Sphären werden sich die eigenthümlichen Eigenschaften des deutschen Namens stets Geltung verschaffen. Der Reichskanzler Fürst Gortschakow war unter der Regierung des Kaisers Nikolai lange in unbedeutenden, untergeordneten Aemtern zurückgehalten worden; man hatte seine bedeutende Begabung nicht erkannt. Der Fürst schrieb die Zurücksetzung, die er erfahren, dem deutschen Einfluß zu, und als er an’s Ruder kam, entfernte er, wo es irgend zulässig war, alle Deutschen aus dem Geschäftsgebiet seines Ministeriums. Sehen wir uns nun heute nach dem Resultat um: Die wichtigsten Gesandtschaften: London, Paris, Wien etc. sind mit Deutschen besetzt, die talentvollsten Redacteure des Ministeriums sind Deutsche; [3] ja, Fürst Gortschakow selbst würde nicht die Arbeitskraft haben, die er besitzt, wenn seine Mutter nicht eine Deutsche gewesen wäre; ich habe ihm das selbst gesagt.“

Das Gespräch wendete sich nun zu den von der russischen Presse hier und da ausgesprochenen Befürchtungen, die deutsche Begehrlichkeit werde ihre Hände nach den baltischen Provinzen oder Polen ausstrecken. Ich erzählte dem Grafen, wie oft ich in ausführlichen Exposés den unwiderlegbaren Beweis geführt habe, daß der Erwerb der russischen Ostseeprovinzen für Preußen nur eine Schwächung sein könne, daß es mir aber nicht gelungen sei, die russischen Germanophoben zu überzeugen und zu beruhigen.

„Was sollte uns auch dieser lange, vorgeschobene Streifen zwischen dem Meer und Polen, ohne Hinterland – ein Nichts, für das wir die ewige Feindschaft Russlands eintauschen würden,“ sagte Graf Bismarck. „Nein, es ist besser so. Die Deutschen in den Ostseeprovinzen müssen auch in Zukunft der Guano sein, der jene große russische Steppe düngt. Auch wäre den Bewohnern jenes Landstrichs durchaus nicht damit gedient, wenn sie preußisch würden. Unsere preußische Verfassung mit lettischen und estnischen Urwählern wäre für die kurischen und livländischen Barone, wie ich sie kenne, ein sehr zweifelhaftes Vergnügen.“

Nachdem das Gespräch noch kurze Zeit bei den Ostseeprovinzen verweilt, fuhr der Bundeskanzler fort:

„Was Polen betrifft, so haben wir niemals begehrliche Absichten gehegt und werden solche niemals haben können. In [858] Bezug auf Polen ist unsere Bestimmung, das Land im Verein mit Russland zu pacificiren; das haben wir deutlich genug kundgegeben.“

„Russland und Preußen,“ sagte der Graf nach einer kurzen Bemerkung von meiner Seite, „sind auf das freundschaftlichste Verhältniß zu einander angewiesen. Beide Reiche sind rein defensiver Natur und müssen sich gegenseitig stützen. Zur Zeit des Krimkrieges hatte Oesterreich mit Preußen die Abmachung getroffen, letzteres solle beim Eintritt bestimmter Eventualitäten eine Armee an der russischen Grenze aufstellen. Oesterreich glaubte eines schönen Tages, der vorgesehene Moment sei gekommen, und verlangte von Preußen die stipulirte Aufstellung eines Heeres an Russlands Grenze. Friedrich Wilhelm der Vierte, unser damaliger Herr, berief mich aus Frankfurt a. M., wo ich zur Zeit Bundestagsgesandter war, und wollte meine Ansicht in der Sache hören. ‚Stellen Sie eine Armee auf,‘ sagte ich, ‚aber nicht an der polnischen Grenze, sondern in Oppeln, dann können Sie Europa den Frieden dictiren.‘ Aber Friedrich Wilhelm der Vierte hatte für dergleichen energische Schritte ein zu zart besaitetes Nervensystem und meinte, wir hätten zum Demonstriren nicht Geld genug. Man kannte eben damals noch nicht die Kraft unserer Armee.“

„Ich habe es dem Fürsten Gortschakow gesagt: Ihr Wohlwollen für Preußen haben Sie billig; Sie sind darauf angewiesen, mit diesem Nachbar Freundschaft zu halten. Preußen ist das Tampon zwischen Frankreich und Russland, und wenn Sie ein Bündniß mit Frankreich in Aussicht stellen, so kann sich Preußen nur darüber freuen. Eine solche Allianz wäre die sicherste Gewähr, daß Sie uns Frankreich vom Leibe halten, denn uns können und dürfen Sie nichts thun.“

„Ja,“ setzte der Graf lächelnd hinzu, „die Politik ist die Lehre vom Möglichen.“

Das Gespräch wendete sich wieder zu den Agitationen der enragirten, russisch-nationalen Partei, der Katkow und Genossen, und der Graf meinte, dieses Treiben habe so wenig reelle Basis und sei eine solche Thorheit, daß es sich nothwendig im Sande verlaufen müsse. Er gab mir den Rath, jene Angriffe nicht immer ernst zu nehmen und mir dann und wann auch einmal über den Kopf schießen zu lassen, ohne mir viel daraus zu machen.

„Es wäre eine große Thorheit von Russland,“ sagte Graf Bismarck, „wenn es die Ostseeprovinzen entnationalisiren und russificiren wollte. Es würde sich dadurch des Stammes ehrlicher Staatsdiener berauben, den es von dort bezieht. Ist es doch eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß der zum Russen gewordene Deutsche viel ärger ist, als der Russe selbst. Der Russe stiehlt, um einem augenblicklichen Bedürfnisse abzuhelfen, wenn aber der Deutsche stiehlt, so denkt er dabei an die Zukunft und sorgt für Frau und Kinder. Da kommt die énergie teutonique hinzu, wie mir ein geistreicher Russe einst sagte.“

Ich erwartete, daß der Bundeskanzler mich in üblicher Weise entlassen werde. Da er aber nicht die geringsten Anstalten dazu machte, hielt ich es für meine Pflicht, seine Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen und aufzubrechen. Zum Abschiede reichte er mir mit herzlichem Gruße beide Hände, wünschte mir glückliche Reise und entließ mich mit den Worten:

„Nun, werden Sie nicht müde und kämpfen Sie wacker, vergessen Sie aber auch nicht, daß Vorsicht der beste Gefährte der Tapferkeit ist!“

Graf Bismarck machte auf mich einen ungleich angenehmeren Eindruck, als alle Bilder, die ich bis dahin von ihm gesehen. Seine große, imposante Gestalt war damals noch schlank, seine Züge schön und ausdrucksvoll. Die Stimme, wie der Ausdruck seiner Mienen, hatte während der Unterhaltung etwas ungemein Mildes. Sein schalkhaftes Lächeln war überaus gewinnend.



Aus der guten alten Zeit.
Der tolle Markgraf von Ansbach.

Im Grunde sind die Hohenzollern keine Jagdfamilie, wie die Habsburger, die Bourbons, die Anhaltiner. Die fränkische Linie jedoch des Hauses Hohenzollern lag, in Ermangelung weiterer auf höhere Ziele gehender Beschäftigung, dem Waidwerke so eifrig ob, daß der Markgraf Karl Wilhelm Friedrich, wie man damals im Ansbacher Lande sich sagte, selbst ein halber Hirsch geworden war.

Sobald die Dunkelheit einbrach, hörte man überall auf der Flur weithin das laute Geschrei von Menschen. Sie geberdeten sich in ihrem Eifer, ihre Stimmen möglichst laut ertönen zu lassen, wie die besessenen Derwische. Eigenthümlich! Und das ging durch ganze Markungen. Die Lösung des Räthsels war folgende. Der Wildstand, namentlich an Hochwild, war im markgräflich ansbachischen Gebiete außerordentlich groß. Den Wildstand zu pflegen ließen sich die Nimrode von Ansbach weit mehr angelegen sein, als dem armen Bauer, der im Schweiße seines Angesichts das Brod baute und die Steuern zahlte, die Saat, die Hoffnung seiner Arbeit zu schützen. Das Wild brach beim Einbruche der Dunkelheit aus den Forsten und fraß die junge Saat ab; das einzige Mittel dagegen war das Abschrecken durch laute Rufe. Durch die ganze Nacht mußten dieselben unterhalten werden, wenn nicht die Eigenthümer des Bodens ihre Ernte auf’s Spiel setzen wollten, im Sommer wie im Winter. Kein Gewehr, kein Knittel, kein Hund durfte dazu verwendet werden – das war bei Zuchthausstrafe verboten.

Solche Zustände existirten noch zu einer Zeit, wo die große auf die Befreiung des Individuums hinzielende geistige Bewegung in vollster Blüthe stand und schon Früchte zu treiben begann. Als das Land an Preußen überging, wurde dieser Barbarei ein Ende gemacht. Eine der ersten Regierungsmaßregeln Hardenberg’s war, daß er das Hochwild bis auf einen gewissen Bestand abschießen ließ. Die ärgsten Mißstände in dieser Beziehung existirten unter dem vorletzten Markgrafen, dem bereits genannten Karl Wilhelm Friedrich, der im Lande und bei seinen Zeitgenossen nur „der tolle Markgraf“ genannt wurde.

Er war im Jahre 1712 geboren und durch seine Gemahlin Friederike Louise ein Schwager Friedrichs des Großen. Nachhaltigen Einfluß scheint die doppelte Verwandtschaft eben nicht auf ihn gehabt zu haben. Die beiden Schwäger standen auch in keinem besonders freundlichen Einvernehmen zu einander. Der Markgraf behandelte die Schwester des Königs in der unwürdigsten Weise. Als etwas ganz Außerordentliches ereignete es sich, wenn der fürstliche Gemahl zur Feier eines Geburtstagsfestes mit der Gemahlin einmal ein paar Tage zusammen war, und dann befand er sich von früh Morgens bis zum späten Abend auf der Jagd.

Vor seinem Schwager, dem Könige von Preußen, scheint er keinen sehr großen Respect gehabt zu haben. Der König war ja doch kein Jäger: dieser hatte auch nur kriegerische Trophäen aufzuweisen; er spürte nur dem geistigen Wilde vergangener und gegenwärtiger Zeit nach. Was war das gegen die Trophäen, wie er sie im Schloßhofe von Ansbach aufzuweisen hatte, in den Geweihen von jagdbaren Hirschen, in den angeschlagenen Eber-, Wolfs- und Bärenköpfen, diesen Trophäen seines wilden Geistes! Das war doch etwas ganz Anderes. Das ganze Land war sein Jagdrevier, sein Jagdpersonal fast ebenso groß, wie seine Armee. Die Falknerei allein bestand aus einem Personale von nahe an fünfzig Personen. Es ist anzunehmen, daß er in Ermangelung des Wildes seine Untertanen abgeschossen hätte und selbst seine Kammerherren nicht geschont haben würde, deren er über hundert hatte.

Mit seinen Nachbarn, den regierenden Herren von Nürnberg, stand er stets auf Kriegsfuß. Er besaß einen Affen, der die Tracht eines Nürnberger Rathsherrn trug, und nicht selten wurden die Bewohner Nürnbergs durch Büchsenknallen aus ihrem Schlafe aufgeschreckt. Das war das Zeichen, daß der Markgraf da war und unter den Mauern von Nürnberg, bis wohin sein Gebiet sich erstreckte, Jagd abhielt. Die Hasen wurden in Säcken herbeigeschafft, um so durch diesen Rebus den Nürnbergern ihren Spitznamen „Sandhasen“ recht eindringlich zu machen.

[859] Seine Meute war in einem Gehege unweit des Lustschlosses Triesdorf untergebracht. Triesdorf selbst umfaßte einen der größten Thiergärten, die man in deutschen Landen finden konnte.

Eines Tages eilte er von der Jagd nach Hause, sehr übler Laune über die schlechte Jagd. Der Leibpiqueur, der mit ihm ritt, sah den Ausbruch eines Wuthanfalles vorher. Gewöhnlich entlud sich derselbe auf den Nächsten, Besten, der in der Nähe war, und der schlaue Jäger wollte dieser Gefahr entgehen. Er suchte die Gedanken des Markgrafen auf die Meute zu lenken und erreichte auch seinen Zweck, indem er bemerken konnte, daß die Hunde nicht scharf genug gewesen wären, nicht zugefaßt hätten, dadurch sei der Hirsch ihm durch die Lappen gebrochen. Nach seiner Ansicht würde überhaupt die Meute vom ersten Piqueur, der zu ihrer Pflege bestellt sei, vernachlässigt. Der Markgraf schwieg. Statt den Weg unmittelbar nach dem Schlosse einzuschlagen, bog er nach dem Wartehofe der Hunde ab.

Die Rüden waren von der Jagd heimgeführt worden; man hörte ihr lautes Gebell inmitten der hohen Mauern, die den Hof umschlossen, und dann den Ruf des Wärters, der sie in die Ställe zurücktrieb.

Das Wärterhaus lag unmittelbar vor dem Rüdenhof; der Haupteingang in denselben ging durch das Haus; der Hof hatte nur noch einen kleinen engen Ausgang nach dem Thiergarten. In dem Wärterhause wohnte der erste Piqueur, der die Pflege der Hunde unter sich hatte. Es waren deren über zweihundert. Der zweite Piqueur, der mit dem Markgrafen ritt, war früher ein Mitbewerber um die Gunst der schönen Els von Gunzenhausen gewesen – sie war keine Adelige, aber so schön und liebreich, daß sich wenig Edelfräulein mit ihr messen konnten. Sie wohnte gleich vorn am Thor von Gunzenhausen, war des Thorschreibers Tochter. Aus der schönen Els von Gunzenhausen war nun die Frau des ersten Piqueurs geworden; sie hatte einen braven und hübschen Mann bekommen, was ihr eben von ihrem Mitbewerber nicht zu Theil geworden wäre. Dieser sollte ihr darum auch heimlichen Haß nachtragen. Ihr ältester Knabe spielte im Augenblicke, wo der Markgraf anritt, vor dem Hause, ein bildschöner, braunäugiger Bube. Er hatte sich Haidekraut gepflückt und war damit beschäftigt, sich daraus einen kleinen Garten einzurichten. Er muß den Tritt des Rapphengstes des Markgrafen schon gekannt haben, denn er floh bei dem Geräusche ängstlich in das Häuschen. Es war so Sitte bei den Unterthanen, daß sie ihrem Landesherrn behutsam aus dem Wege gingen; man war nie sicher, ob man von ihm nicht Eins auf den Pelz bekam.

Vor dem Wärterhäuschen hielt der Markgraf. Niemand war zu sehen. Das reizte seinen Zorn. Dann sah er den Knaben furchtsam hinter der Thür hervorlugen.

„Willst her kommen?“

Das Kind zögerte.

„Sacrementischer Bub’ – willst?“

Scheu und zitternd kam das Kind aus seinem Versteck zum Vorschein. Der Anblick des Kleinen schien seinen aufsteigenden Zorn zu bezwingen. Das Gesicht war nicht mehr so dunkelroth, als noch einige Secunden zuvor.

„Wo ist Dein Vater?“

„Aus dem Hof. Er giebt den Hunden Appell.“

„Geh, sag ihm, er soll herkommen!“

Und der Bube lief was er konnte, um dem Markgrafen aus dem Gesichtskreis zu kommen. Wenige Minuten nachher kam ein junger, hübscher, brünetter Mann in der rothen Piqueurjacke durch den Hausgang, machte einen unterthänigen Bückling und blieb auf der Schwelle seines Hauses stehen, der Anrede des fürstlichen Herrn gewärtig.

„Warum waren die Hunde beim Lüften so lässig?“

„Das weiß ich nicht, durchlauchtige Gnaden. Die Thiere scheinen mir nicht recht gesund zu sein. Ich habe schon einmal Durchlauchtige Gnaden zu sagen mir verstattet, daß vielleicht der Stall die Ursache ist – er ist zu feucht.“

Ein lautes Hohnlachen aus dem Munde des Markgrafen war die Antwort.

„Warum sollen Thiere nicht ebenso wie Menschen allerlei Gebresten unterworfen sein?“

„Pack’ Deine Zunge in Deinen Rachen! Meine Ställe zu feucht! Vielleicht Dein Beutel zu tief in dem mein schönes Geld für die gute Fütterung verschwindet. Am Ende giebst Du ihnen das Aasfleisch abgeluderter Pferde – stehst mit dem Schinder auf gutem Fuß. Was? Wie? Sprich, Halunke!“

„Das ist nicht an dem, durchlauchtige Gnaden. Die Thiere kriegen das Fleisch, das sie zu bekommen haben, und auch die übrigen Portionen voll und reichlich.“

„Will Er wohl schweigen? Er hat nichts zu raisonniren gegen Seinen Herrn.“

„Aber wenn mich durchlauchtige Gnaden an meinem Point d’honneur anfassen, dann hat jeder Mensch ein Recht –“

Der Piqueur konnte seine Rede nicht vollenden. Der Markgraf hatte in seiner aufwallenden Zorneswuth die Pistole aus der Halfter gerissen – ein Knall – der Piqueur taumelte, machte mit dem Körper einige Wendungen, fiel vorn über und dann zurück. Auf den Schuß waren seine Frau und auch der kleine Knabe herbeigeeilt; sie kamen gerade noch zur Zeit, um das Sterben des Vaters zu sehen. Das Blut floß aus der Wunde am Kopf und in seinem Jammer holte das Kind sein Haidekraut herbei, um das Blut zu stillen. Umsonst! Nach wenigen Minuten war der Piqueur eine Leiche. Der Markgraf war davon geritten.

„Der Markgraf hat meinen Mann erschossen,“ schrie, jammerte die arme Frau. Und das Auge des Kindes folgte dem Davoneilenden mit einem Blicke des Hasses nach.

Jahre waren seit dieser Unthat vergangen. Von dem Markgrafen hatte man sich seitdem so viel Neues zu erzählen gehabt, daß man die alte Geschichte längst vergessen hatte. Auf dem Grabe des Leubinger – so hieß der Erschossene – war Gras gewachsen; ein neuer Piqueur wohnte in dem Hundewärterhäuschen. Der Mann, der damals mit dem Markgrafen ritt, hatte den Lohn seiner Thaten geerntet: er hatte eines Tages Wolfsfallen gelegt und mußte dabei nicht mit der nöthigen Vorsicht zu Werke gegangen sein – man fand ihn in der Grube, seinen Leichnam von den Wölfen halb zerrissen. Die Wittwe des Erschossenen war mit einem Gnadengelde abgefunden worden und verschwunden sammt ihrem kleinen Buben. Wohin Beide gekommen, wußte Niemand.

Da meldete sich eines Tages beim Obrist-Falkenmeister ein junger Mensch von etwa einundzwanzig Jahren, im Aeußern ein echtes Jägerblut, schlank von Wuchs, braun von Augen und Haar und mit einem gar anmuthenden Wesen. Er nannte sich Martin Wendel und kam aus dem Hohenloheschen herüber mit einem Empfehlungsschreiben des Oehringer Ober-Jägermeisters. Er wurde zum fürstlichen Waidwerke als besonders qualificirt empfohlen, wisse auch mit Pferden umzugehen, sei brav und geschickt, und man habe ihn fürstlicherseits ungern entlassen; er habe sich wo anders versuchen wollen. Wendel wurde angenommen und zeigte sich in seinem „Metier“ so vorzüglich, daß der Markgraf auf ihn aufmerksam wurde und er eines Vorzugs genoß, dessen mancher Kammerpräsident sich nicht rühmen konnte. In kurzer Zeit wurde der junge Mensch dem Nimrod von Ansbach so unentbehrlich, daß dieser ihn beständig um sich haben wollte, nicht nur draußen im Walde, sondern auch in den Prachtsälen des Ansbacher Schlosses. Er gehörte zur unmittelbaren Bedienung des Markgrafen, und nicht lange währte es, so stand der neue Leibjäger Seiner Durchlaucht in einer Gnade und Gunst, um die ihn mancher vornehme Hofbeamte beneidete.

Keiner wußte sich auch so gut in die Launen des Herrn zu schicken. Wenn Alles vor den Wuthanfällen des Markgrafen zitterte und floh – der Leibjäger blieb und lachte. Er lachte, wenn der Markgraf guter Laune war – was nicht gar zu oft sich ereignete –, er lachte, wenn jener tobte und drohte. Der junge Mensch hatte in seinem Blicke etwas von jenen Eigenschaften, welche man den Bändigern wilder Thiere zuschreibt.

Als der Markgraf eines Tages an dem Rüdenhofe und dem Wärterhäuschen vorfuhr, schickte er seinen Leibjäger ab, um dem Piqueur sagen zu lassen, wann morgen früh zur Sauenjagd die Hunde auf die Fährte abgelassen werden sollten.

Der Leibjäger zögerte, den Befehl auszuführen.

„Nun?“ herrschte ihn der Markgraf an.

„Ich gehe nicht dahinein,“ erklärte der junge Mensch.

„Warum willst Du nicht gehen?“

„Ich kann’s nicht,“ war die Anntwort.

Dem Markgrafen kam der Zorn wieder, aber dann schallte ein so furchtbares Lachen an sein Ohr, und er sah in ein so todtenbleiches verzerrtes Angesicht, daß ein Beben über ihn kam.

[860] „Der Leubinger!“ stöhnte er für sich und befahl schnell weiter zu fahren. Er glaubte in dem jungen Menschen den erschossenen Leubinger vor sich gesehen zu haben.

Bald jedoch war das vergessen – der Leibjäger lachte wieder wie gewöhnlich. Da wurde das Schloß zu Ansbach der Schauplatz einer grausigen That, noch grausiger, als die vor dem Wärterhause des Rüdenhofes.

Der Markgraf hatte den Hosenbandorden von Georg dem Zweiten von England erhalten, und als Souverän gegen Souverän beschloß er, seinem „Herrn Vetter“ in England seinen Orden, den brandenburgischen rothen Adlerorden in Brillanten, als Gegenpräsent zu verehren. Es müßte besser mit den ansbachischen Finanzen bestellt gewesen sein, hätte der Markgraf eines Hofjuden entbehren können; ohne Maitresse, ohne Porcellanfabrik und ohne Hofjuden gab es damals wenige Fürsten. Isaak Nathan hieß der Ansbachische; unter dem bescheidenen Titel eines Residenten war er in der That der Finanzminister des Ländchens. Als solcher sorgte er aber weniger für das Land, als für die Bedürfnisse des Hofes. Der sollte auch die Diamanten für den Orden besorgen und übergab das Geschäft einem Stammgenossen, einem gewissen Ischerlein. Der Orden ging an den König ab. Es vergingen Monate, ohne daß eine Danksagung des Königs erfolgte. Da man mit Curialien im vorigen Jahrhundert noch mehr als in unserer Zeit es genau zu nehmen pflegte, so schöpfte der Markgraf Verdacht. Durch seinen Residenten in London ließ er sich erkundigen und erfuhr denn auch, warum ihn sein königlicher Vetter keiner Antwort gewürdigt hatte. Die Diamanten waren falsch – Ischerlein hatte seinen Glaubensgenossen und den Markgrafen betrogen. Der Betrüger wurde auf das Schloß citirt, zugleich aber auch der Scharfrichter. In den Gemächern des Markgrafen wurde die Execution an dem Uebelthäter vollzogen. Als Ischerlein den Scharfrichter erblickt hatte, suchte er in seiner Todesangst von dem Stuhle aufzuspringen, aber an den Stuhl bereits angebunden, schleppte er denselben mit durch die Hälfte des Saales, bis er vom Scharfrichter erreicht wurde, der ihm den Kopf vom Rumpfe trennte.

Außer den betheiligten Personen waren nur der Markgraf und der Leibjäger bei der gräßlichen Scene zugegen. Das dumpfe Gerücht der Unthat verbreitete sich bald im ganzen Schlosse. Die Laute des Schreckens erstarben dem märkgräflichen Gesinde auf der Zunge. Wer konnte sich vor den wahnsinnigen Ausbrüchen des Wütherichs noch sicher glauben? Aus Angst wagte man nur noch, sich das Entsetzliche in’s Ohr zu flüstern.

Der Leibjäger lachte und noch auffallender, als je zuvor.

Der Markgraf glaubte Gerechtigkeit geübt zu haben, wenigstens schien ihm der Tod des Juden keine Gewissensbisse zu machen.

Unter dem Gesinde wie in der Stadt war die Sage im Schwange, Ischerlein ginge im Schlosse um.

Kurze Zeit darauf entließ der Markgraf eines Abends seinen Leibjäger mit folgendem Befehl: „Morgen früh um acht Uhr auf die Pirsche nach Herrieden zu! Vielleicht, daß einige feiste Hirsche unseres Herrn Nachbars, des Eichstädter Pfaffen, auf unserm Revier wechseln und wir sie ihm abschießen können.“

An der Thür wandte sich Martin Wendel mit der Frage an seinen Herrn:

„Und wen befehlen Ew. durchlauchtige Gnaden zur Begleitung?“

„Niemanden. Nur Du kommst mit – Du fährst mich.“

Es war ein schöner Herbstmorgen, als die Beiden in einem offenen Jagdwagen aus dem Schloßthore hinaus auf die Straße gegen Herrieden zu hinfuhren. Der Markgraf saß im Fond; der Leibjäger fuhr. Die Gewehre standen im Wagen. Sie mochten etwa zwei Stunden Wegs zurückgelegt haben, bis zum Anfange eines Forstes, der die Straße von beiden Seiten umfaßte. Es war eine Einöde, rings nur Wald, keine von Menschen bewohnte Stätte zu sehen, nur wüstes Bruchland nach der Richtung hin, wo der Wald einen Ausblick eröffnete, nach dem Grenzsteine, der ansbachisches und eichstädtisches Gebiet schied. Der Lenker des Jagdwagens hielt an.

„Ist den Pferden was?“ rief der Markgraf.

Der Leibjäger gab keine Antwort und stieg ab.

„So fahr’ doch in drei Teufelsnamen zu! Wir sind noch nicht zur Stelle. Dort, hart an dem Grenzsteine will ich die Jagd machen, den Pfaffenjägern vor der Nase.“

„Es geht nicht weiter,“ sagte der Leibjäger mit düsterem Blicke.

„Kerl, so sag doch an, was nur ist!“

Da erhob sich die Stimme des bisher so unterwürfigen Dieners befehlend; gebieterisch und dämonisch wie ein Schicksal stand er vor dem Gewaltigen.

„Es geht überhaupt nicht weiter mit Euch, Markgraf. Hier ist die Grenze Eures Gebietes und Eurer Thaten. Steigt aus.“

So gewaltig und so lähmend war der Eindruck dieser Worte und der Person des Sprechers, daß der Markgraf fast willenlos dem Befehle gehorchte.

„Kniet nieder, Markgraf!“

Bei diesem Befehle kam das Bewußtsein seiner Persönlichkeit und der Stellung, die dieser Knecht zu ihm einnahm, wieder in voller Klarheit über den Fürsten.

„Ha, elender Hund, was muthest Du Deinem Herrn zu? Dein Mund soll Niemandem verkünden, wozu Du Dich gegen mich vergangen hast. Schon die Kunde davon wäre eine ewige Schmach für einen Fürsten.“

Er griff nach einem der Gewehre, die im Wagen standen, und legte auf den Jäger an. Der aber lachte und rief:

„Dafür ist gesorgt – die Gewehre geben keinen Funken. Das hättet Ihr eher thun müssen, um Euch zu vergewissern, ob sie geladen sind.“

Dem Markgrafen trat der Angstschweiß auf die Stirn. Sprachlos starrte er den Leibjäger an, und dann stammelte er:

„Aber ich war immer so gnädig gegen Dich.“

„Ja, so gnädig,“ sagte der junge Mensch, „daß Ihr mir den Vater erschossen habt.“

„Leubinger?!“ schrie der zum Tode geängstigte Fürst. „Ja, Du bist’s – jetzt erkenne ich Dich wieder. Ist es Dein Gespenst?“

„Nein, aber ich bin Leubinger’s Sohn, und meinen Vater, den Jammer und das Elend meiner Mutter an Euch zu rächen, das habe ich mir geschworen. Darum bin ich in Euren Dienst getreten; darum habe ich meinen Namen geändert; darum habe ich Eure Gunst gesucht, darum Eure wahnwitzigen Ausbrüche ertragen und nur zu Allem gelacht, Alles nur für diesen Augenblick. Es ist Euer letzter, Markgraf.“

„Hülfe, Hülfe!“

„Sehet doch, ob Euch die Raben, die da oben fliegen, noch helfen können! Nicht doch. Die sind lüstern nach Eurem Aase. Kniet nieder und betet ein Vaterunser!“

Der Markgraf sah in der Hand seines Gegenübers den Lauf einer Pistole blitzen, welche dieser bisher verborgen hatte.

„Gnade, Gnade – sei gut!“ stammelte der Fürst von Neuem. „Ich will Dir ja Alles geben, was Du willst; ich will Dir’s nicht nachtragen, nur schone mein Leben!“

„Wie Ihr das meines Vaters geschont habt. Kniet nieder!“

Und der Fürst kniete nieder, den Todesmoment erwartend. Er sah die Mündung der Pistole vor sich, fünf Schritte vor sich, nach seinem Herzen zielend – aber der sie in der Hand hielt, drückte das Geschoß nicht ab.

„Macht es kurz, kurz!“ stöhnte der Markgraf. „Zielt gut!“

Unbeweglich stand der junge Mann vor ihm, die dunklen blitzenden Augen unverwandt auf ihn gerichtet, zu prüfen, ob er auch die rechte Stelle träfe und sein Opfer nicht fehlte. Dem Markgrafen verging das Bewußtsein.

„Nein, nein!“ rief der junge Mensch, „ich will Euer Blut nicht – das würde vor dem da droben mich nur belasten und Euch von Euren Missethaten entsühnen. Tragt selbst Eure Sündenschuld! Euer Leben sei Eure Strafe! Den Tod habt Ihr schon gehabt in der Angst um das Leben, und ich habe meine Rache, daß ich Euch bittend zu meinen Füßen gesehen habe. Wir haben uns zum letzten Male gesehen, Herr Markgraf.“

Er steckte die Pistole zu sich und schlug die Richtung ein, die über die Grenze in das Eichstädtische führt. – Man war im Ansbacher Schlosse sehr erstaunt, als der Markgraf allein mit seinem Wagen. zurückkam. „Wo war der Leibjäger geblieben?“ fragte man sich. „Der wird schon einmal draußen im Grase gefunden werden,“ lautete die Antwort. Diesmal aber that man dem Markgrafen Unrecht. Kurz darauf starb er. Man sagt, vor Aerger über die preußischen Soldaten, die ihm, dem gut österreichisch Gesinnten, sein Schwager, der König von Preußen, in’s Land geschickt hatte. Hier, in dem nach einer Thatsache Erzählten, ist eine bessere Erklärung. Der Markgraf hatte den Vorfall kurz vor seinem Tode seinem Beichtvater erzählt.
Georg Horn.     



[861]

Michael Nikolajewitsch, Großfürst von Rußland.
Statthalter und Befehlshaber der russischen Armee in Kaukasien.
Nach einem Oelbilde in Tiflis.



Die pneumatische Brief-Beförderung in Berlin.

Man thut gewiß Unrecht, wenn man unsere Zeit für so nüchtern und prosaisch hält, wie dies allgemein geschieht. Allerdings glauben wir nicht mehr an die Märchen und Fabeln der Vergangenheit, zweifeln wir an den Wundern und Erscheinungen der alten Götterlehre. Dafür thut die Gegenwart selbst die größten Wunder und verwirklicht in ihren Schöpfungen die Mythen und Sagen der Völkerpoesie. Der mächtige Zauberer Dampf kann sich an Kraft und Stärke mit den Riesen und Titanen messen. Wie Hercules verrichtet er die schwersten Arbeiten, indem er ungeheure Lasten hebt und die unglaublichsten Thaten vollbringt. Das Märchen von den Siebenmeilen-Stiefeln ist längst kein Märchen mehr, wie jede Lokomotive zeigt. Der Vogel Greif und Dr. Faust’s Mantel, mit dem er durch die Lüfte flog, sind durch den Luftballon zur Wahrheit geworden. Mit dem Teleskop sehen wir viele Meilen weit, mit der Armstrong-Kanone schießen wir nach dem fernsten Ziele. Nicht der Glaube, sondern die Wissenschaft versetzt Berge und trocknet Meere aus. Die Chemie verwandelt schmutzige Kohlen in helles Licht und glänzende Farben; die Physik benutzt den elektrischen Funken zum Boten des Gedankens und trägt mit der Schnelligkeit des Blitzes eine Nachricht von einem Ende der Welt zum andern.

Ein solches neues Wunder ist auch die pneumatische Briefbeförderung, welche in jüngster Zeit zunächst für Berlin in’s Leben getreten ist, nachdem diese Einrichtung sich bereits in London, Paris und Wien bewährt hat.[4] Es handelt sich dabei um die Beförderung von Briefen durch den Druck der Luft mit [862] einer Schnelligkeit, welche fast der des Telegraphen gleichkommt. Der Zweck dieser neuen Anstalt ist hauptsächlich Ersparniß an Zeit und Menschenkraft, respective Entlastung der überbürdeten Telegraphen- und Postämter von ihrer Arbeit, welche sie bei der zunehmenden Größe der Stadt und der Einwohnerzahl kaum mehr zu bewältigen im Stande sind. Das dabei zur Anwendung kommende Princip ist das der gewöhnlichen Luftpumpe, in der durch abwechselnde Verdichtung und Verdünnung der atmosphärischen Luft ein hinlänglich starker Strom erzeugt wird, um leichtere Körper fortzuführen.

Bereits im Jahre 1866 wurde hier der erste gelungene Versuch gemacht, Briefe auf einer allerdings nur kurzen Strecke von der Börse bis zum Haupt-Telegraphenamt zu befördern. Das Verdienst unseres genialen Ober-Post-Directors Stephan ist es, diese für den Verkehr so wichtige Einrichtung auf die ganze Stadt ausgedehnt zu haben. Zu diesem Behufe sind die verschiedenen Gegenden Berlins durch ein sechsundzwanzigtausend Meter langes Röhrennetz verbunden, wozu fünf Meter lange, schmiedeeiserne, mit Ueberdeckung geschweißte Röhren von fünfundsechzig Millimeter innerem und fünfundsiebzig Millimeter äußerem Durchmesser verwendet wurden. Die Zusammensetzung der einzelnen Abschnitte ist derartig bewirkt, daß jeder Röhrenstrang nicht nur für sich einen vollkommen luftdichten Behälter bildet, sondern auch von den Verbindungsstellen keinerlei Veränderung des Querschnitts durch ungenaues Aneinanderstoßen der einzelnen Enden eintreten konnte, da letzterer Fehler den ungehinderten Fortgang der zur Aufnahme der Briefe bestimmten Büchsen sogleich beeinträchtigen würde. In den meisten öffentlichen Straßen liegt diese Leitung im Allgemeinen einen Meter unter der Oberkante des Terrains; indessen haben zur Vermeidung der zahlreich vorhandenen Canäle, Gas- und Wasserleitungen an vielen Stellen die Röhren bis zu zwei Meter Tiefe gelegt werden müssen, was öfters mit großen Schwierigkeiten verbunden war.

Das ganze große Röhrennetz zerfällt in zwei Betriebskreise, zu denen fünfzehn Rohrpostämter gehören. Der nördliche Betriebskreis umfaßt die Posten in der Börse, in der Oranienburger-, Lothringer-, Invaliden-, Wallner-Theater-, Neuen Königsstraße und im Hof-Postamtsgebäude, der südliche dagegen diejenigen in der Seydel-, Ritter-, Neuenburger-, Mauerstraße, am Potsdamer Thore, in der verlängerten Genthinerstraße und am Brandenburger Thore. Anfang und Endpunkt beider Kreise ist das Rohrpostamt im Haupt-Telegraphengebäude. In jedem der beiden Kreise findet die Beförderung immer in ein und derselben Richtung von einen Orte zum andern in regelmäßig wiederkehrenden Zeitabschnitten von je fünfzehn Minuten statt.

Die Beförderung selbst geschieht durch einen eigenen, von dem Wiener Ingenieur Herrn von Felbinger eingeführten und in Preußen patentirten Apparat. Die nachstehend versuchte Beschreibung dieses Apparates wird freilich nur den Fachleuten unschwer verständlich sein, der großen Mehrzahl der Leser jedoch als bedenkliche Lectüre erscheinen. Doch kann dies nur für den vorliegenden Satz gelten; alles Folgende nimmt wieder durch seine Faßbarkeit unser Interesse in Anspruch. Also: dieser Apparat besteht der Hauptsache nach aus einem gemeinschaftlichen Ständer zur seitlichen Anbringung der verschiedenen Lufthähne. Auf der horizontalen Fläche dieses Ständers sind die von Bronze hergestellten Empfangskammern für die Briefbüchsen angeschraubt, deren Böden mit Kautschuk belegt sind. Der erwähnte Ständer ruht auf einem gußeisernen dreitheiligen Rahmen, welcher eine im Fußboden gebildete Vertiefung einfaßt und dessen Felder durch Deckelbleche eingeschlossen sind. Die Röhrenleitungen münden mit ihren Enden in der unter dem Rahmen befindlichen Vertiefung des Fußbodens, anschließend an eine für die Ausströmung und Einströmung der Luft bestimmten Abzweigkammer, welche durch ein Rohrstück mit dem Beförderungshahn verbunden ist. In der Vertiefung am Fußboden unter der Deckplatte des Rahmens sind ferner in den von den Briefbüchsen durchlaufenden Röhren Scheibenverschlüsse angebracht, welche durch Zugstangen vom Standpunkte des den Apparat bedienenden Beamten leicht geöffnet oder geschlossen werden. Diese Scheibenverschlüsse dienen hauptsächlich dazu, die Röhrenstränge gegen den Apparat dann geschlossen zu erhalten, wenn diese mit den Behältern für Luftleere der andern Station in Verbindung stehen und der dahin unter Luftleere abzusendende Depeschenzug in den betreffenden Rohrstrang eingelegt werden soll. Die große Verschlußthür der Empfangskammer wird durch zwei besondere Schrauben an die Oeffnung derselben angepreßt und dadurch abgedichtet, die kleinere Verschlußthür dagegen mittelst einer Preßschraube verschlossen. Sämmtliche Bronzetheile des Apparats, von deren luftdichter Beschaffenheit die ganze Wirkung allein abhängt, sind in Paris in der eigenen Fabrik des Herrn von Felbinger mit bewunderungswürdiger Genauigkeit gearbeitet und zusammengefügt worden.

Für jeden der beiden Röhrenkreise sind zwei Dampfmaschinen aufgestellt und zwar je eine kleine von etwa zwölf und eine größere von zwanzig Pferdekraft. Ebenso sind für jede Maschinenanlage zwei Dampfkessel von solcher Größe vorhanden, daß jede einzelne für dem Betrieb vollkommen ausreicht. Die Luftpumpen, welche die Pressung und Leere erzeugen, sind ihrer Größe nach den Leistungen angepaßt, welche sie zu verrichten haben. Bei jeder der kleineren Dampfmaschinen sind zwei Pumpen von je vierhundert Millimeter Durchmesser und sechshundertsechszig Millimeter Hub aufgestellt. Diese Pumpen sind bei jeder Maschinenanlage zweimal vorhanden, um im Fall der Reinigung oder einer nothwendigen Reparatur keine Betriebsunterbrechung herbeizuführen.

Die Luftbehälter sind im Allgemeinen cylindrische Kessel aus Eisenblech. Die Wandstärke ist genau so bemessen, daß die Kessel dem inneren Luftdrucke, wo es Behälter für verdichtete Luft sind, und dem äußeren Druck der Atmosphäre, wo es Behälter für verdünnte Luft sind, vollkommen Widerstand leisten. Die Herstellung dieser Behälter ist mit so großer Sorgfalt ausgeführt, daß der Druck und die Luftverdünnung bei geschlossenen Hähnen und Ventilen mehrere Tage lang auf gleicher Höhe bleibt. Die Größe der aufgestellten Behälter ist derartig bemessen, daß einerseits der Luftdruck in denselben bei stattfindender Beförderung eines Rohrpostzuges nicht wesentlich abnimmt, andererseits auch der Luftdruck während des Aufenthaltes das Normalmaß nicht bedeutend übersteigt. Zur Erreichung dieses Zweckes haben die Behälter nahezu den vierfachen Gehalt der Röhren, für deren Betrieb sie bestimmt sind.

Zur Verhütung der Bildung von Condenswasser, welches sich in den in der Erde liegenden Röhren in dem Falle bilden würde, wenn der Erdboden bedeutend kälter, als die durch die Röhren streichende Luft wäre, wird die durch die Luftpumpe verdichtete Luft zunächst durch besondere Kühlapparate geleitet, welche aus dünnwandigen, mit einem cylinderförmigen Blechmantel umgebenen Röhren besteht, zwischen den Röhren und dem Mantel befindet sich kaltes Wasser, welches nach Bedürfniß erneuert wird. Die in Folge der Abkühlung sich niederschlagende Feuchtigkeit kann durch besondere Hähne beseitigt werden. Zur größeren Sicherheit sind außerdem die unter der Erde geführten Röhrenleitungen mit Wassersäcken zur Aufnahme der Condensationsflüssigkeiten versehen, welche ebenfalls von Zeit zu Zeit entleert werden können.

Die zur Beförderung der Briefe verwendeten Büchsen bestehen aus dünnem Blech mit einem Lederüberzug, um jede Reibung zu verhindern. Mit jedem Zuge können zehn bis fünfzehn Büchsen, welche zwanzig Briefe oder Telegramme enthalten, befördert werden, so daß an einem Tage über dreißigtausend Sendungen möglich gemacht werden. Die Gebühr für die Beförderung und Bestellung durch den Eilboten beträgt für einen Brief dreißig, für eine Postkarte fünfundzwanzig Pfennige, die Zeit von einer Station zur andern ungefähr eine bis drei Minuten. Bei allen hiesiger Postämtern sind besondere, gestempelte Couverte von rothem Papier und Karten zu dem genannten Preis zu bekommen. Die Kosten der ganzen Anlage, welche am 18. April dieses Jahres begonnen und bis zum November beendet war, belaufen sich mit Einschluß der zur Aufnahme der Maschinen besonders errichteten Gebäude auf ungefähr eine und ein Viertel Million Mark.

Der besonderen Güte des Geheimen Ober-Regierungsraths Herrn Elsasser, der sich um die Leitung des Ganzen große Verdienste erworben hat, und der freundlichen Bereitwilligkeit des Herrn von Felbinger verdankt der Schreiber dieses Artikels die Erlaubnis, den Apparat im Augenschein zu nehmen und sich von der Eleganz, Sicherheit und bewunderungswürdigen Leichtigkeit desselben zu überzeugen, bevor derselbe dem öffentlichen Betrieb

[863] übergeben wurde. Die Büchsen flogen bis zur nächsten Station in neunundvierzig Secunden und ebenso schnell erfolgten die Rücksendungen, so daß man in der That an Zauberei glauben konnte. Wie Herr von Felbinger mittheilte, wird zunächst München, später Breslau und auch Leipzig die pneumatische Briefbeförderung einführen, wenn dieselbe sich in Berlin bewährt, woran nach den abgelegten Proben nicht mehr gezweifelt werden kann. –
M. R.




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
XVII.


Unter den literarischen Erzeugnissen, die sich in Ihr einsames Schloß verlieren, verehrte Freundin, werden Sie auch viele dichterische Uebersetzungen finden. Diese Aneignung des Fremden ist nicht ein Zeichen der Ohnmacht des deutschen Geistes, sondern der glänzenden Vielseitigkeit, mit welcher er die poetischen Stimmen der Völker dem Chore der nationalen Sänger einreiht. Freilich, ein Ueberwuchern des Fremden würde die Selbstständigkeit deutscher Dichtung gefährden, eine Gefahr, die für unsere Bühne ohne Frage bereits vorhanden ist. Unsere Theaterdirectionen wallfahren nach Paris wie die frommen Genossen des Grafen Stolberg nach der heiligen Grotte von Lourdes und bezahlen wie die kostbarste Reliquie, mit Summen, welche für deutsche Dramatiker märchenhaft klingen, irgend ein Stück Holz von dem Kreuze, an welches der jüngere Alexander Dumas seine dramatischen Märtyrerinnen nagelt, oder irgend ein Schweißtuch, in welches die Leichen seiner demi-monde-Damen eingehüllt sind.

Doch ich spreche nur von poetischen Uebersetzungen. Und wie hat durch diese Kunst der Aneignung fremdländischer Dichtung unsere deutsche Sprache selbst an Reichthum und Biegsamkeit gewonnen! Der wackere Voß spannte vor ihren Siegeswagen das Sechsgespann des homerischen Hexameters und tummelte es mit Lust, daß die Funken stoben. Johann Heinrich Voß brachte uns die plauderhaften Makamen, die Gaselen des Ostens mit den wiederkehrenden Reimen, in deren Netz sich sinnige Gedanken flochten; die ottave rime der italienischen Epiker fanden in Gries ihren Meister, die Trochäen des spanischen Dramas in West; unsere Balladen- und Liederdichter eigneten uns die Volkspoesie aller Zeiten an, und aus überströmendem Füllhorne wurden die Blumen der Weltlyrik auf unserem Parnaß ausgeschüttet.

Wir haben in jüngster Zeit poetische Uebersetzer von seltenem Tacte und Talente aufzuweisen. Sie lieben, verehrte Freundin, mit Recht die Gildemeister’sche Uebersetzung der Byron’schen Dichtungen. Wie trefflich sind die Aneignungen der skandinavischen Muse, die uns Oscar von Leinburg gegeben hat, und mit welcher Kunst hat Bodenstedt russische Dichter, besonders Puschkin, den slavischen Lord Byron, übersetzt und dem oft kunterbunten Schwulst der Diction, der in den altenglischen Dramen herrscht, eine gefällige und maßvolle Form gegeben!

Mit jenem deutschen Dichter, den sie vor kurzem in Cannstatt begruben, ist auch ein Meister deutscher Uebersetzungskunst zu Grabe getragen worden. Ferdinand Freiligrath’s Schriften bestehen zur Hälfte aus dichterischen Uebersetzungen, und den französischen und englischen Originalen, die der junge Kaufmann auf seinem Comptoir las, verdankt seine Muse bei aller Eigenart doch viel von ihrem fremdartigen und glänzenden Colorit. Die Dichter der Seeschule, Walter Scott, dessen Dichtungen im schottischen Nationalcostüm, gleichsam mit dem bunten Plaid der Hochlandssöhne geschmückt, einherschreiten, vor Allen aber Victor Hugo und die Sangesgenossen der französischen Romantik mit dem mächtigen Pomp ihrer glühenden Phantasie waren zugleich Vorbilder für die eigenen Dichtungen des Detmolder Sängers, wie er sie auch in höchst formgewandten Uebersetzungen nachbildete.

Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie einmal von den englischen Dichtern der Seeschule gehört haben. Sie sind in England selbst fast verschollen, und obgleich viele, wie z. B. Southey, die umfangreichsten Dichtungen geschaffen haben, so fristen sie ihr Leben jetzt nur noch in den Anthologien, in welchen einzelne kleine Gedichte von ihnen aufgenommen sind. Der junge Titane Lord Byron wälzte seine poetischen Berge über diese friedlichen Seen, in denen die Dichter von Westmoreland sich mit selbstgefälliger Eitelkeit spiegelten; er war ein fanatischer Gegner dieser Poesie, welcher die wilde Originalität seines Genius fehlte, und verfolgte die Southey, die Wordsworth mit unermüdlichem Spott. Sie rächten sich dafür, indem sie ihn als den Meister einer satanischen Schule hinstellten, doch diese Schule rückte lange Zeit die „Seedichter“ in tiefen Schatten. Gleichwohl muß erwähnt werden, daß der Lieblingsdichter des neuen England, Alfred Tennyson, wie er als poëta laureatus des englischen Hofes ein Nachfolger von Southey ist, so auch die poetischen Wurzeln seiner Kraft in denselben geistigen Boden schlägt, in welchem die Dichter der Seeschule wurzelten, daß er durchaus ein geistiger Abkömmling derselben ist und mit den satanischen Genies wie Byron und Shelley nicht das Geringste gemein hat.

Freiligrath hat mit Vorliebe Gedichte dieser Sänger übersetzt, deren fremdländische Färbung seinen Neigungen entsprach, darunter auch mehrere Gedichte von Coleridge, der selbst wieder als Uebersetzer des Schiller’schen „Wallenstein“ sich um die Vermittlung deutscher und englischer Literatur große Verdienste erworben hat. Coleridge hat eine Phantasie, welche das Furchtbare und Abenteuerliche bevorzugt, die unheimlichen grellen Lichter, welche in’s Menschenleben fallen, das Wogen und Weben einer Geisterwelt, die mit unsichtbaren Händen in das Menschenleben eingreift. Dafür spricht vor Allem der von Freiligrath mit Meisterschaft übersetzte Romanzencyklus: „Der alte Matrose“, der wie von geisterhaftem Polarlicht beleuchtete Marinebilder enthält. In diesem Cyklus ist Sage und Legende zu einem oft schwer entwirrbaren Knäuel geschürzt; die ganze Dichtung blickt uns wie mit hohlen Geisteraugen an. Der alte Matrose hat auf der Fahrt nach dem Südpol einen großen Vogel, den Albatroß, welcher den Schiffern große Vorbedeutung brachte, getödtet, unter der Zustimmung der Seeleute. Dafür werden diese furchtbar gestraft, sinken verdürstend auf das Deck des Schiffes und mitten unter den Todten bleibt der alte Matrose der einzig Ueberlebende. Der Tod und die Nachtmahr, die auf einem Gespensterschiff heranschwammen, haben um sein Leben gewürfelt und alle Anderen dem Tode geweiht. Die weiteren Erlebnisse des Matrosen auf dem mit Leichen gefüllten Schiff, seine Heimfahrt, seine Entsühnung, bei welcher eine ganze Schaar von Geistern jeder Art mobil gemacht und das gespenstige Licht hier und dort von einem ambrosischen abgelöst wird: das alles zieht an uns vorüber wie die Bilder einer Zauberlaterne, schattenhaft, und doch in buntes Licht getaucht, ein Stern phantastischer Gestalten, welche oft in sinnvoller Deutung nicht einmal Rede stehen, aber in ihrem Vorüberwogen unsere Einbildungskraft in gespenstige Träume wiegen.

Dieser Dichtung von Coleridge hat sich der geniale Zeichner Gustav Doré als einer willkommenen Beute für die geisterhaften Polypenarme seiner weitausgreifenden Phantasie bemächtigt, und das Prachtwerk dieser Zeichnungen, mit dem Text von Freiligrath-Coleridge ausgestattet, ist auch von einer deutschen Verlagsbuchhandlung, derjenigen von Amelang, herausgegeben worden.

Sie kennen, verehrte Freundin, Gustav Doré’s Zeichnungen, namentlich diejenigen der Dante’schen Hölle; seine Phantasie neigt sich zu dem großartig Gespenstigen, zu dem unheimlich Abenteuerlichen; seine Zeichnung ist meisterhaft in dem verschwimmend Schattenhaften, und er weiß uns mit dem Griffel in jene Stimmungen zu versetzen, in denen der Seele das Unerhörte glaubhaft erscheinen möchte. Er verzaubert gleichsam die Natur; das Natürliche wird phantastisch und abenteuerlich in seinen Zeichnungen. Er erinnert an Amadeus Hoffmann, bei dem zuletzt die Theekannen, die Actenbündel, die Thürklinken fratzenhafte Gesichter schneiden, wie unter dem Einfluß phantastischer Verzauberung. Aehnlich wirkt der Griffel des Zeichners der „Hölle“, des „Don Quixote“, des „Pantagruel“, des „Ewigen Juden“ und anderer absonderlicher, feenhafter und märchenhafter Skizzen.

[864] Sie lieben, verehrte Freundin, das Originelle, auch wenn es bizarr ist. Doré ist ein Romantiker; die deutsche und classische Walpurgisnacht ist die Heimath seiner Phantasie, aber er ist gewaltig in seinem Schaffen, welches einen großartigen Zug hat, und selbst in den flüchtigsten, bisweilen eilfertigsten Skizzen spricht sich immer sein entschiedenes Talent aus.

Die Dichtung von Coleridge war wie geschaffen für seine Illustrationen; sie ist in einem halb gespenstigen, halb magischen Helldunkel gehalten, welches seinem Talent entgegenkommt; das Grauenhafte darin hat er wohl mit zu großer Vorliebe ausgebeutet, und die Todtenmasken der verschmachteten Seeleute grinsen uns zu oft von dem Bord eines Schiffes entgegen, das wie ein hölzerner Kirchhof mit unverscharrten Leichen erscheint, aber viel des Genialen, kühn Phantastischen entschädigt für diese Vorliebe, und auch den Reiz des Contrastes weiß der Zeichner dem Dichter nachzuempfinden und ihn auf seinem Bilde zu lebendigster Wirkung zu steigern.

So wird Sie, verehrte Freundin, die Introduction, das heitere Brautfest, in welches der finstere Ahasver des Meeres hereingeräth, mit seiner frischen Lebenslust und seinen lieblichen Gestalten freundlich anmuthen, im Gegensatz zu den Schrecken der Polarwelt, welche die folgenden Bilder entrollen, diesen Eisbergen und Seeungeheuern, diesem unter Schnee und Eis fast vergrabenen Schiffe. Namentlich das Schneebild der Polarwelt ist so stimmungsvoll, daß es den stärksten Eindruck nicht verfehlen kann. Unser Künstler hat geniale Einfälle, aber sie sind im Einklang mit der Bedeutung der Dichtung. Ihr Hauptmotiv ist die Tödtung des Albatrosses; denn von dieser kommt der Fluch her, der auf dem Matrosen und dem Schiffe lastet. So bringt Doré in die Mitte des einen Bildes den Vogel und den Pfeil, der dicht daran ist, ihn zu treffen, während das Takelwerk des Schiffes und sein Kiel nur am Rande des Bildes hervorsehen und alles Andere stimmungsvolles Seegemälde ist. Sie sehen, wie ein genialer Zeichner in seiner Weise den gewichtigsten Accent auf einen Vorgang zu legen weiß.

Die Lichtgestalten der Versöhnung, beflügelte Engelsbilder, bringen später einen Abglanz des Dante’schen „Paradieses“ in diese Polarhölle, aber der einsame Wanderer, der durch die Nacht dahinstreift, erinnert uns an das Unvergeßliche im Leben der Menschen; trotz aller Entsühnung verfolgen ihn die Schreckensbilder des Erlebten, und selbst unter den frohen Hochzeitsgästen sucht er Hörer für das Unerhörte zu finden, um sich durch Erzählung und Mittheilung von dem Grauen zu befreien, mit welchem die gespenstigen Bilder sein Inneres heimsuchen.

Sie werden, verehrte Freundin, das Prachtalbum zu den anderen Prachtwerken, in denen sich dichtende und bildende Kunst die Hand reichen, auf Ihren Salontisch legen und wenn Sie dann an stürmischen Wintertagen in das Spiel der donnernden Wogen am Strande blicken, so werden Sie mit erregter Phantasie in den gepeitschten Wellen, die Todtengesichter sehen, die uns aus diesem ewigen Grab der Menschheit entgegengrinsen.

Dann aber denken Sie in Ihrem stillen Boudoir gewiß über den Sinn der unheimlichen Sage nach.

Sind wir nicht Alle wie der alte Matrose, und hat nicht Jeder von uns in seinem Leben einmal einen Albatroß, einen glückverheißenden Vogel, getödtet?

Das ist eine dunkle Kunde, verehrte Freundin. Solche Bilder, von keinem Coleridge besungen, von keinem Doré illustrirt, ruhen tief in unseren Herzen.[5]

  1. Aus dem Atelier von Wilhelm Boeck in Berlin.
  2. Ich will hier als einzigen Beleg die folgende Stelle aus der „Rundschau“ vom 22. Juni (4. Juli) 1866 (Nr. 40 der „St. Petersburger Zeitung“) mittheilen.
    „Um möglichen Mißverständnissen zu begegnen, kommen wir nochmals auf unseren Standpunkt in Betreff beider kriegführenden Parteien zurück. Was es mit dem Standpunkte in dem gegenwärtigen Kampfe für eine Bewandtniß hat, haben wir hier und dort angedeutet; es läßt sich in kurzen Worten zusammenfassen. In Betreff des formellen Vorwandes zum Kriege, der schleswig-holsteinischen Angelegenheit, ist Preußen wie Oesterreich vom Standpunkte des Bundesrechts wie des Staats- und Erbrechts im Unrecht. Beide verfuhren vom Standpunkte der praktischen Politik, das heißt des Nützlichkeitsprincips, beide haben den Bund wie das Erbrecht perhorrescirt; beide bemächtigten sich der Herzogthümer als Kriegsbeute, ohne den Schein irgend einer anderen Begründung ihrer Ansprüche, und beide sind über die Theilung der Beute in Streit gerathen.
    Aber der gegenwärtige Krieg entscheidet für Deutschland über ganz andere Dinge, als die verhältnißmäßig armselige schleswig-holsteinische Angelegenheit; es ist der wieder zum Ausbruch gekommene Kampf, der eine Zeit lang offen, seit hundert Jahren versteckt geführt wurde, der Kampf um das Uebergewicht Preußens oder Oesterreichs in Deutschland. Wir hatten uns dahin ausgesprochen, daß, wie die Sachen liegen, wir für das Heil Deutschlands unbedingt den Waffen Preußens den Sieg wünschen müssen. Wenn uns darauf Jemand entgegnete: ‚Also in ganz Deutschland soll Bismarck’sches Regiment eingeführt werden, in ganz Deutschland soll der Parlamentarismus unterdrückt, sollen die Rechte des Volkes mißachtet werden, wie jetzt in Preußen?‘ so würden wir antworten: ‚Das verhüte Gott, das kann unsere Meinung nicht sein!‘
    Der Krieg, der gegenwärtig in Deutschland Tausende von Leichen über die zertretene Frucht des Feldes hinstreckt, dieser Krieg entscheidet Deutschlands Geschicke für andere Zeiten als die unseren, für Zeiten, in denen jedwede Hand, die heute dieses Blatt hält, längst vermodert ist, für Zeiten, in denen König Wilhelm wie sein mächtiger Minister längst vom Schauplatze der Thaten abgetreten sind und der Geschichte angehören, und jene Zeiten

    Sie bringen mildre Weisheit; Bürgerglück
    Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln,
    Der karge Staat mit seinen Kindern geizen,
    Und die Nothwendigkeit wird menschlich sein.

    Für diese Zeiten fallen um Deutschlands Geschicke heute auf den Schlachtfeldern die eisernen Würfel, und fragen wir uns, ob für jene Zukunft Preußen oder Oesterreich in Deutschland präponderiren soll, so kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Mit demselben Freimuth, mit dem wir die Politik des Grafen Bismarck verwerfen, bekennen wir, daß wir in dem preußischen Volke, dem preußischen Staate die Träger deutscher Intelligenz und nationaler Selbstständigkeit sehen, darum wünschen wir Preußen und nicht Oesterreich an Deutschlands Spitze, darum wünschen wir den Waffen Preußens und der mit ihm verbundenen norddeutschen Staaten den Sieg.“

  3. Später auch der Gehülfe des Reichskanzlers, der jüngst verstorbene W. von Westmann, der Director der Kanzlei des Ministers, von Müller, und zahlreiche Beamte aller Departements des Ministeriums.
  4. Schon im Jahrgange 1863, Nr. 8 der „Gartenlaube“ haben wir darauf hingewiesen, daß Joseph Ressel, der Erfinder des Schraubendampfers, in ebenso früher Zeit, vor mehr als fünfzig Jahren, auch „die atmosphärische Briefpost“ erfunden hat. In der „Festschrift zur Enthüllungsfeier des Ressel-Denkmals in Wien“ beschreibt Dr. Edmund Reitlinger dieselbe so: „Zwischen zwei Stationen sind eiserne Röhren gezogen, an deren beiden Enden zwei Luftpumpen angebracht sind, die abwechselnd arbeiten. Wird durch eine derselben die Luft im Rohre verdünnt, so treibt der äußere Luftdruck die Packete vom anderen Ende herbei. Diese wandern so von Station zu Station.“ – Man kann sich denken, mit welchem Kopfschütteln diese Erfindung von all den hochmögenden Personen aufgenommen wurde, welche schon vor dem Modell der Schiffsschraube hohnlachend gefragt hatten. „Will er denn das Meer anbohren?“ –
    D. Red.
  5. Den phantastischen, oft fratzenhaften und hie und da mit Zeichenfehlern behafteten Doré’schen Illustrationen gegenüber möchten wir noch ein Prachtwerk empfehlen, das durch seine classische Einfachheit sich vortheilhaft von dem Buche des französischen Künstlers abhebt – Tennyson’s „Enoch Arden“, illustrirt von Paul Thumann. In diesem Album, ist jede einzelne Zeichnung ein kleines Kunstwerk, so meisterhaft in der Linie, in Auffassung und Stimmung und auch von xylographischer Seite so glücklich behandelt, daß man sich immer und immer wieder mit Vergnügen dem Reiz dieser anmuthenden und feingedachten Gestalten hingiebt. Bei aller Anerkennung Doré’scher Phantasie, die nur durch die vortrefflichen Leistungen seiner Xylographen noch übertroffen wird, dürften ruhige Beurtheiler auch der liebenswürdigen Gabe des deutschen Meisters ihre vollste Sympathie entgegenbringen.D. Red.     

Blätter und Blüthen.


Ein russischer Feldherr. (Mit Abbildung S. 861.) Im October des vorigen Jahres hätte Rußland das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seines höchsten Ansehens und Einflusses in Europa feiern können. Das war damals, wo der Selbstherrscher aller Reussen als „Besieger der Revolution“ einzig dastand und nicht blos „Ungarn“, sondern mehr als ein „geretteter“ Thron „zu den Füßen Seiner Majestät“ lag. Von dieser Höhe zogen es vier russische Unglücks-Märztage abwärts: jener 16. März 1853, wo Mentschikoff das russische Ultimatum nach Constantinopel brachte, dann jener 12. März 1854, welcher den Bund der „Westmächte“ schuf, ferner der 2. März 1855, an welchem Kaiser Nikolaus an den Schlägen des Krimkrieges starb, und endlich der 30. März 1856, an welchem dem besiegten Rußland in Paris der Friede dictirt wurde. Desto freudiger begrüßten die Russen die Gefangennahme Schamyl’s und die dadurch vollendete Unterjochung des Kaukasus, dessen Besitz Rußland nicht weniger als den kürzesten Weg nach Ostindien sichert.

Der Wichtigkeit Kaukasiens für Rußland angemessen, ernannte Kaiser Alexander seinen Bruder Michael Nikolajewitsch zum Statthalter des Landes. Der im blühendsten Alter stehende Mann (er ist am 25. October 1832 geboren und Gemahl einer Tochter des Großherzogs Leopold von Baden) ist General der Artillerie und Chef vieler russischer und auch österreichischer und preußischer Regimenter, genießt den Ruf hervorragender militärischer Ausbildung und Neigung und steht in diesem Augenblicke, wo es sich entscheidet, ob der alte orientalische Knoten aufgewickelt, oder mit dem Schwerte zerhauen werden soll, an der Spitze der russischen Kriegsmacht in dem von mohamedanischen Fanatismus bedrohten Kaukasus. Die hohe Stellung desselben wird, wenn die Kriegswürfel fallen, ihn auch für uns in den Vordergrund der Beachtung stellen.


Instinct oder Ueberlegung? In meinem Hause befindet sich eine Katze, der es ein besonderes Vergnügen gewährt, mit jungen Hunden zu spielen. Einer ihrer Spielcameraden war ein junger Metzgerhund der Nachbarschaft. Eines Tages trieben sie ihr Spiel auf der Landstraße (die unmittelbar vor den Fenstern des Beobachters vorbei führt), indem sich die Katze auf den Rücken legte, um den Angriff des Hundes zu erwarten, und ihn dann mit den Füßen zurückzuweisen, während diesem die Rolle zufiel, sie trotz ihrer Gegenwehr zu überwerfen. Schon mehrere, theils erfolgreiche, theils mißlungene Versuche hatte der Hund gemacht und sich eben zurückgezogen, um auf’s Neue seiner Gegnerin auf den Leib zu rücken, als ein Fuhrwerk in vollem Laufe daherkam. Wie er das sah, stand er von der Erneuerung des Kampfes ab, so sehr ihn die Katze, die offenbar keine Störung ahnte, durch Zappeln mit den Füßen und Aufrichten des Kopfes dazu einlud, suchte vielmehr durch ängstliche Geberden die Katze zu sich auf die Seite der Straße zu locken. Diese war so in das Spiel verloren, daß sie weder den auf dem Pflaster dröhnenden Hufschlag der sich mehr und mehr nähernden Pferde, noch die scheue Zurückhaltung des Hundes bemerkte. Da – noch haben die Rosse einen Schritt zu thun, um Mimi zu zertreten – stürzt sich ihr Spielgenosse wie wüthend auf sie los, packt sie und eilt unter den schon aufgehobenen Hufen weg mit ihr fort. Ich glaubte jedenfalls, sie habe unter den Zähnen das gefunden, was ihr durch Pferdefuß und Rad bestimmt schien. Doch nach kurzer Zeit kam sie wohlbehalten wieder daher. Der Hund hatte ihr also augenscheinlich das Leben nicht nur gerettet, sondern auch retten wollen.


Karl von Holtei, der bejahrte und so verdienstvolle Dichter, ist nicht, wie die meisten Literaturgeschichten und Conversationslexica angeben, am 24. Januar 1797, sondern am 24. Januar 1798 geboren, wie sein Taufschein unzweifelhaft erweist. Holtei wird darnach erst am 24. Januar 1878 achtzig Jahre alt, und wir hoffen, daß er diesen Tag, den das deutsche Volk, dem er so manche prächtige Gabe gegeben, nicht vergessen darf, noch mit freudeempfänglichem Herzen erleben wird.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal und der vierundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig anstatt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.Die Verlagshandlung.     



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.