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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[1]

No. 1.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.




Zum neuen Jahr.

Um’s Fenster rauscht der Schnee. In dem Gemach
Wie ist’s so abendstill! Mit mir allein,
Das Haupt gestützt, sinn’ ich Vergang’nem nach
Und blätt’re lässig bei der Lampe Schein

5
In ferner Vorzeit dunkelen Geschichten.

Ach, was ich längst im Herzen sargte ein,
Umdämmert mich in wechselnden Gesichten –
Im Glas verduftet der Champagnerwein.
– Der Wächter ruft – es hat mich wundersacht

10
Auf leisen Sohlen überrascht die Nacht.


Horch! plötzlich welch’ ein festliches Geläute!
In meine Klause klingt der Glocke Schall.
O, wie mich das bewegt! Ist’s Festtag heute?
Nun tönt’s von allen Thürmen, Hall auf Hall,

15
Und wächst, ein Meer, und schwillt mit Macht, mit Macht -

Du bist es, heilige Sylvesternacht.

Das Fenster auf! Herein, du Winterluft!
Da liegen sie, die schneebedeckten Auen.
Welch’ holde Luft, beschwingten Blicks zu schauen

20
Hin über Wald und Wiese, Berg und Kluft!

Von jedem Heerde steigt empor der Rauch,
So weit sich Stätten rings der Menschen dehnen.
Die Brust wird weit – o namenloses Sehnen!
Vom Geist der Menschheit fühl’ ich einen Hauch.

25
Herbei denn, Rebenblut, du perlend Naß!

Der ganzen Menschheit dieses volle Glas!
Ich setz’ es an; ich trink’ es schäumend aus –
Und werf’ es klirrend in die Nacht hinaus.
Da schwingt vom Schneegefilde sich ein scheuer

30
Nachtvogel in den Winterhimmel auf.

O, sei ein Flügelbote mir, ein treuer,
Und trag’ zu Gott mein brünstig Fleh’n hinauf!
Komm’, Himmelssegen, komm’ auf diese Erde
Und gieb uns Maß im Glück, im Unglück Kraft,

35
Des Friedens Fittig über’m stillen Heerde,

Zu gutem Werk die rechte Leidenschaft,
Gefaßten Sinn in Noth und Todespein,
Im Kampf Beharren, Hoffnung bis zur Bahre
Und allem Guten Wachsthum und Gedeih’n!

40
Und Eines noch: In Lüften frei und rein

Den Sonnenflug dem jungen deutschen Aare!
Das walte Gott in diesem neuen Jahre!
                                             Ernst Ziel.




Das Capital.
Erzählung von Levin Schücking.
1.

Der Fluß, an welchem unsere Geschichte spielt und auf dessen zahlreichen festgemauerten Brücken und leichtgezimmerten Plankenstegen sich ein reges Leben entwickelte, war von allerlei schmutzigen Wassern, welche aus den naheliegenden weitausgedehnten Fabrikanlagen sich in ihn ergossen, trübe gefärbt. Sie verdarben sein reines klares Bergwasser und gaben ihm die häßliche laue Wärme, die sich an kalten Morgen und Abenden in dem leichten grauen Dampfe zeigte, der über den aus Steingeröll und zwischen Felsbrocken dahinschießenden Wassern leise aufwärts zog.

Und wie den Fluß, so hatten die gewaltigen weithin sich erstreckenden Fabrikgebäude mit ihren öden kahlen Ziegelsteinmauern, mit ihren noch öderen und kahleren Ziegeldächern und ihren langweiligen Essen, mit ihrem qualmenden Rauche und ihrer abscheulichen Umgebung von höher und höher wachsenden Schlackenaufschüttungen die landschaftliche Schönheit des einst in seinem Waldkranze so sonnig und friedlich daliegenden Thals verdorben. Rund um sie her war der alte stattliche Bauerhof wie die kleine ländliche Siedelung, die sich mit ihrem warmen Strohdach unter den Wipfeln alter grauer Eichen barg, verschwunden. In weitem Bereich standen zahllose Arbeiterwohnungen, für viele Familien zugleich berechnet, umher und entwickelten mit ihrer melancholischen Verkommenheit eine stumme und herzbrechende Beredsamkeit für die socialistischen Ideen, die bis jetzt leider nur ihre Insassen vielfach wirre und confus gemacht, aber nicht dazu beigetragen hatten, diese Häuser reinlicher, ihre Umgebung fleißiger gepflegt und ordentlicher zu machen, oder die Leute auf den Gedanken zu bringen, daß zerbrochene Scheiben, statt durch vorgeklebtes Papier oder durch zusammengeballte Lumpen, zweckmäßiger durch neues Glas ersetzt würden.

Nur drüben an der anderen, der linken Seite des Flusses lagen auf den niedrigen Vorhügeln des mäßig hohen Waldgebirges noch einzelne der alten Höfe der ursprünglichen Sassen, die einst das ganze Thal beherrschten, bevor die Entdeckung bedeutender Bodenschätze in der Nähe großer und unschwer zu verwerthender Wasserkraft die Industrie herbeigezogen hatte. Hier lag auch ein hübsches kleines Haus mit einem wohlgepflegten Garten davor, [2] weiß verputzt, besponnen mit Reben, die sich zur rechten Seite des Hauses über einen kleinen von weiß angestrichenen Holzständern gehaltenen Laubgang legten, und mit hellen Fenstern hinableuchtend auf das grüne Thal und die häßlichen chaotischen Industrieflecken mit seinen rauchgeschwärzten Dächern und schwarzen Schlackenfeldern darin. Weiter unten schlug der Fluß einen Bogen um eine Ecke des Bergwaldes, die ihm von links her in den Weg trat; hier lag zu seiner rechten Seite ein größeres Gebäude, im schmucken modernen Villenstil mit Terrasse und Veranda, mit hübschen englischen Gartenanlagen rings umher, durch welches sich zwischen den Rasenstücken breite, mit schwarzem Schlackenstaub bedeckte Wege zogen; es war das offenbar der Sitz des das rastlose Treiben und Wirken weiter aufwärts belebenden Princips, des schaffenden und lenkenden Genius des Orts, des „Eins und Alles“ dieses industriellen Mikrokosmos, des „Capitals“.

Was weiter in diesem enger umschlossenen Stück der Landschaft das Auge fesselte, war links, jenseits der mit Fruchtfeldern bedeckten Halde, die nach dem Fluße hinab in grüne Wiesen verlief, der scharfabgeschnittene Saum eines schönen alten Hochwaldes. Er zog in gerader Linie zum Ufer des Gewässers hinab und auf der mittleren Höhe etwa lehnte sich an ihn ein malerischer alter Edelhof mit Zackengiebeln, mit Thürmen und Fahnen; es war als habe die hochmüthige Feudalität sich vor dem Fabrikenlärm, Schmutz, Rauch und Getriebe auf die Flucht begeben und sei von ihm fortgerückt, so weit nur irgend möglich, bis hart an den Hochwald, der die Flucht gehemmt und an den sie nun, wie in seinem Schatten Schutz suchend, sich voll „patriotischer Beängstigungen“ drücke.

Aber das Capital, oder vielmehr sein Vertreter und Besitzer, war in diesem Augenblicke weit entfernt, sich mit der Feudalität, ihren Neigungen und Gefahren zu beschäftigen; der Fabrikherr Gottfried Escher, ein Mann, den Fünfzigern nahe, eine große kräftige Gestalt, mit gewinnenden, sehr festen und große Entschlossenheit andeutenden Zügen – dafür sprach das breite Kinn und die tiefe nie schwindende Furche zwischen den dunklen Brauen – saß eben jetzt in sehr nachdenklicher Haltung unter einer erhöht liegenden Laube seines Gartens. Herr Escher schien mehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt; er saß ein wenig zusammengesunken auf der Bank, hatte seine Cigarre ausgehen lassen und blickte sinnend auf den Boden; neben ihm saß ein sehr hübsches schlankes Mädchen, seine älteste Tochter, und hielt, während ihre Hände im Schooße ruhten, ihr feines, regelmäßiges Profil von ihm abgewandt, so daß ihre klugen braunen Augen mit einem wehmüthig ernsten Ausdruck auf dem kleinen weißverputzten Hause ruhen konnten, das jenseits des Flusses auf der Höhe lag.

Nach einer langen Pause blickte Herr Escher auf und beobachtete eine Weile still die Blicke seiner Tochter.

„Elisabeth!“ sagte er endlich leise.

Sie erschrak leicht und wandte erröthend dem Vater ihr Gesicht zu, um ihm doch nun offen und gerade in’s Auge zu blicken.

„Wo sind Deine Gedanken, Kind? Drüben unter Deines Oheims Gotthard Dache?“

Sie nickte leise mit dem Kopfe, um dann ihr Haupt wieder zu wenden und in dieselbe Richtung zu schauen.

„Es ist traurig,“ fuhr Herr Escher nach einer Pause fort, „daß wir Alle zu einem so hartnäckigen zähen Geschlechte gehören – wir Alle, ausgenommen freilich Malwine, die wieder gar zu wenig von dieser Festigkeit besitzt und sich vom Leben schaukeln und tragen läßt, wie eben des Lebens Wellen sie werfen. Für sie aber bin ich Gott sei Dank nicht mehr verantwortlich, und ob die nächste Welle, die sich ihrer bemächtigt, Herr von Maiwand heißt oder einen andern Junkernamen führt, ist mir völlig gleichgültig. „Was mich kümmert“ – Herr Escher sagte das mit leiser Stimme –, „das ist, daß Dein Herz noch immer an Rudolph zu hängen scheint, so energisch ich Dir erklärt habe …“

„O ja,“ fiel hier Elisabeth ein wenig bitter ein, „Deine Energie ließ nichts zu wünschen übrig; wohl aber die Erklärung.“

„War sie nicht deutlich genug? Daß ich nicht zugeben kann, nicht zugeben werde …“

„Das habe ich freilich verstanden,“ unterbrach ihn das junge Mädchen, „nicht aber das Warum.“

„Wende Dich doch an Malwine!“ versetzte heftig Herr Escher, „sie wird’s Dir erklären können – ich will es nicht, weil ich mir das gelobt habe um meines Bruders Gotthard willen. Deshalb kommt das Warum nie über meine Lippen.“

Elisabeth sah ihn groß an.

„An Malwine soll ich mich wenden? Was weiß Malwine von Deinen Beweggründen? Sie würde mir lachend antworten: ‚Ei, blinde Elisabeth, Dein Vater will eben seine einzige Tochter nicht an einen untergeordneten Techniker, der nicht viel mehr ist als ein armer Maschinenschlosser, geben – das ist eine einfache Sache.‘“

„Das würde sie nicht sagen; dazu kennt sie meine Denkungsart zu gut. Wir alle sind Leute, wir Escher, die ihr Leben auf die eigene Kraft gegründet haben, und wenn Hochmuth in uns ist, so richtet er sich nicht wider Die, welche im Kampfe mit dem Leben nach demselben Ehrenpreise ringen, sondern höchstens wider Die, die sich über uns erhaben dünken, weil sie nichts ihrem Verdienste verdanken, sondern Alles dem Glücke und dem Vorurtheile der Anderen, dem Knechtssinne der Welt. Nein, Elisabeth. Malwine würde das nicht zu Dir sagen; aber eine andere, bessere Auskunft über meine Motive würde sie Dir auch wohl nicht geben. Ich zweifle, daß sie es würde. Sie müßte dazu von ihren früheren Beziehungen zu Rudolph reden – damals, als sie noch Sängerin war und Rudolph in der Hauptstadt in einem Kaufmannsgeschäfte diente.“ – –

„Und was,“ fiel Elisabeth betroffen und heftig ein, „was für Beziehungen hatten sie denn zu einander? Welche anderen, als die zwischen einer berühmten und gefeierten Sängerin der Hofbühne und einem armen Commis, der ihr Vetter ist, bestehen konnten?“

„Danach frage mich nicht weiter! Ich will Dir nur, wenn Du mir heiliges Schweigen darüber gelobst, das Eine sagen, daß diese berühmte Sängerin dem Commis ihr ganzes Vermögen opferte, nachdem der Commis sich in die unehrenhafte, ja gründlich unehrenhafte Lage gebracht hatte, es annehmen zu müssen. Nun hast Du Alles gehört, was ich Dir sagen kann. Du wirst darüber schweigen – gegen Jedermann. Es muß darüber geschwiegen werden, und ich verlange das von Dir. Und im Uebrigen vertraue mir, meiner Liebe und Sorge für Dich! Thust Du es, Elisabeth? Gieb mir die Hand darauf, mein Kind!“

Elisabeth’s Augen waren feucht geworden; groß und betroffen blickte sie ihren Vater an und legte langsam ihre Hand in seine Rechte.

„So,“ sagte er, „und nun quäle mich nicht mehr! Ich kann Dir von diesen früheren Beziehungen Malwinens und Rudolph’s nicht mehr sagen, dem Gelöbniß, das ich mir selbst gegeben, nie darüber zu sprechen, nicht weiter untreu werden. Was ich Dir eben sagte, hat mir die Lage, in welcher ich mich befinde, entrissen; Du weißt, Elisabeth, welche Wolke über mir hängt und welche Sorge auf mir liegt. Wenn ein Mann dem Kampfe mit der Welt um ihn her entgegen geht, will er Frieden haben daheim, an seinem eigenen Herde. Ich konnte Dich nicht so in trübe Gedanken verloren und gegen mich empört, mir grollend, dasitzen sehen. Ich kann es nicht ertragen, jetzt nicht, daß Du mich verkennst.“

„Ich grolle Dir nicht, Vater; ich weiß, daß Du mich liebst,“ versetzte Elisabeth und neigte ihr Gesicht, über das jetzt Thränen quollen, auf seine Schulter, auf die sie ihre Stirn drückte.

Nach einer Weile hob er ihr leise das Gesicht, drückte einen flüchtigen Kuß auf ihren Scheitel und stand auf, um gesenkten Hauptes, die Hände auf den Rücken zusammengelegt, dem Hause zuzugehen. Er war offenbar mit den eigenen Sorgen viel zu beschäftigt, um noch lange bei dem Kummer seiner Tochter verweilen zu können … es war das eben nur ein Liebesgram, und – das wußte er ja – sein Kind war verständig, klar, entschlossen; sie war sein Blut. Das, was er ihr gesagt, mußte sie beruhigt haben.

Wie wenig ahnte er, welchen Stachel seine Worte für sie gehabt hatten! wie schmerzlich das Licht ihr in’s Herz brannte, das er ihr über die frühern Beziehungen des Mannes, den sie liebte, zu der Verwandten, welche diesem ihr Vermögen geopfert hatte, gegeben. O, es wäre tausendmal besser gewesen, er hätte sie weiter glauben lassen an seinen harten Hochmuth, als ihr solche halbe bittere Enthüllungen zu machen.

[3] Sie stand auf, und als ob es sie nicht mehr an einer Stelle ruhen lasse, schritt sie mit allen Zeichen heftigster Erregung auf dem langen Pfade auf und ab, der zwischen den Anlagen und der sie umgebenden Mauer, durch Gebüsch verdeckt, dahin lief.

Nach einer Weile kam ihr hier ein hübscher Knabe von etwa zwölf Jahren mit wehendem blondem Haare entgegengelaufen, der sich ungestüm an ihre Brust warf und dann weiter eilen wollte.

Sie ergriff seine Hand und hielt ihn fest.

„Wohin, wohin so stürmisch, Karl?“

„Ich will sehen, wieviel Erdbeeren gereift sind; ich will Herrn Landeck davon bringen – er liebt sie.“

„Ist denn die Unterrichtsstunde schon zu Ende?“

„Gewiß, es ist fünf Uhr, und Herr Landeck ist nach Haldenwang gegangen.“

„Schon wieder nach Haldenwang?“

„Ja, zu Cousine Malwine; gehen wir nicht auch einmal zu ihr, Elisabeth?“

„Er war, denk’ ich, noch vor wenigen Tagen dort,“ bemerkte Elisabeth, ohne die Frage zu beantworten.

„Noch vorgestern,“ versetzte Karl; „er hat ja, weißt Du, in Griechenland gelebt, und Du glaubst nicht, wie hübsch er mir davon erzählt. Und er wird mit der Cousine Malwine, die auch dort war, davon reden wollen.“

„Freilich, er wird mit ihr von dem, was sie nun beide kennen, reden wollen,“ entgegnete Elisabeth mit einem flüchtigen ironischen Lächeln, indem sie die Hand ihres Bruders losließ, der zu seinen Erdbeeren davonlief.

„Der elegante Herr Landeck,“ sagte sie sich dann bitter lächelnd, „scheint also auch in den Fesseln der schönen Cousine zu liegen – hat ihn am Ende ganz etwas Anderes in diese Gegend geführt, als die Absicht, Karl’s Erziehung zu leiten, wie wir gutmüthig genug glauben?“

Dabei blieb sie stehen, und mit einem eigenthümlichen Ausdrucke von Schmerz und Zorn blickte sie über die Parkmauer fort auf den drüben jenseits des Flusses liegenden malerischen Edelhof am Walde mit der wehenden Fahne darauf. –




2.

Trotz der Gefahren, die das „Capital“ der Feudalität da oben etwa hätte prophezeien können, flatterte noch heute die Fahne sehr lustig auf dem Edelhofe; sie wehte hoch genug, um in anmuthig bewegtem Spiele ihre Falten dahin fließen zu lassen, und unten am Fuße des Thurmes, auf dessen Höhe sie dieses coquette Spiel trieb, erging sich die Feudalität in heitersten Gesprächen unter einem schönen, von wildem Wein überzogenen, von leichtem Eisengußwerke angerichteten vorhallenartigen Bau, der, über mehrere Treppenstufen erhöht, vor den Sommergemächern des unteren Stockes lag.

Es war eine junge Frau in Trauerkleidern, um welche sich die übrige Gesellschaft wie um ihren Mittelpunkt gereiht hatte, und die doch noch viel zu jugendlich anziehend, viel zu sonnig-heiter, viel zu strahlend aussah, um ihre Aufgabe, ernste Feudalität zu vertreten, mit dem rechten Geschick lösen zu können. Es hätte dazu eines düsteren gestrengen Ritters als Gemahls, eines grauen Burgvogts oder wenigstens einer sauer dreinschauenden Duenna neben ihr bedurft. Gestalten solch würdevoller Art aber fehlten gänzlich. Die Gesellschaft bestand aus sehr modernen Leuten, aus einem etwa sechsunddreißig Jahre alten Herrn in Civil, der aber mit seinem dunklen Schnurrbarte, seinem kurzgeschorenen Haare, seiner ganzen Haltung, einen sehr militärischen Eindruck machte, einem zweiten Herrn in demselben Alter etwa und durchaus nicht militärisch, sondern mit seiner angenehmen Fülle und seinem harmlosen Wesen sehr bürgerlich aussehend, und endlich aus einem dritten, jüngern Manne von noch nicht dreißig Jahren mit einem höchst ausdrucksvollen Kopfe. Er hatte eine hohe gedankenreiche Stirn, „schön gereimte“ und stolze Lippen und ein Wesen, daß man ihn am ersten für einen Diplomaten oder einen der bessern Gesellschaft angehörenden Künstler gehalten hätte. Neben dieser um einen runden Tisch versammelten Gesellschaft stand an einem „stummen Diener“ im Hintergrunde ein schlankes junges Wesen, beschäftigt mit Hülfe eines Lakaien in Livree, der ab und zu ging, den Herrschaften den Thee zu bereiten.

„Ihnen, Doctor,“ hatte sich die junge Frau in Schwarz eben dem behäbigen, wohlgenährten Manne zugewendet, „Ihnen soll ich einmal zum Amüsement etwas vorsingen? Was Sie sich einbilden! Ich werde meine gute Lini bitten, daß sie hineingeht und Ihnen einige Chopin’sche Notturnos oder etwas dem Aehnliches vorspielt, wenn Sie nach Musik dürsten. Unterdeß werde ich den Vortheil haben, daß Sie, aus Höflichkeit schweigend zuhören müssen und mich nicht durch Ihre gräulichen Krankengeschichten quälen dürfen.“

„Aber das ist sehr grausam von Ihnen, Frau Baronin,“ versetzte der Doctor, „da ich Sie nie singen hörte. Es ist auch unvorsichtig von Ihnen, mich durch solche Grausamkeit zu reizen. Wenn ich Ihnen nun zur Strafe bei Ihrem nächsten Migräneanfall die Medicin so einrichtete, daß Sie eine volle halbe Stunde länger harren müßten, bevor die Schmerzen Sie verließen?“

„Ah – das könnten Sie? Welche Giftmischer Ihr Alle seid!“ lachte der militärisch aussehende Herr mit einer unangenehm scharfen Stimme auf – es war viel Metall in der Stimme, aber dieses Metall war zu sehr Schneidigem, Spitzem verarbeitet.

„Ob ich es könnte? Gewiß – je nachdem ich die Dosen meines Recepts bestimmte, könnte ich es, Herr von Maiwand.“

„Es ist wahr,“ sagte jetzt die Baronin, plötzlich sehr ernst, „es ist Euch Leuten eine furchtbare Macht gegeben, und es kommt mir dabei der Gedanke, wie erschreckend viel von unserm Glück, von unserm Wohlsein, von unserm Lebenkönnen abhängt von der Güte anderer Menschen – von dem Nichtgebrauch der Macht, die sie über uns haben. Wie sind wir wehrlos in die Hände solch eines Arztes gegeben! oder jedes Briefboten, dem es einfiele, einen wichtigen Brief in den Ofen zu stecken, statt sich die Mühe zu machen, ihn uns zu bringen! Wie könnten wir uns nach keiner Seite hin bewegen, nichts thun, nichts ausführen, wenn nicht alle die Menschen, deren wir bedürfen, auch die Ehrlichkeit hätten, zu thun, was wir voraussetzen, daß sie thun werden! Wenn man sich das vorstellt, sieht man ein, wie das ganze Leben auf Ehrlichkeit und Güte beruht.“

„Von dieser allgemeinen Güte der Menschen möchte ich doch nicht gerade viel Wesens machen,“ fiel hier der jüngere Mann ein, „sie sind eben gezwungen, verträglich, ehrlich und gut zu sein, weil sonst die Welt einstürzen und sie mit sich begraben würde. Was ich,“ setzte er mit einem Anflug von Ironie hinzu, „mehr als diesen allgemeinen Nichtgebrauch ihrer Macht, uns schaden zu können, wegen dessen Sie die Menschen loben, was ich mehr als das verehre, ist bei schönen Frauen der Nichtgebrauch ihrer Macht.“

„Weil er seltener ist?“ fragte lächelnd der Doctor.

„Weil das Gegentheil ungestrafter bleibt und mehr Unheil anrichtet.“

„Ach, das ist boshaft,“ sagte die Baronin.

„Nur wahr! Was ist ein Streich, den mir die Unehrlichkeit der Menschen spielt, gegen mein herzbrechendes Leid, wenn eine schöne Frau es darauf anlegt, mich unglücklich zu machen! Und davon kann wirklich nur die Güte ihrer Natur sie abhalten; denn für sie giebt es, wenn sie anders handelt, keine Strafe.“

„Doch – mitunter doch!“ rief hier Herr von Maiwand aus, „es giebt doch auch Männer, die nicht ungestraft mit sich coquettiren lassen.“

Die Dame vom Hause warf hier einen eigenthümlichen Seitenblick auf den Mann, der diese Bemerkung gemacht hatte; war es ein Ausdruck von Verachtung oder von Herausforderung, was um ihre feinen rosigen Lippen zuckte? Etwas von beiden war es.

„Es ist nicht hübsch, was Sie sagen, Herr Landeck,“ antwortete sie dann. „Ein so selbstsicherer und weiser Mann muß nur reden, wie er denkt. Und Sie denken nicht daran, daß eine Coquette, wie Herr von Maiwand sich unverblümt ausdrückt, Ihnen je ein herzbrechendes Leid zufügen könnte.“

„Ich danke Ihnen, daß Sie mich für so gefeit ansehen,“ versetzte Landeck. „Doch fühle ich mich durchaus nicht so hochmüthig sicher. Wer durchschaut sofort, ob die Huld einer Frau ernst gemeint oder Coquetterie ist? Wir Männer sind den Frauen gegenüber nun einmal gläubige Seelen; auch in die Kälteste, Härteste legen wir unser eigenes Gefühlsleben hinein, unser eigenes Gemüth …“

[4] „Haben Sie dessen so viel, daß Sie einen Ueberschuß an uns abgeben können?“

Der Doctor lachte.

„Da haben Sie Ihre Strafe, Landeck,“ sagte er. „Aber in welch’ hitzige Debatte sind die Herrschaften gekommen durch meine bescheidene Bitte, einmal unsere gnädige Frau singen zu hören!“

„Es ist das freilich Ihre Schuld nicht, Doctor,“ rief die gnädige Frau aus; „Herr Landeck versteht es einmal, stets das Umgekehrte der Biene zu thun, die aus jeder Blume Honig saugt. Er weiß in jede Conversation ein wenig Gift zu gießen.“

„Ach?“ fiel lächelnd Landeck ein, „das geschieht nur, um Ihnen zu gefallen. Alles, was Sie umgiebt und je umgeben hat, bringt Ihnen so viel Blumen, so viel Honig, hat so viel Süßigkeit für Sie, daß ich mir einbilde, ein wenig Gift muß Ihnen ein wahres Labsal sein.“

Sie machte mit einem leichten Aufzucken der Lippen eine abwehrende Handbewegung gegen ihn, während sie, zum Doctor gewendet, fortfuhr:

„Und daß ich Ihnen Ihre Bitte abschlage, darf Sie nicht kränken – wenn Sie mich nie singen hörten, so trösten Sie sich mit all den andern Herren, die mich auch nie singen hörten!“

„Ich denke doch,“ sagte Landeck betroffen, „Sie hätten mir in Athen sehr oft dieses Glück gegönnt.“

„Und ich meine doch auch,“ sagte Herr von Maiwand aufblickend, „Sie hätten mir von Zeit zu Zeit die Gunst erwiesen, wenigstens in Ihrem Gesange nicht aufzuhören, wenn ich Sie dabei traf.“

Sie unterbrach ihn mit derselben abwehrenden Handbewegung.

„Bilden Sie sich nicht ein, Sie hätten mich singen hören! Ich konnte das immer nur allein, ganz allein für mich, oder vor dem ganzen großen Publicum, vor der ganzen Welt oder doch einem Stücke von ihr auf den erregenden Brettern, in einer ergreifenden Rolle – nicht aber vor dem Einzelnen, nicht vor einem von Ihnen. Da singe nicht ich; da singt etwas Anderes, das eine gute Schule und eine große Routine hat, aus mir heraus, und dieses wohlerzogene brave Etwas, das so genügend seine Pflicht thut, beklatschten Sie, weil Sie glaubten, Sie hätten eine berühmte Sängerin gehört.“

Landeck hatte sie aufmerksam angesehen, während sie so sprach. Er nickte jetzt und sagte:

„Das ist Etwas, das ich von Ihrem Stolze vollständig begreife. Von Ihrer Großmuth, sollte ich sagen, die eine so unwiderstehliche Waffe nicht schwingen mag.“

„Waffe? Sehen Sie denn einen Kampf?“

„Nur einen Angriff freilich, einen Ausfall, eine herbe Demüthigung. Es ist eben Niemand unter uns, der in Ihnen das Verlangen weckt, ihm etwas von den idealen Dingen zu sagen, die Ihre Stimme, wenn Sie allein sind, mit leidenschaftlicher Gluth und hinreißender Macht aussprechen wird. Sie geben unser Einem dafür – Schule und Routine. Das ist denn freilich bitter für uns, und ich bedaure nur, daß ich je Ihre Stimme in meinem einfältigen Glauben, ich hörte Sie singen, bewundert habe. Wie lächerlich muß Ihnen das erschienen sein!“

„Es freut mich, daß Sie mich einmal verstehen, Herr Landeck; ich denke, es ist so, wie Sie sagen,“ versetzte die Baronin wie gereizt.

„Und ich,“ fragte der Doctor, „muß dann wohl für immer darauf verzichten, Sie zu hören, gnädige Frau? Das ist so niederschlagend, daß Sie mir nicht übel nehmen können, wenn ich mich beurlaube, um meinem Kummer darüber in der Einsamkeit nachzuhängen.“

„Das heißt, Sie wollen die Runde bei Ihren Kranken fortsetzen?“

„Ein wenig auch das,“ entgegnete der Doctor und erhob sich. Die Baronin reichte ihm die Hand; er ging dann, sich ebenfalls mit einer flüchtigen Handberührung von dem Thee machenden und bis jetzt schweigsam gebliebenen Fräulein, das bei dieser Berührung leicht erröthete, zu verabschieden, verbeugte sich gegen die zwei Herren, und wollte sich entfernen, als Landeck aufsprang und ihm sagte:

„Ich gehe mit Ihnen, Doctor; es wäre zu gefährlich, Sie Ihrem schweren Kummer in der Einsamkeit allein zu überlassen. Kommen Sie!“

Er verbeugte sich, ohne die freundschaftlichen Händedrücke zu erhalten, womit der Doctor verabschiedet worden war.

Als Beide durch die Eichenallee schritten, die vom Gute parallel mit dem links liegenden Waldsaume zum Flusse hinabführte, sagte der Doctor:

„Sie haben wohl eine große Furcht, Landeck? Man könnte glauben, Sie seien am Ende unserer reizenden Baronin von Athen bis hierher, tief in’s Phäakenland, nachgefolgt.“

„Und worin sollte sich diese Furcht zeigen, Doctor?“

„Nun, in der Art, wie Sie mit ihr verkehren. Sie sind nichts weniger als verbindlich gegen sie, und wer Ihnen nachsagte, Sie machten ihr den Hof, thäte Ihnen Unrecht.“

Herr Landeck lächelte. „Es freut mich, daß Sie das erkennen,“ sagte er. „Je näher eine solche falsche Auslegung dessen, was mich hierher führte, liegt, desto mehr muß es mir angenehm sein zu sehen, daß man sie meinem Erscheinen hier nicht giebt. In der That können Sie versichert sein, daß ich nichts weniger erwartete, als hier dieselbe Frau von Haldenwang wiederzufinden, welche vor einem Jahre einen so belebten und anregenden Kreis deutscher Landsleute in Athen um sich versammelt hatte.“

„Sie waren dort, um archäologische Forschungen zu betreiben?“ fragte der Doctor.

„Aus diesem Grunde war ich zwei Jahre dort,“ antwortete Landeck; „mit einem Aufenthalte auf der trojanischen Ebene habe ich dann meine morgenländischen Studien beschlossen.“

„Und kommen hierher, in unsere ländliche Stille, um hier, wirklich ganz vom Zufall geführt, die Frau wieder zu sehen, die Sie jetzt doch trotz ihrer ewigen kleinen Scharmützel so zu fesseln scheint?“ sagte der Doctor ein wenig ungläubig lächelnd.

„So ist es, wenn ich auch etwas wie ein ironisches Lächeln um Ihren Mund zucken sehe. Die weitest auseinander liegenden Lebenspfade der Menschen haben zuweilen eine wunderliche Caprice, sich zu kreuzen. So der meine und der dieser gnädigen Dame, um dann freilich nach Süd und Nord wieder auseinander zu laufen. Denn außer dem Zufall, der sie eben sich zweimal kreuzen ließ, haben sie nichts miteinander gemein. Ich bin ein armer Teufel von Philologe, den sein Drang in die Welt hinaus und seine Schwärmerei für hellenische Schönheit und die Ueberreste der classischen Welt nicht rasten ließ, bis er vom Ministerium ein Reisestipendium zu archäologischen Forschungen in Athen erhalten hatte. Die dazu auf zwei Jahre bewilligten Mittel sind mit den zwei Jahren zu Ende gegangen; ich bin zurückgekehrt und habe nun sehen müssen, daß ich unterdeß aus meiner eigentlichen Laufbahn herausgeworfen worden. Bis ich eine Anstellung finde, wie sie mir zusagt, habe ich deshalb eine Hauslehrerstelle, auf die ich auch ganz zufällig durch die Zeitung aufmerksam gemacht wurde, angenommen – und so sehen Sie, Doctor, daß durchaus kein Grund zu einer boshaften Voraussetzung vorliegt.“

Der Doctor nickte.

(Fortsetzung folgt.)




Tristan und Isolde im alten und neuen Liede.


Wem hätte das Herz nicht höher geschlagen, wenn er Tristan und Isolde, diese beiden vom bestrickenden Zauber mittelalterlicher Dichtung umflossenen Heldengestalten, neu belebt vom Doppelstrahle der dramatisch-musikalischen Kunst, über die moderne Bühne schreiten sah? Dasselbe Gefühl ästhetischen Wohlbehagens, welches uns heute Richard Wagner's vielbesprochene Oper einflößt, bemächtigte sich einst auch unserer Altvordern derjenigen Dichtung gegenüber, welcher Wagner die Anregung zu seinem berühmten Tonwerte verdankt. Und doch – den Tristan und die Isolde der alten Dichtung, wer kennt sie noch heute? Nur

[5]

Isolde auf der Schloßtreppe.
Nach dem Oelgemälde von Theodor Pixis in München.

[6] wenige Auserlesene; denn die Erzeugnisse der ersten Glanzperiode unserer Literatur sind längst das fast ausschließliche Eigenthum der classisch Gebildeten unter uns geworden, dem großen Publicum aber sind sie seit lange fremd, wie jene poesiedurchwebten Tage selbst, denen dieses sagenumkränzte Liebespaar seine Existenz verdankt. Wir glauben daher nicht zur Unzeit zu kommen, wenn wir im Nachstehenden, sei es auch nur in gedrängter Kürze, eine Orientirung über die Hauptquelle dieser oft bewunderten Liebesmär sowohl nach ihrem stofflichen Gehalte, wie nach ihrem ästhetischen Werthe zu geben versuchen. Diese Hauptquelle aber, auf welche alle späteren Behandlungen des Tristan-Mythus zurückzuführen sind, ist bekanntlich Gottfried's von Straßburg große Dichtung „Tristan und Isolde“.

Fast bei allen Völkern des Abendlandes finden wir schon frühe die Spuren der sinnreichen und echt menschlichen Mär von Tristan und Isolde, welche ursprünglich aus der Phantasie keltischer Stämme hervorgegangen zu sein scheint. Wie es eine schöpferische Eigenschaft des Schönen ist, daß es überall, wo es sich zeigt, anregend und weckend, befruchtend und zeugend wirkt, so vervollständigte sich auch die Geschichte dieser Liebenden bei allen Völkern, zu denen sie kam, immer auf's Neue. Schon vor unserem Dichter haben Engländer, Franzosen und Deutsche den reichen Stoff vielfach behandelt.

Meister Gottfried von Straßburg, über dessen äußeren Lebenslauf uns nur überliefert worden ist, daß er seinen Zunamen von der alten elsässischen Hauptstadt führt und aus dem Bürgerstande hervorgegangen ist, dichtete sein Epos in den Jahren 1207 bis 1210 und zwar nach dem französischen Vorbilde des Thomas von Bretagne. Trotz der Anlehnung an ein bestimmtes Muster muß die Dichtung indessen als eine originale Leistung betrachtet werden; denn Gottfried prägte dem überlieferten Stoffe den Stempel seines eigenen Dichtergenius auf und schuf uns so, indem er die von tiefsinniger Poesie durchwehten mythischen Vermächtnisse einer fernen Zeit mit seinem eigenen Geiste erfüllte und sein edeles, warmes Herzblut belebend in den todten Sagenstoff goß, eine Dichtung von ureigener und dauernder Schönheit und Lebensfülle.

Der Inhalt des Epos ist in Kürze der folgende.

Die Einleitung erzählt die Liebesabenteuer Riwalin's, Königs im Parmenierlande, mit Blancheflur, der Schwester Marke's, des Königs von Cornwallis in England. Riwalin fällt im Kampfe gegen den benachbarten Fürsten Morgan, Blancheflur aber, von ihrem Bruder verstoßen, stirbt nach der Geburt eines Sohnes, der den bezeichnenden Namen Tristan, das heißt: der Traurige, erhält, da er in Trauer gezeugt und in Trauer geboren worden ist.

Der getreue Marschall Rual übernimmt die Fürsorge für den Knaben. Vom siebenten Jahre an läßt er ihn in allen Wissenschaften und Fertigkeiten unterrichten, so daß er mit dem vierzehnten viele Sprachen sprechen kann und in ritterlichen Uebungen erfahren ist. Da fällt er in die Gewalt norwegischer Kaufleute, welche ihn als gute Beute mit sich führen. Als aber ein Sturm sie auf dem Meere überfällt, da setzen sie, von Gewissensbissen gefoltert, den Knaben an der Küste von Cornwallis aus. König Marke hält gerade eine Jagd ab, und dies giebt Tristan Gelegenheit, sich als trefflichen Jäger und Hornbläser zu zeigen. So erwirbt er die Gunst des Königs, der ihn an seinem Hofe freundlich aufnimmt. Inzwischen ist auch der treue Rual, der den Verlorenen überall gesucht hat, zu Tintayol, Marke's Hauptstadt, eingetroffen und klärt den König über Tristan's Herkunft auf. Marke begrüßt ihn als seinen Neffen und schlägt ihn zum Ritter. Die ersten Thaten Tristan's sind, daß er den Tod seines Vaters an Morgan rächt, indem er denselben erschlägt und Cornwallis von einem Tribute an Irland befreit, der in der Lieferung von dreißig schönen Knaben besteht. Er erreicht dies, indem er Morolt, den Eintreiber des Tributes, im Zweikampfe tödtet. Aber Tristan ist durch einen vergifteten Pfeil des Gegners verwundet worden. Heilung kann ihm nur Morolt's Schwester, die weise und zauberkundige Königin von Irland, schaffen. Als Spielmann und unter dem Namen Tantris begiebt er sich nach Irland und findet durch die Königin die ersehnte Heilung. Zum Danke ertheilt er deren Tochter, der blonden Isolde, Unterricht im Saitenspiele und kehrt dann nach Cornwallis zurück. Seine Schilderungen von der schönen Isolde erwecken in dem greisen König Marke den Wunsch, die liebreizende Jungfrau zur Gemahlin zu haben. Tristan begiebt sich daher als Freiwerber seines Onkels wieder nach Irland, und nachdem er einen gewaltigen Drachen, welcher das Land verwüstet, getödtet hat, geht er mit der schönen Isolde als Marke's Braut zu Schiffe.

Hiermit hebt in der Dichtung der wichtigste Moment und zugleich die Wendung zum Tragischen an. Die Königin hatte nämlich ihre Nichte Brangäne, welche Isolde begleitet, einen Liebestrank mit der Weisung mitgegeben, denselben am Hochzeitsabende in das Getränk der Neuvermählten zu mischen. In Folge eines Irrthums trinken Tristan und Isolde während der Reise von dem verhängnißvollen Zaubertranke und entbrennen in gegenseitiger Liebe. Die Vernunft in ihnen unterliegt der Leidenschaft, und nun beginnt nach der Vermählung des Königs Marke mit Isolde eine schmähliche Täuschung des Alten, hinter dessen Rücken das Liebesverhältniß Tristan's mit der schönen Irländerin sich lange ungestört fortspielt, bis Marke endlich doch Verdacht schöpft. Unter der Schilderung von mancherlei Abenteuern, welche die Liebenden zu bestehen haben, nimmt die Dichtung ihren Fortgang: Marke verbannt Beide mehrmals von seinem Hofe und ruft sie, von Zweifeln an ihrer Schuld bewegt, immer auf's Neue wieder zurück. Längere Zeit führen sie ein märchenhaftes Liebesleben in der Wildniß. Endlich verrathen die Liebenden sich vollends durch eine Unvorsichtigkeit, und Tristan muß vor dem Zorne Marke's fliehen. Auf seinen Wanderungen gelangt er an den Hof des Herzogs von Arundel, wo er in dessen Sohne Kahedin einen Freund findet. Dieser hat eine schöne Schwester, welche ebenfalls Isolde heißt und wegen ihrer schneeweißen Hände den Zunamen Weißhand führt. Ihre unwiderstehlichen Reize umstricken den vor Sehnsucht nach der ersten Geliebten fast sinnverwirrten Tristan mit dämonischer Gewalt, und in seinem erregten Gemüthe fließen die Gestalten der beiden Isolden zu einer zusammen. Da ergreifen ihn im Gefühle seiner Treulosigkeit gegen die Jugendgeliebte schwere Qualen des Gewissens. Indem der Dichter diesen peinvollen Zustand Tristan's schildert, bricht er sein Gedicht plötzlich ab. Man weiß nicht, ob der Tod oder eine andere Ursache ihm die Feder aus der Hand nahm.

Gottfried's Dichtung fand zwei Fortsetzer, den einen um 1250 in Ulrich von Türheim, den anderen im letzten Drittel desselben Jahrhunderts in Heinrich von Freiberg. Beide weichen in ihren Fortsetzungen in manchen Punkten voneinander ab. Den Grundzügen nach aber lassen sie die Liebesmär folgendermaßen enden: Tristan kann den Versuchungen, in welche er sich durch die Liebe zur Isolde Weißhand verstrickt fühlte, nicht widerstehen und vermählt sich mit ihr. Allein diesem Frevel an der ersten Geliebten folgt schnell die Vergeltung auf dem Fuße nach. Sofort nach geschlossenem Bunde fällt ihm die Reue auf's Herz, so schwer, daß er in der Brautnacht, von bangem Zagen des Gewissens ergriffen, sein Weib unberührt läßt. Nachdem dann diese Halbehe eine Zeitlang bestanden und Tristan auf seinen abenteuerlichen Streifereien die andere Isolde noch einmal gesehen und all seine Herzenspein durch ihre süße Nähe doppelt empfunden hat, wird er bei einer Liebesfehde seines Schwagers Kahedin tödtlich verwundet. Im Gefühle seines herannahenden Endes ergreift ihn namenlose Sehnsucht zu seiner ersten Geliebten, der blonden Isolde; er entsendet daher einen Boten nach Cornwallis, dieselbe zu ihm einzuladen, damit sie ihn heile, und giebt ihm den Befehl, wenn er bei seiner Heimkehr die Geliebte mitbringe, ein weißes Segel aufzuhissen, wenn nicht, ein schwarzes. – Die blonde Isolde folgt dem Rufe des Geliebten. Das Schiff naht sich. Auf Tristan's Frage nach dem Segel antwortet die eifersüchtige Weißhand, es wehe ein schwarzes. Augenblicklicher Tod des schwer Verwundeten ist die Folge dieser Bosheit sein Weibes. Die blonde Isolde kommt, vernimmt den Tod des heißgeliebten Mannes, eilt in's Münster, wohin sein Leichnam gebracht worden, und stirbt über dem Geliebten. König Marke holt die Leichen der Liebenden nach Tintayol, läßt sie nebeneinander bestatten und pflanzt auf Tristan's Grab einen Rosenstock, auf das Isoldens eine Rebe. Rosenstock und Rebe verschlingen ihr Gezweig unzertrennlich ineinander; denn selbst im Tode läßt Liebe von Liebe nicht.

So endet die Mär von Tristan und Isolde.

In dem Nachworte zu seiner verdienstvollen Uebersetzung [7]

dieser Dichtung hat Karl Simrock trefflich nachgewiesen, wie der Grundgedanke des Gottfried’schen Epos dem Wesen nach derselbe ist, den wir in den Sagen von Pyramus und Thisbe, von Hero und Leander, von Romeo und Julie ausgeprägt finden. Die Liebe kennt in ihrer Einseitigkeit kein anderes Gesetz als das eigene; sie durchbricht, wenn es sein muß, die Schranken der Sitte und der Gesellschaft, und beladen mit dieser Schuld geht sie an sich selbst zu Grunde. In allen diesen Liebessagen enden die Liebenden durch einen Irrthum über den geliebten Gegenstand, und dieser Irrthum erscheint als eine nothwendige Folge ihrer Schuld. „Pyramus ist in demselben Irrthume wie Romeo; er hält die Geliebte für todt, weil er ihr zerrissenes, blutiges Gewand findet. Er mißt sich selbst die Schuld ihres Todes bei und ersticht sich über ihrem Gewande, wie Romeo über Juliens vermeintlicher Leiche das Gift trinkt.“ Thisbe und Julie sterben vor Schmerz an der Seite der Geliebten. Aehnlich ist es mit Hero und Leander, ähnlich mit Tristan und Isolde. Leander stirbt, weil ihm mit der Fackel Hero’s der Stern der Liebe zu verlöschen schien, und dem Tristan bricht das Herz, weil das angeblich schwarze Segel ihm die letzte Hoffnung raubt.

Von modernen Dichtern ist die Geschichte von Tristan und Isolde mehrfach bearbeitet worden. Der tiefsinnige Immermann, geeignet wie kaum ein Zweiter für die Umdichtung dieses alten Stoffes im Sinne der modernen Anschauungen, starb über dem unvollendeten Werke. H. Kurtz ist es dagegen in jüngster Zeit gelungen, eine treffliche, den Ansprüchen der Neuzeit entsprechende Nachdichtung des Gottfried’schen Epos zu Stande zu bringen. Aber wie das Quellwasser seine metallische Frische am reinsten unmittelbar an der Quelle selbst bewahrt, so sprudelt der Geist kindlich frommer Einfalt, vermählt mit männlichem Ernste, auch in der herrlichen Schöpfung des alten Sängers lauterer und reiner, als in einer der späteren Nach- und Umdichtungen.

Meister Gottfried ist der Goethe des Mittelalters. Ein geborener Realist, lieh er seinen Gebilden die Farben des wirklichen Lebens und zeigte sich stets ebenso kampfesmuthig und schonungslos, wo es galt, gegen Lüge und Anmaßung Front zu machen, wie hingebend und warm, wo er Gutes und Schönes besang. Feinsinnig und zart in der Schilderung von Seelenzuständen, tief und umfassend in der Kenntniß von Welt und Menschen, schwungvoll und fast überreich an Phantasie, maßvoll und melodisch in der dichterischen Sprache, läßt er, um ein wahrhaft großer Dichter zu sein, nur Eines, die künstlerische Bewältigung des gewählten Stoffes, vermissen; denn die Umrisse seines Epos und der einzelnen Theile desselben lassen Präcision und Ebenmaß oft genug entbehren. Allein dieser Mangel, dem wir bei den gleichzeitigen deutschen Dichtern, Hartmann von der Aue etwa ausgenommen, fast durchgängig begegnen, dürfte eben deshalb mehr auf die Rechnung der damaligen Zeit als auf die unseres Dichters zu setzen sein.

Die neueste Nachdichtung der alten Liebesmär von Tristan und Isolde ist eine Tondichtung, die oben bereits erwähnte gleichnamige Oper Richard Wagner’s. Ueber den musikalischen Werth derselben hier zu urtheilen, kann natürlich nicht unsere Aufgabe sein, und auch in Betreff des vom Componisten selbst abgefaßten Libretto’s können wir nur ganz im Allgemeinen erwähnen, daß es in wesentlichen Punkten von der Dichtung Gottfried’s abweicht und derselben gegenüber selbstverständlich einen ziemlich abgeblaßten Eindruck macht.

Der geistvolle Maler, Professor Theodor Pixis in München, durch seine schönen Illustrationen zu deutschen Volksliedern, sowie zu Milton’s „Verlorenem Paradies“ rühmlich bekannt, hat eine „Richard-Wagner-Galerie“ nach seinen Original-Oelgemälden und Cartons in Photographien von Albert in München veröffentlicht, von welchen zwei ihre Gegenstände der Oper „Tristan und Isolde“ entnehmen: „Isolde, den Geliebten erwartend“, und „Isolde an der Leiche Tristan’s“.

Das erstgenannte Bild schmückt die heutige Nummer dieses Blattes. Der Künstler zeigt uns das liebreizende Weib, wie es in der herrlichen Mondnacht auf der alten Treppe des Schlosses dem Geliebten sehnsuchtsvoll mit dem Schleier winkt, nachdem das Zeichen, daß Alles zum heimlich-süßen Stelldichein bereit ist, soeben durch Auslöschen der Fackel gegeben worden.

Mögen die trefflichen Bilder unseres Künstlers, obwohl sie zunächst nur die Werke des modernen Tondichters illustriren wollen, auch das Andenken des alten Sängers in uns auf’s Neue erwecken; denn Gottfried ist werth, daß sein Lorbeer durch die Jahrhunderte hindurch zu uns herüberleuchte, und mit gerechtem Stolze können wir auch auf ihn das Dichterwort anwenden:

„Er war unser“.
E. Z.



Zur Abstammungslehre.[1]
Der Thiere Ahnenreihe.

Darwinismus? Der Mensch ein Fortschrittsaffe? Wehe! – Sollte denn aber wirklich die ganze sittliche Weltordnung zu Grunde gehen, wenn, wie die Wissenschaft durch die Lamarck-Darwin’sche Umwandelungslehre bewiesen hat, die Thiere, welche bis jetzt auf unserer Erde gelebt haben und noch leben, vom Schöpfer nicht gleich und für immer als solche, welche sie eben sind (und zwar von jedem Thiere ein Männlein und ein Weiblein) und zu gleicher Zeit (im Paradiese) geschaffen wurden, sondern wenn sie sich ganz allmählich, in Jahrmilliarden, aus- und hintereinander, die vollkommeneren immer erst aus ihren weniger vollkommenen Vorfahren, hervorgebildet haben? Würde der Schöpfer in seiner Allmacht und Allweisheit wirklich herabgesetzt, wenn man ihm nachsagte, daß er in ein kleines unsichtbares Bläschen, in eine sogenannte Zelle, die Fähigkeit gelegt hätte, daß sich aus dieser, durch Vermehrung und Verwandlung ihrer Bestandtheile, nach und nach alle und zwar immer vollkommner werdenden Geschöpfe hervorgebildet hätten? Ja, wäre es im Gegentheile nicht eine grobe Vermenschlichung des Schöpfers, demselben zuzutrauen, daß er, um Vollkommenes zu schaffen, vorher, gewissermaßen zur Probe, erst Unvollkommenes geschaffen und dann wieder vernichtet hätte? – Sollten denn wirklich Moral und Sittlichkeit, Staat und Gesellschaft gefährdet sein, wenn, wie die Wissenschaft lehrt, die Wirbelthiere aus den Wirbellosen und zwar aus Würmern oder Mantelthieren, die Vögel aus den Reptilien, die Säugetiere aus den Amphibien sich entwickelt haben? oder wenn die luftathmenden Lungentiere aus den wasserathmenden Kiementhieren, wenn Kopfträger aus Kopflosen und wenn schwanzlose Thiere aus geschwänzten, durch allmähliche Umbildung von Organen, hervorgegangen sind? – Sollte es wirklich für den Menschen, der doch nach der mosaischen Schöpfungsgeschichte als „Erdenkloß“ erschaffen wurde, sehr entwürdigend sein, daß er vor seinem Eintritte in die Welt (als Embryo), wo er ganz dieselben Umhüllungen und Ernährungsapparate wie die höheren Säugethiere besitzt (nämlich Amnion, Allantois, Decidua, Placenta), vorübergehend thierische Bildungen an sich trägt? – daß er z. B. wie die meisten Thiere eine Zeitlang einen Schwanz hat, daß er während einer kurzen Zeit die den Vögeln, Amphibien, Reptilien und Schnabelthieren eigenthümliche Cloake und den beim Affen zeitlebens vorhandenen Zwischenkieferknochen (in welchem die vier oberen Schneidezähne stecken und der von Goethe beim Menschen nachgewiesen wurde) besitzt, – daß ihm wie den Fischen Kiemenbögen zukommen, – daß man ihn zu einer bestimmten Zeit seines Embryolebens nicht von einer Schildkröte, einem Huhne, einem Hunde, einer Eidechse oder einem Karpfen zu unterscheiden im Stande ist, – und daß seine kunstvolle Hand während ihrer Entwickelung der groben Pfote des Hundes, dem zierlichen Flügel des Huhns und dem plumpen Vorderbeine der Schildkröte ganz ähnlich ist?

Sollte der Mensch denn wirklich etwas ganz Absonderliches

[8] sein, und sollte er denn wirklich keine verwandtschaftliche Beziehung zu den Thieren haben, obgleich alle körperlichen Eigenthümlichkeiten, durch welche sich die höheren Säugethiere, besonders in ihrer Entwickelungszeit, auszeichnen, auch dem Menschen zukommen? – obgleich der Aufbau seines Körpers ganz auf dieselbe Weise zu Stande kommt wie der aller übrigen Thiere (mit Ausnahme der Urthiere), nämlich mit Hülfe der sogenannten Keimblätter (siehe unten)? – obgleich der Mensch während seiner ganzen Lebenszeit Anhängsel an verschiedenen seiner Organe an sich trägt, die für ihn ohne allen Nutzen sind und nur Erbstücke von seinen thierischen Vorfahren sein können (die sogenannten rudimentären Organe, wie die Ohrmuskeln mit den vielen und überflüssigen Ohrnerven, der Wurmfortsatz etc.)? – und obgleich der menschliche Keim nacheinander ganz dieselben Entwickelungsstufen, gerade wie der des Säugethieres, durchläuft? Denn im frühesten Stadium seiner embryonalen Entwickelung zeigt der Mensch die größte Aehnlichkeit mit Urthieren, später trägt er dann die Merkmale von Würmern (Ascidie), Fischen, Amphibien und verschiedenen Säugethieren an sich, bis er schließlich am Ende seiner Entwickelung, an der Spitze des Thierreichs angelangt, als oberstes, jüngstes und vollkommenstes Mitglied der organischen Schöpfung mit den höheren zunächst unter ihm stehenden Affen (Chimpanse, Gorilla, Orang, Gibbon) die allergrößte Verwandtschaft besitzt. Den Affen, welche sogar auch wie der Mensch den gelben Fleck auf der Netzhaut des Auges besitzen, gleicht er aber (zumal als Neugeborener) in einer solch auffallenden Weise, daß die niederen Menschenracen den höheren Affenarten weit ähnlicher sind, als diese den niederen, ihnen zunächstehenden Affenarten, und zwar nicht blos in körperlicher, sondern auch in geistiger Beziehung. Denn es fällen viele christliche Missionäre, welche nach jahrelanger vergeblicher Arbeit von ihren fruchtlosen Civilisationsbestrebungen bei den niedersten Völkern abstanden, das Urtheil, daß man weit eher die bildungsfähigen Hausthiere, als diese unvernünftigen viehischen Menschen zu einem gesitteten Culturleben erziehen könne. Der Missionär Morlang, welcher ohne allen Erfolg viele Jahre hindurch die affenartigen Negerstämme am oberen Nil zu cultiviren suchte, schreibt: „daß unter solchen Wilden jede Mission durchaus nutzlos sei; sie ständen weit unter den unvernünftigen Thieren, denn diese letzteren legten doch wenigstens Zeichen der Zuneigung gegen Diejenigen an den Tag, die freundlich gegen sie sind, während jene viehischen Eingeborenen allen Gefühlen der Dankbarkeit völlig unzugänglich seien.“

Vergleicht man nun aber diese den Affen ganz nahestehenden Menschenracen mit den aus der Höhe der Cultur angekommenen weißen Menschen, so muß jeden nur halbwegs Gebildeten das Gefühl der höchsten Befriedigung bei dem Gedanken überkommen, daß nach der Descendenzlehre, welche ein fortwährendes Vollkommenerwerden der Organismen in körperlicher und geistiger Hinsicht nachgewiesen hat, auch der Mensch einer stetig wachsenden Veredelung entgegengeht. Und darum nicht Wehe, sondern Heil dem Darwinismus, denn er verheißt den Menschen Vervollkommnung!

Es ist doch wahrlich zu kindisch und geradezu verabscheuungswerth, wenn die großartigen Errungenschaften der Wissenschaft, – weil sie dem des Menschenverstandes unwürdigen Aberglauben und dessen Vertheidigern (den unter der Vormundschaft unwissender Wundergläubigen stehenden Dunkelmännern, welche Licht durch Finsterniß, Wahrheit durch Lüge und Thatsächlichkeit durch Phrasenwerk zu verdrängen bemüht sind entgegenarbeiten, – als die Menschheit entsittlichen) verdammt und verfolgt werden, und von Wem? Von Leuten, welchen, wie Dr. Page sagt, „nicht nur die Anfangsgründe der Wissenschaft unbekannt sind, sondern welche sich auch durch Formeln und Glaubenssätze gebunden haben, ehe noch ihr Geist reif oder ihr Wissen hinreichend genug war, um zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen zu unterscheiden. Kein Mensch, welcher Formeln und Glaubenssätze, einerlei ob in Philosophie oder Theologie, anerkennt, kann ein Forscher nach Wahrheit oder ein unparteiischer Richter über die Meinungen Anderer sein.“

Daß übrigens die Aufklärung der Menschheit durch die Fortschritte in der Wissenschaft nicht verhindert, leider aber, ebenso wie durch die Bevormundung der Schule durch den den naturwissenschaftlichen Unterricht hassenden Clerus, sehr verzögert werden kann, dies beweist recht deutlich die Aufstell[ung][WS 1] des Copernicanischen Weltsystems (die Entdeckung von der [Be]wegung der Erde und dem Stillstande der Sonne), welche obgleich es der mosaischen Schöpfungsgeschichte schnurstra[cks] entgegentrat und den frommen Gläubigen ein großes Aergerniß war – denn sogar Luther äußerte sich über Copernicus: „Der Narr will die ganze Kunst Astronomiä umkehren, aber nach der heiligen Schrift hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht die Erde“ –, endlich doch zur allgemeinen Anerkennung kam, ohne die Menschen dümmer und schlechter gemacht zu haben. Und so wird es auch, und sicherlich schon in kurzer Zeit, der Abstammungslehre ergehen, da die hohlen Phrasen ihrer Gegner nicht stichhaltige Gegenbeweise gegen die Thatsachen dieser Lehre liefern.

Eine kurze Uebersicht des Stammbaumes des Thierreichs (vorzugsweise nach Häckel bearbeitet) möge dem Leser, und ganz besonders dem die Macht und Weisheit eines Schöpfers verehrenden, ein Bild geben, wie sich der Keim alles thierischen Lebens anfangs nur an die einfachsten Organismen knüpfte, wie aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt, und wie schließlich ganz allmählich der Mensch in Folge der Veränderungen an Thieren, die vor ihm existirten, zum Vorschein kam. – Es ist der Magen der Urstammvater fast aller Thiere (mit Ausnahme der niedrigsten oder Urthiere), so wie mittelbar auch der des Menschen. Denn das fast nur aus einem Magen bestehende Urmagen- oder Urdarmthier, die Gastrula, ist es, von welcher vorzugsweise die Entwickelungsreihe im Thierreiche ausging und deren Bauplan (aus Bauplatten oder sogenannten Keimblättern) durch alle Thierclassen hindurch in stetig wachsender Vollkommenheit sich bis zum Menschen vererbt hat.

Forschen wir nach dem Ursprunge dieses als selbstständige Thierart, wie es scheint, ausgestorbenen Urmagenthieres, so dürfte dasselbe wohl durch Urzeugung im sogenannten Urschleime (Protoplasma) entstanden sein und Urthierformen durchlaufen haben. Es stellte die Gastrula, wie sie sich zur Zeit auch noch beim Werden vieler Thiere zeigt (wodurch auch die frühere Existenz einer ebenso gebauten selbstständigen Thierform bewiesen wird nach Häckel’s biogenetischem Grundsatze, siehe Gartenlaube 1873 Nr. 43 und 44), einen Zellenhaufen dar (Zellen sind blüthenartige Klümpchen mit einem schleimigen Innern und einem kernhaltigen Kerne), in dessen Innerem eine Höhle (der Urmagen) mit einer Oeffnung nach außen (dem Urmunde) sich bildete. An der Gastrula sind von der äußersten Wichtigkeit für die weitere Entwickelung des Thierreiches die beiden den Urmagen nach außen und nach innen begrenzenden Zellenschichten (das sogenannte Exo- und Entoderm), welche von nun an bei allen Thieren und auch beim Menschen als sogenannte Keimblätter dem Aufbaue aller Organe zu Grunde liegen.

Als die nächsten der Gastrula entsprossenen Nachkommen nimmt Häckel zwei Thierarten an, von denen die eine sich auf dem Meeresboden festsetzte, das sind die Pflanzenthiere (Schwämme und Nesselthiere, Korallen und Quallen), während die andere die freie Ortsbewegung beibehielt, das sind die Wurmthiere (bestehend aus einer niederen Classe: den Plattwürmern ohne Blut und Leibeshöhle; und einer aus der niederen hervorgegangenen höheren Art: den Ringel-, Rund- und Sternwürmern, den Moos-, Räder- und Mantelthieren). Die höheren Würmer legten den Grund zu vollkommeneren Thieren dadurch, daß bei ihnen ein mittleres Keimblatt (Mesoderm) mit einer Leibeshöhle, ein Herz und das erste Blut entstehen. Die Ringelwürmer werden als Eltern der Gliederthiere (Insecten, Spinnen, Tausendfüßer und Krebse) und der Sternthiere (Seesterne, -Lilien, -Igel, -Gurken) angesehen; von den Moosthieren stammten die Weichthiere oder Mollusken (Muscheln, Schnecken, Kraken oder Tintenfische und Tascheln). Die wichtigste Würmerclasse ist aber die der Mantelthiere, insofern diese den Uebergang von den Wirbellosen zu den Wirbelthieren macht. Bei den Ascidien nämlich, welche zu den Mantelthieren gehören oder auch als Urwirbelthiere bezeichnet werden, finden sich die ersten Spuren der Wirbelsäule (Chorda dorsalis, Rückensaite) und des Rückenmarks (Medullarrohr), ganz in ähnlicher Weise, wie dies bei [9] [all]en Wirbeltieren und auch beim Menschen während des [Em]bryonalzustandes besteht und wie dies bei dem niedrigsten Wirbeltiere, dem fischähnlichen Lanzettthierchen (Amphioxus) zeit[le]bens vorkommt.

Die Wirbelthiere entstammen also einer Wurmart (den [Ma]ntelthieren) und die Ueberbrückung von den Wirbellosen zu den [Wirb]elthieren wird durch die Ascidie und das Lanzettthierchen hergestellt. Innerhalb der Wirbelthierclassen steigert sich nun die Vervollkommnung in folgender Reihe. Auf der niedrigsten Stufe stehen die Schädellosen, welche vom Amphioxus repräsentirt werden; an sie schließen sich dann die fischähnlichen Rundmäuler, welche in der Gegenwart nur durch die Schleimfische und Lampreten (Pricken) vertreten sind und die zur Entwickelung der Fische den Grund legten. Letztere traten zuerst als haifischähnliche Urfische (Selachier) auf, welche nicht nur den Schmelz- und Knochenfischen, sondern auch den zwischen diesen und den Amphibien mitten innestehenden Lurch- oder Molchfischen zur Entwickelung dienten. Diese leben theils auf dem Lande, theils im Wasser und nehmen als Doppelathmer Luft durch Lungen und Wasser durch Kiemen auf. Bis auf wenige (den amerikanischen, afrikanischen und australischen) Molchfische sind sie bereits ausgestorben. Aus ihnen gingen die Amphibien oder Lurche (Proteus, Axolotl, Landsalamander, Wassermolche, Frösche) hervor, aus denen sich dann theils die Reptilien oder Schleicher (Eidechsen, Schlangen, Krokodile und Schildkröten), theils die Säugethiere entwickelten. Dem Landleben angepaßte Reptilien sind die Vögel, von welchen noch eidechsenähnliche Versteinerungen (Flugeidechsen) existiren. – Ein interessantes Beispiel, wie schnell sich Verwandlungen im Thierreiche vollziehen können, bot im Pariser Pflanzengarten der mit äußeren Kiemen im Wasser lebende Axolotl (aus Mexico). Unter Hunderten dieser Thiere krochen nämlich eine kleine Anzahl an’s Land, verloren hier die Kiemen und waren nun von einem kiemenlosen Erdsalamander nicht mehr zu unterscheiden. Aehnliches findet auch bei den Fröschen statt, welche in kurzer Zeit drei Stufen der Verwandlung durchlaufen, zuerst die der Kiemen-, dann die der Schwanz- und schließlich die der kiemen- und schwanzlosen Froschlurche.

Die Säugethiere stehen an der Spitze des Thierreichs und haben sich, wie ihre Entwickelungsart und ihr innerer Bau ergiebt, direct aus den Amphibien (nicht aus den Reptilien) hervorgebildet. Nach der Vollkommenheit des Baues der Säugethierorgane ist die Reihenfolge ihres Auftretens folgende: Die niedrigsten Säugethiere sind die Cloaken-, Schnabel- oder Gabelthiere (mit Cloake und ohne Brustdrüse), an sie reihen sich die Beutelthiere, mit einem Beutel für ihre Jungen (Opossum, Känguruh, Beutelratten), von denen die sogenannten affenfüßigen Handbeutler mit lockerem Daumen in die Halbaffen übergehen, und Placentarthiere, zu denen nun alle höheren Säugetiere gehören, von denen für uns die Halbaffen insofern von der allergrößten Wichtigkeit sind, als aus ihnen die nächsten thierischen Vorfahren des Menschen, die eigentlichen Affen nämlich, hervorgingen.

Die Halbaffen, Lemuriden, welche den heute noch lebenden Loris, Indois und Makis ähnlich sind und von den Handbeutlern stammen, haben mit den eigentlichen Affen keine andere Gemeinschaft, als den Besitz des sehr beweglichen, greifenden, entgegenstellbaren Daumens. Ohne Zweifel haben sich sodann aber die eigentlichen Affen (Platt- und Schmalnasen) aus lemuridenartigen Thieren herausgebildet. Die neuweltlichen geschwänzten Plattnasen (Platyrrhinen) haben plattgedrückte Nasen, so daß die Nasenlöcher nach außen und nicht nach unten stehen, sie besitzen sechsunddreißig Zähne (vier Backzähne mehr als die Schmalnasen und der Mensch) und ähneln noch sehr den Halbaffen und Nagethieren. Die Schmalnasen (Katarrhinen) oder die Affen der alten Welt (Asien und Afrika) besitzen eine schmale Nasenscheidewand und die Nasenlöcher sehen, wie beim Menschen, nach unten, auch haben sie wie dieser nur zweiunddreißig Zähne und den gelben Fleck auf der Sehhaut. Es giebt von ihnen eine geschwänzte, noch dicht behaarte und eine schwanzlose Art. Von letzterer, den sogenannten Menschenaffen oder Anthropoiden, welche die nächste Blutsverwandtschaft mit den Menschen haben und zu denen die noch lebenden Gorillas, Chimpansen, Gibbons und Orang Utangs gehören, wurden ausgestorbene Arten durch Verlust des Schwanzes, die allmählich zunehmende Enthaarung des Körpers (welche übrigens bei den Eingeborenen des Vincent-Golfes und in der Umgebung von Adelaide noch nicht beendigt zu sein scheint), ferner durch die vollständige Angewöhnung an den aufrechten Gang, die Entwickelung der Hände und Beine, sowie des Gehirns und Schädels, zu Affenmenschen oder sprachlosen Urmenschen, diese endlich aber durch weitere Ausbildung des Kehlkopfs, des Gehirns (der Stirnlappen) zum echten sprechenden Menschen. Dieser unterliegt nun gerade so den Entwickelungsgesetzen, der Veränderlichkeit durch natürliche Züchtung und im Kampfe um’s Dasein, sowie durch Vererbung, und der stetigen Vervollkommnung, wie dies bei den Thieren der Fall ist. Es verheißt demnach der Darwinismus dem Menschengeschlecht eine immer menschenwürdigere Zukunft.

Bock.


Die Hauptacteurs im Drama „Arnim“.
Zur Erinnerung.

Er ist in der That ein großes Ereigniß, der Proceß Arnim, denn einem gewaltigen Steinwurfe in’s Wasser gleich, zieht er an der Oberfläche der Gesellschaft seine Kreise über ganz Europa, ja selbst über das Weltmeer hin.

Ich glaube daher den Lesern der Gartenlaube, auch wenn bei Ansicht dieser Zeilen das Schauspiel längst zu Ende gegangen ist, einen nicht uninteressanten Beitrag zur Geschichte dieses Processes zu liefern, wenn ich ihnen noch einmal die Persönlichkeiten vorführe, welche in dem Drama die Hauptrolle inne hatten. Ich entwarf diese Schilderung noch während der Sitzungen des Gerichtshofes und setze selbstverständlich voraus, daß meine Leser über Wesen und Inhalt der Anklage unterrichtet sind.

Es hat kaum zehn Uhr geschlagen, und schon drängt sich in der Reichshauptstadt eine große Menschenmenge zu Fuß und Wagen nach dem Molkenmarkte, dem Herzen unserer Metropole zu. Da, wo im fünfzehnten Jahrhundert der Roland mit blankem Schwerte drohend von der steinernen Säule herabschaute, steht heute das fragwürdige Gebäude, in dessen Innerem die Wage der Themis ihre Schalen hebt und senkt. Wie ein summender Bienenschwarm drängt sich die Schaar der Neugierigen über den kleinen Markt mit seinen düstern Häuserfronten. Equipagen rollen hin und her; Herren in eleganter Kleidung, von vornehmem Gange und mit jenem frostigen Lächeln, das so vielen Mitgliedern der sogenannten guten Gesellschaft eigen ist, steigen aus und eilen rasch dem Stadtgerichte zu. Juristen von Ruf, Literaten, Mitglieder des Reichstags, Professoren und reiche Kaufleute: alle drängen sie sich in buntem Knäuel dem schmalen Eingange zu. Selbst jene Damen der hohen Aristokratie, welche unter der Führung der Baronin Schleinitz einen Bazar etablirten, um dem Wagner-Theater zu Baireuth neue Hülfsquellen zu eröffnen, werden der Jordan’schen Vorlesung seiner Nibelungen-Trilogie untreu und eilen der prosaischen Proceßverhandlung zu. Erhabene Musen, wenn das Wahnfried wüßte! Die auf dem Trottoir vorübergehenden Handwerker und Geschäftsleute schauen aus Neugierde dem bunten Treiben zu; Theilnahme ist auf keinem Gesichte zu lesen. Die Droschkenkutscher sind um der reichen Trinkgelder willen zu Scherzen aufgelegt: „Du, Ehde,“ ruft einer, „mich hat Madai eenen Erlaß unterschlagen, und des unterjräbt meine janze Stellung; et is der Fahrschein. Darnach aberst kräht naturellement keen Hahn.“

„Wende Dir an Bismarcken,“ entgegnet sein struppiger College mit heiserer Stimme, reckt sich aber gleichzeitig in die Höhe, denn eben fährt der Wagen des Grafen Arnim vor.

Auf den Arm seines Sohnes gelehnt, steigt der ehemalige [10] Vertreter unserer Nation aus dem Wagen. Der Graf ist eine schmale, zierlich gebaute Gestalt von müder Haltung; Haar und Bart sind grau, an manchen Stellen weiß; das Gesicht zeigt eine krankhafte Blässe und die mit einer Lorgnette bewaffneten Augen haben keinen besondern Ausdruck. Tizian hat viele Greise gemalt, deren Köpfe an den Grafen Arnim erinnern. Langsam steigt der Angeklagte im Innern des Gebäudes die breiten halbdunkeln Treppen hinauf. Von Freunden und Verwandten umringt, bleibt er oftmals stehen, um einem oder dem andern unter ihnen die Hand zu reichen oder einige Worte an den Betreffenden zu richten. Wohlgefällig lächelnd schweift dabei sein Blick über die Köpfe der Neugierigen. Das Benehmen des Grafen erinnert mich an jene römischen Patrizier, die, wenn sie angeklagt waren, mit möglichst vielen Mitgliedern ihrer Familie und sämmtlichen Clienten auf dem Forum erschienen, um dem Volke, vielleicht auch den Männern auf den curulischen Stühlen zu zeigen, wie gewaltig ihr Einfluß sei.

Großmüthig zeigt sich der Graf auch, wie ein echter Patrizier. Am ersten Tage der Verhandlung ließ derselbe in der rasch improvisirten Restauration neben dem Sitzungssaal eine artige Geldsumme deponiren, um alle Diener und Laufburschen zu erquicken, welche seine Person oder Vertheidiger zu bedienen hatten. Da kamen selige Tage für die schnellfüßigen zerlumpten Jungen aus der Reetzengasse. Ohne das mindeste Vorurtheil vertieften sich August und Fritze in die Caviarbrödchen, befeuchteten dieselben mit Erlanger Bier und wünschten gewiß in ihres Herzens Herzen, Arnim, der Wohlthäter, möge recht oft in die Tinte gerathen, damit sie auf sein Wohl essen und trinken könnten.

Im schmalen Sitzungssaale finden wir etwa hundertfünfzig Personen „eingekeilt in fürchterlicher Enge“. Das Stadtgericht ist rings von Arrestlocalen umgeben. Die kleinen Sitzungssäle liegen an der Vorderseite und gewähren die Aussicht auf den Molkenmarkt; dieselben sind so kahl und nüchtern, wie große Gefängnißzellen. Diese Localitäten stammen aus einer Zeit, wo man der Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens nur einen geringen Werth beilegte. Staaten, welche von der Anschauung ausgehen, daß weise Fürsten sterben, weise Gesetze aber unvergänglich sind, thun alles, was in ihren Kräften steht, um die Majestät der Gesetze zu erhöhen, und dazu gehört vor Allem, daß man recht vielen Bürgern die Möglichkeit gewähre, den öffentlichen Gerichtsverhandlungen beiwohnen zu können. Zum Proceß Arnim wurde nur ein sehr geringer Theil von denen eingelassen, welche den Verhandlungen beizuwohnen begehrten. So kam es denn, daß für die Benutzung von Einlaßkarten ganz beträchtliche Summen geboten wurden.

Pünktlich nimmt der Angeklagte bei der Eröffnung der Sitzungen auf der etwas erhöht stehenden Bank, zur linken Seite des Gerichtes, Platz; die Verhandlungen beginnen.

Den Vorsitz führt der Stadtgerichtsdirector Reich. Dieser Richter ist etwas cholerischer Gemüthsart. Er liebt es gemeinhin, den Angeklagten ernst zu vermahnen, und legt dabei in manchen Fällen eine so große Leidenschaftlichkeit an den Tag, daß der Angeklagte Gefahr läuft, ihn für den öffentlichen Ankläger zu halten. Man denke aber dabei ja nicht an einen donnernden Zeus, von dem sich sagen läßt:

„Und die ambrosischen Locken des Herrschers wallten ihm vorwärts
Von dem unsterblichen Haupt; es erbebten die Höh'n des Olympos.“

Ach, nein! Der Herr Stadtgerichtsdirector ist ein kleiner Herr, von gedrungener Figur, geröthetem vollem Gesicht, dunklen lebhaften Augen und glattem halblangem Haupthaar. Wären die steife Cravatte am Halse und der Ausdruck großer Feierlichkeit im Gesichte dieses Mannes nicht, so könnte man glauben, ein gemüthlicher Niederländer aus einem Gemälde des Adrian von Ostade sei hier lebendig geworden.

Dem Vorsitzenden zur Linken steht in strammer Haltung der öffentliche Ankläger, Staatsanwalt Tessendorf. Bart und Haartracht dieses Mannes erinnern an einen preußischen Landwehrmann; sein Gesicht ist bleich, das Auge hell und grau, sein Blick scharf. Tessendorf erscheint mir als die Verkörperung des straffen preußischen Beamtenthums; er antwortet den Vertheidigern ruhig, aber mit großer Schärfe des Ausdrucks, und wo man ihm Formfehler vorwirft, wird er bitter, fast malitiös. Um einen armseligen Tisch herum sitzen auf wackligen Stühlen die Vertheidiger des Angeklagten, drei an der Zahl.

Da ist zuerst der Professor von Holtzendorff zu nennen, von dem ein französischer Berichterstatter nicht ganz mit Unrecht meinte, er gleiche einem französischen Officier in Civil. Der bei uns wenig gebräuchliche Schnurr- und Knebelbart verleiht ihm ein etwas fremdartiges Aussehen. Herr von Holtzendorff steht im besten Mannesalter, allein sein blondes Haar ist an den Schläfen schon stark von Silberfäden durchzogen; seine Sprache ist nicht allzu deutlich, da er etwas durch die Zähne spricht.

Einen völligen Gegensatz zum Professor von Holtzendorff, der jedenfalls ein besserer Staatsrechtslehrer als glänzender Vertheidiger ist, bildet äußerlich der Rechtsanwalt Dockhorn aus Posen, ein kleiner, behäbig aussehender, fast weißköpfiger Herr mit kurzem Bismarck-Schnurrbart, der sicher zu unsern gewandtesten Dialektikern gehört. Dieser Sachwalter führt eine sehr ruhige, fast salbungsvolle Sprache, allein er erspäht geschickt in den Ausführungen des Staatsanwalts jede Lücke und beutet sie ziemlich energisch aus. Er verschmäht bei Gelegenheit des Zeugenverhörs auch kleine Plänkeleien nicht, allein im Plaidoyer rückt er mit geschlossener Fronte von Position zu Position vor und erreicht eine überzeugende nachhaltige Wirkung.

Rechtsanwalt Munckel, als der Dritte im Bunde, gehört zu unseren genialsten Vertheidigern, wenn er sich auch bei den Verhandlungen einige Reserve auferlegt. Der äußeren Erscheinung nach würde man in diesem Manne eher einen Künstler als den Juristen suchen. Sein dunkelblondes, fast braunes Haar ist lang und wellig; ein dünner Bart umrahmt sein scharf geschnittenes Gesicht. Wäre sein Mund weniger breit, wären seine Backenknochen weniger hervorstehend, so würde er dem berühmten Maler Anton von Werner ähnlich sehen, wie ein Bruder dem anderen. Munckel besitzt ein volltönendes Organ; seine Repliken erfolgen so sicher, wie der Schuß dem Drücker des Gewehres gehorcht, und treffen meist in's Schwarze; seine Plaidoyers zeigen Humor und Sarkasmus. Wo der Gegenstand ihn ergreift, fehlt es ihm nicht an sittlichem Pathos und einer bedeutenden Kraft der Ueberzeugung.

Es läßt sich nicht leugnen, daß der öffentliche Ankläger bei solcher Gegnerschaft einen schweren Stand hatte. Es gehörte in der That viel Scharfsinn und Schlagfertigkeit dazu, bei so starker Bedrängniß die eingenommenen Positionen zu behaupten.

Den Vertheidigern gerade gegenüber und hinter dem Rücken derselben hat man einem halben Hundert Journalisten bescheidene Plätze eingeräumt. Dicht neben der Feder dieser Aermsten, welche unter den bedrückenden Verhältnissen ihre reiche Neuigkeitsernte einheimsen, liegt das Taschentuch; dasselbe ist zum Schweißtuch geworden und bleibt fortwährend in Function. Wenn je ein Held der Feder sein Brod im Schweiße seines Angesichts verdiente, so ist es im Proceß Arnim der Fall. Die Vertreter der feindseligsten politischen Strömungen hocken auf diesen Bänken friedlich kritzelnd neben einander.

Da finden wir zuvörderst Monsieur Périvier, welcher dem „Figaro“ so flott die Austern des Herrn Dressel anpries und dem Frankfurter Reichstagsboten Sonnemann so pikante Rathschläge ertheilte. An der Seite des Herrn von Rochebrune, der sich durch die lebendigen Manieren eines Bonvivants auszeichnet, sehen wir das kluge angelsächsische Gesicht des Correspondenten eines amerikanischen Weltblattes. Dieser eine Mann opfert dem Proceß Arnim mehr Geld für Kabeldepeschen, als der Jahresertrag unserer größten Berliner Zeitungen abwirft. Ein Kranz vornehmer Zuschauer nimmt in dem hintern Theile des Sitzungssaales Platz. Der Saal ist täglich überfüllt, aber selten lassen sich Personen aus dem mittleren Bürgerstande blicken. In glänzenden Uniformen sind vor Allem die zahlreichen Mitglieder der Familie Arnim erschienen; daneben eine Anzahl junger Diplomaten oder solcher, die es werden wollen. Sinaganka, der japanesische Gesandte, wird von der Robe einer eleganten Dame so überdeckt, daß nur das gelbe Gesicht mit den schiefgeschlitzten Aeuglein sichtbar bleibt. Fürst Lichnowski, Baron von Janser, Graf Perponcher und viele andere Träger berühmter Namen oder hoher Aemter erscheinen wiederholt, um dem Gange der Verhandlungen zu folgen. Bei alledem tritt eine intensive Bewegung weder während des Zeugenverhörs noch während des Plaidoyers zu Tage. Die Verlesung der Erlasse des Reichskanzlers ruft das größte Interesse hervor, denn hier treten überraschende Dinge von großer politischer Tragweite zu Tage, während sich das Zeugenverhör um Briefe an Zeitungsredactionen,

[11] Journale und Archivschlüssel dreht, Dinge, welche Aufschluß über die Rechtsfrage oder die Spuren einer politischen Intrigue geben sollen.

Eine hervorragende Bedeutung wird den Aussagen des Grafen von Wesdehlen beigelegt, welchem der Angeklagte gesagt haben soll, er nehme die betreffenden Papiere zu seiner Vertheidigung mit. Der Botschaftsrat gleicht in der äußern Erscheinung einem niederländischen Edelmanne aus der Umgebung Wilhelm's von Oranien. Seine Aussagen sind leise, fast unverständlich. Graf Arnim, der sich wiederholt mit dem Taschentuche über die hohe Stirn fährt, unterbricht den Zeugen, wobei er gegen den Präsidenten gewendet die Bemerkung hinwirft: „Sie entschuldigen, wenn ich so geradezu mit dem Herrn Grafen rede.“ – Der Vorsitzende, welcher unter all' den Diplomaten fast diplomatisch höflich ist, gestattet die Freiheit mit einem oft angewendeten: „Ich bitt' schön.“ Der Angeklagte kommt der etwas dunklen Erinnerung des Botschaftsraths zu Hülfe, worauf dieser seine Aussagen wesentlich modificirt.

Ungleich fester und bestimmter tritt ein anderer Zeuge, der Botschaftsrath Baron von Holstein, auf. Dieser Mann, den das auswärtige Amt eines so großen Vertrauens würdigt, hat chevalereske Manieren, und man empfängt den Eindruck, als werde derselbe Carrière machen. Der Baron deponirt seine Aussagen frank und frei, welche sich in den Augen der Juristen als in moralischer Beziehung sehr gravirend für den Angeklagten gestalten.

Zu den interessantesten Episoden des ganzen Processes gehörte die Confrontirung der Zeugen Reichstagsabgeordneter Braun, Dr. Zehlicke und Bossart. Diese Excollegen von der „Spener'schen Zeitung“ wurden eidlich vernommen, und was der krank und matt auf seinem Stuhle sitzende Zeuge Zehlicke deponirt, daß der Zeuge Braun die Absicht geäußert habe, mit dem Angeklagten in Verbindung zu treten, bezeichnet Dr. Braun mit dem Gesichte eines gut aufgelegten Satyrs als unwahr und zeiht in ziemlich starken Ausdrücken seinen Excollegen der Indiscretion. Bei den widersprechenden Aussagen dieser drei Zeugen fliegt ein sardonisches Lächeln über das Gesicht des Grafen Arnim; bald darauf geräth er jedoch in große Aufregung, als der Unterstaatssecretär Bülow, ein behäbiger Mann mit schwarzem Haare und Bart, hinkend auf dem Zeugenplatze erscheint und erklärt, der Bericht des Angeklagten sei ironisch gehalten gewesen. Zum ersten Male wird der Graf Arnim heftig; er unterbricht in großer Erregtheit den Zeugen und ruft: „Sie haben nicht das Recht, mir eine Arglist unterzuschieben.“

Eine elegische Stimmung herrschte nur einmal im Saale: es war in jener Minute, als der Angeklagte das Schlußwort ergriff, um zu bemerken, daß für ihn die sogenannten Conflictsacten nicht ein Actenbündel im gewöhnlichen Sinne des Wortes seien, sondern ein Grab, in welchem seine von frühester Jugendzeit an bestandenen Freundschaftsverhältnisse ein Ende gefunden. Wenn man sich vergegenwärtige, was alles darin enthalten wäre, so müsse man wohl glauben, daß er sich habe für berechtigt halten können, diese Schriftstücke als sein Eigenthum anzusehen.

Durch diese mit bebender Stimme gesprochenen Worte trat für jeden Hörer der überraschende Umstand zu Tage, daß ein im Staatsdienst grau gewordener Diplomat sich über den Charakter des Reichskanzlers, den er als Jugendfreund bezeichnete, so gründlich täuschen konnte.

Als Bismark in den dunklen Hades deutscher Kleinstaaterei, hinabstieg, um die Eurydike-Germania heraufzuholen, that er das nicht als ein lyrisch gestimmter Orpheus, der in zärtlicher Besorgniß seine Blicke rückwärts schweifen läßt, sondern er packte die Abhandengekommene mit eiserner Faust, schleifte sie gewaltsam durch die stygischen Gewässer der Olmützer Verträge und den unsaubern Kocytos der napoleonischen Politik. Der wenig scharfsinnige Diplomat hätte doch wohl einsehen können, daß einen solchen Mann von Eisen weder die Sirenenstimmen der Jugend, noch das Toben der Unterwelt zum Rückwärtsblicken bringen konnten. Wer es versuchte, seinen Weg zu kreuzen oder ihm Steinchen unter die Füße zu werfen, der gerieth einfach unter die Absätze seiner hohen Kürassierstiefel. Wie sich aus den Verhandlungen erkennen läßt, stand Graf Arnim zwei Jahre lang hindernd in des Reichskanzlers Bahnen. Dieser hatte, als die Enthüllungen Lamarmora's im vorigen Jahre im Landtag zur Sprache kamen, dem Himmel gedankt, daß solche Dinge in Deutschland unmöglich seien, darüber durfte sich also der Angeklagte keiner Täuschung hingeben, daß ihn der ehemalige Jugendfreund mit oder ohne Vertheidigungswaffen beseitigen würde, sobald auch nur der Schatten eines Beweises auf ihm haften bliebe, als wolle er eine ähnliche Rolle in Deutschland übernehmen, wie sie Lamarmora in Italien spielte. Und jeder Staatsmann, der seinen großen Zielen energisch entgegenstrebt, würde in gleicher Weise vorgehen.

Der Rechtsanwalt Dockhorn versuchte es, am Schlusse seines Plaidoyers eine Analogie zwischen seinem Clienten und dem vor fünfundzwanzig Jahren in demselben Sitzungssaale, auf derselben Anklagebank befindlichen Waldeck nachzuweisen, und stellte dem ersteren eine gleiche Genugthuung in Aussicht, wie sie dieser Volksmann erfahren habe. Nicht mit Unrecht bemerkte hierauf der Staatsanwalt mit kaum verhehlter Ironie, daß ein Anknüpfungspunkt an den Proceß Waldeck nur insofern vorhanden sei, als derselbe in den gleichen Räumen stattgefunden habe, und setzte mit der Bestimmtheit eines erfahrenen Auguren hinzu, daß er an die Freisprechung des Angeklagten nicht glaube.




Heute ist bereits das Urtheil gefällt; es verurtheilte den Grafen Arnim zu drei Monaten Gefängniß. Bleich und tief ermüdet hörte der Angeklagte seine Verurtheilung an, doch athmete er sichtlich auf, als ihn der Schluß des Erkenntnisses von der Urkunden-Unterschlagung und dem Amtsvergehen freisprach und nur des Vergehens wider die öffentliche Ordnung schuldig erklärte. Dem Staatsanwalt schien das milde Urtheil fast etwas unerwartet zu kommen; er sah bei der Verlesung weder auf den Verleser des Erkenntnisses, Stadtgerichtsdirector Reich, noch auf den Angeklagten und hörte wohl nur mit halbem Ohre hin. Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich übrigens, daß ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Fall Waldeck und dem Fall Arnim waltet. Als Waldeck sein Urtheil erwartete, befand sich das preußische Volk in fieberhafter Erregung; ein Sturm ging durch das ganze Land und wühlte alle Schichten der Bevölkerung in gleichem Maße auf. Die Spitzel der Reaction hatten mit dem „Bubenstück“ an das Herz des Volkes gerührt; Waldeck's Sache war seine Sache, und als der einfache Volkstribun in Freiheit gesetzt war und auf dem Molkenmarkt erschien, jauchzte ihm halb Berlin entgegen und das preußische Volk athmete erleichtert auf.

Der Proceß Arnim erregte die Neugierde der weitesten Kreise, setzte ganz Frankreich in Bewegung, aber eine große Theilnahme sucht der Unterliegende vergebens unter den Spitzen der Gesellschaft, während bei dem Volke der Proceß fast vergessen war, noch bevor das Urtheil verkündet wurde. – Im Interesse unseres durchaus noch nicht gefesteten deutschen Reiches muß man aber wünschen, daß derartige „Vergehen wider die öffentliche Ordnung“ nicht wieder vorkommen mögen, da sie bei weniger aufmerksamer Beaufsichtigung leicht nach innen und nach außen Verwirrung und Verderben im Gefolge haben könnten.

R. E.




Ein Herz auf dem Thron.


Wer in unseren Tagen des erneuten Kampfes zwischen „Reich“ und „Kirche“, „Kaiser“ und „Papst“ vergleichende Blicke in die deutsche Vergangenheit wirft, dem wird vor allen Anderen Kaiser Joseph's Bild entgegen treten: er war der edelste Märtyrer auf dem Throne für das Bestreben, durch jene alleinrettenden Güter des Geistes und Herzens seine Völker zu beglücken, nach denen sie, nach seinem Tode abermals von den Netzen des schlimmsten politischen Systems umstrickt und umnachtet, noch heute, aber nicht mehr hoffnungslos, ringen. Wir halten es daher für unsere Pflicht, heute wieder den theuren Namen zu nennen. Die Gelegenheit dazu lassen wir uns von einem trefflichen Gemälde „Der Kaiser auf dem Sterbebette“

[12]

Die letzten Augenblicke Kaiser Joseph des Zweiten.
Nach dem Oelgemälde von Professor Conräder in München.

von Professor Conräder bieten, das in München, London und Wien Bewunderer fand und gegenwärtig die sehr zeitgemäße Runde durch Oesterreich macht; freilich darf man von unserem Artikel hierzu nicht eine Lebensgeschichte Joseph's des Zweiten erwarten, sondern nur einige Charakterzüge desselben, wie der beschränkte Raum unsres Blattes sie allein uns gestattet.

„Ich liebe mein Vaterland und bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein“ – so schrieb vor bald hundert Jahren dieser Fürst, den das ihn anbetende Volk, abweichend von dem officiellen schwulstigen Kanzleistile, den „Kaiser der Deutschen“ nannte, und den die studirende Jugend in schönem Traume, der sich nur zu lange nicht erfüllen sollte, mit dem unsterblichen, weihevollen Liede des „Landesvaters“ feierte. Joseph der Zweite von Habsburg-Lothringen, viel zu früh geboren und gestorben für seine Zeit, an deren Unfähigkeit, seine Ideale zu fassen und ertragen zu können, sein edles Herz brach, war einer jener seltenen Charaktere der Geschichte, welche der Geist des Schönen, Guten und Wahren über die Jahrhunderte so sparsam ausgestreut hat, daß sie gewissermaßen den Weg zur Zukunft weisen sollten. Er gehört zu den seltenen Naturen, welche inmitten einer trockenen, materiellen, selbstsüchtigen Umgebung die Kraft und den Muth haben, für die höchsten Güter der Menschheit einzustehen, dessen erhabenes Wollen und Streben aber erst eine spätere Zeit völlig zu verstehen fähig war.

Die Geburt Kaiser Joseph's fiel in eine für Oesterreich verhängnißvolle und traurige Periode, denn als mit Kaiser Karl dem Sechsten das alte Haus Habsburg im Jahre 1740 ausstarb, erhob der Kurfürst von Baiern Anspruch auf die Habsburger Erbschaft, und im Norden Deutschlands gelangte in demselben Jahre ein König zur Herrschaft, welcher Schlesien von Oesterreich abriß. Inmitten dieser wilden [13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Stürme erblickte Franz’ und Maria Theresia’s Erstgeborener, Joseph, das Licht der Welt. Oesterreichs sprüchwörtliches Glück bewährte sich damals, indem der Staat bis auf die Verluste an Preußen, erhalten blieb; der Gemahl der Theresia erhielt sogar noch die Kaiserkrone. Es hat sie nicht leicht ein ungeeigneterer Mann getragen, als dieser Speculant, der sich, wie wenigstens Friedrich der Große erzählte, nicht scheute, im Siebenjährigen Kriege der Armee, mit welcher seine Gattin im Kriege stand, die Fourage zu liefern, während er der Regentin Oesterreichs (hier blieb er blos Mitregent) Geld zur Kriegführung vorschoß. Und solch einer Mammonsseele Sohn war der hochstrebende, ideale Joseph? Das Räthsel löst sich, wenn man erfährt, daß Franz auch seine guten Seiten hatte. Er beschützte Kunst und Wissenschaft, war auch wohlthätig und hülfreich und in Religionssachen tolerant, was seine Gattin nicht war.

Joseph erhielt eine äußerst sorgfältige Erziehung, die aber zu pedantisch und trocken war, als daß sie seinem Geiste angemessen sein konnte. Kaiser Franz schrieb zu dem Unterrichtsplane eigenhändig: „Es soll meinem Sohne Joseph die Historie so tractiret werden, daß die Fehler und die bösen Thaten der Regenten so wenig als ihre Tugenden und das Gute, so sie gethan haben, verschwiegen werden,“ und nun mußte Joseph in der Geschichte fünfzehn dicke Folianten durcharbeiten; aber der künftige Monarch erhielt doch eine ziemlich allseitige Bildung und erwarb sich unter Anderen vollständige Beherrschung der französischen, italienischen, lateinischen, böhmischen und ungarischen Sprache. – „Hatte er schon,“ so sagt einer seiner Biographen, „als Knabe wegen seiner Munterkeit, seiner Lebensfrische und Offenheit, die das Herz immer auf dem Munde trug, für die freundlichste Erscheinung am Hofe gegolten, so ward er als heranreifender Jüngling.

[14] zumal er sich einer strotzenden Gesundheit zu erfreuen hatte, wegen seiner sich überall kundgebenden Menschenfreundlichkeit und Aufgewecktheit, sowie wegen seines geistvollen Witzes, der sich selbst bisweilen in schalkhaften Jugendstreichen äußerte, die schönste Zierde des ganzen Hofes.“

Der siebenjährige Krieg fand den Erzherzog Joseph als fünfzehnjährigen Jüngling und als eifrigen Bewunderer des Gegners seines Staates, des großen Friedrich; aber er erweckte auch seine Vaterlandsliebe und seine Lust, selbst die Waffen zu ergreifen. Die besorgte und energische Mutter verhinderte dies jedoch und bannte ihn dafür in die Fesseln der Ehe; der neunzehnjährige Joseph feierte seine Vermählung mit der von ihm innig geliebten Isabella von Parma aus dem Hause Bourbon. Schon nach drei Jahren endete der Tod der jungen Frau das schöne Glück, und nach sieben Jahren folgte ihr Joseph's einziges Kind, eine Tochter. Nachdem er 1764 zum „römischen König“ gekrönt worden war, erfolgte seine zweite Vermählung; aber es war eine unglückliche Wahl, die er diesmal traf – Maria Josepha von Baiern, Kaiser Karl's des Siebenten Tochter. Auch sie ward eine Beute der Blattern, und die unglückliche Ehe endete schon nach zwei Jahren.

Konnte Joseph sich auch nicht zu einer dritten Vermählung entschließen, so empfand er doch das Bedürfniß des geselligen Umgangs mit Frauen von Geist und Anmuth, und bald fand er auch einen solchen Kreis, wie ihn sein Herz nur wünschen konnte. Es ist bekannt, daß Maria Theresia es wie wenige Machthaber verstand, den höchsten Adel ihres Reichs an ihre Person und dadurch an ihren Hof und ihr Haus zu fesseln. Die ehedem störrigsten Magnaten und Dynasten beugten sich vor der Schönheit und Würde der Kaiserin; den Frauen schmeichelte die Macht der hohen Frau, und so vereinigte die Wiener Hofburg damals Alles, was das Reich der Herrscherin an Glanz und Pracht, aber auch an Geist und Bildung der vornehmsten und reichsten Geschlechter aufzuweisen hatte. Als Perlen dieses strahlenden Kranzes galten die schwäbischen Prinzessinnen Oettingen, Leonore und Leopoldine, jene als Fürstin Liechtenstein, diese als Gräfin Kaunitz vermählt, ferner ein zweites Schwesternpaar, die Fürstinnen Clary und Kinsky, und eine Fürstin Leopoldine Liechtenstein.

Dieser Kreis erlangte bald als „die Gesellschaft der fünf Damen durch den Verkehr mit Joseph sogar eine gewisse Berühmtheit in jenen Tagen. Alle wohnten in dem von der Schenkengasse und Freiung gebildeten aristokratischen Viertel nahe bei einander und kamen jede Woche drei- bis viermal zusammen, gewöhnlich in den Abendstunden von acht bis zehn Uhr. Weder Kartenspiel noch musikalische Dilettanterei wurde da getrieben, sondern nur anregende edle Unterhaltung, wobei die Damen, in der Regel in ganz einfacher Haustoilette, mit Handarbeiten beschäftigt waren. Am innigsten fühlte Joseph sich zur Fürstin Leonore hingezogen, so daß er ihr einmal gestand: „Ich betrachte Sie wie meine Frau; ich habe dieses Gefühl für Sie; man ist nicht verliebt in seine Frau, aber ich habe Interesse für Alles, was auf Sie Bezug hat.“ In diesen Kreis durften Joseph nur seine beiden treuesten Freunde, der Feldmarschall Lascy und der Oberstkämmerer Graf Rosenberg begleiten. Hier erlebte er seine glücklichsten Stunden, ja der letzte Brief von seiner Hand ist an diese fünf Damen gerichtet, und darum durften wir wohl der Erinnerung an diesen edlen und reinen Kreis hier eine besondere Beachtung widmen.

Inzwischen hatte er nach des Vaters plötzlichem Tode 1765 die deutsche Kaiserkrone erlangt, nicht aber die Herrschaft der österreichischen Lande, welche seine Mutter nicht aus den Händen gab, so lange sie lebte. Dennoch fand sein hoher Geist bald Mittel und Wege, sich dem Vaterlande nützlich zu machen. Seine Wirksamkeit als Mitregent begann er damit, daß er zweiundzwanzig Millionen an Staatspapieren, die er von seinem Vater geerbt, verbrennen ließ und so dem Staate diese Summe schenkte. Den italienischen und französischen Schauspielern am Hofe gab er den Laufpaß, schaffte die besonderen Hofstaatsheere der einzelnen Prinzen und Prinzessinnen ab, welche nun mit dem Kaiser und der Kaiserin, gleich einer rechtschaffenen bürgerlichen Familie, an einer Tafel speisten, und so schnitt er noch manchen häßlichen, aus der Zeit der frühern spanischen Etiquetten- und Grandezza-Spielerei stammenden Hofzopf mit kühner Hand ab und vernichtete manche bureaukratische Ungeheuerlichkeit im Staatsdienste. Dabei lebte er selbst in höchst einfacher, beinahe spartanischer Weise; „seine Kleidung war die eines gemeinen Soldaten und seine Garderobe die eines Unterlieutenants.“ Fleißig bereiste er die zerstreuten Provinzen des österreichischen Staates, und zwar incognito, unter dem Namen eines Grafen von Falkenstein. Auch im Reiche legte er Hand an veraltete Mißbräuche, soweit dies möglich war, und wagte es, an dem faulen Schlendrian des Reichskammergerichts und des Reichshofrathes kräftig zu rütteln. Sogar nach Rom ging er ebenfalls incognito, wurde aber, als man ihn erkannte, dort von dem Volke als „Römischer Kaiser“ und von den zum Conclave versammelten Cardinälen als „Beschützer der Kirche“ begrüßt.

Damals traf er dort unter den Würdenträgern der Kirche Einen, der nicht den Purpur, sondern „als armer Priester“ das schwarze Kleid des heiligen Franciscus trug. Und dieser bescheidene Mann ging aus der Wahl als Papst hervor. Der Name, den er sich beilegte, war Clemens der Vierzehnte, und die That, welche ihn weltberühmt machte, war die Aufhebung des Jesuitenordens.

So hatten sich der reformatorische Kaiser und der reformatorische Papst in die Augen gesehen; aber Jeder von ihnen kam für seinen schon verdorbenen Wirkungskreis zu spät und für seine Zeit zu früh; Beiden kostete der Verdruß und die Aufregung, welche mit ihrer Wirksamkeit verbunden war, allzufrüh das Leben, und Beiden folgte bitteres Mißlingen ihrer Pläne und noch schlimmere Rückkehr der Mißverhältnisse, welche sie zu beseitigen unternommen hatten. Wie sehr stachen dagegen die Zusammenkünfte ab, welche bald darauf, einmal zu Neisse in Schlesien, und dann in Mährisch-Neustadt, zwischen dem jugendlichen Vertreter eines alternden und dem alternden eines jugendlichen Staates statt fanden; da trafen sich die beiden größten Monarchen ihrer Zeit als gegenseitige Verehrer und schieden als beste Bundesgenossen für lange Zeit. Von Joseph hörte man damals den Ausspruch: „Für Oesterreich giebt es nun kein Schlesien mehr,“ und Friedrich der Zweite schrieb über ihn: „Ich bin in Mähren gewesen und habe den Kaiser besucht, der im Begriffe steht, eine große Rolle in Europa zu spielen. Er ist an einem bigotten Hofe geboren und hat den Aberglauben abgeworfen: er ist im Prunk erzogen und hat einfache Sitten angenommen; er wird mit Weihrauch umwölkt und ist bescheiden; er glüht vor Ruhmbegierde und opfert seinen Ehrgeiz der kindlichen Pflicht auf, die er in der That äußerst gewissenhaft erfüllt; er hat nur Pedanten zu Lehrern gehabt und doch Geschmack genug, Voltaire's Werke zu lesen und ihr Verdienst zu schätzen.“ Trotz dieser, wie man am Aufbau des ganzen Satzes sieht, von Friedrich am höchsten angeschlagenen Anerkennung Voltaire's, war Joseph doch deutscher Mann und Fürst genug, um auf seiner französischen Reise denselben nicht zu besuchen und ihn so für die rücksichtslose Aufdringlichkeit seiner Eitelkeit zu bestrafen. „Ich habe seine Bildsäule schon gesehen,“ erwiderte er auf die Einladung zu demselben.

Aus vollem Herzen sympathisirte Joseph mit der Aufhebung des Jesuitenordens, und während Friedrich der Große aus Opposition gegen das Papstthum die Jesuiten schützte, wurde Joseph zum Mittelpunkt der ganzen damaligen Agitation für eine Verbesserung der katholischen Verhältnisse durch die Regierungen, und dieses System erhielt sogar seinen Namen, den es heute noch trägt: Josephinismus. In diesem Streben unterstützte ihn ein Mann, der ebenso eifrig und thätig auch für eine Reform des deutschen Theaters wirkte und mit dessen Beirath der Kaiser das Burgtheater in Wien als „Nationaltheater“ gründete – der Reichsfreiherr Joseph von Sonnenfels.

Als in Frankreich der Gatte seiner schönen und nachher so unglücklichen Schwester Maria Antoinette den Thron bestieg, soll Joseph die Hoffnung gehegt haben, durch sie der Politik seines Hauses in Frankreich Vorschub zu leisten. Seine Reise nach Frankreich war ein Glanzpunkt seines Lebens, ein Triumphzug, nicht minder im glänzenden Paris und Versailles, wie in den einfachen deutschen Dörfern, die er passirte. Ebenso glänzend war bald darauf seine Reise zum Besuche der nordischen Semiramis an der Newa.

Im Jahre 1780 starb die „Kaiserin“, und Joseph wurde Selbstherrscher der habsburgischen Erblande. Fünfzehn Jahre [15] lang hatte er seine liebsten Wünsche und höchsten Pläne in seiner Brust zusammenpressen müssen: konnte es nun anders kommen, als daß sie in unbändigem Sturm und Drang hervorbrachen? Alles aber diente der Förderung seines Hauptbestrebens, sein Reich mit den so verschiedenartigen Bestandtheilen zu einem gleichartigen zu verbinden, und zwar durch die deutsche Sprache. Sie sollte die Universalsprache desselben werden. „Ich bin der Kaiser des deutschen Reichs,“ schrieb er an einen Ungarn; „dem zu Folge sind die übrigen Staaten, die ich besitze, Provinzen, die mit dem ganzen Staate in Vereinigung einen Körper bilden, von dem ich das Haupt bin.“

Sofort begann er mit der Durchführung dieses Gedankens. Damit stand in engem Zusammenhange die Verbesserung des Schulwesens und die Fortführung seiner religiösen (josephinischen) Ziele. Unsere Leser erlassen uns wohl die Anführung aller reformatorischen Thaten Joseph's. Der Jubel aller Freunde des Fortschritts und der Aufklärung feierte ihn, wie ihn das Gift der Finsterniß bespritzte, als er es sogar wagte, in dem hyperkatholischen Oesterreich den größten Theil der Klöster aufzuheben: in acht Jahren siebenhundert solcher Nester mit über dreißigtausend Nichtsthuern und Nichtsthuerinnen. Papst Pius der Sechste, Nachfolger des Züchtigers der Jesuiten, reiste selbst nach Wien, um dem „hereinbrechenden Verderben seiner Kirche“, wie er glaubte, Einhalt zu thun. Aber er konnte deutlich sehen, was er erreichen würde, als der originelle Kaunitz die Hand, die er ihm zum Kusse reichte, derb schüttelte und Joseph das Hochamt nicht besuchte, bei dem er um eine Stufe tiefer sitzen sollte als der Papst.

Der Besuch war fruchtlos, und Joseph's Reformen gingen wacker vorwärts. Als Letzterer das Erzbisthum Mailand als Landesherr nach seinem Gutdünken besetzte, stand ein Bruch zwischen Kaiser und Papst bevor. Joseph beabsichtigte dies auch insofern, als er sein Reich ganz von der römischen Oberherrschaft in Kirchensachen trennen und den Staat an die Stelle des Papstes setzen wollte. Dies durchzuführen begab er sich selbst nach Rom, begnügte sich dann aber mit dem Wahlrecht der Geistlichen in der Lombardei, das der Papst ihm überließ. Das war der Anfang der Reaction gegen seine Schöpfungen. Bald griff in Ungarn die Empörung der fremden Nationalitäten und der eifrigen Katholiken gegen die Oberhand des deutschen Elementes und die religiöse Toleranz um sich. Später folgten die flämisch-wallonischen und stark katholischen Niederlande, deren Austausch an das pfälzische Wittelsbacher Haus gegen Baiern ihm nicht gelungen war, mit vollendeter Revolution, Hand in Hand mit der gleichzeitigen französischen, bis zum völligen Abfalle von Oesterreich. Auch der Plan einer Theilung der Türkei mit Rußland, den er mit Katharina zu Cherson besprach, wo nach der Thor-Inschrift der Weg nach Constantinopel ging, hatte keine andere Folge als einen gemeinschaftlichen, aber fruchtlosen Türkenkrieg, an dem Joseph selbst Theil nahm und bei dem er sich durch Klima und Beschwerde – den Tod holte.

Verzweifelnd an der Zukunft seiner Schöpfungen, erließ der Kaiser vom Todenbette die Aufhebung seiner auf Ungarn bezüglichen Reformen mit Ausnahme des Toleranz-Edictes und damit die Herstellung der Unabhängigkeit Ungarns; dies hielt im Lande auf ein halbes Jahrhundert den Fortschritt zurück. Unter Stürmen des Aufstandes im Westen und dem Scheitern seiner Hoffnungen im Osten nahte seine letzte Stunde. Am 12. Februar 1790 nahm er von seinem Neffen und zweiten Nachfolger Franz – es war dessen Geburtstag – Abschied, an den folgenden Tagen von seinen bewährten Kriegshelden Laudon, dem gefeierten Eroberer von Belgrad, und dem alten treuen Haddik, von der Gattin seines Neffen, Elisabeth von Württemberg, die er zärtlich liebte und die noch vor ihm an den Folgen einer Niederkunft starb, weiter von dem Feldmarschall Lascy, dem Oberkammerherrn Graf Rosenberg und dem Oberstallmeister Graf Dietrichstein. Am 19. Februar hatte Joseph noch Staatsgeschäfte besorgt; am Morgen des 20. Februar fühlte sein Leibarzt Störk beinahe keinen Puls mehr. Er erwähnte des Beichtvaters, den der Kaiser nun eintreten hieß. Er mußte ihm aus seinem Gebetbuche vorlesen. Als er an die Stelle kam: „so bleiben nun Glauben, Hoffnung und Liebe“, – sprach der Kaiser das Wort „Glauben“ mit fester Stimme nach, dann „Hoffnung“ mit leiser und endlich „Liebe“ mit warmem inbrünstigem Gefühle. Dann sagte er zum Beichtvater: „Nun ist es genug. Dieses Gebetbuch brauche ich nun nicht mehr. Ich schenke es Ihnen.“ Seine letzten Worte waren: „Ich glaube, meine Pflicht als Mensch und Fürst gethan zu haben.“ Gegen halb sechs Uhr früh gab er seinen Geist auf.

Unser Bild zeigt als geschichtliche Gestalten zur Rechten des Sterbebettes den alten Marschall Laudon, auf den Stock gestützt, neben ihm den Marschall Lascy und den ungarischen Grafen Batthiany. Vor dem Bette hingesunken eine der „fünf Damen“, die Gräfin Kinsky, und auf dem Sessel im Vordergrunde sein einundzwanzigjähriger Neffe, der spätere Kaiser Franz. Zur Linken steht das weinende Hofgesinde der Burg; selbst ein alter Ungar im nationalen Pelzkleide ist mit seinem Enkel von der Pußta herbeigeeilt; sinnig deutet der Künstler durch die hereindrängenden Massen im Vorzimmer auch den Schmerz des Volkes über das Hinscheiden des geliebten Herrschers an. Mit Joseph dem Zweiten starb einer der sehr wenigen „römisch-deutschen“ Kaiser, welche ein Herz für das Volk hatten.




Am Grabe eines Märtyrers.


Allenthalben in Deutschland sind den Opfern des blutigen Kriegs gegen Frankreichs Uebermuth und Rheingrenzengelüst pietätvoll Denkmale errichtet, auserwählte, von der Liebe und Bewunderung des Volkes mit immer frisch erneuten Blumen geschmückte Ruhestätten angewiesen worden, denn es ehrt seine großen Todten, vor Allen, die für seine Sache starben. Nirgends aber ist dies in so schöner, so wahrhaft sinniger Weise geschehen, wie auf dem Friedhofe von Darmstadt, einer Stadt, deren Bürgerthum trotz Schranzenluft und transrhenanischem Pfaffenwind immer die Fahne der Freiheit und des einigen Deutschthums hoch gehalten hat. In langen Reihen, mehrfach hintereinander, liegen dort begraben alle die wackeren Streiter, welche, auf den blutigen Schlachtfeldern vom Feindesboden aufgelesen, in's Vaterland gebracht wurden, um zu sterben mit dem Bewußtsein, ihr Leben für eine heilige Sache hingegeben zu haben und in der heimischen Erde eines großen, einigen Deutschlands zu ruhen für immer. Jedes Grab schmückt gleichförmig ernst ein großes eisernes Kreuz mit einfacher Inschrift, und wahrhaft erschütternd wirkt die Zahl der deutungsvollen Malzeichen in ihrer feierlichen Trauerfarbe. Alle diese Gräber aber sind mit feinfühliger Wahl auf eine Stelle verlegt, wie man sie eindrucksvoller kaum im ganzen deutschen Reiche hätte finden können. Denn sie befinden sich unmittelbar hinter einem einfachen Monument, das ihnen voransteht, wie ein Feldherr dem Heere. Es ist ein schlichtes Kreuz, von der Zeit schon mit ihrem Roste besprengt, aber jährlich hängt an ihm am 23. Februar ein Kranz von Immortellen und frischen Rosen, häufig stehen weißbärtige Männer vor ihm in tiefen Gedanken und richten fragende Blicke nach den unmittelbar dahinter soldatisch gereihten eisernen Kreuzen, die den Grabhügel derer schmücken, denen sie nicht mehr an die tapfere Brust hatten geheftet werden können. Der aber hier als ihr vorangegangener Führer schlummert, er hat für das gleiche Gut gekämpft und sein Herzblut vergossen, wie sie, nur in anderer Lage und in anderer Zeit. Das ist der ganze Unterschied. Freilich, er fiel nicht unter dem Schalle der Siegestrompeten auf der freudigen Wahlstatt, sondern in enger Haft des Körpers und des Geistes, nicht durch ein fränkisches Blei, sondern durch die eigene Hand, ein zu Tode Gequälter. Aber er war so tapfer und groß, ja größer, wie Jene dort hinter ihm, und es ist ihm Genugthuung geworden, spät doch voll: er steht als General an ihrer Spitze, wenn auch nur im Tode. Was sie erkämpften, das war sein Kampf, was sie errangen, sein Ziel; wofür sie starben, dafür starb er. Freilich schmückte kein Lorbeer seinen Sarg, und das Kreuz, welches ihm treue Verehrer setzten, verstümmelte der Verräther Jammerangst vor dem bloßen Namen, den es deckte; dieser Name aber heißt: Friedrich Ludwig Weidig.

[16] Wer von den Alten unserer Zeitgenossen zurückblickt in die zwanziger und dreißiger Jahre, den muß es fröstelnd überlaufen. Was war das für eine Zeit! Das freie Wort verpönt, die Körperübung als Keim des Hochverraths betrachtet, der Geist der Lehre in spanische Stiefel eingeschnürt – überall Demagogenriecherei, Denunciantenthum, hündische Demuth. Wenn ein paar lustige Handwerksbursche im „German house“ zu London oder im „Storch“ zu Biel ihre harmlosen Bundeslieder, etwa: „Zweiunddreißig, dreiunddreißig, nehmet Euren Kopf in Acht! – oder: „Fürsten zum Lande hinaus, jetzt kommt der Völkerschmaus“ gesungen hatten, ohne wahrhaftig etwas dabei zu denken, gleich wurden hochnothpeinliche Tribunale errichtet im ganzen lieben deutschen Reiche, und die Häscher gingen einher auf den Straßen, wie des Scharfrichters Knecht mit dem Lasso für die herrenlosen Hunde. Heilige Gerechtigkeit, wie viel junges edles Blut hat damals vertrauern müssen im Schatten hinter Schloß und Riegel, welche starke Charaktere, große Talente sind da gebrochen worden um eine läppische Kinderei, um ein Endchen dreifarbiges Band, für nichts und wider nichts! Man darf wahrlich nicht daran zurückdenken in unseren etwas aufgeklärteren Zeiten, sonst quillt die Galle auch in dem schon etwas vertrockneten Organismus, und es ballt sich die Faust mit dem bewußten Verdict: So 'was läßt man sich denn doch nicht mehr gefallen.

Die kleinen deutschen Universitäten wurden durch die schwarzen Brillen der Angstmeier und Schmalzgesellen von oben herab stets als Stätten permanenter Pulververschwörungen betrachtet. Die Jugend war aus der miserablen Wirklichkeit in's Reich der Ideale geflüchtet und suchte hier ihrem Drange nach Thaten Luft zu machen in dem Aufbau schillernder Phantasmagorien, welche ebenso reizend wie ganz und gar unhaltbar waren. Wer sich in die Geschichte jener politischen Studentenbewegungen vertieft, der wird fortwährend lächeln müssen, aber mit einer Thräne im Auge. Nächst Jena ist es hauptsächlich Gießen gewesen, wo das Feuer der Einheit und Freiheit des deutschen Vaterlandes am enthusiastischsten unter der Asche schwellte. Hier lebten und wirkten die Snell, Hundeshagen, die Brüder Follen, Georg Büchner, Gladbach, Bansa und Andere, umgeben von einem zahlreichen Kreise junger, feuriger Anhänger, sie standen in Verbindung vorzugsweise mit den Marburgern – unter ihnen hervorragend Jordan, der später so viele Dichterfedern in Bewegung gesetzt, aber keinen Schlüssel für seine Ketten – dann mit den Männern der Bewegung vom Rhein und Main, den Welcker, Graf Bentzel-Sternau, Rotteck, Uhland, Wirth, Itzstein, Döring, Bunsen und mit noch manchen Anderen da und dort in Deutschland. Nicht weit entfernt von Gießen liegt die kleine hessische Stadt Butzbach. Sie galt damals für einen Hauptherd revolutionärer Zündstoffe, ja sogar für den Mittelpunkt der dumpfhinrollenden Erschütterung, welche die Mächtigen stetig unter den Füßen zu spüren vermeinten – und zwar aus dem Grunde, weil in der Mitte ihrer Bürgerschaft ein Mann lebte, dessen Geist, Tugend und Thatkraft ihn zu einem der Besten unserer Zeit stempeln, der, von feuriger Vaterlandsliebe beseelt, von seinen Mitbürgern begeistert, geliebt und zugleich von energischem, opferfreudigem Charakter, allezeit bereit war, das eigene Ich hinzuwerfen zum Besten der Menschheit.

Dieser allgemein verehrte, weithin gekannte Mann hieß Friedrich Ludwig Weidig. Er war ein Kind des grünen Waldes, geboren am 15. Februar 1791 in dem oberhessischen Dorfe Obergleen bei Alsfeld; sein Vater, ein gebildeter und energischer Charakter, war Oberförster und leitete die Erziehung des Knaben selbst, bis er nach dem Städtchen Butzbach versetzt wurde, woselbst er sie zum Theil in die Hände trefflicher Lehrer legen konnte. Butzbach hat, wie gesagt, in allen Zeiten als ein „Nest des Liberalismus“ gegolten; es herrscht dort durchgehends ein gewisser Wohlstand; selbst die Ackerbürger stehen in Bildung hoch über ihren Genossen vom flachen Lande; es hat da immer hervorragende Geister gegeben und man scheute sich weniger, als anderwärts, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, seinen Gedanken freien Ausgang zu erlauben. Der junge Weidig wuchs daher in einer Atmosphäre auf, welche die Keime seiner hochbegabten Natur nach allen Seiten hin zur mächtigen Entwickelung brachte. Er war ein liebenswerther, ideal angelegter Jüngling, allen Altersgenossen voran, geliebt von ihnen als Vorbild und Führer, geliebt von Jedermann wegen seiner gewinnenden Eigenschaften. Mit dem siebenzehnten Jahre bezog er das Gymnasium in Gießen, blos um die oberste Ordnung der Prima zu durchlaufen; ein Semester später war er schon Student der Theologie. Diese hat er nur als Brodstudium betrachtet; sein eigentliches waren Geschichte und Philologie. Besonders eng schloß er sich an die beiden Brüder Follenius, geistvolle, schwärmerisch poetische Enthusiasten. Mit ihnen las er die griechischen Classiker und dichtete. Der Vierte im Bunde war der jüngere Welcker. An den großen Gestalten des Alterthums rankte sich der Thatendurst der jungen Männer heran. Sie sannen über des Vaterlandes Zerrissenheit und des Volkes dumpfes Verkommen; sie schwuren sich einander zu, für die höchsten Güter der Menschheit zu leben und, wenn nöthig, zu sterben. Andere traten hinzu. Ein Geheimbund – jugendlich aufgefaßt und mit jugendlichen Zwecken – bildete sich, aber er trug seine Farben so offen zur Schau, daß ihn schon bald die Spürnase der Polizei ergattert hatte und Hand auf seine Mitglieder legte. Die Sache war aber doch noch so unschuldig, daß sie keine weiteren Folgen hatte, als die Unterschrift des consilium abeundi und – die Befleißigung größerer Vorsicht. Nach zurückgelegtem Triennium machte Weidig ein glänzendes Examen und wurde unmittelbar darauf, einundzwanzig Jahre alt, zum Conrector in Butzbach ernannt.

Es soll hier keine Biographie gegeben werden, sonst wäre das Bild zu entrollen von der Wirksamkeit eines Lehrers, wie es deren nicht viele gegeben hat. In wenig Jahren war Weidig der angebetete Liebling von Jung und Alt der ganzen Stadt und weit über deren Marken hinaus. Er verstand es, wie kein Anderer, die Jugend heraufzuziehen in die sonnige Sphäre der Bildung, aber er lehrte nicht blos, er erzog auch. Jedermann war er mit Rath und That behülflich. Niemand sprach ihn vergeblich um irgend eine Unterstützung an – er litt selber lieber bittern Mangel, als daß er seine Armuth nicht mit den Armen getheilt hätte. Stoisch versagte er sich jeden Genuß, damit er nur sein Scherflein übrig behalte für Diejenigen, welche noch weniger besaßen als er. Um zu ermessen, wie viel das war, stehe hier das Factum, daß er nach zehnjährigem höchstbelobtem Dienste als Conrector endlich im Jahre 1822 als Rector mit sechshundert Gulden Gehalt angestellt wurde. Neben seiner Aufgabe als Lehrer und Erzieher widmete er alle freie Zeit öffentlichen Ehrenämtern; namentlich war er 1814 thätig als Adjutant bei der Organisation der Landwehr. Als er eine edle, liebenswürdige Gattin gewonnen hatte, schien er fast in den Hafen des Glückes für immer eingelaufen. Sein Haus war der Mittelpunkt einer Gemeinde von wackeren und bedeutenden Männern – von weit her kamen Freunde, Gesinnungsgenossen, Bewunderer, und die Tag für Tag mit ihm lebten, wären für den geliebten Mann durch Wasser und Feuer gegangen.

Aber der Mann wollte mehr sein als Lehrer, Hausvater und ehrsames Gildeglied. Er trug tief im Herzen den Ehrgeiz, ein freier Bürger sein zu wollen im freien Staate. Er wollte die ewigen Menschenrechte herunterholen von dem künstlichen Himmel, an dem sie nunmehr so lange schon in Ketten aufgehängt gewesen. Solches aber durfte man in jenen Zeiten kaum zu denken, geschweige denn zu äußern wagen. Wo daher Zweien oder Dreien in engvertraulichem Kreise das Geständniß entschlüpft war, „daß doch nicht Alles sei, wie es sein könnte“, da war schon die Verschwörung fertig. Der Druck reizt aber stets zum Gegendrucke; nur das Zuviel-Regieren bildet die Convente. Von Gießen aus kam die Anregung; Weidig sammelte seine Getreuen um sich und gründete die „Deutsche Gesellschaft zu Butzbach“. Aus der von ihm verfaßten Stiftungsurkunde stehe Folgendes hier: „Ja, wenn das ganze Volk vom freudigen Gefühle seiner Stärke und Würde durchdrungen und belebt ist, dann ist Deutschland ein freies und glückliches Land. Nur wenn es sich selber verläßt, kann es verderbt werden. Nicht zur Schmach und Knechtschaft ist es bestimmt. Der Herr hat es gesegnet mit leiblichem und geistigem Segen. Er gab dem Lande fruchtbare, wohnliche Thale, geschirmt von erzreichen Gebirgen, getränkt mit anmuthigen Bächen und Strömen, in denen ein heiterer Himmel sich spiegelt. Er gab dem Volke starke Leiber und frohe Herzen, ein ernstes und treues Gemüth und unerschütterlichen Glauben. – Und frei und glücklich war Germanien, so lange es beharrte bei eigner Art und Zucht und Sitte. Als aber das Gift der

[17]

Friedrich Weidig’s Grabmal auf dem Friedhofe zu Darmstadt.
Nach einer Skizze von H. W., auf Holz gezeichnet von W. Reiche.

[18] Zwietracht sich einfraß in die Glieder seines Leibes, als fremde Unart, Unzucht und Unsitte sich einschlich, da ist es in Schmach und Jammer erlegen, und schwer hat es seine Sünden büßen müssen. Darum, als nun der Tag der Erlösung kam, haben viele deutsche Biedermänner das Volk ermahnt, seiner urangestammten Kraft zu gedenken und sich ihrer neu zu gebrauchen, und, ob Gott will, das Land wird auferstehen zu seiner alten Herrlichkeit. – Vor Anderen aber hat seine Stimme erhoben für das Vaterland der deutsche Mann Ernst Moritz Arndt, und auch in unserer Stadt hat das Wort, das er redet, von der Nothwendigkeit eines deutschen gesellschaftlichen Lebens die Herzen deutscher Männer entzündet und sie getrieben, sich zu einer deutschen Gesellschaft in dem von ihm ausgesprochenen Geiste zu verbinden.“

Die Wirkung dieser allerdings geheimen Verbindung machte sich bald fühlbar; kühner flogen die Blicke, freier die Worte; häufiger ballte sich die Faust. Die Unvorsichtigen kamen in Conflicte mit den in Butzbach stationirten Officieren. Weidig selber mußte zweimal mit dem Säbel seine kecke Lehre vertheidigen – der alte Student lebte noch in ihm, und er ging als Sieger von der Mensur. Allein rasch war nunmehr die Polizei hinter ihm her; er ward 1819 in politische Untersuchung gezogen, Viele mit ihm aus Nah und Fern. Kurz vorher war Karl Ludwig Sand's blutige That in Mannheim geschehen, waren die Turnschulen geschlossen, Jahn in Berlin, Arndt und die Brüder Welcker in Bonn verhaftet worden; die Karlsbader Conferenzen standen bevor. Trotzdem schien der hessischen Regierung die rechte Energie nicht gekommen – sie erfolgte erst nach Karlsbad – sie ließ die groß angelegte Untersuchung gemach im Sande verrinnen. Welches Urtheil hätte sie aber auch fällen sollen, als Pfarrer Flick von Peterweil den Zweck der Verbindung folgendermaßen offen angab: „Deutschlands Befreiung von fremder Herrschaft aufrecht zu erhalten, eine Revolution zwar nicht herbeizuführen, im Falle eine solche aber dennoch in Deutschland ausbrechen sollte, sowohl gegen Pöbelherrschaft als gegen Despotismus zu wirken; zugleich habe sich dieser Bund an die in volksthümlichem Geiste vorangehende preußische Regierung anschließen sollen.“ (Nach den Acten.) – Als Weidig wieder heimkehrte zu den Seinen, wurde ihm von den wackeren Butzbachern fast der Empfang eines Triumphators zu Theil; sein Einzug gestaltete sich zu einem wahren Volksfeste. –

Unerschüttert, rastlos wirkte der brave Mann fort an dem Werke, das er sich zum idealen Ziele seines Lebens ersehen hatte. Nach einander erschien eine Reihe von Flugschriften – die conservativen Angstmeier nannten sie „Brandschriften“ – der freisinnigsten, zündendsten Art, so der berühmte „Hessische Landbote“ und der „Leuchter und Beleuchter“. Jedermann wußte, daß Weidig und Georg Büchner, der geniale Verfasser des „Danton“, sie schrieben und herausgaben. Die Polizei stellte wahre Treibjagden an nach der verborgenen Presse und wurde dabei von den schlauen „Demagogen“ ein paar Mal auf das Ergötzlichste irre geführt; wer mit einem Exemplare ertappt wurde, wanderte in's Gefängniß, aber die lächerlichste Strenge hilft nichts, sobald das ganze Volk einmüthig steht für die Sache, welche es zu der seinen gemacht hat. Immer höher gingen die Wogen der Unzufriedenheit, die Zeichen der nahenden Zeit des Umsturzes; meldete doch ein beflügelter Polizeibericht das entsetzliche Factum, daß „schon die Buben in Butzbach Freiheitslieder sängen, und zwar von Körner.“

Mittlerweile waren großartige Ereignisse vor sich gegangen, welche die Luft mit Gewitterdämpfen geschwängert hatten. Die Pariser Revolution von 1830 lag dem deutschen Volke im Gebeine wie verhaltener Schmerz oder gleich einer nicht zum Durchbruche gekommenen Arznei; es rumorte da und dort: in Göttingen hatten sich 1831 Studenten und Bürger unter Rauschenplatt erhoben gegen die – miserabile dictu – Censur. In Polen die Revolution ausgebrochen, Aufstände in Italien, im südlichen Frankreich, in Paris, überall Gährung und Wirren. Das Hambacher Fest am 2. Mai 1832, von mehr als dreißigtausend Theilnehmern besucht, bringt den Gedanken der nationalen Einheit zur Blüthe. Die über alle Länder sich zerstreuenden polnischen Flüchtlinge säen die Keime der Selbsthülfe des Volkes aus. Sie fanden nirgends offenere Arme, herzlichere Aufnahme, als in Butzbach und bei Weidig, obgleich dieser ihrer Nationalität keineswegs gewogen war. Der Verdacht, der immer über ihm die grauen Fittige regte, steigerte sich von Jahr zu Jahr. Das servile Beamtenthum suchte eine Art Ehre darin, einen Hochverräther „zu Stande zu bringen“, es hat ihm niemals die weißgekleideten Mädchen vergessen, die ihn nach der Rückkunft von der ersten hochnothpeinlichen Untersuchung an den Thoren seiner Stadt empfingen.

Und endlich, endlich fand sich auch der Verräther. Sein Name soll hier nicht genannt sein; Weidig hatte die Schlange selber an seinem Busen großgezogen – er mußte es schwer büßen. Am 3. April 1833 fand das verunglückte Frankfurter Attentat gegen den sogenannten deutschen Bundestag statt; am 21. Mai ward Weidig polizeilich verhaftet. Allein auch diesmal bewährte sich der feste Zusammenhalt gleichgesinnter Männer voll Muth und Charakter. Es konnte mit Aufgebot aller juristischen Spitzfindigkeiten nichts gegen ihn aufgebracht werden, als daß er ein „Verführer der Jugend“ – zur Tugend! – sei; daher ward er seines Rectorpostens und damit seiner staatsgefährlichen Wirksamkeit in Butzbach entkleidet, und – man höre! – zur Strafe als Seelsorger in sein Geburtsdorf Obergleen versetzt. Am 26. September 1834 zog er daselbst ein, empfangen gleich einem Messias; solcher Ruf war ihm vorausgeeilt. Was er hier in der kurzen Spanne seiner Amtsthätigkeit leistete, sagt am besten die folgende actenmäßige Denunciation des Kreisraths zu Alsfeld:

„Was bis jetzt (14. December 1834) vorgekommen ist (sic!), besteht darin, daß Weidig auf jede Weise sich Popularität zu verschaffen sucht, und sowohl an Sonntagen, als auch mitunter an Wochentagen der confirmirten Jugend zu Obergleen Singunterricht in seiner Wohnung ertheilt. Ersteres geschieht auf die verschiedenartigste Weise; er beobachtet die größte, mitunter übertriebene (!) Leutseligkeit, mit Begierde sucht er jede Gelegenheit zum Predigen an anderen Orten, wozu die bestehenden Vacanzen bisher dienstliche Veranlassung gaben, auf; er verweigert, unter Simulation (!) eines Gewissenszwanges für ihn, als Annehmenden, die Entrichtung der Beichtkreuzer, sowohl in seiner, als in anderen Pfarreien; armen Kranken bezahlt er die Arzneien, und neulich hat er öffentlich von der Kanzel bekannt gemacht, wer ein Anliegen habe, solle sich nur an ihn, als den Geistlichen, wenden, und er hat dieses sogar unter dem Anfügen, daß er dem Wucher der Juden vorzubeugen trachte, dahin ausgedehnt, daß er sich ganz allgemein zu Gelddarlehen erboten hat, obgleich er mit Ausnahme seines (kärglichen) Besoldungsbezuges aus dem geistlichen Landkasten kaum zwölf Gulden seit seiner Anstellung in Obergleen eingenommen haben mag.“

Welche niedrige Gesinnung hier bei dem Angeber, welch’ glänzende Zeugniß für den edlen Verklagten! Aber damals las man die Schriften anders, oder sagte, wenn man sie etwa verstand, mit dem Patriarchen: „Thut nichts, der Jude wird verbrannt.“ Und so kam es auch bald. Am 22. April 1835, früh zwischen vier und fünf Uhr, ward Weidig abermals verhaftet, diesmal für immer. Warnungen waren ihm genug geworden, er hätte fliehen können, war auch schon einmal halb unterwegs, allein das Pflichtgefühl und der Muth seiner guten Sache führten ihn wieder zurück, um stehenden Fußes seinem Geschick zu begegnen. Er ward zuerst in die Frohnveste nach Friedberg, darauf nach Darmstadt in das sogenannte „Stockhaus“ gebracht, einen der scheußlichsten Kerker, die ihren Schatten aus dem Mittelalter in unsere Zeit herüberwerfen.

Nunmehr beginnt ein Märtyrerthum fast ohne Gleichen. Das Verhängnis hatte dem Armen einen Untersuchungsrichter gegeben, der, früher von ihm beleidigt, sein persönlicher Feind war. Derselbe – Georgi ist sein Name – gehörte jener Schule der Unerbittlichen an, in welcher der Kleinstaatsgedanken dermaßen verkörpert ist, daß sie jedes Rütteln daran als ein todeswürdiges Verbrechen betrachten; er war ein strenger Jurist, aber nur im Buchstaben, nicht im Geiste, daneben ein harter, rachgieriger, sogar unmoralischer Mann, ein Mensch, der dann und wann an Säuferwahnsinn litt. Hier sei kein neuer Stein denen zugefügt, die unter heißen Flüchen auf sein Grab geworfen worden sind; es mag sogar angenommen werden, daß der Mann, ein bureaukratischer Fanatiker, in seinem Rechte zu sein und als Folterknecht seinem Staate einen Dienst zu leisten glaubte.

Aber was Weidig unter ihm und seinen Helfershelfern litt, das übersteigt alles Maß dessen, was in Schauerromanen von [19] den Qualen der Verließe und Marterkammern erzählt wird. Ein System raffinirtester Quälerei griff Platz in den Verhören, in der Behandlung, in jeder Berührung mit dem armen Gefangenen. Was den Unbefangenen mit wehmüthiger Bewunderung erfüllt, die Festigkeit und Klugheit, mit der Weidig es trotz aller Lockungen und Drohungen standhaft vermied, irgend einen Mitschuldigen zu nennen, einen Freund zu compromittiren, das ward ihm als Trotz und Verbrechen angerechnet. Gepeinigt von Vorwürfen, gestachelt von Sarkasmen, überhäuft mit höhnischem Spotte, ließ er sich manchmal hinreißen zum Gegengebrauch der nämlichen Waffen – niemals zu einer Silbe von Verrath – darauf aber schien man es gerade abgesehen zu haben, um ihn zu martern und zu strafen. Vergeblich waren seine immer wiederholten Klagen, seine Proteste wider die Parteilichkeit des Richters, seine Bitten um Erlaubniß des beschränktesten Verkehrs mit den Seinigen. Man gestattete ihm nicht ein Wort der tröstenden Zusprache an seine der Entbindung nahe Frau, nicht den Anblick des ihm geborenen Kindes, um den er flehentlich gebettelt hatte. Briefe an ihn, selbst unverfänglichen Inhalts, blieben ruhig bei den Acten; die Lectüre wurde ihm entzogen – eine wahre Tortur für einen Mann, der gewohnt ist, sich geistig zu beschäftigen.

Wie der Leiter der Untersuchung, so die Beamten und Unterbeamten bis herab zum Gefangenwärter, diese Letzteren glaubten sich durch brutale Behandlung des in ihren Zwang gerathenen Unglücklichen bei Jenem angenehm zu machen, und so war es in der That. Aushorchen, barsche Zurechtweisungen, Unterlassung der kleinsten Gefälligkeiten, Versagen des Arztes bei Krankheitsfällen, Alles das kam nur zu oft vor. Aber noch weit mehr! Wiederholt ward Weidig, wegen verletzter Ehrerbietung gegen seinen Richter, mit Ketten belastet; es wurde ihm der „Sprenger“ angelegt, ein eiserner Ring, der die Hände an die Füße fesselt; er wurde Tage lang an die Wand geschlossen; es wurde ihm mit Krummschließen, ja sogar mit Hieben gedroht – und nicht blos gedroht! Wer die „Mysterien des Darmstädter Stockhauses“ aus jener Zeit schreiben könnte, die Leiden zu schildern wüßte, welche die armen Opfer einer großen Idee, die Minnigerode, Bogen, Weidig zu erdulden hatten, wahrlich, der würde einen der merkwürdigsten Beiträge zur Geschichte des Jahrhunderts der Civilisation liefern. Ist es da zu verwundern, wenn ein klarer Geist sich umnachtet, der Mann der Freiheit körperlichem und seelischem Siechthum verfällt und endlich in der gräßlichen Verzweiflung den einzigen Ausweg aus solcher Hölle sucht? Mit seinem Blute hatte Weidig mehrere Male, da ihm jedes Schreibgeräth entzogen war, die dringendsten Gesuche an die Behörde geschrieben; man zuckte die Achseln über solche „Ueberspanntheit“ und warf die entsetzlichen Tafeln mit dem Lächeln der Macht zu den Acten. So mußte denn das blutige Drama ein blutiges Ende finden.

Zwei Jahre hatte Weidig seines Kerkers Qualen heldenhaft getragen; länger vermochte er es nicht. Am 23. Februar 1837 fand ihn der früh vor acht Uhr in die Zelle tretende Gefangenwärter in seinem Blute schwimmend. Statt nach Hülfe zu rufen, selber zu helfen – schloß der treue Diener seines Herrn das Gefängniß rasch wieder zu und lief zu diesem, um – wahrscheinlich hochwillkommene Meldung zu thun. Und nun folgt das Entsetzlichste. Zwei volle Stunden ließ man den Verwundeten im Todeskampf ohne jeden Beistand, versperrt in der grauenvollen Kerkereinsamkeit. Als endlich nach Ablauf dieser langen, langen Zeit Aerzte im Geleite des Richters an das Todesbett traten, da war es freilich zu spät, – noch einmal hob sich der gemarterte Leib empor, deutete starr blickenden Auges mit dem Finger nach der Wand, sank zurück und verschied. An der Kerkerwand aber stand mit blutigen Zügen geschrieben: „Da mir der Feind jede Vertheidigung versagt, so wähle ich einen schimpflichen Tod aus freien Stücken. F. L. W.“ Aus allen vorhandenen Indicien ging hervor, daß der Unglückliche, als der Wärter bei ihm eintrat, eben erst angefangen hatte, sich mit einer Glasscherbe den Hals zu durchschneiden und wahrscheinlich, selbst wider seinen Willen, hätte gerettet werden können, wenn ihm sofort Hülfe geworden wäre. Als am 24. December .1835 ein anderer „politischer“ Gefangener einen Selbstmordversuch gemacht hatte, ließ der nämliche Kerkermeister diesen sofort bewachen, für den armen Weidig hatte er die zarte Rücksicht der Pflicht nicht. Er sollte sterben. Sein Tod erregte das grenzenloseste Aufsehen und eine Erbitterung, welche lange nachklang. Niemand wollte an Selbstmord glauben; die medicinische Facultät der Universität Zürich gab sogar, von Weidig's Brüdern aufgefordert, das Gutachten ab: „Es ist weder gewiß, noch wahrscheinlich, daß Pfarrer Weidig die Halswunde in ihrer ganzen Ausdehnung sich selber beigebracht habe.“ Aber den Schleier, der über jenen beiden grauenvollen Stunden gebreitet lag, vermochte Niemand zu lüften.

Dagegen wurde durch den Freimuth der Gerichtsärzte zur Evidenz erwiesen, weshalb der charakterstarke, geistig große Mann sich so plötzlich den Tod gegeben – er warf sein Leben weg, weil es bübisch entehrt worden war. Bei der Section des Leichnams fanden sich nämlich auf den Oberschenkeln verschiedene kaum verheilte, in der Tiefe mit Blutgeschwulst[WS 2] verbundene Wunden striemenförmig nebeneinander; kein Zweifel konnte darüber obwalten, daß der Unglückliche kurz vor seinem Tode auf das Empfindlichste gezüchtigt worden war, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Ochsenziemer. Er, der Mann des reinen Lebens, der Wissenschaft, der Seelsorger, – er war mit der entehrenden Strafe der Sclaven oder des Auswurfs der Menschheit freventlich, gegen das ausdrückliche Verbot der Oberbehörden, in grausamster Weise belegt worden – und da blieb ihm weiter nichts übrig, als zu sterben. Unbilliges erträgt kein edles Herz.

Und warum, warum? Weidig mußte sterben, blos darum, weil er gewollt und erstrebt hat, was Alle die, welche da hinter ihm in Reih' und Glied liegen, gewollt, erstrebt und mit ihrem Herzblut erkauft haben. Denn die peinlichste Untersuchung hat nichts weiter auf ihn gebracht, als das Ziel: Umänderung der bestehenden Staatsform in Deutschland, einseitig durch den Willen der überwiegenden Mehrzahl der Regierten, ohne Rücksicht auf freie Zustimmung der Regenten – nach der Auffassung der von den Karlsbader Beschlüssen beeinflußten Untersuchungscommissionen – nach seiner eigenen Aussage aber und derjenigen aller seiner sogenannten Mitschuldigen: Herstellung der politischen Einheit Deutschlands mit Aufhebung der Staatenvielheit und Wiedereinsetzung eines deutschen Kaisers aus dem Hause Preußen. Das aber ist heute Wahrheit geworden. Viel edles Blut ist darum geflossen, aber keines edler, als dasjenige des Märtyrers, an dessen Grabe wir sinnend stehen mit der herzzerreißenden Frage: Also darum Räubern und Mördern gleich behandelt, darum hinuntergestoßen in Nacht, Verzweiflung und Tod?! Welche Contraste liegen hier dicht beieinander – das eiserne Kreuz und die Sclavenpeitsche!

Die bewundernde Theilnahme einer Nation, welche die Opfer des heiligen Kriegs unter Blumen bettet – und das Hinausführen eines ebenso guten, wo nicht besseren Sohnes auf schlechtem Schragen, im unheimlichen Zwielicht, ohne Geleit, verscharrt an damals abgelegener Stelle, weit entfernt von denen, die da starben als Biedermänner oder wohlangeschriebene Richter auf dem warmen Daunenbette der Gerechten. Aber der Baustein, den die thörichten Werkleute verworfen, ist zum Eckstein geworden. Glänzendere Genugthuung ist keinem nach verödetem Leben geworden, als dem Manne, den eine sinnige Bürgerwahl im Tode zum Führer gemacht hat der Helden, die sein Ideal zur Wirklichkeit gebracht haben.

Sein Grabstein sagt den Rest. Er ist ein einfaches Kreuz auf würfelförmigem Postament, beides aus Sandstein. Ein schwarzes Schild trägt die Inschrift: „Dr. Friedrich Weidig, Pfarrer zu Obergleen, gest. 23. Febr. 1837. Du starbst nach langer Kerkerhaft als heiliger Streiter, Dein freier Geist sucht in gestirnter Höh' des Lichtes Urquell.“ – Merkwürdiger ist diejenige der Vorderseite des Piedestals, sie lautet: „Die Inschrift dieses Kreuzes, theilweise zehn Jahre lang auf Befehl der Behörde durch Eisenkitt verdeckt, wurde im Juni 1848 der Anschauung wiedergegeben und dieses Denkmal erneuert und vervollständigt durch Weidig's Freunde und Verehrer.“ – Die Angst, wie die Rache hatten sogar über dem Grabe gewacht. Endlich trägt die Rückseite den Vers:

„Vaterland, dein sei mein Leben,
Dein mein Fürchten, Hoffen, Streben,
Und zum Lohne gieb dafür

Grab in freier Erde mir.
F. Weidig.“

Er ist aus einem Gedicht des Hingerichteten genommen. Man [20] darf über die Wahl der Inschriften rechten, sie vielleicht nicht ganz glücklich nennen. Die schönste wäre der Anfang der begeisterten Zeilen gewesen, welche Herwegh dem Andenken Georg Büchner's, des treuen Freundes und Mitstreiters von Weidig, gewidmet hat unter dem Motto: „Die Guten sterben jung, und deren Herzen trocken wie der Staub des Sommers, brennen bis zum letzten Stumpf.“ – –

Ein großes Fragezeichen der Cultur, der Bildung, der Menschlichkeit ist dieses Kreuz. Wer vor ihm steht, dem zieht die Geschichte des Vaterlandes von seiner tiefsten Schmach an bis zu seiner endlichen Erhebung in ergreifenden Bildern an der Seele vorüber. Wohl ihm, wenn er dann getröstet und gefestigt rufen kann: Nein, und abermals nein – solche Zeiten können niemals wiederkehren in Deutschland.




Blätter und Blüthen.


Das Pariser Opernhaus. Man schreibt uns aus Paris: „Ich habe hier Nichts verändert gefunden. Es ist immer dasselbe reizende, amüsante, müßige Paris, das an Nichts denkt, als sich und andere zu zerstreuen, das immer den Plan irgend eines großen Festes im Kopfe hat. Das Fest, welches Paris in diesem Augenblicke beschäftigt, ist die Eröffnung des neuen Opernhauses. Worin wird dieses Fest bestehen? Die Programme, welche man in den Zeitungen findet, sind weder sehr zahlreich noch sehr mannigfaltig. Die Einen sprechen von einer Galavorstellung, welcher der Präsident der Republik und alle Staatsbehörden beiwohnen würden; die Anderen schlagen einen großen Ball vor, welcher von der Stadt Paris oder durch Subscription veranstaltet werden soll. Ich lese soeben in einer Morgenzeitung, welche für ein ernstes Blatt gilt, man solle den Besuch des Opernhauses wenigstens für acht Tage umsonst gestatten, damit es dem Volke ermöglicht sei, die Pracht diesen ’National-Museums’ zu bewundern. Ein Schauspielhaus ’Museum’ zu nennen, das ist eine Idee, die uns Deutschen nicht kommen würde, aber der Gedanke, während einer Woche die Thüren des Opernhauses dem Volke unentgeltlich zu öffnen, würde uns um so richtiger scheinen, als es das Volk ist, welches die sechszig Millionen zahlt, die dieses Gebäude kosten wird.

Sechszig Millionen für ein Opernhaus! Wenn irgend ein excentrischer Fürst uns in eine solche Ausgabe gestürzt hätte, würden wir sie abbezahlt haben: Wir würden uns jedoch die größte Mühe gegeben haben, uns selbst und Andern diese Thorheit zu verbergen. Hier scheint Jedermann stolz darauf zu sein, und es giebt fast keinen Pariser, der nicht geneigt wäre, das Opernhaus und die sechszig Millionen, die es gekostet hat, in die Zahl jener Einrichtungen einzureihen, ’um die Europa ihn beneidet’.

Sechszig Millionen zu fünf Procent Zinsen machen jährlich drei Millionen. Ich habe einen alten Theaterdirector, der in diesen Dingen sehr erfahren ist, gefragt, wie hoch er den Zuschuß veranschlage, welcher nöthig sei, um die Ausgaben des Opernhauses zu decken. ’Wenigstens zwei Millionen,’ antwortete er mir. Drei Millionen Zinsen und zwei Millionen Zuschuß ergeben eine Summe von fünf Millionen, verwendet, um ein Theater zu unterhalten. Das ist ein hübsches Sümmchen für ein Land, in welchem man nicht einmal den Schullehrern und Lehrerinnen ein Stück Brot für ihr Alter sichert.

Wenn von dieser jährlichen Ausgabe von fünf Millionen wenigstens noch die Tonkunst Nutzen hätte! Ich habe mich jedoch bei einem Journalisten meiner Bekanntschaft nach dem Namen der Oper erkundigt, der es beschieden wäre, zuerst auf der neuen Bühne aufgeführt zu werden. ’Wir haben keine’, sagte er mir, ’und wir hoffen kaum eine zu finden. Rossini, Meyerbeer, Auber, Halevy sind todt; unsere lebenden Componisten leiden an allgemeiner Mittelmäßigkeit. Wir haben zwar Gounod, aber eben so gut könnte man auf die Wankelmüthigkeit selbst zählen. Hätte man selbst ein neues Werk von einigem Werth entdeckt, so würde es an Künstlern fehlen, es auszuführen; wir haben nicht mehr Sänger in Frankreich als Componisten und ich glaube, Ihnen kein großes Geheimniß zu verrathen, wenn ich Ihnen mittheile, daß die Musik bei uns in gänzlichem Verfall begriffen ist.’

Glücklicherweise brauchen wir weder Componisten noch Sänger; nur Maschinisten haben wir nöthig. Die französische und ausländische Neugierde wird während zwei bis drei Jahren, vielleicht auch länger, genügen, um das Haus zu füllen. Das alte Repertoire, gehörig durch den Theaterschneider und den Decorationsmaler aufgefrischt, wird uns gestatten, ruhig das Erscheinen irgend eines neuen großen Componisten zu erwarten. Wir haben übrigens noch das Ballet und, wenn es Noth thut, die Zauberposse zur Aushülfe. Keinen Componisten und ein Opernhaus, das sechszig Millionen zu bauen und zwei Millionen jährlichen Zuschuß kostet – das charakterisiert Frankreich. Es ist unnöthig, die Bewaffnung unserer neuen Grenzen zu beeilen; die Franzosen haben vorläufig nicht die Zeit, uns Elsaß-Lothringen wieder abzunehmen.
A.“




„Ein Grab im Unterland“ in Nr. 50 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ giebt mir Veranlassung zu folgenden Zeilen:

Im Sommer 1859, bald nach Beendigung des italienischen Krieges, kam ich, kaum zwanzig Jahre alt, als Lehrer in das Dorf Cleversulzbach, und bald erfuhr ich auch, daß der schmucklose, schlechtgepflegte Friedhof des Dorfes das Grab von Schiller's Mutter beherberge. Ich suchte dasselbe alsbald auf und fand nicht ohne Mühe das mit Gras überwachsene, unscheinbare steinerne Kreuz, auf dem mit einfacher Schrift eingegraben steht: „Schiller's Mutter“. Wie ich später im Dorfe oft erzählen hörte, soll Dr. Eduard Mörike, der frühere Pfarrer des Orts, mit eigener Hand diese Worte in den Stein gemeißelt haben.

Als der hundertjährige Geburtstag unsers großen Dichters herannahte, machte ich verschiedene Versuche, auch auf der geweihten Stätte in Cleversulzbach eine kleine Feier zu Stande zu bringen. Im Orte selber fehlten aber die Kräfte hierzu, und von den umliegenden Städten hatte jede ihre eigene Schillerfeier, so daß ich zur Ausführung meinem Planes Niemand beibringen konnte. So that ich denn allein, was mir möglich war. Ich reinigte den Grabhügel von Schiller's Mutter und den der nebenan ruhenden Mutter Eduard Mörike's von Unkraut und Gras, schmückte dieselben mit Herbstblumen und Grünem, soviel der nahe Wald mir bot, und umgab die beiden Grabstätten mit einer allerdings sehr primitiven Einfassung; auch reinigte ich das Kreuz und frischte die Inschrift mit schwarzer Farbe wieder auf.

Am 10. November, Vormittags elf Uhr, gingen wir, der Schultheiß des Ortes, mein älterer College, ich und der eben im Dorfe weilende Amtsnotar von dem nahen Neuenstadt, auf den Friedhof und setzten (ich selbst machte die Grube) eine Linde auf das Grab von Schiller's Mutter. Alles ging in feierlicher Stille vor sich; Reden wurden nicht gehalten, daß wir aber einen Act[WS 3] der Pietät begingen, den wir den Manen Schiller's schuldig waren, fühlte Jeder, und stumm reichten wir einander die Hände, nachdem die Linde fest stand. Das war unsere bescheidene Schillerfeier. –

Ob die Linde gediehen ist, weiß ich nicht, da ich schon im nächsten Jahre Cleversulzbach wieder verließ und auf meinen seitherigen Wanderungen durch die Fremde und durch die Heimath nicht mehr in das Dorf oder dessen Nähe kam. Damals war die Aussicht vorhanden, daß auf das Grab von Schiller's Muttter ein anderes, größeres Denkmal gesetzt werde. Dr. Eduard Mörike, mit dem ich in jener Zeit über diesen Gegenstand brieflich verkehrte, schrieb mir unterm 19. October 1859:

„Der höchst gerechte Wunsch, in welchem Sie mit andern und mit mir zusammentreffen, wird in Erfüllung gehen. Das (Schiller-) Comité beabsichtigt die Errichtung eines anständigen kleinen Denkmals auf dem mütterlichen Grabe. Nur konnte dies auf die Zeit des Festes nicht mehr angeordnet werden. Vorläufig will man die Grabstätte käuflich erwerben etc.“

Der Stiftungsrath von Cleversulzbach übergab denn auch die Ruhestätte von Schiller's Mutter und das nebenan liegende Grab von Mörike's Mutter schenkungsweise dem Stuttgarter Schiller-Comité. Noch bezeichnet freilich nur das alte steinerne Kreuz die Stätte, wo die deutsche Frau ruht, welche Deutschland seinen größten Dichter geschenkt hat. Ich meine aber, es ist dennoch ein würdiges Denkmal, denn ein edler Dichter hat es ja gesetzt. –

Weingarten (Württemberg), den 16. December 1874.
H. Kl.




Kleiner Briefkasten.


Mst. in Kbg. Sie fragen nach einer Erklärung des Begriffes: Witz. Schwer zu beantworten. Die landläufige Erklärung bezeichnet den Witz als das Talent, zwischen zwei scheinbar völlig fremden und verschiedenartigen Dingen unvermuthete Aehnlichkeiten zu entdecken. Je ungesuchter und unvermutheter eine solche Aehnlichkeit plötzlich zu Tage gebracht wird, je mehr wird sie wirken, und Ruge hat ganz Recht, wenn er den Witz einen Wechsel auf Sicht nennt, weil er nur dadurch wirkt, daß er auf der Stelle acceptirt wird. Lichtenberg, Jean Paul, Lessing etc. geben ausführlichere Erklärungen dieser spielenden Urtheilskraft, die – man kann es nicht leugnen – bei den Franzosen sehr ausgebildet erscheint, obschon uns „Kladderadatsch“ und „Berliner Wespen“ jede Woche belehren, daß wir in Deutschland auch in dieser Beziehung mit Frankreich concurriren können. Ein geistreicher Vertreter des Witzes in Paris war der alte Dumas, von dem erst jetzt nach und nach die pikantesten Bonmots zu Tage gefördert werden.

Er wurde einst von einem Marquis gleichzeitig mit einem Herrn V., mit dem er auf sehr unfreundlichem Fuße stand, zur Tafel geladen. Als Herr V. hörte, daß auch Dumas kommen werde, wollte er die Einladung nur unter der Bedingung annehmen, daß sich der berühmte, wegen seines Witzes gefürchtete Schriftsteller dazu verpflichtete, bei der Tafel nicht öfter als ein einziges Mal zu sprechen. Der Marquis theilte das Dumas mit, natürlich in der Erwartung, daß dieser eine solche Zumuthung zurückweisen würde. Zu seinem Erstaunen nahm er aber die Bedingung an.

Bei dem Diner ging es sehr lebhaft zu. Herr V. war ausnehmend gesprächig und ließ seinen Witz sprühen, während Dumas zur Verwunderung der Gäste ganz stumm auf seinem Platze saß.

Zum Dessert wurden Pasteten aufgetragen, die Herr V. sehr gern aß. Er langte auch tüchtig zu. Als der Teller zum letzten Male herumging, hatte Herr V. jedoch des Guten genug gethan und sagte zu einer Dame, die ihm die Pasteten reichte: „Entschuldigen Sie, ich habe schon so viele Pasteten vertilgt, wie Simson Philister erschlagen hat.“

„Und mit demselben Instrumente,“ setzte Dumas, der nun zum ersten Male den Mund aufthat, trocken hinzu.

Unter dem lauten Gelächter der Anwesenden verließ Herr V. die Gesellschaft.

W. Z. in L. Die Verfasserin des Artikels „Ein Grab im Unterland“ in unserer Nr. 50 des vorigen Jahrgang ist Frau E. Vely in Stuttgart.

C. F. in E. Gedulden Sie sich noch eine kleine Weile! Eine der allernächsten Nummern unseres Blattes wird Ihnen die Abbildung des Sitzungssaales mit den hervorragendsten Vertretern des „Processes Arnim“ bringen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Nicht ohne Wehmuth übergeben wir den obigen Artikel der Oeffentlichkeit. Es ist der letzte, der aus der Feder unseres Bock geflossen ist, und er beweist so recht, wie viel Klarheit und unbeirrte Ueberzeugungstreue mit dem Heimgegangenen eingesargt wurde. D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die überklebten Buchstaben wurden sinngemäß ergänzt und markiert.
  2. Vorlage: Blutgeschulst
  3. Vorlage: Art