Die Gartenlaube (1876)/Heft 30
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No. 30. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
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Einige Wochen waren vergangen. Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, und in Altenhof hatte man vollauf mit der Ernte zu thun. Der Gutsherr, der den ganzen Vormittag auf den Feldern gewesen war, um überall nachzusehen und anzuordnen, war müde und matt nach Hause gekommen und gedachte jetzt, nach dem Essen, sich der wohlverdienten Mittagsruhe hinzugeben. Während er aber die Anstalten dazu machte, blickte er mit einem Gemisch von Aerger und Verwunderung auf seinen Pflegesohn, der in seinem gewöhnlichen Reitanzuge am Fenster stand und auf das Vorführen seines Pferdes wartete.
„Also Du willst wirklich in der Mittagshitze nach C. hinüber?“ sagte Herr Witold. „Ich gratulire Dir zu dem zweistündigen schattenlosen Wege. Du wirst den Sonnenstich bekommen, aber Du scheinst gar nicht mehr leben zu können, wenn Du Deiner Frau Mutter nicht mindestens drei- oder viermal in der Woche die Aufwartung machst.“
Der junge Mann runzelte die Stirn. „Ich kann der Mutter doch nicht Nein sagen, wenn sie mich zu sehen wünscht. Jetzt, wo wir uns so nahe sind, hat sie am Ende das Recht, zu verlangen, daß ich sie öfter besuche.“
„Nun, sie macht auch einen tüchtigen Gebrauch davon,“ meinte Witold. „Wissen möchte ich aber doch, wie sie es angefangen hat, Dich zum gehorsamen Sohn zu machen. Ich habe das fast zwanzig Jahre lang umsonst versucht; sie brachte es in einem einzigen Tage fertig. Freilich, das Regieren verstand sie von jeher aus dem Grunde.“
„Du weißt doch am besten, Onkel, daß ich mich nicht regieren lasse,“ versetzte Waldemar in gereiztem Tone. „Die Mutter ist mir mit einer Versöhnlichkeit entgegengekommen, die ich nicht so schroff zurückweisen kann und will, wie Du es thatest, so lange ich noch unter Deiner Vormundschaft stand –“
„Es wird Dir wohl recht oft da drüben gesagt, daß Du nicht mehr darunter stehst?“ unterbrach ihn der Pflegevater. „Du betonst das merkwürdig oft seit den letzten Wochen. Das ist übrigens ganz und gar unnöthig, mein Junge. Du hast leider von jeher immer nur gethan, was Du selbst gewollt hast, hast es oft genug gegen meinen Willen gethan. Deine Mündigkeitserklärung ist eine reine Form, das heißt für mich, nicht für die Baratowski. Die werden schon wissen, was sie damit anzufangen haben und weshalb sie Dich fortwährend daran erinnern.“
„Wozu die ewigen Verdächtigungen!“ brauste Waldemar auf. „Soll ich auf jeden Umgang mit meinen Verwandten verzichten, einzig deshalb, weil Du ihnen feind bist?“
„Ich wollte, Du könntest die Zärtlichkeit Deiner lieben Verwandten einmal auf die Probe stellen,“ spottete Witold. „Sie kümmerten sich nicht so viel um Dich, wenn Du nicht zufälliger Weise der Herr von Wilicza wärest. – Nun, fahre nur nicht gleich wieder auf! Wir haben uns in der letzten Zeit so oft über die Geschichte gezankt, daß ich mir heute nicht wieder den Mittagsschlaf dadurch verderben will. Dieser verwünschte Badeaufenthalt wird ja wohl auch ein Ende nehmen, und dann sind wir die ganze Gesellschaft los.“
Es trat ein kurzes Schweigen ein. Waldemar ging ungeduldig im Zimmer auf und nieder.
„Ich weiß nicht, was sie drüben in den Ställen machen. Ich habe Befehl gegeben, den Normann zu satteln, aber der Stallknecht scheint dabei eingeschlafen zu sein.“
„Du hast wohl wieder einmal gewaltige Eile, fortzukommen?“ fragte der Gutsherr trocken. „Ich glaube wahrhaftig, sie haben Dir in C. einen Hexentrank eingegeben, daß Du nirgends anderswo mehr Ruhe hast. Du kannst jetzt nie die Zeit erwarten, bist Du erst im Sattel sitzest.“
Waldemar gab keine Antwort; er pfiff vor sich hin und schlug mit der Reitgerte in die Luft.
„Die Fürstin geht doch hoffentlich wieder nach Paris zurück?“ fragte Witold auf einmal.
„Das weiß ich nicht. Es ist noch nicht beschlossen, wo Leo seine Studien vollenden soll. Die Mutter wird sich wahrscheinlich durch die Rücksicht auf ihn in ihrem künftigen Aufenthalt bestimmen lassen.“
„Ich wollte, er studirte in Constantinopel,“ sprach Herr Witold ärgerlich, „und seine Frau Mutter ließe sich aus Rücksicht für ihn bestimmen, auch mit in’s Türkenland zu gehen, dann kämen sie wenigstens sobald nicht wieder. Dieser junge Baratowski muß ja übrigens ein wahres Ungeheuer von Gelehrsamkeit werden. Du sprichst fortwährend von seinen ‚Studien‘.“
„Leo hat auch viel mehr gelernt als ich,“ sagte Waldemar grollend, „und er ist doch volle vier Jahre jünger.“
„Seine Mutter wird ihn wohl tüchtig zum Lernen angehalten haben. Der hat sicher nur einen einzigen Hofmeister gehabt, während Dir sechs davon gelaufen sind und der siebente nur mit Noth und Mühe bei Dir aushält.“
[498] „Und warum bin ich nicht zum Lernen angehalten worden?“ fragte der junge Nordeck plötzlich, indem er trotzig die Arme übereinander schlug und dicht vor seinen Pflegevater hintrat. Dieser sah ihn mit starrer Verwunderung an.
„Ich glaube, der Junge will mir Vorwürfe machen, weil ich ihm in allen Stücken den Willen gethan habe,“ rief er erzürnt.
„Nein,“ entgegnete Waldemar kurz. „Du hast es gut gemeint, Onkel, aber Du weißt nicht, wie mir zu Muthe ist, wenn ich sehe, daß Leo mir in allen Stücken voraus ist, wenn ich fortwährend von der Nothwendigkeit seiner weiteren Ausbildung höre, und dabeistehe und – aber das soll ein Ende nehmen. Ich gehe auch auf die Universität.“
Herr Witold hätte vor Schreck beinahe das Sophakissen fallen lassen, das er sich eben zurecht legen wollte.
„Auf die Universität?“ wiederholte er.
„Gewiß, Doctor Fabian spricht ja schon seit Monaten davon.“
„Und Du hast Dich seit Monaten entschieden geweigert.“
„Das war früher – jetzt denke ich anders darüber. Leo soll schon im nächsten Jahre zur Universität, und wenn er mit achtzehn Jahren reif dafür ist, so ist es für mich wahrhaftig die höchste Zeit. Ich will nicht immer und ewig hinter meinem jüngeren Bruder zurückstehen. Morgen spreche ich mit Doctor Fabian. – Und jetzt werde ich einmal selbst nach den Ställen hinübergehen und sehen, ob der Normann endlich gesattelt ist. Mir reißt die Geduld bei dem langen Warten.“
Er hatte bei den letzten Worten seinen Hut vom Tische genommen und stürmte nun in voller Ungeduld hinaus. Herr Witold blieb auf dem Sopha sitzen; er hielt das Kissen noch in der Hand, aber er dachte nicht mehr daran, es sich zurecht zu legen; mit der Mittagsruhe schien es vorläufig vorbei zu sein.
„Was ist mit dem Jungen vorgegangen? – Doctor, was haben sie mit dem Jungen angefangen?“ rief er zornig dem ganz harmlos eintretenden Doctor Fabian entgegen.
„Ich?“ fragte dieser erschrocken. „Nichts, Herr Witold. Waldemar kam ja soeben von Ihnen.“
„Ach, ich meine ja gar nicht Sie,“ sagte der Gutsherr ärgerlich. „Ich sprach von der Baratowski’schen Gesellschaft. Seit die den Waldemar in Händen hat, ist er gar nicht mehr zu regieren. Denken Sie nur, er will auf die Universität.“
„Wirklich?“ rief der Doctor erfreut.
Durch diese Antwort wurde Herr Witold nur noch mehr erbost. „Darüber freuen Sie sich wohl ganz außerordentlich?“ grollte er. „Es macht Ihnen wohl sehr großes Vergnügen, daß Sie von hier wegkommen und ich dann mutterseelenallein in Altenhof sitze?“
„Sie wissen ja, daß ich den Universitätsbesuch stets befürwortet habe,“ vertheidigte sich der Erzieher. „Ich habe leider nie Gehör gefunden, und wenn es wirklich die Frau Fürstin ist, die Waldemar endlich dazu vermocht hat, so kann ich ihren Einfluß nur für einen segensreichen halten.“
„Hol’ der Kukuk den segensreichen Einfluß!“ rief der Gutsherr, indem er das unglückliche Sophakissen mitten in das Zimmer schleuderte. „Wir werden schon sehen, was dahinter steckt. Irgend etwas ist mit dem Jungen passirt. Er läuft herum, als ob er am hellen lichten Tage träumte, kümmert sich um nichts mehr und giebt, wenn man ihn fragt, ganz verkehrte Antworten. Wenn er auf die Jagd geht, kommt er mit leeren Händen zurück, er, der sonst immer trifft, und jetzt hat er es auf einmal mit dem Studiren bekommen und ist nicht wieder davon abzubringen. – Ich muß heraus haben, was diese Veränderung bewirkt hat, und Sie sollen mir dabei helfen, Doctor. Sie müssen nächstens mit nach C.“
„Um des Himmelswillen nicht!“ protestirte Doctor Fabian. „Was soll ich dort?“
„Aufpassen!“ sagte der Gutsherr wichtig. „Und mir dann Nachricht bringen. Da drüben passirt etwas, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich selbst kann nicht hinüber, denn ich stehe mit der Fürstin so zu sagen auf dem Kriegsfuße, und wenn wir beide zusammengerathen, giebt es Lärm. Ich kann ihre Bosheiten nicht vertragen und sie nicht meine Grobheiten, aber Sie, Doctor, sind neutral in der Sache; Sie sind der rechte Mann.“
Der Doctor wehrte sich mit allen Kräften gegen die ihm gestellte Zumuthung. „Aber ich verstehe mich ganz und gar nicht auf dergleichen,“ klagte er. „Sie kennen ja meine Aengstlichkeit, meine Zerstreutheit im Verkehr mit Fremden, und nun vollends der Frau Fürstin gegenüber. Auch wird Waldemar nie zugeben, daß ich ihn begleite –“
„Hilft Ihnen alles nichts!“ unterbrach ihn Witold dictatorisch. „Sie müssen nach C. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, Doctor. Sie werden mich doch nicht im Stiche lassen?“ Und nun stürmte er mit einer solchen Menge von Bitten, Vorwürfen und Vorstellungen auf den armen Doctor ein, daß dieser, halb betäubt, sich endlich gefangen gab und alles versprach, was man nur von ihm verlangte.
Da ließen sich Hufschläge draußen auf dem Hofe vernehmen. Waldemar saß bereits zu Pferde; er gab dem Thiere die Zügel, und ohne auch nur einen Blick nach den Fenstern zurückzuwerfen, sprengte er davon.
„Da jagt er hin,“ sagte Witold, halb grollend und halb schon wieder voll Bewunderung für seinen Pflegesohn. „Sehen Sie nur, wie der Junge zu Pferde sitzt, wie aus Erz gegossen! Und es ist doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, den Normann zu bändigen.“
„Waldemar hat eine eigene Passion, stets nur junge, wilde Pferde zu reiten,“ meinte der Doctor ängstlich. „Ich begreife nicht, weshalb er sich gerade den Normann zum Liebling ausersehen hat. Es ist das unbändigste und widerspänstigste Thier im ganzen Stalle.“
„Eben deshalb!“ lachte der Gutsherr. „Sie wissen ja, er muß etwas zu bezwingen und zu bändigen haben, sonst macht ihm die Sache keinen Spaß. Aber nun kommen Sie, Doctor! Wir wollen Ihre Mission überlegen; Sie müssen die Sache diplomatisch anfangen.“
Damit ergriff er den Doctor beim Arme und zog ihn zum Sopha. Der arme Fabian folgte geduldig. Er hatte sich in alles ergeben, und sagte nur halblaut mit kläglichem Ausdrucke: „Ich ein Diplomat, Herr Witold? Daß Gott erbarm!“ –
Die Baratowski’sche Familie hatte von jeher nur wenig Antheil an dem eigentlichen Badeleben von C. genommen, und seit der letzten Zeit zog sie sich noch mehr als sonst davon zurück. Waldemar fand sie bei seinen jetzt so häufigen Besuchen stets unter sich. Nur Graf Morynski war schon nach wenigen Tagen wieder abgereist; es war allerdings seine Absicht gewesen, seine Tochter sogleich mit sich zu nehmen, aber die Fürstin fand, daß ein längerer Aufenthalt an der See für Wanda’s Gesundheit ganz unbedingt nothwendig sei, und wußte ihren Bruder zu bestimmen, daß er in die verlängerte Trennung willigte. Er hatte sich dem Wunsche der Schwester gefügt und war vorläufig allein nach Rakowicz zurückgekehrt, wo geschäftliche Angelegenheiten seine Gegenwart erforderten.
Der junge Nordeck hatte trotz der Mittagshitze den Ritt in stürmischer Eile zurückgelegt und trat jetzt in das Zimmer der Fürstin, die er an ihrem Schreibtische fand. Wäre Leo so glühend erhitzt bei ihr eingetreten, sie hätte sicher ein Wort der Sorge oder der Ermahnung für ihn gehabt. Waldemar’s Aussehen blieb, wenn auch nicht unbemerkt, doch gänzlich unerwähnt. Es war eigenthümlich, daß auch jetzt, wo Mutter und Sohn sich doch so häufig sahen, nicht die geringste Vertraulichkeit zwischen ihnen Wurzel fassen wollte. Die Fürstin behandelte Waldemar stets mit der äußersten Rücksicht, und er bemühte sich, sein schroffes Wesen ihr gegenüber etwas zu mäßigen, aber es lag auch nicht die leiseste Spur von Herzlichkeit in diesem beiderseitigen Bemühen, ein gutes Einvernehmen aufrecht zu erhalten. Sie konnten nun einmal nicht über die unsichtbare Kluft hinweg, die zwischen ihnen lag, wenn eine fremde Macht sie auch für den Augenblick überbrückt hatte. Die gegenseitige Begrüßung war genau so kühl, wie beim ersten Wiedersehen, nur daß Waldemar’s Augen jetzt unruhig fragend im Zimmer umherschweiften.
„Du suchst Leo und Wanda?“ fragte die Fürstin. „Sie sind bereits unten am Strande und wollen Dich dort erwarten. Ihr habt ja wohl eine Segelfahrt miteinander verabredet?“
[499] „Ja wohl! Ich werde die Anderen sogleich aufsuchen.“ Waldemar machte eine hastige Bewegung nach der Thür, aber die Mutter legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Zuerst möchte ich Dich für einige Minuten in Anspruch nehmen. Ich habe etwas Wichtiges mit Dir zu besprechen.“
„Kann das nicht später geschehen?“ fragte Waldemar ungeduldig. „Ich möchte doch vorher –“
„Es liegt mir daran, Dich allein zu sprechen,“ unterbrach ihn die Fürstin. „Du kommst noch immer zeitig genug zu der Partie. Ihr werdet sie wohl um eine Viertelstunde verschieben können.“
Der junge Nordeck sah bei dieser Zumuthung äußerst unzufrieden aus und folgte nur mit offenbarem Widerstreben der Einladung zum Niedersitzen. Von Aufmerksamkeit schien bei ihm vorläufig keine Rede zu sein, denn sein Blick schweifte fortwährend durch das Fenster, in dessen Nähe er saß und das nach dem Strande hinausging.
„Unser Aufenthalt in C. naht sich seinem Ende,“ begann die Fürstin. „Wir werden wohl bald an die Abreise denken müssen.“
Waldemar machte eine Bewegung, die fast Schrecken verrieth. „Schon jetzt? Der September verspricht ja schön zu werden; weshalb willst Du ihn nicht hier verleben?“
„Das kann ich Wanda’s wegen nicht. Ich kann meinem Bruder nicht eine noch längere Trennung von seinem Lieblinge zumuthen. Er hat schon ungern und nur auf meinen besonderen Wunsch in ihr Hierbleiben gewilligt, dafür habe ich ihm aber auch versprochen, sie selbst nach Rakowicz zu bringen.“
„Rakowicz liegt ja wohl nicht weit von Wilicza?“ fragte Waldemar rasch.
„Nur eine Stunde entfernt, etwa halb so weit, wie Altenhof von hier.“
Der junge Mann schwieg; er sah wieder angelegentlich durch das Fenster. Der Strand schien ihn heute außerordentlich zu interessiren.
„Da wir gerade von Wilicza sprechen,“ warf die Fürstin leicht hin, „Du wirst doch jetzt, nach erreichter Mündigkeit, Deine Güter selbst antreten? Wann gedenkst Du dorthin zu gehen?“
„Es war anfangs für nächstes Frühjahr bestimmt,“ sagte Waldemar zerstreut und immer mit seinen Beobachtungen beschäftigt. „Ich wollte den Winter über noch bei dem Onkel bleiben. Das wird sich aber jetzt wohl ändern, da ich beabsichtige, auf die Universität zu gehen.“
Die Mutter neigte zustimmend das Haupt. „Das ist ein Entschluß, dem ich nur meinen vollen Beifall geben kann. Ich habe Dir nie verhehlt, daß ich die vorwiegend praktische Erziehung bei Deinem Vormunde zu einseitig fand. Für eine Stellung, wie die Deinige, ist eine höhere Ausbildung unerläßlich.“
„Ich möchte vorher aber Wilicza gern einmal sehen,“ lenkte Waldemar ein. „Ich war seit meinen Knabenjahren nicht dort, und – und Du bleibst doch jedenfalls längere Zeit in Rakowicz?“
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte die Fürstin. „Für den Augenblick werde ich allerdings die Zuflucht annehmen, die mein Bruder mir und meinem Sohne bietet. Es wird sich ja zeigen, ob wir seine Großmuth dauernd in Anspruch nehmen müssen.“
Der junge Nordeck sah auf. „Zuflucht – Großmuth – was soll das heißen Mutter?“
Die Lippen der Fürstin zeigten ein leises nervöses Zucken das einzige Zeichen, wie schwer ihr der Schritt wurde, den sie zu thun im Begriffe stand, sonst schien sie völlig unbewegt, als sie antwortete:
„Ich habe der Welt bisher unsere Verhältnisse verborgen und gedenke das auch ferner zu thun. Dir kann und will ich kein Geheimniß daraus machen. Ja, ich bin gezwungen, bei meinem Bruder eine Zuflucht zu suchen. Du kennst ungefähr die äußeren Ereignisse während meiner zweiten Ehe. Ich habe an der Seite meines Gemahls gestanden, als die Stürme der Revolution ihn fortrissen; ich bin ihm in die Verbannung gefolgt und habe fast zehn Jahre lang das Exil mit ihm getheilt. Unser Vermögen ist dem allem zum Opfer gefallen; schon die letzten Jahre zeigten einen unlösbaren Widerspruch zwischen den Ansprüchen unserer Stellung und den Mitteln, die uns zu Gebote standen. Ein kurzer Ueberblick unserer Angelegenheiten nach dem Tode des Fürsten hat mir gezeigt, daß ich auch diesen Kampf aufgeben muß – wir sind zu Ende mit unseren Hülfsquellen.“
Waldemar wollte sprechen; die Mutter hob abwehrend die Hand.
„Du begreifst, was es mich kostet, Dir diese Eröffnungen zu machen, und daß ich sie Dir nie gemacht hätte, wenn es sich nur um mich allein handelte, aber ich habe als Mutter meinen Sohn zu vertreten – da schwindet jede andere Rücksicht. Leo steht erst im Anfange seines Lebens und Werdens; ich fürchte nicht die Entbehrungen der Armuth für ihn, aber ich fürchte ihre Demüthigungen, denn ich weiß, daß er sie nicht erträgt. Dir hat das Geschick Reichthümer zugesprochen; Dir steht von jetzt an die unbeschränkte Verfügung darüber zu – Waldemar, ich übergebe die Zukunft Deines Bruders Deinem Edelmuth.“
Es wäre für jede Andere eine furchtbare Demüthigung gewesen, den Sohn des Mannes, von dem sie sich mit Haß und Verachtung losgerissen, um Hülfe anzuflehen, aber diesem Frau wußte die Demüthigung in einer Weise zu tragen, die ihr alles Erniedrigende nahm und ihrem eigenen Stolze auch nicht den geringsten Abbruch that. Die Haltung, mit der sie vor dem Sohne stand, war nicht die einer Bittenden. Sie appellirte nicht an ein Kindesgefühl, an eine Zärtlichkeit, die, wie sie wußte, nicht existirten. Die Mutter mit ihren Rechten trat für den Augenblick vollständig zurück; sie machte keins davon geltend, aber sie forderte von dem Gerechtigkeitsgefühle des älteren Bruders, daß er sich des jüngeren annehme, und es zeigte sich, daß sie Waldemar richtig berurtheilt hatte. Er fuhr lebhaft auf:
„Und das sagst Du mir erst jetzt, erst heute? Weshalb erfuhr ich nicht früher davon?“
Der Blick der Fürstin begegnete fest und ernst dem seinigen. „Was würdest Du mir wohl geantwortet haben, wenn ich Dir bei unserem ersten Wiedersehen eine solche Eröffnung gemacht hätte?“
Waldemar sah zu Boden, er erinnerte sich noch sehr gut der verletzenden Art, mit der er die Mutter damals gefragt, was sie eigentlich von ihm wolle.
„Du verkennst mich,“ erwiderte er hastig. „Ich hätte trotzdem nie zugegeben, daß Du mit Leo bei einem Anderen Hülfe suchst, als bei mir. Ich wäre Herr von Wilicza und sollte dulden, daß meine Mutter und mein Bruder in Abhängigkeit leben! – Du verkennst mich, Mutter, dieses Mißtrauen habe ich nicht verdient.“
„Ich hegte es auch nicht gegen Dich, mein Sohn, nur gegen den Einfluß, der Dich bisher geleitet hat, und vielleicht noch leitet. Weiß ich doch nicht einmal, ob er Dir gestatten wird, uns ein Asyl zu bieten.“
Das war wieder der Stachel, der seine Wirkung nie verfehlte, und den die Mutter stets im rechten Augenblicke einzusetzen verstand. Er blieb auch heute nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann.
„Ich glaube Dir gezeigt zu haben, daß ich meine Selbstständigkeit zu wahren weiß,“ entgegnete er kurz. „Und nun sage mir, was ich thun soll! Ich bin zu Allem bereit.“
Die Fürstin wußte, daß sie jetzt ein Wagniß unternahm, aber sie ging fest und unbeirrt auf ihr Ziel los.
„Wir können Deine Hülfe nur in einer Form annehmen, wenn sie uns nicht zur Demüthigung werden soll,“ sagte sie. „Du bist der Herr von Wilicza – wäre es nicht das Natürlichste, wenn Mutter und Bruder dort Deine Gäste sind?“
Waldemar stutzte. Bei dem Namen Wilicza bäumten sich der alte Argwohn und das alte Mißtrauen wieder jäh empor. All die Warnungen des Pflegevaters vor den Plänen der Mutter tauchten wieder auf; die Fürstin sah das, aber sie wußte es meisterhaft zu pariren.
„Mir wäre der Ort nur wegen der Nähe von Rakowicz erwünscht,“ warf sie mit gleichgültiger Miene hin. „Ich könnte dann in unbeschränktem Verkehr mit Wanda bleiben.“
Die Nähe von Rakowicz! Der unbeschränkte Verkehr mit seinen Bewohnern! Das entschied alles. Die Wangen des jungen Mannes flammten, als er erwiderte:
[500] „Bestimme Du das ganz nach eigenem Gefallen! Ich bin damit einverstanden. Ich gehe zwar noch nicht dauernd nach Wilicza, aber ich begleite Euch jedenfalls dorthin, und die Universität hat ja auch in jedem Jahre längere Ferien.“
Die Fürstin reichte ihm die Hand. „Ich danke Dir, Waldemar, in meinem und Leo’s Namen.“
Der Dank war wohl aufrichtig gemeint, aber es lag doch keine rechte Wärme darin, und ebenso kühl klang die Erwiderung Waldemar’s:
„Ich bitte Dich, Mutter – Du beschämst mich. Die Sache ist ja abgemacht – und jetzt darf ich doch wohl endlich nach dem Strande?“
Er schien um jeden Preis einer längeren Unterhaltung entfliehen zu wollen, und die Mutter hielt ihn nicht mehr zurück; sie wußte zu gut, wem sie den soeben erfochtenen Sieg verdankte. Am Fenster stehend, sah sie, wie der junge Mann in stürmischer Eile durch die Gartenanlagen nach dem Strande schritt, und kehrte dann wieder zum Schreibtische zurück, um den vorhin begonnenen Brief an ihren Bruder zu vollenden. –
Der Brief war soeben beendigt und die Fürstin stand im Begriff, ihn zu siegeln, als Leo bei ihr eintrat. Er sah fast ebenso erhitzt aus, wie vorhin sein Bruder, aber bei ihm war es augenscheinlich innere Aufregung, die ihm das Blut in die Schläfe trieb. Mit finsterer Stirn und fest zusammengepreßten Lippen näherte er sich der Mutter, die befremdet aufsah.
„Was ist Dir, Leo? Weshalb kommst Du allein? Hat Waldemar Dich und Wanda nicht gefunden?“
„O gewiß!“ versetzte Leo in erregtem Tone. „Er kam schon vor einer Viertelstunde zu uns.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Er macht mit Wanda eine Fahrt in das Meer hinaus.“
„Allein?“
„Jawohl. Ganz allein!“
„Du weißt doch, daß ich dergleichen nicht liebe,“ sagte die Fürstin unwillig. „Wenn ich Dir Wanda bei solchen Gelegenheiten anvertraue, so ist das etwas Anderes. Ihr seid wie Geschwister zusammen aufgewachsen und daher zu der Vertraulichkeit von Geschwistern berechtigt. Waldemar steht ihr in jeder Beziehung ferner, und überhaupt – ich wünsche kein so ausschließliches Zusammensein der Beiden. Die Segelfahrt war ja von Euch gemeinsam verabredet worden. Weshalb bist Du nicht bei ihnen geblieben?“
„Weil ich nicht immer die Rolle des Ueberflüssigen spielen will!“ brach Leo aus. „Weil es mir kein Vergnügen macht, zuzusehen, wie Waldemar fortwährend an Wanda’s Blicken hängt, wie er thut, als ob es nichts auf der Welt gäbe, als sie allein.“
Die Fürstin drückte ihr Petschaft auf den Brief. „Ich habe Dir schon einmal gesagt, Leo, was ich von diesen Eifersüchteleien halte. Fängst Du schon wieder damit an?“
„Mama,“ der junge Fürst trat mit sprühenden Augen dicht an den Schreibtisch, „siehst Du denn nicht, oder willst Du nicht sehen, daß Waldemar Deine Nichte liebt, daß er sie anbetet?“
„Und was thust Du denn?“ fragte die Mutter sich ruhig in ihren Sessel zurücklehnend. „Doch wohl genau dasselbe, wenigstens bildest Du es Dir ein. Ihr werdet doch nicht etwa verlangen, daß ich diese Knabenschwärmereien ernst nehmen soll? Du und Waldemar, Ihr seid gerade in dem Alter, wo man nothwendig ein Ideal haben muß, und Wanda ist bis jetzt das einzige junge Mädchen, dem ihr vertraulicher nahen dürft. Zum Glück ist sie noch Kind genug, das Ganze als ein Spiel anzusehen, und deshalb allein gestatte ich es. Würde sie jemals Ernst daraus machen, dann wäre ich genöthigt, einzuschreiten und Eurem Verkehr engere Grenzen zu ziehen. Das wird aber, wie ich Wanda kenne, nicht geschehen; sie spielt mit Euch beiden und lacht über Euch beide. Also schwärmt immerhin für sie! Deinem Bruder zumal kann diese Uebung in der Ritterlichkeit nicht schaden; sie fehlt ihm leider noch gar zu sehr.“
Das Lächeln, das diese Worte begleitete, war nun freilich tief verletzend für eine jugendliche Leidenschaft; es wies sie vollständig in den Bereich der Kinderspiele. Leo schien nur mit Mühe an sich zu halten.
„Ich wollte, Du sprächest einmal mit Waldemar in diesem Tone von der ‚Knabenschwärmerei‘,“ erwiderte er mit unterdrückter Heftigkeit. „Er würde das nicht so ruhig hinnehmen.“
„Ich würde ihm so wenig wie Dir verhehlen, daß ich Euer Benehmen für eine Jugendthorheit halte. Wenn Du mir nach vier oder fünf Jahren von Deiner Liebe zu Wanda sprichst, oder Waldemar es thut, dann will ich Euren Empfindungen Werth beilegen: für jetzt könnt Ihr noch ohne alle Gefahr die Ritter Eurer Cousine spielen – vorausgesetzt, daß es dabei nicht zu Streitigkeiten zwischen Euch kommt.“
„Dahin ist es bereits gekommen,“ erklärte Leo. „Ich bin vorhin mit Waldemar sehr scharf zusammengerathen und habe mich eben deshalb freiwillig von der Fahrt ausgeschlossen. Ich dulde es nicht, daß er Wanda’s Gespräch und Gesellschaft so ausschließlich für sich in Anspruch nimmt; ich dulde überhaupt nicht länger seine herrische Art und Weise und werde ihm das von jetzt an bei jeder Gelegenheit zeigen.“
„Das wirst Du nicht thun,“ fiel ihm die Mutter in’s Wort. „Ich lege mehr als je Werth auf ein gutes Einvernehmen zwischen Euch, denn wir werden mit Waldemar nach Wilicza gehen.“
„Nach Wilicza?“ rief Leo außer sich. „Und ich soll dort sein Gast sein, soll mich ihm vielleicht unterordnen? Nun und nimmermehr thue ich das. Ich will Waldemar nichts verdanken. Und wenn es meine ganze Zukunft kosten sollte, von ihm will ich nichts annehmen.“
Die Fürstin bewahrte ihre überlegene Ruhe, aber ihre Stirn verfinsterte sich doch, als sie antwortete:
„Wenn Du einer bloßen Laune wegen Deine ganze Zukunft auf’s Spiel setzen willst, so bin ich noch da, sie zu vertreten. Uebrigens handelt es sich hier nicht um Dich und mich allein, es sind noch andere, höhere Rücksichten, die mir den Aufenthalt in Wilicza wünschenswerth machen, und ich bin nicht gesonnen, meine Pläne durch Deine kindische Eifersucht stören zu lassen. Du weißt, daß ich Dir nie etwas Erniedrigendes zumuthen werde, aber Du weißt auch, daß ich gewohnt bin, meinem Willen Geltung zu verschaffen. Ich sage Dir, wir gehen nach Wilicza, und Du wirst Deinen älteren Bruder mit der Rücksicht behandeln, die ich selbst ihm erweise. Ich fordere Gehorsam, Leo.“
Der junge Fürst kannte diesen Ton hinreichend. Er wußte, daß, wenn die Mutter ihn anschlug, sie ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollte, aber diesmal trieb ihn ein mächtiger Sporn zum Widerstande. Wenn er auch keine Erwiderung in Worten wagte, so zeigte sein Antlitz doch, daß er sehr geneigt war, der That nach zu rebelliren, und daß er sich schwerlich zu der geforderten Rücksicht für den Bruder herbeilassen werde.
„Uebrigens werde ich dafür sorgen, daß die Veranlassung zu solchen Streitigkeiten künftig wegfällt,“ fuhr die Fürstin fort. „Wir reisen in acht Tagen, und wenn Wanda erst bei ihrem Vater ist, werdet Ihr sie ohnehin seltener sehen. Diese einsame Meeresfahrt mit Waldemar aber, die ich überhaupt nicht billige, soll unter allen Umständen die letzte gewesen sein.“
Damit klingelte sie und befahl dem eintretenden Pawlick, den Brief fortzutragen. Er brachte dem Grafen Morynski die Nachricht der baldigen Abreise und bereitete ihn zugleich darauf vor, daß die Schwester seine Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen, sondern daß die ehemalige Herrin von Wilicza in Kurzem wieder dort einziehen werde.
Vor zweiundsiebenzig Jahren that der wackere Schlözer den bemerkenswerthen Ausspruch: „Zeitungen – mit einem Gefühle von Ehrfurcht schreibe ich dieses Wort nieder – Zeitungen sind eines der großen Culturmittel, durch die wir Europäer – Europäer geworden sind, werth, daß sich noch jetzt Franzosen und Deutsche um die Ehre der Erfindung streiten. Stumpf ist der Mensch, der keine Zeitung liest.“ Napoleon der Erste, der Zeitgenosse des deutschen Historikers und Publicisten, nannte die
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Presse „die fünfte der verbündeten Mächte“ und that lange vor der Wirksamkeit des ihm feindlichen „Rheinischen Merkur“ die Aeußerung: „Vier feindliche Zeitungen thun mehr Schaden als vierhunderttausend Mann im offenen Felde.“ Und doch was war die Presse jener Zeit im Vergleiche zu derjenigen unserer Tage! Heute ist sie die Schule der Erwachsenen, großartig in ihrer technischen Entwickelung, unberechenbar mächtig in ihrem Wirken, das stärkste Verkehrsmittel des Ideenaustausches der Völker, der Sammelplatz tüchtiger Geister und der Lehrer und Erzieher des Volkes. Einen der hervorragendsten Publicisten und Redacteure der deutschen Presse führen wir dem Leser in Bild und Schrift vor, Einen aus der großen Zahl der Streiter, einen Mann, der aus der ungezählten Menge bekannter und anonymer Journalisten hervorragt, dessen Ruf weitverbreitet ist, und dem dankbare Anerkennung für sein Wirken von der Mitwelt geschenkt wird.
Am 2. Februar dieses Jahres feierte man in Wien zu Ehren des Herausgebers und Chef-Redacteurs der „Neuen Freien Presse“, Michael Etienne, ein glänzendes Fest, an welchem Tage Etienne, noch nicht fünfzig Jahre alt, ein Vierteljahrhundert seines unermüdlichen Schaffens als Journalist und Schriftsteller beendet hatte. Das Fest galt einem Helden der Feder, einem Manne, der fünfundzwanzig Jahre lang mit der ganzen Macht seines Geistes, mit der vollen Wärme seines Herzblutes Tag für Tag auf dem politischen Schlachtfelde für die höchsten Güter der Menschheit, für die geistigen und materiellen Interessen seiner Mitbürger gekämpft, zur Hebung der politischen Volksbildung in Oesterreich wesentlich beigetragen, unter den ungünstigsten Verhältnissen, unter dem Drucke des Absolutismus das Lehramt von der Tribüne der Zeitung geübt und sich als ein Schöpfer der großen Presse in Oesterreich ein außerordentliches Verdienst erworben hat. Zahllos waren die Beweise der Sympathie und Verehrung, welche dem Jubilar an seinem Ehrentage von seinen schriftstellerischen Collegen,[1] von der Stadtgemeinde, den Körperschaften, den Kunstinstituten Wiens, von Staatsmännern, Gelehrten, Dichtern und Künstlern, dem Vororte des deutschen Journalistentags, den bedeutendsten Journalen des deutschen Reiches, in Form von Adressen, literarischen Festgaben, in Versen und Prosa, und Beglückwünschungsschreiben dargebracht wurden. Wir übernehmen daher eine dankbare Aufgabe, wenn wir im Nachstehenden den Lesern der „Gartenlaube“ ein Bild von dem Leben, Wesen und Wirken des gefeierten Mannes bieten.
Michael Etienne (geboren in Wien am 21. September 1827) ist bekanntlich der Sohn Claude Etienne’s und Therese Hugelmann’s, eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter. Dieser Umstand wirkte entscheidend auf seine Erziehung und Ausbildung. Frühzeitig beherrschte er beide Idiome und wählte sich, ein Jüngling noch an Jahren, den Beruf eines Vermittlers der Literaturen beider Völker. Mit sechszehn Jahren lieferte er eine treffliche Uebersetzung eines Romans der George Sand, und von 1843 bis 1850 eine ganze Reihe von Bänden deutscher Uebersetzungen der Romandichtungen von Alexander Dumas und Eugen Sue für Hartleben’s „Lesecabinet“, sodaß man nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß ein großer Theil des österreichischen und deutschen Lesepublicums die sensationellen Werke der genannten Romanciers durch Etienne vermittelt erhielt. In belletristischen Zeitschriften erschien er [502] unter dem Namen „Miguel“ mit Gedichten voll warmer Empfindung und von anziehender Formenschönheit.
Der Ausspruch Jean Paul’s, daß jeder Jüngling ein Dichter sei, wurde an ihm zur Wahrheit. Da brach am 13. März 1848 das Morgenroth einer schöneren Zeit an; der patriarchalische Absolutismus stürzte vor dem ersten Windhauche der Volksbewegung zusammen. An diesem Tage löste sich die Zunge des dichterischen akademischen Legionärs und am 14. März 1848 erschien ein poetisches Flugblatt: „Der Universität und den Bürgern“, aus seiner Feder, das mit Enthusiasmus die Erlösung aus dem Joche der geistigen Zwingherrschaft feierte. Etienne hatte die Weihe des Politikers empfangen, und er, der auch heute nicht mehr zu sein begehrt als ein schlichter Bürger ohne Titel und Orden, hat die Geburtsstunde seiner politischen Thätigkeit niemals verleugnet.
In einer Brochure „1) Oesterreich und Europa, 2) Von der Presse“ (erschienen am 4. April 1848) bringt er die Bewegung in Oesterreich mit den freiheitlichen Bewegungen im übrigen Europa in inneren logischen und historischen Zusammenhang und giebt dem Bedürfnisse nach dem einigen Deutschland kräftigen Ausdruck. In der zweiten Abhandlung bespricht er die Vortheile für die geistige Erhebung des Volkes durch die Freiheit der Presse. Von nun an sehen wir Etienne fortgesetzt an Journalen thätig, am „Wanderer“ und vornehmlich an der „Reform“ Sigmund Engländer’s. Eine Artikelserie, welche die Maitage von 1848 behandelte, verwickelte ihn in einen Preßproceß, in welchem er ohne juristischen Beistand seine Vertheidigung in glänzender Weise führte. Er suchte den Nachweis zu führen, daß er die Bewegung geschildert, wie sie die öffentliche Stimmung, das Volksbewußtsein, auffaßte. Noch bedeutsamer ist seine Charakteristik des Parteikampfes und seine Prophezeiung, daß die Revolution wegen der Zwietracht im Lager der Fortschrittsmänner ein ruhmloses Ende finden werde. Warnend erhob er vor den Geschworenen und dem Staatsanwalte seine Stimme: man möge, wenn man auch den Vorgängen vom 15. Mai (Sturmpetition) nachtheilige Folgen zuschreibe, sich wohl hüten, die Errungenschaften vom März preiszugeben, „an die Säulen des Tempels zu greifen, den Tempel der Freiheit umzustürzen“. Die Geschworenen, Männer des bürgerlichen Gewerbes, anfänglich gegen den Angeklagten gestimmt, sprachen wohl ein Schuldig, aber nicht im klägerischen Sinne, und statt zu drei Monaten, wurde Etienne zu drei Wochen einfachen Arrestes verurtheilt, von dem Tragen der Gerichtskosten jedoch freigesprochen.
Es kamen böse Tage über Wien, Kriegsgericht und Belagerungszustand. Etienne fand kein Organ zur Bethätigung seiner Gesinnung in Oesterreich, und so flüchtete er sich in ein ausländisches Journal. Der spätere Begründer der „Gartenlaube“, Ernst Keil, öffnete ihm die Spalten seines damaligen Organs „Der Leuchtthurm“, und darin legte Etienne in Correspondenz-Artikeln die authentische Geschichte der Bewegung von 1848, der Octoberrevolution, der Einnahme Wiens und des Auftretens Windischgrätz’ und der Kroaten nieder.
Die Stadtcommandantur hatte ein sorgsames Augenmerk auf Etienne gerichtet, und als auch die octroyirte Verfassung beseitigt und das Säbelregiment herrschend geworden war, konnte Etienne nicht mehr in Wien bleiben. Er wurde noch rechtzeitig gewarnt und konnte nur in aller Eile seine Flucht vorbereiten. Mit geringer Baarschaft kam er nach Floridsdorf an der Donau bei Wien, hielt sich dort „auf den Mühlen“ bei einem Schulcameraden versteckt, der auch mit den Bediensteten der Nordbahn vertraut war, und gelangte so ungefährdet über die Grenze. Auf allerlei Umwegen kam er nach Leipzig. Dort machte er, wie Etienne dem Schreiber dieser Zeilen oft mit dankbarer Erinnerung erzählte, seinen ersten und einzigen Besuch bei dem Herausgeber und Redacteur dieser Blätter, der ihn freundlich aufnahm, ihm ein kleines Guthaben seines Honorars ausbezahlte, aus Eigenem noch einen ansehnlichen Beitrag hinzufügte und für die Weiterreise des Flüchtlings besorgt war. Sein Ziel war Paris; dort verlebte er fünf Jahre, unterstützt von dem alten Freunde Sigmund Engländer, der ihn zur „Correspondance Havas“ brachte, mit den ernstesten Studien beschäftigt, dabei als Correspondent deutscher, meist rheinischer Blätter und der „Donau“ thätig, ausgezeichnet durch die Freundschaft Heinrich Heine’s. Von der ersten Stunde seines Pariser Aufenthaltes an war er ein entschiedener Gegner Napoleon’s und seines Systems. Begreiflicher Weise litt er fortgesetzt unter den Chicanen der Polizei, und Mr. Pietri ließ seine Mouchards ein wachsames Auge auf ihn richten. Endlich wurde er festgenommen und in Mazas in Haft gehalten, gleichzeitig mit seinem Freunde und Landsmann Moriz Hartmann. Bis 1855 war er als Journalist in Paris thätig, als die Weltausstellung dem Verbannten mit einem Male durch den Verkehr mit Deutschen und Oesterreichern das Bild der Heimath so mächtig vor die Seele zauberte, daß er dem Drange des Heimwehs nicht länger widerstehen konnte und über Mannheim und Süddeutschland nach Wien zurückkehrte, wo er anfangs als Redacteur der „Donau“ (ein Blatt, das der Arbeitsminister von 1848, Ernst von Schwarzer, herausgab) thätig war, um wenige Monate später an die Spitze der Redaction der „Presse“ zu treten. Seine wahrhaft glänzenden Leistungen verschafften diesem Blatte einen großen Aufschwung, einen ungeheuren Leserkreis und einen tiefgehenden politischen Einfluß. Er verband sich schon 1856 das Talent des Dr. Max Friedländer (gestorben am 20. April 1872), und sie Beide, brüderlich vereint, arbeiteten mit außerordentlichem Erfolge bis zum Mai 1864 an der „Presse“.
Am 1. September 1864 erschien die erste Nummer der „Neuen Freien Presse“, herausgegeben von Etienne und Friedländer – das größte Zeitungs-Unternehmen, das jemals in Oesterreich bestanden, nach seiner Einrichtung, seinem geistigen Inhalte, seinem politischen Einflusse eine der großartigsten Anlagen geistiger Production in deutscher Sprache. Glänzender konnte die Zeitungs-Literatur auf der letzten Weltausstellung nicht repräsentirt werden, als dies in dem Pavillon der „Neuen Freien Presse“ auf dem Ausstellungsplatze geschah, wo ein Abbild der derzeit vollkommensten Druck- und Falzmaschinenarbeit gegeben wurde. Die amtlichen Ausstellungsberichte aller Staaten enthalten Schilderungen dieses Pavillons und des (im Jahrgange 1873, Nr. 13 der „Gartenlaube“ eingehend besprochenen) palastähnlichen Gebäudes der „Neuen Freien Presse“ auf dem Kolowratringe. Die internationale Jury hat deshalb dieser Unternehmung auch den höchsten Preis, das „Ehrendiplom“, neben anderen Auszeichnungen zuerkannt. Was Raschheit der Berichterstattung, Lebhaftigkeit der Darstellung, Aufwand an telegraphischen Nachrichten anlangt, steht die „Neue Freie Presse“ vielleicht einzig in Deutschland da. Sie ist die Stimmführerin der österreichischen Journale, das Banner der Verfassungspartei, das hervorragendste Organ der deutsch-österreichischen Bevölkerung. Die nicht-österreichische Presse holt ihre Nachrichten fast durchweg aus diesem Journale, und dieses liefert nicht weniger als zehn Procent seiner Gesammtauflage in das Ausland. Ausgezeichnete Fachmänner der Landwirthschaft, des Handels und der Industrie, des Unterrichtswesens, der Kunst, des Kriegswesens veröffentlichen in den Fachblättern der „Neuen Freien Presse“ werthvolle Abhandlungen. Die besten Federn Deutschlands arbeiten für ihr Feuilleton.
Die amtliche Statistik bietet interessante Details über die Organisation dieses Journals, welches 600 Personen (darunter 50 interne Redactionsmitglieder, 80 bis 100 Correspondenten im Inlande, 120 Correspondenten im Auslande, 150 externe Mitarbeiter etc.) beschäftigt, an jährlichen Staatsabgaben die Summe von 252,000 Gulden und ebenso viel an Redactions-Honoraren verausgabt, dessen Jahres-Etat 1,205,000 Gulden beträgt. Dieses Journal leitet Michael Etienne (die Administration führt seit der Begründung des Blattes Herr Adolph Werthner) seit dem Tode Friedländer’s allein.
Etienne ist der Chefredacteur dieses Blattes. Nicht allzu Viele wissen, was das bedeutet. Welch’ eine mühevolle und verantwortliche Thätigkeit bietet die Hauptleitung eines großen, zweimal täglich erscheinenden Blattes! Inmitten eines Wustes von Zeitungen, Correspondenzen, Manuscripten, Briefen, Abzügen redigirt der Chef, conferirt er mit den Mitarbeitern, inspirirt er Artikel, revidirt er Beiträge, verhandelt er mit dem Factor und Metteur, empfängt er Besuche – und betrachtet es als eine geistige Erholung, wenn in später Abendstunde die Sammlung, „die Götterbraut, Mutter alles Großen“, wie der Dichter die traute Gefährtin des literarischen Arbeiters nennt, sich bei ihm einstellt und ihn auf die Tribüne des Leitartikels geleitet, um zu ungezählten Tausenden zu sprechen. In den [503] acht Jahrgängen der „Presse“, in den elf Jahrgängen der „Neuen Freien Presse“ finden wir die Abhandlungen Etienne’s. Nehmen wir nun jene hundertzweiundvierzig Bände der „Neuen Freien Presse“ als die gesammelten Werke Etienne’s, so wird man von dieser Productivität mit großem und aufrichtigem Respect erfüllt.
Diese Kraft der Production wäre schier unerklärlich, wenn eben nicht die Tagesschriftstellerei ihrer Natur nach eine so eigenthümliche wäre. Der Reichthum politischer Beziehungen an den Brennpunkten des staatlichen Lebens, die unmittelbare Nähe der großen Staatskörperschaften, der treibenden und spinnenden Kräfte der Staatsmaschine, die sich sofort elektrisch mittheilende Erregung der Bevölkerung, das politische Fluidum, das den Journalisten umgiebt, durch alle Unterhaltungen und Gespräche der großen Stadt zuckt und dem Tagesschriftsteller persönlich nahe tritt – all’ dies setzt ihn in den Mittelpunkt der Politik, wirkt auf ihn, verarbeitet sich in ihm.
Etienne besitzt zudem ein lebhaft kräftiges Naturell, eine scharfe Urtheilskraft, die umfassendste literarische Bildung, eine Gewandtheit und Plastik des Ausdruckes, wie wenige Journalisten, eine wahrhaft classische Einfachheit der Diktion.[2] Gar kunstgerecht sind seine Situationsartikel, in welchen er die jeweilige Weltlage exponirt, aber seine Feder wird zur schneidigsten Waffe, wenn er die Dunkelmänner angreift, die Freiheit der Presse gegen Angriffe schützt oder das gefährdete Deutschthum in Oesterreich mit seinem jugendlichen Feuer zu vertreten hat. Vielleicht kein deutscher Publicist hat so unentwegt vom Staatsstreiche bis zum Tage von Sedan Napoleon den Dritten und sein System angegriffen und diesen Feind des europäischen Friedens in seinen letzten Zielen so vollständig klar erfaßt und verurtheilt, als Michael Etienne.
Sein Haß gegen Napoleon war geradezu sprüchwörtlich geworden, aber der weltgeschichtliche Ausgang hat ihn ebenso gerechtfertigt, wie Etienne’s voraussehendes Urtheil über das mexicanische Abenteuer. Ueber den nordamerikanischen Krieg und die Sclavenfrage hat er eine Reihe der trefflichsten Abhandlungen geschrieben, deren Grundton immer und immer wieder die Humanität war. Es ist noch in frischer Erinnerung, wie getheilt die Stimmung in Oesterreich bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges gewesen. Noch war die Wunde von 1866 nicht ganz verharscht; noch gab es staatskluge Männer genug, welche die Kaunitz’sche Politik eines Bündnisses mit Frankreich gegen Preußen Tag für Tag predigten; jede nationale Empfindung wurde verdächtigt; das „wahrhafte Oesterreicherthum“ feierte während der Hohenwart’schen Verwaltung Orgien über Orgien. Damals gab es in Menge Drohungen und Verleumdungen gegen die „Neue Freie Presse“ und ihren Leiter, aber der Letztere blieb treu seiner Gesinnung, und in seinem Blatte wurde die Sache Deutschlands wie eine eigene Sache Oesterreichs mit voller und ganzer Wärme vertreten. Das ist im deutschen Reiche nicht vergessen, und daß es dies nicht ist, davon gab der Lichtmeßtag dieses Jahres redende Beweise. Einen aus der Menge möchte ich citiren, nachdem ich so vieles aus eigener Wahrnehmung und Erfahrung gesagt; es ist Karl Gutzkow, der in einem Gedichte an den Jubilar sagt:
Michael – man denkt an’s Schwert,
Etienne – an Druck und Lesen;
Denn ein Drucker, hochgelehrt,
Ist einst Stephanus gewesen.
Kommt Dir Heil’ges mehr gelegen,
Dem Du eifertest zu gleichen,
Fehlt auch nicht der Steine Regen –
Laß’ den Silberkranz Dir reichen!
Ob zum Trutze, ob zur Wehre,
Deinem Namen machst Du Ehre.
Die Leute glauben, es sei das allerlustigste Leben im blanken Saatfeld und in der grünen Ackerkrume und wieder hoch oben im blauen Himmelsgezelt mit hellem Getriller und Geschmetter, daß es weit hinaus schallt, und sie glauben, es könne kein lustigeres Leben geben, als leichtconstruirter Nestbau im Frühjahr und lustige, flotte Wanderschaft im Herbste auf baldiges, lustiges Wiedersehen. Ja freilich, wenn die Leute nur eine Ahnung hätten von der Wirklichkeit der Sache! Es ist nicht Alles Mehlwurm, was glänzt, und es sind nicht lauter Freudenjodler, welche da oben über dem blanken Saatfeld hinausgejauchzt werden in die Welt. Die alte Frau Lerche hat mir das oft gesagt, und ich hab’ mir ihre Worte gemerkt und habe mir gedacht, daß es seine besonderen Umstände haben müsse mit ihrem bedächtigen, nachdenklichen Wesen, wenn sie so einschichtig einherwandelt in der einsamen Ackerkrume. Der stillen, sorglichen Frau gefällt wahrscheinlich nicht immer der überlaute Gesang, den der Herr Gemahl hoch oben anstimmt, aber der Herr Gemahl erklärt, daß er es einmal nicht lassen könne, und daß es seine einzige Freud’ sei auf der Welt und er seine Lust ebenso auslassen müsse wie seinen Schmerz – und so läßt sie ihn denn gewähren und sorgt sich allein und müht und plackt sich im rauhen Feld, als wenn sie zur Sklavin und Taglöhnerin geboren wäre. Ach, die Frau, die eigentlich von hochadliger Herkunft ist! Giebt es denn ein nobleres Geschlecht, ein Geschlecht, welches auf einen schöneren und älteren Stammbaum hinweisen kann, als „die von Lerche“!? Sie könnten die einfältige und gelehrte Welt hinweisen auf zahllose werthvolle literarische Documente, von der ehrwürdigen Bibel bis zum classischen Dichter und bis herab zum modernsten, leichtsinnigsten Feuilletonisten, die alle mit der gleichen Entschiedenheit bezeugen, daß gar kein nobleres Geschlecht aufzutreiben sei, wie das „derer von Lerche“. Und doch muß die arme Frau Tag aus und ein wahrhaft im Taglohn sich schinden und placken. Wir brauchen hier nicht einmal zu reden von den zahllosen Fährlichkeiten, welche sie auf der Herreise zu bestehen hat, von dem anstrengenden Flug über das viele Wasser, von den mannigfaltigen Nachstellungen, denen sie ausgesetzt ist, vom ersten Moment, da sie den „gastlichen“ Boden Europas betritt, bis zu der endlichen, häuslichen Niederlassung auf der heimischen Ackerkrume. Da reden die Leute nur immer von der singenden Lerche, aber von der sorgenden reden sie nicht. Man muß sie beobachten im stillen aufgrünenden Feld, wie sie, von der ersten Morgenröthe bis zur letzten Abendröthe bei der Arbeit, im Geschäft ist, um einen Begriff zu erhalten von ihrem mühseligen, stillbescheidenen Leben und Weben. Die Frau ist ein Muster von Arbeitsamkeit und Geduld; wahrhaftig! und sie könnte vielen Hausfrauen als Vorbild unter die leichtsinnige Nase gehalten werden.
Wenn der wankelmüthige April noch seinen feuchtkalten, graupigen Athem über die junge Saat bläst, beginnt bereits die Arbeit. Das Lerchenpaar hat sein altes Ackerstück wiedergefunden, und wenn es das alte Paar nicht ist, wenn dieses im afrikanischen Sande, oder am fernen Meeresgestade, oder, was noch viel eher möglich ist, in den zahllosen Netzen und Stricken auf den Ebenen oder im wilden Alpenstocke sein Leben eingebüßt hat, dann ist es jedenfalls sein Nachwuchs. Die Lerche kehrt zurück zur alten Scholle, wie der Staarmatz zum alten Baume oder Thurme, wie die Schwalbe zu ihrem Thorwege, wie der Buchfink zu seinem jungen Fichtenstande. Freilich ist das schwer zu beweisen. Aber die Bauern sagen und behaupten es, und das genügt mir. Der Bauer ist nämlich kein Phantast und Poet; er weiß, was er sagt. Er weiß, daß es derselbe Storch, derselbe Staar und dieselbe Schwalbe ist, die alljährlich bei ihm einkehrt, und er weiß auch, daß es dieselbe Lerchenfamilie ist. Ein alter Pächter sagte mir einmal, auf eine hübschgelegene Hufe Ackerland zwischen Hutweiden deutend: „Seit zwanzig Jahren, seit ich hier bin, hat auf dem Stücke [504] eine Haubenlerche gebaut; sie hat es förmlich in Pacht genommen und sollte eigentlich Zins zahlen, wenn sie sich mit solchen Kleinigkeiten abgäbe.“
Es ist völlig undenkbar, daß in jedem Jahre ein anderes, fremdes Haubenlerchenpaar in das Stück einfallen sollte. Die Bekanntschaft mit dem Terrain bildet eben für den Vogel die möglichstbeste Garantie für die Sicherheit. Nach der Ankunft macht sich das Paar sofort daran, nachzuschauen, ob noch Alles beim Alten ist; ob Körner, Hafer oder Buchweizen auf dem Stücke stehen, denn den drei Sorten geben sie im Dreifeldersystem weitaus den Vorzug. Während des Hausbaues im geschützten Grunde, dort, wo die Halme am dichtesten stehen, wird alle Vorsicht angewendet, um keine Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu lenken. Man sieht die Frau Lerche nie, gleich dem leichtsinnigen Spatzen oder dem energischen Staar, lange Streifen Material durch die Lüfte daher bringen. Sie hat es auch glücklicher Weise in den meisten Fällen nicht nöthig. Die weiche, trockene Streu kann leicht in der Nachbarschaft zusammengelesen werden, und sie trägt die süße Last, eilfertig laufend, gleich der Wachtel, durch die Halme.
Der Herr Gemahl hütet sich wohl, während der Arbeit just über der Brutstätte einen Hochgesang anzustimmen; er würde bei der Heimkehr etwas zu hören bekommen, was ihm nicht lieb wäre. Er hütet sich auch, beim Niederkommen direct in die Neststelle einzufallen; er fällt lieber in die Gegend ein, wo eine Wachtel oder eine Grasmücke baut, denn er ist ein großer Verehrer des heiligen Florian.
Was der Lerche am meisten Sorge macht, ist die Nähe des Menschen, die Nachbarschaft des schleichenden Fuchses, des aalgewandten, eierlüsternen Wiesels, des pfeilschnellen Sperbers, des grimmen Lerchentödters, des unheimlichen Uhus, der die nackte Brut aus dem Neste holt, und nicht zuletzt der feuchtnasigen Schulbuben, die schlimmer sind als alle anderen zahmen und wilden Feinde. Wenn die hinterlistigen Rangen trotz aller angewandten Vorsicht der Alten, den Bau entdeckt haben und einige Male die Stelle betreten, um nachzusehen, wie es steht, dann verläßt das Paar unbedingt die gefährdete Stätte und das halbfertige Nest, um an einem anderen Punkte die Arbeit aufzunehmen. Es erreicht damit nicht selten, daß die Aufmerksamkeit der Sucher auf die verlassene Stelle gerichtet bleibt. Die Lerche verläßt auch, wenn sie gestört wird und wenn bereits einige Eier eingeschafft sind, sehr leicht das Nest. Sie zieht unter solchen Umständen einen schleunigen Neubau vor; niemals gewöhnt sie sich, wie mancher Vogel im Hausgarten und wie selbst das scheue Rothkehlchen im Dachgebälke, an den wiederholten Besuch und an den freundlich gefahrvollen Blick der Menschen. Sie bleibt immer eine volle Wildnatur. Vom Augenblicke an, wo die Eier vollzählig im Neste sind, beginnt die schwerste Zeit für Frau Lerche. Ein unbeholfener Bauernstiefel, der über das Feld schleppt, kann ihre ganze Herrlichkeit zertreten; ein ungerathener Hund kann über ihr Haus herfallen und es spielend zerzausen; eine falsche Hauskatze kann überquer kommen und sich auf die Lauer legen. Bei jedem ungewohnten Geräusche in den Aehren pocht ihr Herz, daß es die Eier zu zerschlagen droht. Trotz ihrer Angst aber wird die wackere Frau niemals, sie müßte denn ganz jählings, etwa durch einen Schuß, erschreckt werden, geradeauf vom Neste fliegen. Sie steigt vielmehr ab und trippelt und flattert möglichst geräuschlos von dannen. Durch diese Vorsicht und Geistesgegenwart rettet sie oft der nackten Brut das nackte Leben. Ueberfällt aber ein Feind trotz aller Vorsicht das Nest, dann erfüllt ein herzzerreißendes Geschrei das Feld und mit zitterndem Flügelschlage schwebt das verzweifelte Paar über dem Bedränger.
Was zuweilen in den Bauernschulen und Spinnstuben erzählt wird von dem blanken Sensenstreich, der einer ganzen Lerchenbrut die Köpfe weg rasirte, das ist leider nicht immer Fabel, einem zum Gruseln geneigten Bauernjungengehirn entstammt. Das Malheur trifft in der That zuweilen die Familie der Frau Lerche. Die Brut wird gewöhnlich etwa vierzehn Tage vor der Ernte flügge und verläßt das Nest. Sehr selten entschließt sich die Lerche zur Veranstaltung einer zweiten Auflage. Sie überläßt es dem Staarmatze, der Merle und dem Spatzen. Aber der Bauer kommt oft in den Fall, ein Stück Saat vor der Zeit umhauen zu müssen, und da er im dichten Halme das Nest nicht bemerkt und das Geschrei der jungen Vögel nicht beachtet, so kann es leicht vorkommen, daß er an der Brut, die bei der Annäherung der Sense die Köpfe hervorstreckt, das Scharfrichteramt verrichtet. Bei der Zerstörung eines Nestes werden die Arbeiter von dem wehklagenden Geschrei und Geflatter der Alten nicht sobald befreit. Auch den räuberischen Fuchs und die Katze verfolgt die Lerche mit ihrem Geschrei und ihren Bewegungen und zwar in so auffallender Weise, als wolle sie die Hülfe der Menschen herbeirufen. Die Periode der dringendsten Gefahren ist aber vorüber, sobald der Vater der flüggen Jugend seine Künste „im blauen Felde“ zeigen kann. Und sie sind derart schwer, daß mit seinen Gratisvorstellungen viele Tage vergehen. So lange die Brut im Neste ist, denkt die Frau Lerche nicht daran, den Herrn Gemahl auf seinen Sonnenflügen zu begleiten. Das verträgt sich nicht mit der sorgenden Angst, die ihr Gemüth unablässig erfüllt. Wohl aber macht sie sich zuweilen auf, um ihn aus der stolzen Höhe zu holen, und ermahnt ihn, ihr hübsch an die Hand zu gehen und nicht immer im Wirthshause „Zur Sonne“ zu singen und zu jubiliren. Dann kommt der Herr Gemahl oft ziemlich kleinmüthig hernieder zum häuslichen Herd.
Wenn endlich zum ersten Mal, an einem hübsch warmen Sommertag die junge Brut auf den Nestrand steigt und in den großen Aehrenwald hineintritt, dann geht wieder eine neue Sorge für die Frau Lerche an, glücklicher Weise die letzte für diese Saison. Es ist eine sehr poetische Vorstellung, welche die jungen Lerchen gleich vom Neste, dem väterlichen Beispiele folgend, himmelan steigen läßt, aber auch eine sehr unrichtige Vorstellung, wie das zuweilen mit poetischen Vorstellungen der Fall sein soll. In den ersten Tagen nach dem großen Auszuge trippelt die junge Brut ängstlich hinter der Frau Mutter in der Ackerfurche her, und noch scheint das Ersteigen der Jakobsleiter für sie ein unerreichbarer Traum zu sein. Die Sippe ähnelt jetzt am meisten einer Wachtelfamilie; denn sie läuft mit derselben Gewandtheit durch den Acker, und sie fliegt nur ganz kurze Strecken. Aber mit jedem Tage wird diese Strecke größer und der Aufschwung kühner. Es entwickelt sich jetzt das lustige Lerchenspiel auf den Feldern, und bald steigt der Erstgeborene, ein kühner Jüngling, im stolzen Sonnenfluge dem Vater nach. Die Alte schreit derweil besorgt: Ikare! Ikare! Man erkennt die jungen Lerchen an ihrem abgehackten Fluge und an ihrem unzusammenhängenden, aber unermüdlichen Geschrei; es ist nicht einmal ein Gezwitscher, und man fürchtet schier, daß die wilde Bande nie etwas lernen werde. Aber am Abende, wenn sie noch einmal zum Neste zurückgekehrt ist und sich mit der Mutter zusammenduckt, dann steigt der alte Herr zum letzten Mal feierlich himmelan und schickt seinen Wundersang der scheidenden Abendröthe nach, und dann lauscht die Bande unten, und die Alte flüstert ihnen zu: „Jungens, paßt auf! So müßt Ihr es auch einmal machen, wenn Ihr rechte Lerchen werden wollt.“
Das ist dann die eigentliche Schule der talentvollen Musikantenfamilie.
Zugleich mit der eigenen Jugend hat die Lerche aber auch noch andere Schüler und Nachahmer; in den meisten Fällen freilich nur armselige Nachäffer, wie das ja auch nicht anders sein kann. Eine hübsche Anzahl von Vögeln versucht sich in Feld und Garten im „Lerchengekletter“. Da ist vor Allem die unternehmungslustige Grasmücke, die Nachbarin des Meisters. Sie steigt am hartnäckigsten und auch am ähnlichsten empor, ihren kleinen, kurzathmigen Gesang anstimmend. Aber es ist natürlich nur Kinderspiel dem eigentlichen, echten Lerchenflug gegenüber. Noch couragirter greift in seines Lebens Blüthezeit der wackere Staarmatz die Sache an, indem er sich von der Dachkante tollkühn empor in die Lüfte zu schwingen sucht und leider auch ohne den gewünschten Erfolg. Er bringt es nicht einmal so weit wie die Grasmücke, die doch wenigstens schon mit der Buschlerche den Vergleich aushalten kann. Aber was soll man sagen wenn man beobachten muß, daß selbst der ordinäre Spatz sich zuweilen (es müssen allerdings ganz besondere Augenblicke in seinem Leben sein) einen Lerchenaufschwung zu geben sucht; das geht denn schon über den Spaß. Es ist auch die reine Carricatur; das ist nicht zu leugnen. Doch ist [505] noch zu bedenken, daß bei diesem Kletterspiel auch eine arge Täuschung mit unterlaufen kann. Gar manchmal steigt die Grasmücke in die Luft, um sich nur eine Mücke herunter zu holen, und der Spatz, um einen Maikäfer zu fangen. Da ist denn gar keine Poesie mehr im Spiele. Wie gesagt, begleitet die Frau Lerche den Herrn Gemahl nicht bei seiner Himmelskletterei; sie ist viel zu züchtiger Art und zu wohl erzogen. Sie weiß, es schickt sich nicht für eine solide Frau – mit Ausnahme einer kurzen Zeit, nämlich in ihrem Honigmonat. Dann steigt auch sie und kreist mit ihm hoch oben im neckischen Spiel, und das sind dann die Lichtpunkte, die herrlichsten, glückseligsten Momente in ihrem sonst so sorgenreichen Dasein.
Es war im Sommer des Jahres 1857. Auf dem Deck eines Omnibus der Linie Odéon-Clichy saß ein junger Mann von ziemlich verwahrlostem Aeußeren. Seine Kleider waren allerdings von dem Zuschnitte Derer, die in einem Polizeiberichte zu der Bemerkung Anlaß geben: „Er schien den besseren Ständen anzugehören“; aber, wie der berühmte Mantel des Kriegers, hatten sie manchen Sturm erlebt. Und die Spuren dieser rühmlichen Campagne malten sich in jeder Falte so ausdrucksvoll, daß nur die äußerste Noth des Besitzers ihre Pensionsberechtigung unbeachtet lassen konnte. Ein lebensmüder Hut, wehmuthsvoll auf das linke Ohr gesetzt, und ein phantastischer Regenschirm vollendeten das Bild eines Jünglings, der bezüglich seiner Finanzen sehr wenig Vertrauen einflößte. Nur in dem geistvollen, grauen Auge blitzte ein verheißendes Etwas, eine ungebändigte Energie, die ein Optimist zu Gunsten der Zukunft hätte ausdeuten können. „Gebt mir einen festen Punkt,“ so lautete die stumme Sprache dieser Augen, „und ich hebe Euch eine Welt aus den Angeln; versetzt mich in das richtige Element, und ich werde in Kürze als Triumphator auf dieses Uebergangsstadium herablächeln.“
Jetzt erhob er sich, kletterte von dem Deck herab und bog in die nächste Querstraße ein. Vor einem Kaffeehause machte er Rast. Noch einmal überlegte er sich alle Eventualitäten seines Vorhabens. Beim Bezahlen der Halbtasse, die er hastig hinuntergestürzt hatte, merkte er, daß sich seine ganze Barschaft noch auf fünf Franken belief.
„Jetzt oder nie!“ murmelte er vor sich hin. „Mißglückt mir dieser letzte Versuch, so bleibt mir nichts Anderes übrig, als die Hülfe der deutschen Botschaft in Anspruch zu nehmen und auf dem kürzesten Wege nach Deutschland zurückzukehren. Der schöne Traum von der Pariser Carrière ist dann ausgeträumt.“
Mit großen Schritten eilte er weiter. In der Rue d’Amsterdam erreichte er ein stattliches Haus. Herzklopfend stieg er die Treppe hinan, bis er vor einer Klingel Halt machte. Auf einem großen Messingschilde stand hier zu lesen: Alexandre Dumas. Der junge Mann zog die Schelle. Nach zwei Minuten erschien ein Diener, der die Frage: „Ist Herr Dumas zu Hause?“ mit der kurzen und nicht allzu höflich betonten Rede beantwortete: „Der Herr ist auf dem Lande.“
Die Thür fiel in’s Schloß. Der junge Deutsche starrte einige Minuten lang wie betäubt vor sich hin. Dann schwankte er langsam die Treppe hinab. Im Thorwege übermannte ihn das Gefühl der Verzweiflung so vollständig, daß ihm die Füße den Dienst versagten. Er lehnte sich an die Wand und verharrte hier zwei, drei Minuten wie geistesabwesend. Die niederschmetternde Gewißheit, daß auch dieser letzte Versuch für ihn fehlgeschlagen, schien seine letzte Kraft von Grund aus geknickt zu haben.
Und nun leugne man, daß unser Wille in den Verkettungen von Ursache und Wirkung ein flüchtiger Hauch, ein ohnmächtiges Atom, eine klägliche Null ist! Mit aller Kraft glauben wir an unserm Schicksale zu arbeiten: da kommt ein kleiner, unscheinbarer Zufall, zerreißt uns die ganze Rechnung und schleudert unser Lebensschiff, dem Steuer zum Trotz, in eine Richtung, die wir niemals geahnt haben.
Die Verzweiflung, die den Helden unserer Geschichte in dem Thorwege jenes Hauses der Rue d’Amsterdam erfaßte und ihn lähmend gegen die Wand drückte, diese kurze Anwandlung von zwei, drei Minuten sollte über sein ganzes zukünftiges Leben entscheiden. Hätte er in stürmischem Unmuthe das Haus verlassen, wäre er in hellem Grolle mit dem Schicksale auf die Straße geeilt, er säße jetzt vielleicht … Doch wir wollen unserer Erzählung nicht vorgreifen.
Wie er so dasteht, ertönen Schritte. Ein vornehm gekleideter Herr kommt die Treppe herab; als er die gebrochene Gestalt des jungen Deutschen wahrnimmt, tritt er näher herzu.
„Beim Himmel! Sie sind’s!“ ruft er theilnehmend. „Was machen Sie hier?“
Der junge Deutsche erkennt einen Herrn, den er seit Langem fast täglich im Kaffeehause getroffen.
„Ich habe zum zwanzigsten Male versucht, Herrn Alexander Dumas zu sprechen, und man hat mich zum zwanzigsten Male abgewiesen. Der Diener behauptet, Herr Dumas sei auf dem Lande.“
„Ah, so!“ erwidert der Herr lachend. „Wenn’s weiter Nichts ist – Herrn Dumas sollen Sie gleich sprechen. Warten Sie fünf Minuten!“ Spricht’s und steigt wieder die Treppe hinan. Kurze Zeit darauf kommt er zurück mit den Worten: „Herr Dumas erwartet Sie.“
Der junge Mann, der auf diese fast romanhafte Weise noch in der zwölften Stunde an’s Ziel gelangte, war kein Anderer als Albert Wolff, gegenwärtig der geistreiche Plauderer des Pariser „Figaro“, der Liebling der „großen Nation“, die Verkörperung des Pariser Esprits. Aus dem armen Jungen, der in stiller Wehmuth seine letzten fünf Franken musterte, ist der elegante Journalist geworden, der eine reizende Wohnung in der Rue Lafitte bewohnt, kostbare Gemälde und werthvolle Bücher aufstapelt und bei einem jährlichen Einkommen von vierzig- bis fünfzigtausend Franken auf seine Lehrjahre zurückblickt wiedersprüchwörtliche Pariser Kaufherr, der in Holzschuhen in die Hauptstadt gekommen.
Alexander Dumas empfing den jungen Deutschen im Badezimmer. Der dicke Herr saß bis an die Brust im Wasser und hielt sich mit den rundlichen Fingern rechts und links am Rande der Wanne fest. Er ließ sich durch den Eintritt Albert Wolff’s durchaus nicht stören, sondern wandte nur leise den Kopf und fragte mit gutmüthiger Bosheit:
„Was wollen Sie? Haben Sie Geld nöthig?“
„Allerdings,“ versetzte Wolff keck, „aber ich will Nichts geschenkt haben. Ich will arbeiten.“
„So! Arbeiten! Was für ein Fach haben Sie?“
„Ich komme in der Absicht, das Uebersetzungsrecht Ihrer neuen Dramen zu erwerben. Ich bin jung und vom besten Willen beseelt, habe mich schon mehrfach nicht ohne Erfolg als Journalist und Schriftsteller versucht und glaube die Aufgabe befriedigend lösen zu können. Ich verspreche Ihnen die Hälfte des Erträgnisses. Auf keinen Fall riskiren Sie etwas.“
„Ah,“ rief Dumas, indem er sich in der Wanne aufrichtete, „Sie sind ein Deutscher. Ein philosophisches Volk, diese Teutonen! Eine großartige Literatur! … Drehen Sie sich um, mein Junge! Ich steige heraus. … Lessing, der deutsche Shakespeare. … Treten Sie abseits! Ich mache Sie naß. Minna von Barnhelm, ein gutes Lustspiel, etwas veraltet, aber voll brillanter Effecte. Dergleichen würde auch bei uns Etwas machen. Hätte nicht übel Lust, das Ding zu bearbeiten. Ah, und Schiller, der ist mein Liebling. So! Sie können sich umdrehen.“
Albert Wolff erblickte jetzt den Verfasser der „Drei Musketiere“, in ein langfasriges Laken gehüllt, wie er im Begriff stand, die Strümpfe anzuziehen, – keine leichte Aufgabe bei seiner Corpulenz. Unter dem Ankleiden fuhr Dumas fort, sich in Aphorismen über das deutsche Theater zu ergehen. Er bekundete bei diesen Auslassungen eine echt französische Unkenntniß. [506] Außer Lessing, Goethe und Schiller war ihm kaum ein bedeutender Name geläufig. Von neueren Autoren kannte er nur Gutzkow aus dem „Urbild des Tartuffe“ und Hackländer. Von den dramaturgischen Zuständen Deutschlands und seiner ganzen geistigen Strömung überhaupt hatte er die sonderbarsten Begriffe. Wolff hielt es für zweckmäßig, die irrigen Anschauungen des berühmten Romanciers[WS 1] durch eingestreute Bemerkungen zu berichtigen, bis sich ein Zwiegespräch und schließlich ein Vortrag daraus entspann, in welchem der Deutsche den Franzosen nach allen Richtungen hin belehrte und aufklärte.
Dumas lauschte mit wachsender Verwunderung. Albert Wolff sprach das Französische zwar nicht ganz correct, aber doch ziemlich geläufig. Der Hauch von Fremdartigkeit, der über seiner Darlegung schwebte, mochte den literarischen Feinschmecker Dumas besonders fesseln. Wohl eine halbe Stunde lang stand er da, die Hände in den Hosentaschen, die wulstige Unterlippe im wechselnden Spiel der Empfindungen auf- und abziehend, bis er endlich in die charakteristischen Worte ausbrach: „Vous n’êtes pas bête – Sie sind kein Esel.“
Albert Wolff dankte ihm für die gute Meinung und kam auf seine ursprüngliche Bitte wegen des Uebersetzungsrechtes zurück.
Dumas blickte sinnend zu Boden.
„Wissen Sie was,“ sagte er nach einer Weile, „Sie könnten mein Secretär werden und mir die wichtigsten Erscheinungen der deutschen Literatur für meinen Privatgebrauch übersetzen. Es scheint mir fast, als würde ich da hin und wieder Etwas aufstöbern, was ich brauchen könnte. Ich offerire Ihnen dreihundert Franken monatlich, einen Platz an meinem Tisch, und wenn Sie wollen und die Sache sich macht, einen Platz in meinem Herzen.“
Wer war glücklicher als unser Wolff! Mit beiden Händen zugleich griff er zu, und schon nach wenigen Wochen erfreute er sich unter der Bezeichnung „L’Allemand de Mr. Dumas – der Deutsche des Herrn Dumas“ einer gewissen Geltung: die erste Sprosse auf der Leiter des Erfolges war erklommen.
Von den zahlreichen Lesern, die sich allwöchentlich zweimal an Albert Wolff’s geistreichen Feuilletons erquicken, wissen wahrscheinlich nur sehr wenige, daß dieser scheinbar so durch und durch französische Autor seine ersten literarischen Erfolge in Deutschland erzielt hat. Im Jahre 1835 zu Cöln geboren, ging Albert Wolff mit achtzehn Jahren als Kaufmann nach Paris, wo er in der Glasmalerei eines Verwandten Cartons zeichnete. Wieder nach Cöln zurückgekehrt, lernte er den Verleger des „Kladderadatsch“, A. Hoffmann, kennen, und machte in dessen Gesellschaft eine Rheinreise. Diese Rheinreise war die Wiege der nachmals so stark ausgebeuteten und breitgetretenen Schulze- und Müller-Literatur. Allerlei kleine Abenteuer und humoristische Erlebnisse brachten den jungen Kaufmann auf die Idee, die beiden schon damals in Flor stehenden „Kladderadatsch“-Figuren in touristische Kleider zu stecken. Er schrieb „Schulze und Müller am Rhein“, ein Scherz, der neben mancher kalauernden Banalität eine Fülle wirklichen Humors enthielt.
Kalisch wurde von Hoffmann beauftragt, das Wolff’sche Manuscript zu berlinisiren; und in dieser Gestalt hat das Buch eine beträchtliche Reihe von Auflagen erlebt. Wolff zeichnete auch die Illustrationen. Wenn wir nicht irren, geht noch die neueste Auflage im Schmucke der Zeichnungen einher, die der gelesenste französische Feuilletonist entworfen hat. Der Erfolg dieser „Rheinreise“ veranlaßte den Verleger Hoffmann, noch in demselben Jahre mit Kalisch nach dem Harze zu reisen, und so das Ei des Columbus zum zweiten Mal auf die Spitze zu stellen. Trotz dieses glänzenden Resultates erhoben sich zwischen Wolff und seinem Verleger allerlei Mißhelligkeiten, die damit endigten, daß Wolff der preußischen Hauptstadt den Rücken kehrte und nach Düsseldorf ging. Schon von Berlin aus hatte er für die Düsseldorfer Monatshefte gearbeitet. Jetzt trat er als Redacteur an die Spitze des Unternehmens. Die Jahrgänge aus jener Zeit enthalten eine große Anzahl von Beiträgen aus seiner gewandten Feder. Komisches veröffentliche er unter seinem vollen Namen, Ernstes unter dem Pseudonym W. Albert. Auch für Ernst Keil’s „Illustrirten Dorfbarbier“ und für das von Robert Prutz redigirte „Museum“ war er von Düsseldorf aus thätig. Schon hatte es den Anschein, als sollte es ihm gelingen, sich durch die chinesische Mauer der deutschen Schriftstellermisère Bahn zu brechen in das Land einer gesicherten Existenz, als ein Ereigniß eintrat, das ihn mit einem Male aus der kaum betretenen Laufbahn hinausschleuderte.
Die Firma Arnz und Comp., in deren Verlag die „Monatshefte“ erschienen, machte nämlich Bankerott. Der Redacteur verlor einen Theil seines rückständigen Gehaltes, und mit einem Male war er wieder brodlos. Da griff zum ersten Male jene wunderbare Hand des Zufalls, deren Bethätigung die Philosophie beinahe zum Fatalisten machen könnte, in seine zerrüttete Existenz ein. Der Düsseldorfer Maler Larson schickte um diese Zeit ein Bild in die Pariser Gemäldeausstellung und begab sich selbst nach der französischen Hauptstadt, um dort für die Besprechung seines Kunstwerkes in der Presse zu wirken. Da er selbst des Französischen nicht mächtig war, so forderte er Wolff auf, ihn als Dolmetscher zu begleiten und in Paris die nöthigen Verbindungen mit den Journalen und insbesondere mit den großen illustrirten Zeitungen herzustellen. Wolff ging bereitwillig auf diese Idee ein. Das Leben in der französischen Hauptstadt sagte ihm jetzt ungleich besser zu, als vor so und so viel Jahren. Er faßte den Entschluß, sich hier eine Existenz zu gründen, und nach langem Hin- und Hergrübeln kam er auf die Idee, sich in der oben mitgetheilten Absicht an Dumas zu wenden. So war gewissermaßen der Bankerott der Firma Arnz die erste Ursache seiner nachmaligen Erfolge.
Bei Dumas blieb Albert Wolff mehrere Jahre lang, stets guten Muthes, stets fleißig und lernbegierig, wenn auch der große Romancier[WS 2], der bekanntlich trotz seiner ungeheueren Einnahmen ewig in Geldnoth war, die versprochenen dreihundert Franken sehr unregelmäßig auszahlte. Wolff übersetzte ihm eine beträchtliche Anzahl deutscher Dramen – unter anderen „Die Jäger“, von Iffland. Dumas benutzte das Sujet zu einem Roman „Katharina Blum“, der in der Zeitung „Le Mousquétaire“ erschien. In ähnlicher Weise wurde das bekannte Lustspiel „Englisch“ von Görner zu einer reizenden Komödie „L’honneur est satisfait“ benutzt, die in jeder Beziehung weit über dem deutschen Originale steht. Auch eine große Anzahl von Novellen und Jugenderzählungen übersetzte Wolff für den unermüdlichen Autor. Dumas hat die meisten dieser Jugendschriften später unter dem Titel „Le Père Gicogne“ zusammengestellt.
Während dieser Thätigkeit arbeitete Wolff noch immer als deutscher Autor. Ganz im Anfange seines Aufenthaltes hatte er Kunstbriefe für die „Augsburger Allgemeine“ geschrieben. Später verfaßte er eine Reihe von Novellen, die sich zum Theil vielen Beifall und bei verschiedene Concurrenzen den Preis erwarben. Jetzt aber begann eine neue Periode. Die Redacteure des allen „Gaulois“ forderten ihn auf, gelegentlich einen Beitrag zu liefern. Er schrieb einen humoristischen Artikel, den er im Gefühle einer begreiflichen Unsicherheit Albert X. unterzeichnete. Tags darauf saß er in einem Kaffeehause, wo eine große Anzahl der bekanntesten Journalisten verkehrte, unter Anderen auch Villemessant, der Chefredacteur des „Figaro“. Das Gespräch verfiel auf den geheimnißvollen Artikel des „Gaulois“.
„Wenn ich diesen Albert X. kennte,“ rief Villemessant lebhaft, „er müßte sofort in den ‚Figaro‘.“
Dem jungen Deutschen stieg vor freudiger Ueberraschung das Blut in die Schläfe. Beim Aufbrechen bat er Herrn Villemessant um Gehör und entdeckte sich mit einem energischen „Ich bin’s!“ als den Autor.
„Das ist nicht wahr,“ erwiderte Villemessant brüsk.
Auch dieser Ausruf des routinirten Chefredacteurs war für den angehenden Feuilletonisten in hohem Grade schmeichelhaft.
„Gut!“ sagte Villemessant endlich. „Bringen Sie mir solche Artikel für meine Zeitung! Ich zahle Ihnen jedesmal hundert Franken.“
Tags darauf ereignete sich fast dieselbe Scene mit dem Chefredacteur des „Charivari“. So trat denn Albert Wolff gleichzeitig als Mitarbeiter in zwei der gelesensten Blätter Frankreichs.
Später übernahm er im „Figaro“ die sogenannten „Echos [507] de Paris“, in denen jede Zeile ein Epigramm war. Die Folgen dieser satirischen geistreichen Journalistik konnten nicht ausbleiben. Wolff erntete eine Reihe von Herausforderungen, die indeß nur theilweise zum Duell führten – ein wahrer Schmerz für Herrn Villemessant, der nichts lieber sah, als wenn seine Redacteure neben der Feder auch die Klinge handhabten. Endlich übernahm Wolff mit zwei oder drei anderen Mitarbeitern gemeinsam den Leitartikel, der im „Figaro“ bekanntlich nur selten die Politik, sondern meistens Gegenstände der Wissenschaft, der Kunst, der Gesellschaft etc. behandelt. Zweimal wöchentlich bietet er hier den Parisern seine geistreiche Prosa, und noch immer hat er seine Leser zu fesseln und zu entzücken gewußt. Die Franzosen, die sich an dem echt pariserischen Parfum dieser Aufsätze laben, wissen nicht, daß es vielleicht gerade der Kern der deutschen Bildung ist, der ihnen die Wolff’schen Plaudereien so interessant macht.
Wolff besitzt einen größeren Wörterschatz als die meisten französischen Journalisten; denn mit dem Umfange der Kenntnisse wächst auch der Umfang des Lexicons. Merkwürdiger Weise hat unser Autor das Französische niemals eigentlich systematisch studirt. Seine phänomenale Beherrschung dieses fremden Idioms ist eine rein instinctive. Die Grundlagen zu dieser Beherrschung hat er schon während seines ersten Aufenthaltes in Paris gelegt; in der Glasmalerei, wo er als junger Mensch thätig war, wurde während der Arbeit fast unausgesetzt vorgelesen. Merkwürdig ist bei einem so vollendeten Erfassen des fremden Sprachgenius, daß Wolff nicht im Stande ist, einen französischen Vers zu schreiben, während er ein deutsches Gedicht mit der größten Leichtigkeit improvisirt.
Wir haben noch einige Worte hinzuzufügen über Wolff’s politische Stellung. Beim Ausbruche des Krieges von 1870 und 1871 war er einer der Ersten, die Frankreich verließen. Er begab sich nach Brüssel, von wo er mit begreiflichem Schmerze dem Kampfe zwischen seinem Adoptivvaterlande und seiner Heimath zuschaute. Erst Ende October 1871 kehrte er nach Paris zurück. Villemessant empfing ihn auf’s Freundlichste. Die übrigen Redacteure des „Figaro“ schienen anfangs nicht übel Lust zu haben, die Cabinetsfrage zu stellen, aber Villemessant erklärte: „Wolff bleibt, und sollte ich seinetwegen mein gesammtes Personal entlassen.“
Man machte dem „Prussien“ nun den Vorschlag, hinter einem Pseudonym dem Grolle der Preußenfeinde auszuweichen. Wolff aber wies diese Zumuthung rundweg von der Hand. Sein erster Artikel nach der Rückkehr in der Nummer vom 27. October 1871 machte den Parisern den Standpunkt klar. Wolff versicherte, er werde, wie dies seine schwierige Stellung erheische, die Berührung politischer Fragen auf’s Strengste vermeiden. Dagegen komme es ihm wie eine Feigheit vor, wenn er hier, wo er so lange zu Haus gewesen, unter einer Maske auftreten wolle. „Ich brauche,“ so schloß der Artikel, „vor Niemand die Augen niederzuschlagen, und so trete ich denn kühn und gelassen in’s offene Tageslicht und zeichne wie früher: Albert Wolff.“
Der Artikel erregte ungeheure Sensation. Einzelne Chauvinisten schimpften über den frechen Teutonen, der sich so vor ganz Paris in die Brust werfe, die Einsichtsvollen aber begriffen, daß man sich in der Lage dieses französischen Journalisten von deutscher Geburt nicht tactvoller und würdiger benehmen könne. Seitdem haben sich die Schwierigkeiten die sich dem Wirken unseres Autors entgegenstellten, von Jahr zu Jahr erfreulich vermindert.
Neben seiner Thätigkeit als Journalist hat Wolff eine Reihe kleinerer und größerer Lustspiele, sowie verschiedene Romane und geschichtliche Studien geschrieben; sein Schwerpunkt liegt jedoch in der eigentlichen Causerie. Auf diesem Gebiete ist er vielleicht der populärste Meister des heutigen Frankreichs. Auf seinen zahlreichen Wanderungen durch Belgien, Deutschland, Oesterreich und den Orient konnte er diese Popularität auf Schritt und Tritt constatiren. Dem Plauderer des „Figaro“ öffneten sich alle Pforten; selbst der Sultan, dem man sonst keine hervorragende Leidenschaft für geistige Interessen zuschreiben konnte, überhäufte ihn mit Ehrengeschenken und Auszeichnungen.
So hat sich „der Deutsche des Herrn Dumas“ aus den kleinsten Anfängen zur Höhe eines der ersten Journalisten Frankreichs emporgearbeitet. Ein behagliches, kunstmäßig gestaltetes Leben, reich an geistigen Anregungen aller Art, entschädigt ihn für die mühevollen und unerquicklichen Jahre des Kampfes. Mit Frankreichs ersten Autoren, wie Dumas Fils, Victorien Sardou, Victor Hugo und Anderen verbindet ihn eine vieljährige Freundschaft. Aber auch in Deutschland, wo er alljährlich seinen Sommer verbringt, hat er eine Fülle interessanter Beziehungen. Die Entwickelung der deutschen Literatur verfolgt er mit regstem Interesse. Kurz, er ist ein zur schönsten Harmonie des Daseins entwickelter Mann aus eigener Kraft, der die schwierige Aufgabe löst, beiden Nationen anzugehören, ohne daß eine von beiden ihn zu verleugnen brauchte.
Im Bauernkriege wurde jener Graf Helfenstein in grausiger Weise abgeschlachtet, welcher einst in übermüthiger Laune versicherte, er wünsche, daß sich all seine Güter in Erdbeeren verwandelten, damit er sie verschmausen könne. Wie schade, daß der edle Feudalherr nicht ein Kind unserer Zeit war! Hier in Amerika hätte er sein Eldorado gefunden. Durch den Ruf „Frische Erdbeeren“ wird derzeit – ich rede von den warmen Junitagen – der Bewohner Philadelphias aus dem Schlafe geschreckt, und wenn er sich Abends müde zur Ruhe legt, so summen die „frischen Erdbeeren“ noch verdämmernd in seine Traumwelt hinüber.
Aber nicht nur Erdbeeren, sondern auch Bananen, Orangen, Ananas und Gemüse aller Art werden in den Straßen ausgerufen oder besser ausgesungen. Und wie billig der Preis ist! Eine fleckenlose Ananas kostet sechs Cents, ein Körbchen Erdbeeren fünf, die Banane einen Cent. Noch billiger sind die Pfirsichen, deren Güte jener unserer Aprikosen gleichkommt. Philadelphia scheint ganz von Erdbeergärten umgeben zu sein, denn es werden erstaunliche Mengen dieser duftigen Frucht eingeführt und consumirt. An Größe und Schönheit erreicht die hiesige Erdbeere unsere besten Garten-Erdbeeren, allein die aromatische Wald-Erdbeere scheint ganz zu fehlen. Vor zwei Jahrzehnten war hier großer Mangel an wahrhaft gutem Obste, aber in dem Maße, wie die Cultur des Landes eine ältere wird, gelingt es auch edlere Obstsorten zu gewinnen. Hier im Osten giebt es jetzt saftige Birnen, duftige Aepfel und süße Trauben in Hülle und Fülle, und wenn wir einen Gang durch die Ackerbauhalle machen, so überzeugt uns der Augenschein, daß auch westliche Staaten, wie Iowa und Californien, eine große Zahl edler Obstsorten haben.
Die Ackerbauhalle wird mit ihren grünen Dächern von drei Reihen mächtiger Spitzbogen getragen. Durch den weißen Anstrich jener Bogen und die helle Beleuchtung gewährt jede einzelne dieser Reihen eine schimmernde Perspective, und das Innere der Halle erinnert an einen Eispalast. Hier haben die fremden Nationen – mit geringen Ausnahmen – nur jene Handelsproducte ausgestellt, für welche sie hier zu Lande einen guten Markt zu finden hofften.
Ein junger Staat aber scheint eine ärmliche Ausstellung seiner Erzeugnisse nur zu dem Ende veranlaßt zu haben, um dem farbigen Theile der nordamerikanischen Bevölkerung eine dringende Bitte an’s Herz legen zu können. Ich spreche von der Republik Liberia an der afrikanischen Westküste, die vor wenigen Jahrzehnten gegründet wurde, um den befreiten Sclaven eine Heimath zu schaffen. Trotz aller Unterstützung, welche dem kleinen Staatswesen zu Theil wurde, scheint dieses in wirthschaftlicher Beziehung auf keinen grünen Zweig zu kommen. Ueber einer bescheidenen Ausstellung von Palmölseife, Kaffee, Bast und Netzen hängen die Bilder der beiden ersten
[508]
Präsidenten der Republik nebst den Photographien junger
Liberianer, welche einer Schulanstalt Pennsylvaniens ihre Erziehung
danken. Auf einer grell bemalten Leinwand aber, hebt
ein Afrikaner die Hände gen Westen, und unter diesem Bilde
steht: „Der Schrei Afrikas: Befreiter Mann Amerikas, komm’
herüber und hilf uns!“
So berechtigt diese Bitte ist, so fürchte ich, sie wird wenig Wirkung haben. Dem befreiten Manne Amerikas fehlt der Enthusiasmus, um für den schwarzen Bruder im heißen Afrika sein Leben in die Schanze zu schlagen. Die ehemaligen Sclaven finden jetzt, daß Amerika ein Land ist, in dem es sich leben läßt.
Von den übrigen Nationen bietet Italien unter anderen seine Käse, seine Würste, Weine und Oele an, England seine stark gebrauten Biere, Terracotten und schön gearbeitete Ackergeräthe. Brasilien hat mit seinen feinen Wollvließen und schneeigen Baumwollflocken einen Pavillon construirt, dessen Inneres eine reiche Auswahl von Kaffee, Gummi, Cacao und Thee umschließt. Zudem hat das weite Kaiserreich Rohseide, Felle und eine stattliche Auswahl aller in seinen Wäldern vorkommenden
[509]Hölzer ausgestellt. Rühmliche Anstrengungen hat auch Spanien gemacht, um die Erzeugnisse seines Landes, wie seiner Colonien auf den Weltmarkt zu bringen; die feurigen Weine des Mutterlandes, die feinen Tabake der Colonien präsentiren sich in dieser Abtheilung in verlockender Fülle. In der holländischen Abtheilung sind die Specereien der asiatischen Besitzungen und die Liqueure des Mutterlandes bemerkenswerth. Norwegen zeigt seine Fischerbarken, Netze und alle Fische seiner Küstenmeere, Flüsse und Seen. Japan hat neben seinen sorgfältig verpackten Theeblättern eine reiche Anzahl getrockneter und geräucherter Fische ausgestellt, deren Geruch ein so unausstehlicher ist, daß die Gastronomen Europas sich schwerlich entschließen werden, von diesen Leckerbissen zu kosten, und sei es auch nur um der bloßen Erkenntniß willen.
In der österreichischen Abtheilung fällt zumeist eins Collectivausstellung der berühmten Sensen und Sicheln Steiermarks auf. Frankreich hat feine Liqueure und Weine gebracht, Deutschland seine Exportbiere, Hopfen und Weine. Das deutsche Bier erfreut sich in den Vereinigten Staaten einer großen Beliebtheit, allein was die Weine betrifft, so ist denselben in den
[510] billigen californischen Weinen eine gefährliche Concurrenz entstanden. Der californische Wein hat in den letzten Jahren viel von seiner Herbheit eingebüßt, ist sehr feurig, leidet nicht durch den Transport und ist im Vergleich mit den durch eine hohe Eingangssteuer belasteten ausländischen Weinen spottbillig. So geschmackvoll sich darum auch die Marken unserer besten deutschen Weine in einem geschnitzten Eichenrahmen mit kunstvoller Bekrönung präsentiren, so fürchte ich doch, das amerikanische Absatzgebiet wird von Jahr zu Jahr dürftiger werden, falls die Gesetzgeber in Washington das Schutzzollsystem nicht fallen lassen.
In überraschender Reichhaltigkeit entfaltet sich neben den Vereinigten Staaten die Ausstellung Canadas. Was nur immer in der Neuzeit an Maschinen zur Arbeitsersparniß herausgeklügelt und ausgeführt wurde, das führen uns canadische Fabrikanten vor’s Auge – nur eine imposante Erscheinung fehlt, und das ist der Fowler’sche Dampfpflug in jener soliden und glänzenden Ausführung, wie ihn die Abtheilung der Engländer zu Wien in so vielen Exemplaren zur Schau stellte. Der gewöhnliche canadische Pflug hat erstaunlich lange Barren, ein Zeichen, daß die Pflugschar eines starken Druckes bedarf, um in den harten Boden einzudringen.
Unter den Landesproducten machen sich auch die Tauschartikel aus den Indianerterritorien bemerkbar, Büffel- und Wolfshäute, Biberfelle, Fischöl und gar einige Teppiche, welche ein geometrisches Muster und ganz hübsche Farben zeigen. Die canadische Abtheilung erhält dadurch ein charakteristisches Gepräge, daß über jeder Gruppe ausgestopfte Thiere oder wenigstens Thierköpfe angebracht sind. Es ist leicht zu ersehen, daß das rauhe Canada noch immer reiche Jagdgründe hat.
Den weitaus größten Raum in der Ackerbauhalle nimmt selbstverständlich die einheimische Ausstellung ein, und diese hat manchen originellen Zug. So finden wir im Centrum des Querschiffes eine alte Windmühle, in deren Innerem feine Mehlsorten aufgestellt sind. Eine Ausstellung von Senf veranstaltete eine amerikanische Firma gleichsam in ihrem eigenen Laden; sie hat nämlich ein Miniaturhaus erbauen lassen, das eine getreue Copie ihres Geschäftslocals ist.
Eine Zuckerbäckerei New-Yorks erbaute aus Zucker einen im Rococostil gehaltenen Ruhmestempel, in dessen Hallen und auf dessen Sockel beinahe die ganze Geschichte der Vereinigten Staaten plastisch dargestellt wird. Hier sieht der Beschauer, wie die Mitglieder des Congresses von anno 1776 in der Independence-Halle die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnen, wie Washington im Winter über den Delaware setzt, wie Ulysses Grant den Robert Lee besiegt, und was dergleichen schöne Dinge mehr sind. Ein Künstler, der statt in Marmor in Zucker arbeitet – das ist doch ganz was Neues. Es muß auch solche Käuze geben, und zuweilen darf man dem Schicksal auch für eine naive Kunstanschauung dankbar sein. Einen Beweis dafür bildet die Geschichte des Bildhauers H. in New-York. Dieser deutsche Künstler hatte im Anfang seiner amerikanischen Laufbahn so üble Erfahrungen gemacht, daß er eines Abends den Hut fest in die Stirn drückte und nach den Docks lief, um sich in’s Wasser zu stürzen. Sein Project wurde von einem abgehenden Dampfer gekreuzt, der ihn auffischte und später an einem kleinen Küstenort an’s Land setzte. H. verdingte sich hier bei einem Farmer als Knecht, erwies sich zwar in seinem neuen Beruf als sehr ungeschickt, allein sein Brodherr hatte Geduld mit ihm und hieß ihn während der Ernte in den Ställen und der Küche der Frau ein wenig an die Hand gehen. Eines Tages schälte H. Kartoffeln und weil die sonderbare Bildung eines der Knollengewächse seinen künstlerischen Schaffensdrang arg in die Schranken forderte, schnitzte er aus der Kartoffel die Portraitbüste seines Brodherrn und stellte diese auf den Tisch. Als die Familie vom Felde zum Essen kam, gerieth jedes Mitglied derselben beim Anblick der Kartoffelbüste in das maßloseste Erstaunen, und der gutgelaunte Farmer meinte, H. sei ein Teufelskerl, denn darin offenbare sich das Genie, daß so ein Artist auch aus der armseligen Kartoffel ein Bildniß herauszuarbeiten verstehe.
Und jenes Kartoffelschnitzwerk wurde zum Wendepunkte in H.’s Leben. Von dem Farmer unterstützt, klimmte der Bildhauer von Stufe zu Stufe aufwärts, bis er in New-York, mit günstigem Strome und Wind segelnd, zu Vermögen und Anerkennung gelangte.
Ein Aquarium mit einer stattlichen Reihe von Wasserbehältern läßt uns die Bekanntschaft amerikanischer Süßwasserfische machen. Zu diesen gesellen sich Aale von erstaunlicher Dicke und Schildkröten. Die letzteren sind besonders zahlreich vertreten, und es befinden sich einige Riesenexemplare in der Gesellschaft. Die Amerikaner schwärmen für Schildkrötensuppe, und auf großen Farmen im Süden findet man in der Regel einen Teich, der zur Schildkrötenzüchtung angelegt ist.
In einem besonderen Behälter liegt der Alleghany-Hell-Bender (Menopoma Alleghaniensis), eines der scheußlichsten Thiere, das die Erde geboren. Es hat die Form eines winzigen Alligators, allein der ganze Leib sieht aus wie ein in Fäulniß gerathener Schlauch, an dem weder Augen, noch ein Maul zu entdecken sind, nur zwei Füße lassen errathen, daß etwas Leben in dem vom Wasser bewegten Körper wohnt. Das Thier lag gerade, als ich seiner ansichtig wurde, mit der Hälfte des Körpers auf einem schwimmenden Brette und hatte augenscheinlich das Bestreben, in’s Wasser zurückzukehren, allein es dauerte etwa eine halbe Stunde, ehe es in seinen Bemühungen erfolgreich war, so wenig Kraft wohnt in jener Masse, die aus Schlamm zu bestehen scheint.
In der Nähe des Aquariums haben die Fischhändler von Massachusetts ein Bassin angelegt, auf dessen Wasserfläche eine ganze Flotille kleiner Fischerboote mit aufgehißten Segeln schwimmt. Diese scheint eben vor Anker gegangen zu sein, und durch plastische Darstellungen wird dem Beschauer klar gemacht, wie die Fische am Strande getrocknet, gesalzen, in Fässer verpackt und nach dem Lagerhause geschafft werden.
Californien hat eine Colonie kleiner Thiere mit Dampf über die Ebene rollen lassen, denen man sonst nur sehr kleine Reisen zumuthet; es sind das californische Seidenwürmer, welche wohlbehalten hier anlangten und sich jetzt der nutzenbringenden Beschäftigung des Seidespinnens mit Eifer hingeben.
Bewundernswerth sind in dieser Gruppe einige Cacteen in der Form unserer Bienenkörbe, aber doppelt so groß, und ferner die Photographien der berühmten californischen Waldriesen. Da ist der Grizzlybaum abgebildet, dessen Stamm einen Durchmesser von dreiunddreißig Fuß hat, dann der californische Lorbeer mit einer luftigen Kuppel, die jener unserer Buchen gleicht, und endlich die Lebenseiche, welche ihr Laubdach von der Erde an zu einem grünen Dome wölbt und ein gewaltiges Terrain in undurchdringlichen Schatten hüllt. Californische Weine sind in großer Menge ausgestellt, und ich will nur gleich bemerken, daß der Anbau der Rebe über ganz Amerika hin rasche Fortschritte macht.
Eine Fülle von Obst, Gemüse, Welschkorn und anderem Getreide zeigen uns in den verschiedenen Gruppen, wie reich der Boden dieses jungfräulichen Landes ist. In der Abtheilung für landwirthschaftliche Maschinen jedoch bemerken wir eine Anzahl von Apparaten, welche auf außergewöhnliche Feinde der Bodencultur schließen lassen; so sind mehrere Patentmaschinen ausgestellt zur Zerstörung des Coloradokäfers, welcher bekanntlich die Kartoffelpflanzungen so arg verwüstete.
Was die Erfindung von Arbeitsersparnißmaschinen betrifft, so ist Amerika auf diesem Gebiete fast allen Völkern voraus, allein ich finde in der ganzen Abtheilung praktischer Maschinen zum Säen, Mähen, Dreschen, Pflügen, Buttern etc. kaum etwas, das heute nicht schon in Deutschland bekannt wäre. Durch den Mangel an Arbeitskräften angespornt, gehen unsere Großgrundbesitzer jetzt mit aller Energie daran, das zu erwerben, was Nutzenbringendes im In- und Auslande auf diesem Gebiete geschaffen wird.
Ein amerikanischer Fabrikant hatte den guten Gedanken, einige Ackergeräthe aus der Zeit des vorigen Jahrhunderts auszustellen. Lassen wir nun von dem ärmlichen Holzpfluge, dessen Pflugschar nur mit einem Stück Eisen beschlagen ist, unsere Blicke zu dem stolzen Dampfpfluge unserer Zeit hinübergleiten und zu den genial erfundenen Mähe- und Säemaschinen, so dürfen wir mit Recht fragen: was wird nach weiteren hundert Jahren kommen?
Das Sonst und Jetzt der Vereinigten Staaten veranschaulicht uns keine Ausstellung in so klarer Weise wie die der nordamerikanischen [511] Regierung. Bei dieser in einem umfangreichen, kreuzförmigen Pavillon veranstalteten Ausstellung gingen die Departements der Bundesregierung von der Absicht aus, dem Besucher ein Bild von den Hülfsquellen des Landes und den administrativen Fähigkeiten der Regierung zu geben; man wollte zeigen, welcher Art ihre Institutionen seien und welche Verbesserungen man im Interesse des Volkes vornehme.
Von dem eigentlichen Bodenreichthume der Union wie von seiner Jagd und Fischerei erhalten wir daher durch die vom Ackerbauministerium aufgebrachte Sammlung ein viel vollständigeres Bild, als uns dies die Ackerbauhalle zu geben vermag. Hier sehen wir eine vollständige Sammlung der in den verschiedenen Staaten erzeugten Getreidearten, Knollengewächse, Hanf, Baumwolle, Wolle- und Bastsorten, ferner Cocons, Rohseide, Obst, Gemüse, Mineralien, die verschiedensten Holzarten, ausgestopfte Vögel, in Spiritus gesetzte Fische und andere Süßwasserbewohner, dann die Fische und Säugethiere des Meeres, unter denen sich riesige Seelöwen und Robben hervorthun, endlich die vierfüßigen Bewohner der unermeßlichen Wälder, unter denen der stolze Elch Amerikas wie ein Riese unter Zwergen hervorragt.
Dieser umfangreichen Abtheilung hat der Ausstellungs-Commissär und Statistiker Dodge eine Reihe von Karten und Tabellen beigegeben, welche die schätzenswerthesten Aufschlüsse über die in den zweitausendzweihundert Grafschaften Amerikas herrschenden Agrarverhältnisse ertheilen. Der Werth der Ländereien ist für den Ansiedler am höchsten in New-York, Pennsylvanien, Ohio, Indiana, einem Theile von Michigan und Californien, im Süden, namentlich aber in den Territorien des Westens, dagegen am billigsten.
Ebenso hat der verdienstvolle Dodge in einem besondern Rahmen Abbildungen von den Ackerbauschulen der Vereinigten Staaten ausgestellt, deren gegenwärtig nicht weniger als neununddreißig in den verschiedenen Staaten eröffnet wurden. Einige davon sind selbstständig; andere schließen sich an größere Universitäten oder Gewerbe-Akademien an. Besucht sind diese Anstalten von 3703 Studenten mit 463 Lehrern. Der Congreß hat diesen Schulen 9,510,000 Acker Land geschenkt, von denen bereits 7,996,329 Acker verkauft sind.
Es ist erstaunlich, welche Masse von Alterthümern wir auf der Centennial-Ausstellung aufgehäuft finden. Fast hätte man glauben sollen, die Amerikaner, als das modernste Volk der Erde, fragten gar nichts nach der Hinterlassenschaft jener theils untergegangenen, theils in die Wildniß gescheuchten Stämme, allein das stricte Gegentheil ist der Fall. In der Abtheilung für Mineralien haben wohl mehr als zwanzig amerikanische Farmer oder Bürger kleiner Städte ganz stattliche Sammlungen von indianischen Steinäxten, Pfeilspitzen und Messern aus Feuersteinen, irdenen Geschirren, Schmucksachen, metallenem Zierrath, kupfernen Pfeifen, Schädeln und Götzenbildern zur Schau gestellt. Noch glänzender ist die Gruppe von Indianerarbeiten, welche das Ministerium des Innern theils durch die Einsendungen der geographischen und geologischen Expeditionen, theils durch die Beiträge der christlichen Missionen und vieler Alterthumsforscher zusammenbrachte.
Hier ist die Zahl der roh geschnitzten oder aus Thon geformten Götzenbilder Legion. An vielen irdenen Trinkgefäßen machen sich gleichfalls die ersten stammelnden Versuche zur bildlichen Darstellung geltend. Manche dieser Geschirre haben eine gefällige Form und sind mit geometrischen Figuren geschmückt. Die Henkel laufen in Schlangen oder Adlerköpfe aus. Auch auf die Herstellung der Schilde und Tomahawks ist augenscheinlich großer Fleiß verwendet. Die kreisrunden Lederschilde sind bunt bemalt und im Centrum mit Federn geschmückt; am Tomahawk sind Beil und Pfeife mit farbigen Schnüren und Leder umwickelt. Ganz befremdlich sind die Waffen und Rüstungen, welche man bei den Indianerstämmen Alaskas fand. Da ist beispielsweise ein starker eiserner Brustharnisch; ferner giebt es da eine Anzahl eisenbeschlagener Holzhelme, deren Spitze in einen Schwanen- oder Adlerkopf ausläuft und an deren Rückseite sich eine Art von Helmbusch befindet, dann mehrere gutbemalte hölzerne Tänzermasken und viele andere Dinge, welche eher von den Normannen des achten Jahrhunderts als noch lebenden Indianerstämmen herzustammen scheinen.
Hochinteressant sind ferner die photographischen und plastischen Nachbildungen der Klippen- und Wallbauten, wie sie „die geologische Vermessungs-Expedition der Territorien“ in Colorado und Arizona fand. Wie der Adler seinen Horst in die unnahbarsten Felsenrisse hineinbaut, so suchten sich auch die Klippen- und Wallbauer des alten Tuscahan ihre Zufluchtsstätten in den majestätischen Felsmassen des Colorado-Cañon. Hier gruben sie sich mitten in die Felswand hinein, höhlten die Steinwand in der Mitte aus und führten eine Reihe von Steinbauten auf, welche nach oben hin offen waren, da die überragende Felswand Schutz gegen die heißen Sonnenstrahlen gewährte. Von außen gleichen diese Bauten ganz unseren mittelalterlichen Ritterburgen, denn wie jene, haben auch sie starke Mauern und viereckige Thürme. Erreicht wurden diese Felsenburgen theils durch Leitern, theils durch sehr schmale Felspfade. Zum Theil sind solche Klippenbauten auch in große Felshöhlen hineingeflickt, und zwar scheinen dann die Felsblöcke roh und ohne Mörtel aufeinander geschichtet zu sein. Auch von den kasernenartigen Bauten, welche aus getrockneten Lehmziegeln aufgeführt wurden, sehen wir gute Abbildungen; so scheint die Straße von Wolpi aus solchen halbverfallenen Kasernen mit engen Zellen zu bestehen. Auch an Indianer-Denkmälern fehlt es nicht; so präsentiren sich in Aquarellbildern eine Anzahl riesiger Sandsteinmonumente, die in der Form von Kegeln emporstreben und oben an der Spitze in die Gestalt eines Pilzes auslaufen, der mit grellen und rothen Farben bemalt ist.
In den Burgen der Klippen- und Wallbauer nisten heute die Moki-Indianer, ausgemergelte Gestalten mit schlaffen und indolenten Gesichtszügen. Die Erbauer dieser Felsennester selber aber verkrochen sich doch nur in die öden Klippen und Höhlen, weil sie wußten, daß ihnen in der Ebene irgend ein Bruderstamm auflauere, um ihnen die Kehlen abzuschneiden oder die Kopfhaut zu scalpiren. Und sonderbar, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts sah Jean Jacques Rousseau, und mit ihm fast die Hälfte der gebildeten Welt, in dem Leben der Wilden das Ideal einer menschenwürdigen Existenz.
In dem Regierungsgebäude hat George Fairman, der Postmeister von Philadelphia, ein Postbureau errichtet, welches eine ganz respectable Thätigkeit entwickelt. Vor demselben fertigt eine Automatenmaschine Postcouverts an. Dieser Maschine braucht man nichts zuzuführen, als die Streifen Papier, und sie giebt uns die fertigen Couverts dafür zurück. Das Schatzamtsdepartement hat die Cassenscheine und Münzsorten verschiedener Prägung ausgestellt.
Im südlichen Theile des Gebäudes stehen Marine und Landarmee einander gegenüber. Beide zeigen die Entwickelung, welche sie im Laufe des Jahrhunderts genommen haben.
Beide Gruppen sind hochinteressant. Das Kriegsministerium hat die Geschütze ausgestellt, welche der General Lafayette den amerikanischen Freistaaten als Geschenk von Frankreich mitbrachte; dann sind die Waffen aller Jahrgänge aufgestellt bis auf den heutigen Tag, und um dem Publicum zu zeigen, wie man diese Waffen und Patronen anfertigt, ist durch die Gewehrfabrik zu Springfield, Massach., eine Werkstatt etablirt worden, in welcher, vermittelst rasch arbeitender Maschinen Gewehrläufe gebohrt, Schafte abgedreht und Patronen angefertigt werden.
Weit verdienstvoller als diese Arbeiten sind die des Signal-Corps, welches dem Kriegs-Departement unterstellt ist. Dasselbe empfängt täglich das Resultat der Wetterbeobachtung von mehr als achtzig Beobachtungsstationen, welche über die ganze Union und Canada hin ausgebreitet liegen, und giebt dann sofort einen Wetterbericht aus, in welchem die Wahrscheinlichkeit der Wetterveränderung für den kommenden Tag mitgetheilt wird. Es sind dann auch die Apparate aufgestellt, deren sich die Signalstationen bedienen, um die Stärke des Windes und die ungefähre Masse des fallenden Wassers zu messen. Im schwedischen Schulhause wird jedoch ein Instrument gezeigt, das alle bisher dagewesenen Meteorographen noch an Vollkommenheit übertrifft; es ist dies Theorell’s druckender Meteorograph, der schon seit einigen Jahren auf der Sternwarte zu Wien mit Erfolg angewendet wird. Mit Hülfe einer elektrischen Strömung verzeichnet derselbe, ohne jedes menschliche Zuthun, die Zeit der Beobachtung, die Geschwindigkeit und Stärke des Windes, den Feuchtigkeitsgrad und die Schwere der Luft.
[512] Die Marine giebt dem Beschauer ein Bild der verschiedenartigen Schiffsausrüstungen in den verschiedenen Phasen ihrer Entwickelung. Das größte Interesse erwecken hier die Revolverkanonen und Torpedos verschiedenster Construction. Unter den Letzteren dürfte der Lay’sche als der gefährlichste bezeichnet werden; derselbe hat die Gestalt eines Fisches, ist von bedeutender Größe und bewegt sich, vom Strande aus mit Dampf versorgt, vermittelst einer Schiffsschraube fort, bleibt jedoch mit einer elektrischen Batterie in Verbindung, welche ihn im geeigneten Moment explodiren macht.
Von der Piazza vor dem Regierungsgebäude blickt drohend der Thurm eines Monitors herab, der mit zwei gewaltigen Geschützen armirt ist. Möge die hundertjährige Republik, welche ihr rasches Emporblühen allein der friedlichen Arbeit dankt, ihre Monitors, Torpedos und Revolverkanonen nie zu anderen Zwecken verwenden, als um den Frieden und die Freiheit ihrer Staaten zu beschützen!
Blätter und Blüthen.
Ein deutscher Sonntag im brasilianischen Urwald. Auf einer längeren beschwerlichen Expedition im Innern der Provinz Matto-Grosso hörte ich von einigen uns begegnenden Eingeborenen, daß wir uns einer kleinen deutschen Colonie näherten, was mir um so angenehmer war, als ich schon seit Monden die süßen Klänge der heimathlichen Sprache entbehrt hatte. Wir beschleunigten nun unsern Marsch so sehr, wie es eben die schlechten Wege durch die Wälder erlaubten, und langten endlich am dritten Tage (einem Sonntage) am ersehnten Ziele an. Zu unsern Füßen dehnte sich ein schönes fruchtbares, in voller Blüthe stehendes Thal aus, in dessen Mitte ungefähr sechs bis zehn nach den hiesigen Verhältnissen erbaute Häuschen standen, die von kleinen Gärtchen und Feldern umgeben waren. Ein klarer Bach, der das Thal durchrieselte, gab dem Ganzen einen noch anmuthigeren Anblick. Papageien und andere Vögel der Tropen schaukelten sich auf den leise im Winde wehenden Palmen oder flogen schreiend dem Walde zu. Sonst war Alles still, und tiefer Friede schien über diesem schönen Stückchen Erde zu herrschen.
Ich zügelte mein treues Thier und hielt einige Augenblicke, in den freundlichen Anblick versunken, still. Da trat ein anderes Thal, weit, weit über dem Meere, ein anderes Dörfchen in den Bergen des lieben Schlesierlandes vor mein inneres Auge. Jetzt eben mochten die Glocken des Gotteshauses zur Andacht rufen, die Bewohner dem Kirchlein zuströmen. Ich wurde aus meinen Gedanken aufgeschreckt. Plötzlich schallten aus dem Thale, zuerst leise, dann immer voller und voller anschwellend, wie von unsichtbaren Stimmen gesungen, die Töne des schönen Gerhardt’schen Chorals „Befiehl Du Deine Wege“ zu uns herauf. Welchen Eindruck dieser einfache deutsche Gesang hier mitten im Urwalde, viele hundert Meilen von der Heimath, auf mich machte, kann ich nicht beschreiben.
Lange hätte ich gelauscht, wäre nicht mein Thier ungeduldig geworden. Ich zerdrückte eine verstohlene Thräne und gab Befehl, den Ansiedelungen zuzureiten. Bald hatten wir dieselben erreicht, doch gewahrten wir immer noch keinen Menschen. Da der Gesang von jenseits der Häuser zu kommen schien, stieg ich vom Pferde, hieß meine Begleiter warten und schritt, durch die Sträucher der Gärten gedeckt, der anderen Seite zu. Doch wie wurde ich da überrascht! Im Schatten einer dichten Gruppe Bäume saßen und standen ungefähr dreißig bis vierzig Männer und Frauen, während eine Anzahl Kinder fröhlich im Sande mit bunten Blumen und Steinen spielte. – Der Choral war nun beendet und Alles lauschte dem Vortrage eines freundlichen alten Mannes, der auf etwas erhöhtem Standpunkte in einer Laube saß. Ich wurde von den milden, erbaulichen Worten des Alten über den Vers David’s „Und ob ich schon wanderte im finstern Thal“ tief ergriffen. Nachdem er das Amen gesprochen, las er noch einige vor ihm liegende Blätter vor (wie ich später erfuhr, waren es die Uhlich’schen Sonntagsblätter), worauf wiederum ein Choral folgte. Bis jetzt war ich noch unbemerkt geblieben, da verrieth mich aber das Klirren der Sporen, und Alles eilte nun auf mich zu, mich zu bewillkommnen. Die Freude wurde noch größer, als ich meine Heimath nannte, und wie im Triumph ward ich in das Haus des Alten geführt, während meine Begleiter anderweitig untergebracht wurden. Das Stübchen, in welchem ich mich nun befand, war so traulich und mit so vielen Erinnerungen aus Deutschland geschmückt, daß ich mich wirklich in die Heimath versetzt glaubte. Mein Gastgeber erzählte mir unter Anderm auch seine Lebensgeschichte. Als ehemaliger Rector in einer Stadt Thüringens war er wegen seiner freisinnigen Ansichten öfters bekämpft worden und später hatte er sogar aus ähnlichem Grunde seinen Abschied erhalten. Zufälliger Weise erbte er in jener Zeit etwas Vermögen und beschloß, mit seiner zahlreichen Familie und einigen Verwandten und Bekannten nach Brasilien auszuwandern. Das Glück war ihm günstig gewesen. Hier, fern von der Welt, in einer schönen Gegend, in der Mitte seiner Lieben, konnte er frei und nach seiner Weise seinen Schöpfer bekennen und predigen. Sein einziger Sohn war in Deutschland zurückgeblieben und versorgte ihn mit Nachrichten aus der Heimath; ebenso sandte er die Uhlich’schen Sonntagsblätter, die stets mit großer Freude begrüßt wurden.
Es war ein ordentlicher Festtag für die kleine Colonie. Ich blieb noch bis zum Morgen des andern Tages bei den lieben Leuten und schied dann in der Hoffnung auf Wiedersehn in Villabella.H. Robert.
Fritz Reuter’s Charakterbild. Fritz Reuter hatte bekanntlich seine Erfolge nicht der Kritik und nicht der Mithülfe einer befreundeten Presse zu danken. Er war ein einsam stehender Mann, als er von obscurer Kleinstadt aus seine ersten Bücher in die Welt sandte, die schon von einem überaus zahlreichen Publicum mit Jubel begrüßt und mit bewunderungsvollem Entzücken gelesen wurden, ehe noch die Kritik sich um sie gekümmert hatte.
Nach langer Zeit hatten dichterische Schöpfungen einmal wieder einen durchgreifenden Sieg allein durch die Macht ihres eigenen Zaubers errungen, und es mußte wohl nun in Unzähligen der lebhafte Drang erwachen, Näheres über die Persönlichkeit des unbekannten Zeitgenossen zu erfahren, von dem ein solches Wunder bewirkt worden. Diesem Verlangen des Publicums ist damals Otto Glagau mit einem Lebens- und Charakterbilde Reuter’s entgegengekommen, das einer sehr dankbaren Aufnahme sich erfreute und jedenfalls auch zu besserem Verständnisse, zu rechter Würdigung und weiterer Verbreitung des Dichters unter den Hochdeutschen beigetragen hat. Seitdem aber hatte Reuter noch neun Jahre gelebt; es hat gerade in diesem Zeitraume seine große Bedeutung im allgemeinen Urtheile zweifellos sich festgestellt, es konnten inzwischen auch über seine Vergangenheit, seine Person und sein Schaffen neue Aufschlüsse gewonnen werden. Außerdem waren durch seinen Tod Rücksichten geschwunden, die früher Manches nicht zu sagen erlaubten, und es trat nach seinem Ableben auch die Pflicht und der Wunsch hinzu, dem Verklärten ein seinen Verdiensten entsprechendes literarisches Denkmal zu errichten. Nach allen diesen Seiten hin hat daher Glagau seine frühere Darstellung einer vollständigen Umarbeitung unterworfen, die bereits im Laufe des verflossenen Jahres unter dem Titel „Fritz Reuter und seine Dichtungen“ (Berlin, bei Grote) in eleganter, mit hübschen Illustrationen versehener Ausstattung erschienen ist.
Ohne Bedenken zählen wir dieses neue Buch zu den besten Dichter-Biographien, welche unserem Volke bisher geboten wurden. Die Schilderung ist gehaltreich und voll warmen Lebens, die Gestaltung ungekünstelt und lichtvoll, das Urtheil ein sicheres, der Styl fesselnd durch die Schlichtheit seines frischen und kernhaften Glanzes. Um sich Aufklärungen zu verschaffen, hat der Biograph Correspondenzen geführt und Reisen unternommen, sodaß er durch die eingezogenen persönlichen Erkundigungen sein Material mit interessanten Zügen und bisher noch ungedruckten werthvollen Mittheilungen bereichern konnte. Ob er recht gethan, die vielbesprochenen Schwächen im Privatleben seines Helden mit so viel Schärfe und Eifer zu betonen, und ob er mit den in dieser Hinsicht von ihm erzählten Thatsachen wirklich überzeugend die zartere und pietätsvollere, auf ärztlichen Aussprüchen beruhende Deutung Wilbrandt’s widerlegt hat, daß jene periodisch wiederkehrende Unmäßigkeit auf eine unter den Gefängnißleiden Reuter’s entstandene Krankheit der Magennerven zurückzuführen sei, das lassen wir hier dahingestellt, weil diese Frage einer weitläufigen Erörterung bedarf. „Mit Ausnahme dieses einen Punktes aber ist uns in dem schönen Ganzen des Glagau’schen Buches, in dem biographischen wie in dem gleichfalls neu bearbeiteten kritischen Theile desselben, ein Anlaß zum Widerspruche nirgends aufgestoßen. Indem es uns die liebenswerthe Gestalt und die denkwürdigen Schicksale eines großen und allseitig verehrten Todten lebendig vor die Seele stellt, bietet es zugleich ein vielseitig bewegendes und ergreifendes Zeitgemälde, ist es durch Inhalt, Sprache und Ton ein vortreffliches und eindrucksreiches Volksbuch im edlen Sinne des Wortes. Möchte es namentlich in den Familien des deutschen Volkes eine recht weite Verbreitung finden!A. Fr.
Berichtigungen. In dem Artikel „Der Verleger der deutschen Classiker“ hat sich in eine der Druckformen auf S. 454, zweite Spalte, am Schlusse des vorletzten Absatzes die irrige Angabe „die einunddreißigste“ statt „die dritte Auflage“ eingeschlichen, was wir die betreffenden Leser zu entschuldigen bitten. – Die auf S. 468 genannte baierische Stadt Haßfurt ist als ober- anstatt als unterfränkisch bezeichnet, was ebenfalls für eine Anzahl Abdrücke eine zu späte Correctur fand.
Zur Beachtung!
Um die Nummernbezeichnung unserer Zeitschrift, deren Nr. 1 bereits Ende December vergangenen Jahres ausgegeben worden ist, wieder in genauen Einklang mit der Wochenzahl des laufenden Jahres zu bringen, sind wir genöthigt, das Erscheinen der Gartenlaube in der nächsten Woche ausfallen zu lassen. Nr. 31 wird am 4. August hier expedirt werden.Die Verlagshandlung.
- ↑ Bei dieser Gelegenheit wollen wir einen unliebsamen Druckfehler berichtigen, welcher sich in unserer dem Jubelfeste vorangegangenen Notiz findet (Gartenlaube Nr. 5). Dort ist von der Ehrengabe der Redaction der „Neuen freien Presse“, einem Schreibzeuge, in Silber und Gold künstlerisch ausgeführt, im Werthe von hundert Gulden die Rede. Es soll an der betreffenden Stelle heißen: „von tausend Gulden“.Die Redaction.
- ↑ Wie frisch und elegant Etienne über rein literarische Gegenstände zu schreiben versteht, hat er erst neulich wieder in seinem prächtigen Artikel „J. Michelet (Nr. 4219 vom 25. Mai) bewiesen.D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Romantikers, vergl. Berichtigung
- ↑ Vorlage: Romantiker, vergl. Berichtigung