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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[395]

No. 25.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Es war Sonntag Morgen. Das Comptoir war geschlossen, und Reinhold hatte einmal einen freien Vormittag vor sich, was ihm allerdings nur selten zu Theil wurde. Er befand sich im Gartenhause, dessen ausschließliche Benutzung er endlich errungen hatte, allerdings erst nach manchen Kämpfen und nur durch den wiederholten Hinweis auf seine musikalischen Uebungen, die man im Hause selbst allzu störend fand. Der junge Mann war nur hier einigermaßen sicher vor der fortwährenden Controlle seiner Schwiegereltern, die sich bis in die Wohnung des jungen Paares hinein erstreckte, und er benutzte jede freie Stunde, sich in sein Asyl zu flüchten.

Der sogenannte „Garten“ war von jener Beschaffenheit, wie sie in einem enggebauten, alten und menschenvollen Stadtviertel die allein mögliche ist. Ueberall hohe Mauern und Giebel, die von allen Seiten das Stückchen Erde einengten, dem Luft und Sonnenschein nur spärlich zugemessen war, und auf dem einige Bäume und Gesträuche ein kümmerliches Dasein fristeten. Als Grenzlinie hatte das Gärtchen einen jener kleinen Canäle, welche die Stadt nach allen Richtungen hin durchzogen, und dessen stille dunkle Fluth einen recht trübseligen Hintergrund bildete; jenseit desselben aber sah man wieder Mauern und Giebel; das Gefängnißartige, das dem ganzen Almbach’schen Hause anhaftete, schien sich auch auf den einzigen freien Raum desselben zu erstrecken.

Das Gartenhaus selbst war nicht viel freundlicher, das einzige geräumige Gemach sogar mehr als einfach eingerichtet. Man sah es den wenigen alterthümlichen Möbeln an, daß sie als überflüssig irgendwo bei Seite gestellt und jetzt hervorgesucht waren, um das Zimmer nothdürftig herzustellen. Nur am Fenster, um das sich einige kümmerliche Weinranken schlangen, stand ein großer, kostbar gearbeiteter Flügel, das Vermächtniß des verstorbenen Musikdirector Wilkens an seinen Schüler, ein Prachtstück, das sich in der nüchternen Umgebung ebenso seltsam und fremdartig ausnahm, wie die Gestalt des jungen Mannes mit der idealen Stirn und den großen flammenden Augen hinter den vergitterten Comptoirfenstern des Vorderhauses.

Reinhold saß am Tische und schrieb, aber sein Gesicht trug heute nicht jenen müden, apathischen Ausdruck, der stets darauf ruhte, sobald er die Zahlen der Handlungsbücher vor sich hatte; seine Wangen waren tief, fast fieberhaft geröthet, und die Hand, die in raschen Zügen einen Namen auf das vor ihm liegende Briefcouvert warf, zitterte leise, wie in verhaltener Erregung. Da ließen sich Schritte draußen hören und die Glasthür wurde geöffnet; mit einer schnellen unmuthigen Bewegung schob der junge Mann das Couvert unter die auf dem Tische liegenden Notenblätter und wandte sich um.

Es war Jonas, der Diener des Capitains, der die ihm angebotene Gastfreundschaft seiner Verwandten nur auf einige Tage angenommen hatte, und dann in eine eigene Wohnung übergesiedelt war. Der Matrose brachte Gruß und Eintritt in der ihm eigenen derben und etwas ungeschickten Art zuwege und legte dann einige Bücher auf den Tisch.

„Eine Empfehlung von dem Herrn Capitain, und er schickt hier das Versprochene aus seiner Reisebibliothek.“

„Kommt mein Bruder nicht selbst?“ fragte Reinhold befremdet. „Er versprach es doch.“

„Der Herr Capitain ist schon längst da,“ rapportirte Jonas, „aber sie haben ihn richtig wieder im Hause abgefangen: der Herr Onkel wünschen eine Conferenz mit ihm in Familiensachen; die Frau Tante verlangen seine Hülfe bei einer Aenderung im Besuchszimmer, und der Buchhalter will ihn für seinen Verein kapern. Alle reißen sie sich um ihn; er kann nicht loskommen.“

„Hugo scheint im Laufe einer einzigen Woche bereits das ganze Haus erobert zu haben,“ bemerkte Reinhold ironisch.

„Das machen wir überall so,“ sagte Jonas voll Selbstgefühl, und schien sehr geneigt, noch Einiges über diese Eroberungen hinzuzufügen als er durch den Eintritt seines Herrn unterbrochen wurde, der in heiterster Laune den Bruder begrüßte.

„Gute Morgen, Reinhold! Nun, Jonas, was stehst Du denn noch hier? Man bedarf Deiner im Hause. Ich habe der Tante versprochen daß Du bei der heutigen Mittagsgesellschaft Aushülfe leisten sollst. Rasch hinauf in die Küche!“

„Unter die Frauenzimmer?“ fragte Jonas, dessen Gesicht sich bei dem Befehle natürlich verlängerte.

„Unter die Frauenzimmer! Weiß der Himmel,“ wandte sich Hugo lachend an seinen Bruder, „wo dieser Mensch den Haß gegen alles Weibliche gelernt hat. Bei mir sicher nicht; ich bewundere das schöne Geschlecht ganz außerordentlich.“

„Ja, leider Gottes, gar zu außerordentliche!“ brummte Jonas, machte aber gehorsam Kehrt und marschirte zur Thür hinaus, während der Capitain dicht an Reinhold hinantrat.

„Es ist heute große Familientafel,“ hob er an, den pedantisch feierlichen Ton seines Onkels Almbach täuschend nachahmend. „Mir zu Ehren, natürlich! Ich hoffe, daß Du diesem bedeutsamen Acte die gebührende Hochachtung entgegenbringst, und Dich [396] nicht wieder so benimmst, daß ich Dich höchstens als Folie für meine eigene zu entwickelnde Liebenswürdigkeit benutzen kann.“

Reinhold runzelte ein wenig die Stirn. „Ich bitte Dich, Hugo, werde endlich einmal vernünftig! Wie lange denkst Du denn eigentlich noch diese Komödie fortzuspielen und Dich über das ganze Haus lustig zu machen? Nimm Dich in Acht, wenn sie dahinter kommen, von welcher Beschaffenheit Deine Liebenswürdigkeit eigentlich ist, und daß Du im Grunde nur Deinen Spott mit ihnen Allen treibst.“

„Das wäre allerdings schlimm,“ sagte Hugo ruhig. „Sie kommen aber nicht dahinter; verlaß Dich darauf!“

„So thue mir wenigstens den Gefallen, und laß’ Deine entsetzlichen Indianergeschichten! Du muthest ihnen wirklich zu viel damit zu. Der Onkel debattirte erst gestern mit dem Buchhalter über den Kampf mit der Riesenschlange, den Du ihnen neulich auftischtest, und der denn doch auch ihm etwas unerhört schien. Ich gerieth in die grenzenloseste Verlegenheit beim Zuhören.“

„In Verlegenheit hat Dich das gebracht?“ spottete der Capitain. „Wäre ich dabei gewesen, ich hätte ihnen sofort noch eine Elephantenjagd, eine Tigergeschichte und einige Ueberfälle der Wilden mit so haarsträubenden Effecten zum Besten gegeben, daß ihnen die Sache mit der Riesenschlange darnach höchst wahrscheinlich vorgekommen wäre. Sei unbesorgt! Ich kenne meine Zuhörer; das ganze Haus erdrückt mich ja fast mit Sympathiebeweisen.“

„Ella ausgenommen,“ warf Reinhold ein. „Es ist doch eigenthümlich, daß ihre Scheu vor Dir in keiner Art zu überwinden ist.“

„Jawohl, das ist sehr eigentümlich,“ stimmte Hugo mit beleidigter Miene bei. „Ich kann durchaus nicht zugeben, daß Jemand im Hause existirt, der von meiner Vortrefflichkeit nicht unbedingt überzeugt scheint, und habe mir bereits vorgenommen, mich heute in meiner ganzen unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit meiner Frau Schwägerin zu präsentiren. Ich zweifle durchaus nicht, daß sie sich darauf hin gleichfalls der Majorität anschließen wird, Du bist doch hoffentlich nicht eifersüchtig?“

„Eifersüchtig? Ich? Und um Ella’s willen?“ Der junge Mann zuckte halb mitleidig, halb verächtlich die Achseln. „Was fällt Dir ein?“

„Nun, es hat auch keine Gefahr! Ich suchte schon vorhin eine Unterredung mit ihr, aber sie war ausschließlich mit dem Kleinen beschäftigt. – Sage einmal, Reinhold, woher hat das Kind die wunderschönen blauen Märchenaugen? Die Deinen sind es nicht; da ist auch nicht die leiseste Spur einer Aehnlichkeit vorhanden, und sonst wüßte ich doch Niemanden in der Familie –“

„Ich glaube, Ella’s Augen sind blau,“ unterbrach ihn der Bruder gleichgültig.

„Das glaubst Du nur? Ueberzeugt hast Du Dich davon wohl noch nie? Allerdings mag das schwierig sein; sie schlägt sie ja niemals auf, und unter dieser unendlichen Haube ist überhaupt nichts von ihrem Gesichte zu erblicken. Reinhold, um Gotteswillen, wie kannst Du Deiner Frau eine solche vorsündfluthliche Tracht erlauben! Ich versichere Dir, für mich wäre diese Haube ein unbedingter Scheidungsgrund. “

Reinhold hatte sich an den Flügel gesetzt und ließ mechanisch die Hand über die Tasten gleiten, während er mit vollkommener Theilnahmlosigkeit erwiderte: „Ich kümmere mich nie um Ella’s Toilette, und ich glaube, es wäre auch nutzlos, da Aenderungen durchsetzen zu wollen. Was geht es mich auch an?“

„Was es Dich angeht, wie Deine Frau aussieht?“ wiederholte der Capitain, indem er einige der auf dem Tische liegenden Notenblätter ergriff und flüchtig durchsah; „eine allerliebste Frage für einen jungen Ehemann! Du hattest doch sonst einen nur allzu reizbaren Sinn für das Schöne, und ich möchte beinahe fürchten – was ist denn das? ‚Signora Beatrice Biancona in H.‘ Hast Du italienische Correspondenzen hier in der Stadt?“

Reinhold sprang auf. Verlegenheit und Unmuth stritten in seinem Gesichte, als er den Brief, den er vorhin unter die Noten geschoben, in der Hand des Bruders sah, der unbefangen die Adresse wiederholte:

„Beatrice Biancona? Das ist ja die Primadonna der italienischen Oper, die hier ein so unglaubliches Furore machen soll. Kennst Du die Dame?“

„Oberflächlich,“ sagte Reinhold, ihm den Brief rasch aus der Hand nehmend. „Ich wurde ihr kürzlich beim Consul Erlau vorgestellt.“

„Und Du correspondirst bereits mit ihr?“

„Nicht doch! Der Brief enthält nicht eine einzige Zeile.“

Hugo lachte laut auf. „Ein Couvert mit einer vollständigen Adresse darauf und einem sehr umfangreichen Papier darin und keine einzige Zeile? Lieber Reinhold, das ist noch wunderbarer, als meine Geschichte mit der Riesenschlange. Verlangst Du im Ernst Glauben dafür? Nun sieh nur nicht so finster aus! Ich beabsichtige durchaus nicht, mich in Deine Geheimnisse zu drängen.“

Statt aller Antwort zog der junge Mann das Papier aus dem noch nicht geschlossenen Couverte hervor und hielt es dem Bruder hin, der verwundert darauf niederblickte.

„Was soll das heißen? Nur ein Lied – Noten und Text – kein Wort der Erklärung dabei – einzig Dein Name darunter. Hast Du das etwa componirt?“

Reinhold nahm das Papier wieder zurück, schloß den Brief und steckte ihn zu sich.

„Es ist ein Versuch, weiter nichts. Sie ist Künstlerin genug, um darüber zu urtheilen. Mag sie es annehmen oder verwerfen!“

„Du componirst also auch?“ fragte der Capitain, dessen Gesicht auf einmal ernst geworden war. „Ich glaubte nicht, daß Deine leidenschaftliche Neigung für die Musik bis zum eigenen Schaffen ginge. Armer Reinhold, wie hältst Du es nur aus in diesem Leben, unter all dieser Engherzigkeit und Beschränktheit, die jeden Funken von Poesie als überflüssig oder gefährlich ersticken möchte? Ich habe es nicht gekonnt.“

Reinhold hatte sich wieder auf den Sessel vor seinem Flügel geworfen. „Frage mich nicht, wie ich es aushalte!“ entgegnete er gepreßt. „Genug, daß ich es thue!“

„Ich ahnte es längst, daß Deine Briefe nicht aufrichtig waren,“ fuhr Hugo fort, „daß hinter all der Zufriedenheit, mit der Du mich täuschen wolltest, sich etwas ganz Anderes barg. In dieser einen Woche hier im Hause ist mir die Wahrheit klar geworden, trotzdem Du Dir alle nur erdenkliche Mühe gabst, sie mir zu verbergen.“

Der junge Mann blickte düster vor sich hin. „Wozu sollte ich Dich in der Ferne auch noch mit der Sorge um mich quälen? Du hattest genug zu thun, Dich selber durchzubringen, und es gab ja auch eine Zeit, wo ich zufrieden war, oder es wenigstens zu sein glaubte, weil mein ganzes geistiges Leben wie in einem Banne lag, wo ich in dumpfer Gleichgültigkeit Alles über mich ergehen ließ und willig der Kette die Hand bot. Ich habe es gethan, nun ja! Ich habe aber auch mein ganzes Leben lang daran zu tragen.“

Hugo war zu ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. „Du meinst Deine Heirath mit Ella? Bei der ersten Nachricht davon wußte ich, daß es einzig das Werk des Onkels war.“

Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes, als er fast schneidend erwiderte: „Er war von jeher ein ausgezeichneter Rechenmeister, und das hat er auch hier wieder gezeigt. Der arme, aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommene Verwandte mußte es ja als ein Glück betrachten, daß man ihn zum Sohn und Erben des Hauses erhob, und die Tochter mußte doch einmal verheirathet werden; da galt es, mit ihrer Hand der Firma einen Nachfolger zu sichern, der den gleichen Namen trug. Es war nicht Ella’s Schuld und nicht die meine, daß man uns so zusammenband. Wir waren Beide jung, willenlos, ohne Verständniß des Lebens und unser selbst. Sie wird es ewig bleiben – wohl ihr! Mir ist es nicht so gut geworden.“

Man hätte es den kecken braunen Augen des jungen Capitains kaum zugetraut, daß sie so ernst blicken konnten, wie in diesem Momente, wo er sich zu dem Bruder herabbeugte. „Reinhold!“ sagte er halblaut. „In der Nacht, als ich entfloh, um mich einer Willkür zu entreißen, die mir Freiheit und Zukunft verschütten wollte, da hatte ich Alles geplant und vorhergesehen, nur das Eine, Schwerste nicht, die Minute, wo ich an Deinem Bette stand, um Dir Lebewohl zu sagen. Du schliefst ruhig und ahntest nichts von der Trennung, aber ich – als ich Dein kleines blasses Gesicht auf dem Kissen sah und mir sagte, [397] daß ich es nun lange Jahre nicht, daß ich es vielleicht nie wieder sehen würde, da wollten all die Freiheitsgelüste nicht Stand halten, und ich rang schwer mit der Versuchung, Dich zu wecken und mit mir zu nehmen. Später, als ich die dornenvolle Laufbahn des abenteuernden, heimathlosen Knaben mit all ihren Gefahren und Entbehrungen kosten mußte, da habe ich oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstand, wußte ich Dich doch sicher und geborgen im Hause der Verwandten, und jetzt“ – die kräftige Stimme Hugo’s bebte wie im unterdrückten Grolle oder Schmerz – „jetzt wollte ich, ich hätte Dich damals mit hinausgerissen in Mangel und Entbehrung, in Sturm und Gefahr, aber auch in die Freiheit hinaus; es wäre besser gewesen.“

„Es wäre besser gewesen,“ wiederholte Reinhold tonlos; dann auf einmal erhob er sich ungestüm. „Laß uns abbrechen! Wozu die Klagen, die das einmal Geschehene doch nicht ändern? Komm’! Man erwartet uns oben im Hause.“

„Ich wollte, ich hätte Dich auf meiner ‚Ellida‘ und wir könnten der ganzen Sippschaft den Rücken kehren auf Nimmerwiedersehen!“ sagte der junge Seemann mit einem Seufzer, während er sich anschickte, der Aufforderung nachzukommen. „So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht.“

Die Brüder hatten kaum das Haus betreten, als die Unentbehrlichkeit Hugo’s sich auch schon wieder zu zeigen begann. Von nicht weniger als drei Seiten ward er zugleich in Anspruch genommen. Jeder verlangte seinen Rath, seine Hülfe. Der junge Capitain schien die beneidenswerthe Fähigkeit zu besitzen, sich sofort von einer Stimmung in die andere werfen zu können, denn unmittelbar nach dem tiefernsten Gespräch mit dem Bruder sprühte er schon wieder von Heiterkeit und Uebermuth, half Jedem, sagte Jedem Artigkeiten und verspottete dabei Alle in der schonungslosesten Weise. Diesmal war es der Buchhalter, der ihn schließlich „abfing“, wie Jonas sich ausdrückte, um seine Vereinsangelegenheit vorzutragen, und während die beiden Herren darüber debattirten, trat Reinhold in das Eßzimmer, wo er seine Frau bereits mit den Vorbereitungen für die erwähnte Gesellschaft beschäftigt fand.

Ella war heute in Sonntagstracht, aber das änderte wenig in ihrer Erscheinung. Der Anzug von feinerem Stoffe war deshalb nicht kleidsamer; die Haube, die ihrem Schwager ein solches Entsetzen einflößte, umgab und entstellte auch heute das Gesicht. Die junge Frau widmete sich ihren Hausfrauenpflichten so emsig und ausschließlich, daß sie kaum den Eintritt ihres Gatten zu bemerken schien, der sich mit ziemlich finsterer Miene ihr näherte.

„Ich möchte Dich doch bitten, Ella,“ begann er, „in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf meine Wünsche zu nehmen und meinem Bruder in der Weise zu begegnen, die er von seiner Schwägerin erwarten kann und darf. Ich sollte meinen, das Benehmen Deiner Eltern und des ganzen Hauses könnte Dir als ein Beispiel dienen; aber Du scheinst ein eigenes Vergnügen darin zu finden, ihm jedes Verwandtenrecht zu versagen und ihm eine förmliche Antipathie zu zeigen.“

Die junge Frau sah bei dieser in nichts weniger als liebevollem Tone gegebenen Zurechtweisung genau so furchtsam und hülflos aus, wie damals, als die Mutter von ihr verlangte, sie solle gegen die musikalische „Manie“ ihres Mannes einschreiten. „Sei nicht böse, lieber Reinhold!“ entgegnete sie zaghaft, „aber ich – ich kann wirklich nicht anders.“

„Du kannst nicht?“ fragte Reinhold scharf. „Freilich, das ist ja Deine stete Antwort, wenn ich etwas von Dir verlange, und ich dächte, es käme doch selten genug vor, daß ich einmal eine Bitte an Dich richte. Diesmal aber bestehe ich ganz entschieden darauf, daß Du Dein Benehmen gegen Hugo änderst. Dieses scheue Ausweichen und consequente Schweigen auf jede seiner Anreden ist ja geradezu lächerlich. Ich bitte Dich jetzt ernstlich, etwas mehr dafür zu sorgen, daß ich meinem Bruder nicht gar zu bemitleidenswerth erscheine.“

Ella schien im Begriff zu sein, zu antworten; aber die letzte schonungslose Bemerkung schloß ihr die Lippen. Sie senkte den Kopf und machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, sich zu vertheidigen. Es war eine Bewegung so sanfter, geduldiger Fügsamkeit, daß sie wohl Jeden entwaffnet hätte; Reinhold aber achtete gar nicht darauf, denn in diesem Augenblicke hörte man drinnen im Nebenzimmer den alten Buchhalter sich verabschieden.

„Wir dürfen also auf die Ehre Ihrer Mitgliedschaft rechnen, Herr Capitain? Und hinsichtlich unserer Präsidentenwahl habe ich Ihr Wort, daß Sie zu der Opposition stehen?“

„Ganz der Ihrige, verehrter Herr!“ tönte Hugo’s Stimme. „Und selbstverständlich nur bei der Opposition. Ich schlage mich grundsätzlich immer zur Opposition, wo eine existirt; es ist gewöhnlich die einzige Partei, bei der es amüsant zuzugehen pflegt. Bitte, die Ehre ist ganz auf meiner Seite.“

Der Buchhalter ging, und der Herr Capitain erschien jetzt im Zimmer. Er schien Lust bekommen zu haben, das vorhin gegebene Versprechen einzulösen und die junge Frau seines Bruders gleichfalls von seiner Vortrefflichkeit zu überzeugen, denn er näherte sich ihr mit der ganzen Keckheit und dem ganzen Uebermuthe seines Wesens, dem eine gewisse ritterliche Galanterie beigemischt war.

„Also dem Zufalle muß ich es danken, daß ich endlich einmal meine liebenswürdige Schwägerin zu Gesicht bekomme und sie mir nothgedrungen auf einige Minuten Stand halten muß? Sie selbst freilich hätte mir dieses Glück nie zu Theil werden lassen. Ich habe mich bereits heute Morgen bitter bei Reinhold über diese Zurücksetzung beklagt, die verdient zu haben ich mir in keiner Weise bewußt bin.“

Er wollte ihre Hand ergreifen, jedenfalls um sie zu küssen; aber Ella zog mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschiedenheit die Hand zurück.

„Herr Capitain!“

„Herr Capitain!“ wiederholte Hugo entrüstet. „Nein, Ella, das geht zu weit. Ich hätte als Schwager wohl mehr als je ein Recht, das vertrauliche ,Du‘ zu beanspruchen, das Sie dem Vetter und Jugendgespielen nie verweigert haben; aber da Sie vom ersten Tage meines Hierseins an die fremde Anrede so entschieden betonten, so folgte ich dem mir gegebenen Winke. Dieses ,Herr Capitain‘ aber dulde ich nicht; das ist eine Beleidigung, gegen die ich Reinhold zu Hülfe rufe. Er soll mir sagen, ob ich es wirklich ertragen muß, mich von diesen Lippen ,Herr Capitain‘ genannt zu hören.“

„Nicht doch!“ sagte Reinhold, indem er sich zum Gehen wandte. „Ella wird diese Anrede wie überhaupt den fremden Ton gegen Dich fallen lassen. Ich habe sie soeben ausdrücklich darum gebeten.“

Er ging wirklich, und sein Blick befahl der jungen Frau ebenso bestimmt, zu bleiben, als sein Ton Gehorsam forderte. Dem Capitain entging Beides nicht.

„Um Gotteswillen, komm’ mir nicht mit Deiner Ehemannsautorität dazwischen! Willst Du die Freundlichkeit gegen mich etwa anbefehlen?“ rief er dem Bruder nach und wandte sich dann rasch wieder zu Ella, während er galant fortfuhr: „Das wäre der sicherste Weg, mich nun und nimmermehr Gnade finden zu lassen vor den Augen meiner schönen Schwägerin. Aber nicht wahr, dessen bedarf es auch nicht zwischen uns? Sie erlauben mir endlich, Ihnen den schuldigen Tribut der Ehrfurcht zu Füßen zu legen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, mit der ich die Nachricht empfing –“

Hier hielt Hugo plötzlich inne und schien aus dem Concepte zu kommen. Ella hatte das Auge emporgeschlagen und ihn angesehen. Es war ein Blick stillen schmerzlichen Vorwurfes, und derselbe Vorwurf lag auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:

„Lassen Sie doch wenigstens mich in Frieden, Herr Capitain! Ich dächte, Sie hätten heute bereits hinreichenden Zeitvertreib gehabt.“

„Ich?“ fragte Hugo betroffen. „Wie meinen Sie das, Ella? Sie glauben doch nicht etwa –“

Die junge Frau ließ ihn nicht ausreden. „Was haben wir Ihnen denn gethan?“ fuhr sie fort, und so furchtsam die Stimme auch im Anfange noch bebte, sie gewann sichtbar an Festigkeit bei jedem Worte. „Was haben wir Ihnen denn gethan, daß Sie uns immer nur verspotten von dem Tage Ihrer Rückkehr an, wo Sie meinen Eltern eine Reuescene vorspielten, über die Sie wahrscheinlich nachher sehr gelacht haben, bis zur heutigen Stunde, wo Sie das ganze Haus zur Zielscheibe Ihres Uebermuthes machen? Reinhold duldet es freilich, daß wir Tag für Tag so herabgesetzt werden; er muß es wohl in der Ordnung finden. Aber ich, Herr Capitain,“ – hier hatte Ella’s Ton die [398] vollste Sicherheit gewonnen – „ich finde es nicht in der Ordnung, daß Sie ein Haus, in welchem Sie, trotz alledem, was geschehen ist, mit der alten Liebe wieder aufgenommen worden sind, tagtäglich mit Spott und Hohn überschütten. Wenn Ihnen dies Haus und diese Familie so sehr kleinlich und lächerlich erscheinen, so hat Sie ja Niemand hergerufen. Sie hätten draußen bleiben sollen in der Welt, von der Sie soviel zu erzählen wissen. Meine Eltern verdienen mehr Schonung und Achtung, selbst für ihre Schwächen, und unser Haus mag sehr einfach sein, aber es ist doch immer noch zu gut für den Spott eines – Abenteurers.“

Sie wandte ihm den Rücken und verließ das Zimmer, ohne ein Wort der Erwiderung abzuwarten. Hugo stand da und sah ihr nach, als habe sich soeben eine der unmöglichen Scenen aus seinen „Indianergeschichten“ leibhaftig vor seinen Augen ereignet. Es geschah dem jungen Seemanne wahrscheinlich zum ersten Male in seinem Leben, daß er mit der Geistesgegenwart auch die Sprache verlor.

„Das war deutlich,“ sagte er endlich, indem er sich ganz fassungslos niedersetzte, aber schon in der nächsten Minute sprang er wie elektrisirt empor und rief:

„Sie hat sie wahrhaftig – die schönen blauen Augen des Kindes. Und das muß ich erst heute und jetzt entdecken! Freilich wer hätte auch unter diesem Ungethüm von Haube diesen Blick gesucht. ‚Wir sind zu gut für den Spott eines Abenteurers!‘ Schmeichelhaft ist das gerade nicht, aber verdient war es, wenn ich es auch freilich aus diesem Munde am allerletzten zu hören erwartete. Also böse muß man Frau Ella machen, wenn man sie so sehen will? Das werde ich doch öfters probiren.“

Hugo machte eine Wendung, in das Besuchszimmer hinüberzugehen, aber auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und blickte nach der Thür hinüber, durch die seine junge Schwägerin sich entfernt hatte. Der Zug von Spott und Uebermuth in seinem Gesichte war völlig verschwunden; es hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als er leise sagte: „Und da glaubt Reinhold nur, daß sie blaue Augen hat? Unbegreiflich!“




Der große Concertsaal von H. schien diesmal die Elite der ganzen Stadt in seinen Räumen zu vereinigen. Es handelte sich um eines jener Concerte, die, zu irgend einem wohlthätigen Zweck in’s Werk gesetzt, von den ersten Familien der Gesellschaft in Protection genommen wurden, und bei denen die Mitwirkung einerseits und das Erscheinen andererseits als Ehrensache galt. Das Programm wies heute nur Namen von Berühmtheiten auf, sowohl was die Musikstücke als was die Ausführenden betraf, und im Uebrigen hatte man durch möglichst hohe Preise dafür gesorgt, daß das Publicum vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, den ersten Kreisen angehörte.

Noch hatte das Concert nicht seinen Anfang genommen, und die mitwirkenden Künstler befanden sich noch in einem neben dem Saale gelegenen Zimmer, das bei solchen Gelegenheiten als Versammlungsort diente, und zu dem nur einige besonders Begünstigte aus dem Publicum Zutritt hatten. Um so mehr fiel daher die Gegenwart eines jungen Mannes auf, der weder zu diesen Begünstigten, noch zu den Künstlern selbst gehörte und sich auch von Beiden fern hielt. Er war vor Kurzem eingetreten und hatte sich sofort an den Capellmeister gewandt, der ihn zwar auch nicht zu kennen schien, aber doch von seinem Kommen unterrichtet sein mußte, denn er empfing ihn äußerst artig. Die umstehenden Herren vernahmen nur so viel von dem Gespräche, daß der Capellmeister bedauerte, Herrn Almbach keine Auskunft geben zu können, es sei der Wunsch Signora Biancona’s gewesen; Signora werde sogleich selbst erscheinen. Die kurze Unterhaltung war bald zu Ende, und Reinhold zog sich zurück.

Der in lebhafter Unterhaltung begriffene Künstlerkreis stob urplötzlich auseinander, als die Thür sich öffnete, und die junge Primadonna erschien, die man noch nicht erwartet hatte, denn sie pflegte sonst stets erst im letzten Augenblicke vorzufahren. Alles kam in Bewegung. Man überbot sich in Aufmerksamkeiten gegen die schöne Collegin, aber diese nahm heute auffallend wenig Notiz von der gewohnten Huldigung ihrer Umgebung. Ihr Blick war schon beim Eintreten rasch durch das Zimmer geflogen und hatte sofort gefunden, was er suchte. Signora geruhte, die Begrüßungen nur sehr flüchtig zu erwidern, wechselte einige Worte mit dem Capellmeister und entzog sich dann sofort jeden weiteren Unterhaltungsversuchen der Herren, indem sie sich an Reinhold Almbach wandte, der sich ihr jetzt näherte, und mit ihm in eine der entferntesten Fensternischen trat.

„Sie sind wirklich gekommen, Signor?“ begann sie in vorwurfsvollem Tone. „Ich glaubte in der That kaum noch, daß Sie meiner Einladung Folge leisten würden.“

Reinhold sah auf, und die erzwungene Kälte und Fremdheit bei der Begrüßung begann bereits zu weichen, als er zum ersten Male wieder seit jenem Abende diesem Blicke begegnete.

„Also war es doch Ihre Einladung,“ sagte er. „Ich wußte in der That nicht, ob ich die mir in Ihrem Namen übersandte Aufforderung des Herrn Capellmeisters als eine solche betrachten durfte. Es lag keine einzige Zeile von Ihrer Hand bei.“

Beatrice lächelte. „Ich folgte nur einem mir gegebenen Beispiele. Auch ich habe ein gewisses Lied erhalten, dessen Componist seinem Namen kein einziges Wort hinzugefügt hatte. Ich übte nur Vergeltung.“

„Hat mein Schweigen Sie beleidigt?“ fragte der junge Mann rasch. „Ich wagte nichts hinzuzufügen. Was –“ sein Auge sank zu Boden – „was hätte ich Ihnen auch sagen sollen!“

Die erste Frage wäre wohl überflüssig gewesen; denn die Huldigung jenes Liedes schien verstanden worden zu sein, und Signora Biancona sah nichts weniger wie beleidigt aus, als sie erwiderte:

„Sie scheinen das Wortlose zu lieben, Signor, und durchaus nur in Tönen zu mir sprechen zu wollen. Nun denn, ich füge mich Ihrem Geschmack und habe beschlossen, Ihnen gleichfalls nur in unserer Sprache zu antworten.“

Sie legte einen leisen, aber doch bemerkbaren Nachdruck auf das Wort. Reinhold hob überrascht das Haupt.

„In unserer Sprache?“ wiederholte er langsam.

(Fortsetzung folgt.)





Gang zur Beichte.

Auch dem Frevler, der gesündigt,
Unser Heiland gern vergiebt,
Der vor Allen Gnade kündigt
Herzen, die zu heiß geliebt. –

5
Zaghaft, tiefgesenkten Blickes

Schreitet sie zum Beichtstuhl hin,
Einem Opfer des Geschickes
Gleicht die bleiche Büßerin.

Schön, trotz Kummer und Bedrängniß –

10
Ach! die Schönheit lockt den Schmerz,

Und das bitterste Verhängniß
Ist ein leidenschaftlich Herz,
Das sich einmal nur entzündet,
Einmal nur erschließt dem Licht,

15
Hier schon seinen Himmel gründet,

Oder in Verzweiflung bricht.

Ist es Sünde denn zu lieben?
Hat nicht eine höh’re Macht
Sie an seine Brust getrieben,

20
Der die Flamme angefacht?

Nun er treulos sie verlassen,
Meineid ward sein heißer Schwur,
Soll sie den Verruchten hassen –
Ach! ihr Herz liebt einmal nur.

25
Daß im Keim geknickt ihr Leben,

Hat sie liebend ihm verzieh’n;
Daß ihr selber sei vergeben,
Fleht sie weinend auf den Knie’n;
Ihre eig’ne Schuld zu büßen,

30
Flieht sie in des Herren Hut

Und verströmt zu seinen Füßen
Des gebroch’nen Herzens Blut.

„Nicht am Ird’schen sollst Du hangen –
Unschuld wahre Dir und Ruh’,

35
Und mit gläubigem Verlangen

Wende Dich dem Ew’gen zu!“
So sprach einst der Priester gütig,
Doch ihr Herz blieb wahnbethört,
Wehe, wenn er zornesmüthig

40
Heute sie auch nicht erhört!


Zage nicht – und wenn er Milde
Und Verzeihung dir versagt,
Blicke auf zu jenem Bilde!
Nicht umsonst hast Du geklagt:

45
Auch dem Frevler, der gesündigt,

Unser Heiland gern vergiebt,
Der vor Allen Gnade kündigt
Herzen, die zu heiß geliebt.

                         Albert Traeger.

[399]

Gang zur Beichte.
Originalzeichnung von M. Ulffers in Düsseldorf.[WS 1]

[400]
Das Haus der Berliner Frauen.


In der Königgrätzer Straße befindet sich eines der interessantesten Häuser von Berlin, das in seiner Weise gewiß einzig in ganz Deutschland und vielleicht auch in der übrigen Welt dastehen dürfte, obgleich es äußerlich wenig oder gar nicht in die Augen fällt und sich höchstens durch die über dem Thorwege angebrachte Büste des durch seine humanen Bestrebungen berühmten Präsidenten Lette bemerkbar macht. Erst auf Befragen erfahren wir, daß dieses schlichte, bescheidene Haus eine große Bedeutung für die Frauenwelt hat, da es eine Reihe von wichtigen Instituten in sich schließt, die der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts dienen. Das Haus selbst heißt das Lette-Haus und ist erst seit Kurzem Eigenthum des Berliner Lette-Vereins.

An einem milden Herbsttage des Jahres 1864 besuchte der Schreiber dieser Zeilen mit mehreren Bekannten den berühmten Vater der deutschen Genossenschaften, unsern Schulze-Delitzsch, in seiner Villa zu Potsdam. Nach Tische machten wir einen kleinen Spaziergang durch den schönen Garten unseres Wirthes, wobei ich mit dem ebenfalls anwesenden Präsidenten Lette in ein interessantes Gespräch über die Lage der unversorgten Frauen gerieth. Die Veranlassung gab ein in dem von mir früher redigirten „Volksgarten“ erschienener Aufsatz „Ueber das Loos der unverheiratheten Mädchen“ von Ellen Lucia, worin die unbekannte Verfasserin mit vielem Geiste die Mängel unserer weiblichen Erziehung, die daraus entspringende Noth der unversorgten Töchter schilderte und die Mittel zur Abhülfe vorschlug, ohne jedoch mit den gewöhnlichen Phrasen die sogenannte Frauenemancipation zu fordern.

Mit dem ihm eigenen jugendlichen Eifer faßte der ausgezeichnete, für alles Gute und Edle begeisterte greise Lette den von mir nur leicht hingeworfenen Gedanken auf, einen Verein zur Beseitigung dieser in die Augen springenden Uebelstände zu bilden. Da er selbst zu sehr durch seine vielseitigen Geschäfte in Anspruch genommen wurde, ersuchte er mich, ihm einen kurzen Entwurf zu geben und ihm die nöthigen Materialien zu verschaffen, wozu ich gern bereit war. Nach meinen flüchtigen Angaben verfaßte er eine ausführliche, ebenso gediegene wie geistvolle Denkschrift, die er dem Centralverein für das Wohl der arbeitenden Classen überreichte.

Schon am 13. December 1865 fand auf Grund dieser Denkschrift eine vorbereitende Versammlung statt, an der sich eine große Anzahl angesehener Männer und Frauen betheiligten. Nach mehrfach eingehender Besprechung wurde am 26. Februar 1866 „Der Verein für Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ gebildet und zum Vorsitzenden der unermüdliche, hochverehrte Lette gewählt. Seinem bewunderungswürdigen organisatorischen Talente, seiner angesehenen Stellung und persönlichen Liebenswürdigkeit, seinem milden, humanen Wesen und seiner versöhnenden Natur gelang es auch, alle Schwierigkeiten und Vorurtheile zu besiegen und dem Vereine zahlreiche Gönner und Freunde zu erwerben, an deren Spitze bald die von dem gleichen Geiste beseelte Kronprinzessin Victoria als Protectorin trat. Schon im ersten und schwersten Jahre belief sich die Zahl der Mitglieder auf fünfhundert Personen, die der Beiträge auf tausend bis elfhundert Thaler.

Leider erlitt der Verein durch den am 3. December 1868 erfolgten Tod des Stifters einen schweren, fast unersetzlichen Verlust. Noch auf dem Sterbebette dachte der edle Greis an seine Schöpfung, indem er ihr ein Capital zur Gründung einer Vorschußcasse vermachte. Seine Stelle übernahm der für alle humanen Ideen thätige Professor von Holtzendorff, einer jener seltenen Gelehrten, die durch ihre Betheiligung an dem öffentlichen Leben das Ideal mit der Wirklichkeit zu vermitteln und zu versöhnen suchen. Nach mehrjähriger angestrengter Thätigkeit sah sich jedoch Professor Holtzendorff durch seine überhäuften Berufsgeschäfte genöthigt, im April 1872 den Vorsitz niederzulegen, welcher nun der Frau Schepeler-Lette, der würdigen und auch geistesverwandten Tochter ihres berühmten Vaters, übertragen wurde.

Unter ihrer Leitung entwickelte sich der Verein immer kräftiger und segensreicher, nachdem er schon unter ihren Vorgängern mit verhältnißmäßig geringen Mitteln Bedeutendes geleistet hatte. Durch das Arbeitsnachweisungsbureau erhielten bereits zahlreiche Frauen unentgeltlich eine lohnende Beschäftigung oder ein sicheres Unterkommen. Ferner wurde eine Handelsschule eingerichtet, eine Frauenindustrieausstellung veranstaltet, ein Verband sämmtlicher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine in Deutschland gegründet und zum Organ desselben der „Frauen-Anwalt“ bestellt.

Aber diesen vereinzelten, höchst anerkennenswerthen Leistungen fehlte der Mittelpunkt eines eigenen Hauses, worin alle die zerstreuten Institute ein dauerndes Unterkommen finden sollten. Nur ein solcher Grundbesitz konnte die feste Basis, den sicheren Boden abgeben, auf dem allein der Verein gedeihen konnte. Es war daher ein ebenso glücklicher als kühner Gedanke, ohne zureichendes Vermögen einen solchen nothwendigen Besitz zu erwerben. Männliche Kraft und weibliche Ausdauer ließen das schwere Werk gelingen. Zu diesem Zwecke wurde zunächst eine Sammlung bei den Gönnern und Freunden des Vereins veranstaltet, an der sich vor Allem die hohe Protectorin mit einer bedeutenden Summe betheiligte.

Mit der gewiß höchst bescheidenen Summe von achttausend wurde der Ankauf des Hauses für den Preis von fünfundneunzigtausend Thalern gewagt, nachdem sich noch in der letzten Stunde ein verborgener Wohlthäter bereit erklärt hatte, fünfundzwanzigtausend Thaler unter den liberalsten Bedingungen vorzustrecken. Da aber mit dem Ankauf auch ein nicht zu umgehender Umbau vorgenommen werden mußte, so reichte das vorhandene Geld nicht hin. Jedoch der gute Genius und der Schutzgeist des Vereins sorgte für neue Mittel; unter dem Schutze der Frau Kronprinzessin wurde in dem sogenannten Prinzessinnen-Palais ein „Bazar“ zum Besten des Lette-Hauses eröffnet. Wie durch Zauber verwandelten sich die Räume des Fürstenschlosses in eine prächtige Markthalle, worin die Protectorin mit den reizendsten Verkäuferinnen schaltete und die Elite der Gesellschaft herbeizog.

Die ersten Künstler Deutschlands, Andreas Achenbach, Begas, Passini, Paul Meyerheim, Knaus, Richter, A. von Werner, Knille, Harrach, Kalkreuth, Eschke etc. hatten ihre werthvollen Gaben auf den Altar unserer lieben Frau niedergelegt, der Maler Angeli aus Wien sich schriftlich verpflichtet, ein ihm zuzuweisendes Portrait zu malen und das dafür gezahlte Honorar von tausend Thalern dem Vereine zu überlassen. Auch die Frau Kronprinzessin, die selbst als ausübende Künstlerin Bedeutendes leistet, gab eine werthvolle Arbeit von ihrer eigenen Hand, eine Zeichnung, ihre beiden ältesten Töchter darstellend. Besonderen Anklang fanden die höchst originellen humoristischen Federskizzen berühmter Künstler, die auf Veranlassung des genialen Meyerheim in einer heitern Stunde mit zauberhafter Geschwindigkeit auf ordinäres Papier mit gewöhnlicher Tinte in übermüthiger Laune hingeworfen und ebenso schnell vergriffen wurden, sodaß sie fortwährend nachgeliefert werden mußten, da man sich förmlich um die im Stile der Münchener Bilderbogen gezeichneten komischen Blätter riß. Auch die Schriftstellerwelt war durch eigens für den Bazar bestimmte geistvolle Autographen vertreten; außerdem fehlte es nicht an reizenden Arbeiten von zarter, schöner Hand, an Quincaillerien, Wäsche und Stickereien, an silbernen und goldenen Schmuckgegenständen. Die Prinzessin Charlotte hatte einen selbstgenähten Kinderanzug, Prinz Waldemar eigene Papparbeiten und die übrigen kronprinzlichen Kinder Bücher und Spielsachen aus ihrem Vorrath geschenkt.

Durch das Zusammenwirken aller dieser Kräfte wurde natürlich auch ein höchst glänzender Erfolg erzielt und die Summe von fünfzehntausend Thalern zum Besten des Lette-Hauses eingenommen, worin jetzt der Verein mit allen seinen verschiedenen Anstalten sich dauernd angesiedelt hat. Um diese genauer in Augenschein zu nehmen, wollen wir dem so interessanten Gebäude einen kurzen und hoffentlich lohnenden Besuch abstatten.

Treten wir durch das Portal in das Innere des Gebäudes, so erblicken wir zunächst einen großen Saal, die im Erdgeschosse gelegene Restauration worin die in dem sogenannten „Victoria-Stifte“, das wir uns noch später ansehen werden, wohnenden [401] Damen, aber auch andere Frauen, für sieben und einen halben Groschen, im Abonnement für sechs Groschen, einen guten, kräftigen Mittagstisch erhalten. Der zahlreiche Besuch spricht ebenso sehr für die Nothwendigkeit einer besonderen Speiseanstalt für Damen, wie auch für die Güte und Solidität der Bewirthung. In der überaus freundlichen und sauberen Küche, die sich im Souterrain befindet, werden junge Mädchen auf Wunsch im Kochen einer guten Hausmannskost und anderen wirthschaftlichen Arbeiten unterrichtet. Steigen wir eine Treppe höher, so gelangen wir aus der materiellen Sphäre der Küche in die geistige Region der Schule, die auch hier als die Wurzel und der Schwerpunkt des Ganzen angesehen wird. Durchschnittlich erhalten hier jährlich hundert Schülerinnen in den verschiedensten Fächern eine hinreichende Ausbildung theils für den kaufmännischen, theils für einen gewerblichen Beruf.

Gegen ein Honorar von fünfzig Thalern wird in der Handelsschule bei genügenden Vorkenntnissen der nöthige Unterricht im Buchführen, kaufmännischen Rechnen, in Comptoirarbeit und Correspondenz, Handels- und Gewerbekunde, Geld- und Wechselwesen, in englischer und französischer Sprache, im Deutschen und in der Geographie von den besten Lehrern und Lehrerinnen ertheilt. Ebenso wird in der Gewerbeschule in ein-, zwei- und mehrmonatlichen Cursen gewerbliches Zeichnen, Kleider- und Wäschezuschneiden nach wissenschaftlichen Principien, Nähen mit der Hand und mit der Maschine, französische Blumenfabrication, Putzfach, Handschuhnähen, Malen auf Porcellan, in Aquarell und Guache gelehrt. Eine große Zahl der zwischen fünfzehn bis dreißig Jahren stehenden Schülerinnen, deren Gesammtzahl schon jetzt weit über tausend beträgt, hat bereits in den verschiedensten Geschäften lohnende Stellungen gefunden und fast ohne Ausnahme sich bewährt. Der Verein verleiht auch Freistellen für junge, talentvolle Mädchen, die sich besonders auszeichnen und sich durch ihre Zeugnisse empfehlen.

Zu der Handels- und Gewerbeschule ist noch in letzter Zeit das telegraphische und typographische Institut hinzugetreten. Nachdem die Petition des Vereins an den deutschen Reichstag um Zulassung der Frauen zum Eisenbahn- und Postdienst eine günstige Aufnahme gefunden, erfolgt jetzt die Ausbildung weiblicher Aspiranten nach den gesetzlichen Bestimmungen unter Leitung und Aufsicht der Kaiserlichen Telegraphendirection unentgeltlich in einem besondern Saale des Hauses, worin die jungen Mädchen unter Aufsicht eines höhern Beamten mit dem Morse’schen Apparate arbeiten.

Vom 1. October 1873 bis Ende Februar 1874 sind im Ganzen bereits achtundvierzig Telegraphengehülfinnen ausgebildet worden, von denen dreizehn ihr Examen gut bestanden und eine vorläufige Anstellung im Staatsdienste mit einem Gehalte von sechs Thalern wöchentlich erhalten haben. Im Allgemeinen lautet das Urtheil der Kaiserlichen Telegraphendirection über ihre Leistungen folgendermaßen: „Die Gehülfinnen lassen es ohne Ausnahme nicht an Fleiß und Eifer beim Erlernen fehlen, und die Fortschritte, die sie gemacht haben, sind zufriedenstellend. Einzelne sind im Telegraphiren verhältnißmäßig schon ziemlich gewandt, während das Reguliren der Apparate ihnen fast ausnahmslos schwer fällt. Den Gehülfinnen werden zur Zeit nur die weniger frequenten Apparate zur Bedienung überwiesen, weil die Aufregung während der immerhin nicht leichten Beschäftigung des Telegraphirens dieselben mehr oder weniger so angreift, daß ihnen eine anhaltende Beschäftigung noch nicht zugemuthet werden kann.“

Bedenkt man die kurze Zeit und die zugestandene Schwierigkeit des Dienstes, so wird man nicht an dem günstigen Erfolge zweifeln können. Noch bedeutender und hoffnungsvoller sind jedoch die Leistungen des typographischen Instituts, welches sich unter Leitung des Herrn Buchdruckereibesitzers Schwabe vorläufig noch in der Wilhelmstraße Nr. 122 befindet. In der kurzen Zeit von einigen Monaten sind bereits zweiundzwanzig Setzerinnen so weit ausgebildet worden, daß sie den an sie gestellten Anforderungen genügen und durchschnittlich sechs bis sieben Thaler in der Woche verdienen. Die jungen Damen arbeiten in einem besondern Raume, theils sitzend, theils stehend, acht bis zehn Stunden am Tage, ohne daß sich bis jetzt ein nachtheiliger Einfluß auf ihre Gesundheit zeigt. Ihr Lehrherr rühmt ihren Fleiß, und die von ihnen gelieferten Arbeiten zeichnen sich durch Sauberkeit und Correctheit aus, wie die vorgelegten Proben beweisen.

Von ganz besonderer Wichtigkeit ist das in der dritten Etage gelegene Arbeitsnachweisungsbureau unter der Leitung der Frau Betty Lehmann, einer hochgebildeten Dame, welche täglich mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage die gewünschte Auskunft ertheilt und die nöthige Correspondenz besorgt. Von dem Umfange dieser Thätigkeit kann man sich erst einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß im vergangenen Jahre dreitausendfünfhundertneun Briefe eingegangen und zweitausendachthundertachtundachtzig geschrieben worden sind. Außerdem verzeichnen die sorgfältig geführten Listen zweitausendvierhundertdrei Besuche, darunter tausendsechshundertfünfzig Stellensuchende und neunhundertfünfzig Stellenbietende. Durch unentgeltliche Vermittlung erhielten vierhundertsechszehn Personen theils ein dauerndes Unterkommen, theils eine vorübergehende Beschäftigung. Darunter befanden sich hundertneunzig Lehrerinnen für Sprachen, Schulwissenschaften, Musik und Zeichnen, neunundachtzig Bonnen und Kindergärtnerinnen, acht Gesellschafterinnen, achtundneunzig Handarbeiterinnen, drei Directricen für Wäschegeschäfte, neun Comptoiristinnen, sechs Verkäuferinnen, elf Wirthschafterinnen und zwei Stenographinnen.

In neuester Zeit hat das so nützliche Arbeitsnachweisungsbureau noch eine zweckmäßige Erweiterung und Ergänzung dadurch gefunden, daß es auf Bestellung Arbeiten nach ausgelegten Mustern anfertigen läßt. Zweimal in der Woche sind zu diesem Zwecke zwei dem Ausschusse angehörende Damen anwesend, um sowohl die eingegangenen Muster zu prüfen, wie auch die eingehenden Bestellungen entgegenzunehmen und den Preis festzusetzen. Auf diese Weise werden die Frauen vor jeder Ausbeutung geschützt und wird ihnen die Gelegenheit zu einem lohnenden Erwerbe geboten.

Das in der dritten und vierten Etage befindliche Victoriastift, ursprünglich eine Schöpfung der Frau Kronprinzessin und erst seit einigen Jahren mit dem Vereine verbunden, bietet den in Berlin verweilenden Erzieherinnen, aber auch andern Damen, die sich wegen ihrer Ausbildung hier aufhalten, für den mäßigen Preis von zwanzig Thalern monatlich ein sicheres Asyl und eine gute Verpflegung, auch ärztliche Behandlung und noch andere Vortheile. In zwölf geräumigen und comfortable eingerichteten Zimmern können achtunddreißig Pensionairinnen ein ebenso angenehmes wie billiges Unterkommen finden. Ein großes, elegantes Conversationszimmer mit einer kleinen auserlesenen Bibliothek und einem trefflichen Pianino dient zur gemeinschaftlichen Benutzung. Die jungen Damen, welche ohne Ausnahme den höheren gebildeten Ständen angehören, darunter Künstlerinnen, welche die Hochschule für Musik oder das Atelier eines berühmten Malers besuchen, genießen hier alle Vortheile eines schönen Familienlebens. Außer vier Freistellen hat die hohe Protectorin noch zur Weihnachtsbescheerung eine ansehnliche Summe gewährt, welche mit einem Zuschusse aus der Stiftscasse zur Anschaffung eines gemüthlichen Weihnachtsbaumes und passender Festfreuden verwendet wurde. Für das Inventar bewilligte die Gnade des Kaisers außerdem noch fünfhundert Thaler aus den Ueberschüssen der im Winter abgehaltenen Subscriptionsbälle.

Nicht minder wohlthätig und segensreich bewährte sich die aus dem Vermächtnisse des verstorbenen Präsidenten gebildete Lette-Stiftung und der damit verbundene Nähmaschinenfond. Beide Institute verfolgen den Zweck, Frauen und Mädchen durch ein Darlehn bis zur Höhe von dreihundert Thalern gegen genügende Bürgschaft und bei allmählicher Abzahlung die Gründung eines selbstständigen Geschäftes zu ermöglichen. Durchschnittlich werden im Jahre zweitausend bis dreitausend Thaler ausgeliehen, deren Zurückzahlung meist pünktlich erfolgt ist. An Nähmaschinen wurden vom 1. März 1873 bis 8. Februar 1874 siebenundfünfzig Stück an unbemittelte Frauen überlassen und dafür durch Abschlagszahlungen die Summe von tausendvierhundertdreißig Thalern und fünfzehn Silbergroschen abgetragen. Zahlreiche Familien, besonders verlassene Wittwen, verdanken dieser Einrichtung nicht nur ihre Existenz, sondern in einzelnen Fällen sogar einen stets wachsenden Wohlstand.

In dieser Weise wirkt der Letteverein nach allen Seiten und mit allen Kräften für die Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, die keineswegs mit der sogenannten Emancipation [402] der Frauen verwechselt werden darf. In den von der Natur und der Gesellschaft gegebenen Schranken sucht derselbe seine Aufgabe zu lösen, indem er durch eine zweckmäßige Bildung der Mädchen und Frauen neue, ihnen bisher unzugängliche Kreise einer lohnenden Thätigkeit erschließt, ihnen durch die eigene Arbeit eine selbstständige, unabhängige Stellung giebt, ohne sie deshalb der Familie und ihrer wahren Bestimmung zu entziehen. Er bietet den Verlassenen eine Heimath, den Unbemittelten seine Hülfe, den Wittwen und Waisen eine Stütze, den unversorgten Töchtern ein Unterkommen, das sie vor der Sorge um das tägliche Brod und öfters auch vor der ihnen drohenden Verführung schützt. Sein Streben ist von der reinsten Humanität beseelt, sein Ziel die echte und einzig wahre Emancipation der Frau durch Arbeit, Bildung und Sittlichkeit.

Max Ring.





Indianerhäuptling und Poet.


Auf den Promenaden des fashionablen Londons sieht man seit Jahresfrist mitunter einen Reiter in der kleidsamen Tracht der mexicanischen Vaqueros, dessen Fertigkeit im Reiten die Männer bewundern und dessen edles, von einer blonden Lockenfülle eingerahmtes Gesicht alle Frauen entzückt. Die Frage nach dem Namen und der Stellung dieses auffälligen Cavaliers, den die Damen der höchsten Aristokratie vertraulich grüßen und welcher mit den Herren der ersten Kreise des Westend auf gutem Fuße zu stehen scheint, wird je nach dem Bildungsgrade des Gefragten verschieden beantwortet werden. Daß er ein Amerikaner ist und Joaquin Miller heißt, weiß man fast allgemein. „Den Indianerhäuptling“, „the Modoc-Chief“, „the Californian“ nennen ihn die Leute vom Strande, welche es sich untereinander als eine Art Sage erzählen, daß dieser Löwe der feinen Gesellschaft ehemals Häuptling des in neuerer Zeit so berühmt gewordenen Indianerstammes der Modocs war; als den jungen californischen Dichter, den amerikanischen Byron, bezeichnen ihn diejenigen, welche etwas näher mit dem Wirken und der literarischen Bedeutung dieses Mannes bekannt sind. Jede dieser Bezeichnungen ist richtig, ja man könnte noch weit mehr sagen: Der gefeierte amerikanische Dichter, welcher kaum dreiunddreißig Jahre zählt, war mehr als Indianerhäuptling, er ist der Reihe nach Bauer, Vaquero, Goldgräber, Feldherr der Indianer gegen die Weißen, Führer der Freiwilligen und Milizen gegen feindliche Stämme, der vergötterte Held der rothen Krieger und der Schrecken der weißen Goldjäger und Grenzer, er ist Flibustier, Journalist, Expreßbote, Rechtsanwalt und Kreisrichter gewesen.

Wir in Classen und Kasten abgetheilten Kinder der Civilisation, die wir oft länger als ein halbes Menschenalter in den Schulen hocken, alles Mögliche und Unmögliche lernen müssen, um uns auf einen einzigen Beruf vorzubereiten, welchen trotzdem die meisten von uns nur jämmerlich ausfüllen, wir können es kaum fassen und begreifen, wie eine solche Laufbahn möglich war, wie ein Mensch, der ohne Schule und ohne Erziehung aufwuchs, der sich länger als zehn Jahre unter den Indianern und Grenzstrolchen herumtrieb, die heterogensten Dinge treiben, bürgerliche Aemter, welche Fachbildung voraussetzen, bekleiden und sich gleichzeitig zum namhaften Dichter einer auf der Höhe der Cultur stehenden Sprache emporschwingen konnte, einer Sprache, die Shakespeare, Milton und Byron zu ihren geistesmächtigsten Pflegern und einen Tennyson, Longfellow und Bryant zu ihren lebenden Meistern zählt. Nur wer in Amerika gelebt und die Facultäten dieser größten aller Hochschulen genau kennen gelernt hat, der weiß es, daß in diesem Lande solche Carrièren möglich sind.

Die literarische Sensation, welche der californische Novellist Bret Harte durch sein kleines Buch „The luck of the roaring camp and other Stories“ im Winter 1871 bis 1872 in England und Amerika erregte, hatte sich kaum verflüchtigt, als durch die amerikanische Presse die Nachricht lief, in London sei abermals ein Californier als Dichter aufgetreten und sein Buch „Songs of the Sierras“ habe allgemeine Anerkennung gefunden. Der nie dagewesene Erfolg dieses Buches, von welchem in der kurzen Zeit eines Jahres allein in Amerika elftausend Exemplare abgesetzt wurden, und die fast ungetheilte Anerkennung aller großen und kleinen Kritiker zeigten, daß der Ruhm, welcher dem bisher unbekannten Joaquin Miller über Nacht geworden, nicht unverdient war. Die Gedichte Miller’s sind bei allen stellenweise vorkommenden Schwächen neu und einzig in ihrer Art. Darin ist nichts von dem süßen Reimgeklingel einer längst bis auf die Wurzeln abgeweideten Erotik, auf welcher poetische Grauchen in unseren Tagen noch immer ein spärliches Futter suchen und mitunter von kurzsichtigen Recensenten für Pegasusse gehalten werden; da ist keine Spur von jener verklungenen Romantik, die als Gespenst durch die ersten Versuche junger Dichter schreitet, kein Anlehnen an irgend einen Meister oder eine Schule; man merkt es diesen Gesängen an, sie würden gerade so ausgefallen sein, wenn Joaquin Miller der erste Dichter der englischen Sprache gewesen wäre. Das ist neuer Wein in neuen Schläuchen, süß, berauschend und schwer, wie der goldene Californier, welcher der Sage nach selbst den Teufel bezwang. Nie betritt diese wildfremde Muse die ausgefahrenen Gleise des Epigonenthums, welches gegenwärtig in allen Cultursprachen florirt; das sind neue Bahnen und neue Formen, fast könnte man versucht sein zu sagen – neue Gedanken.

„Gedanken wild, stark, wie ein Panther,
Doch zahm in den Fesseln des Worts.“

Miller’s Muse ist eine Rothhaut, wie er denn auch ausschließlich Indianerinnen besingt. „My peerless dark-eyed Indian girl“ ist seine stehende Phrase. Der Goldgräber, der Flibustier, der Vaquero, das vor dem Prairiefeuer flüchtende Brautpaar, der Grenzer und Trapper sind seine Figuren, der Urwald, die Prairie oder die Südsee bilden den Hintergrund; die menschlichen Leidenschaften, groß, wild und gewaltig und würdig der großartigen Scenerie, sind seine Effecte, und mit diesen einfachen Mitteln führt er uns Zeitbilder, Seelengemälde oder Naturschilderungen vor, die einen dauernden Platz unter den Meisterwerken der englischen Sprache einnehmen.

Selbstverständlich begegnen wir in diesen Versen zuweilen Härten und Unebenheiten, die der Aesthetiker dick anstreichen würde. Miller gebraucht nicht selten in seinen schönsten Strophen ein Slang-Wort; man merkt, daß kein geläuterter Geschmack die Feile geführt, aber man ist um der vielen Schönheiten willen gern geneigt, das zu übersehen. Den Leidenschaften der Liebe und des Hasses weiß er mit Shakespearescher Intensität Ausdruck zu verleihen; seine Schilderungen stellen Einige denjenigen Byron’s gleich.

Daß diese Gesänge in unserer trockenen, poesiearmen Zeit wie Brander zündeten, ist leicht begreiflich. Man fragte sich allgemein: „Wer ist dieser Mensch?“ Ja, wer war er? Diese Frage führte zu einer scandalösen Zeitungs-Controverse. Die einzelnen Lieder deuteten nur leicht an, was der Dichter bisher getrieben hatte. Seine Freunde glaubten, die sonderbare Vergangenheit vertuschen zu müssen; seine Feinde aber rissen jede Hülle fort und stellten ihn weit schlimmer dar, als er je gewesen; sie sagten, er sei ein gefährlicher Grenzstrolch, welcher der summarischen Execution verschiedene Male mit knapper Noth entgangen, ein Libertin, gegen den Byron ein Engel gewesen sei. Um das Maß voll zu machen, trat auch noch seine geschiedene Frau gegen ihn auf und hielt Vorlesungen über sein Leben und seinen Charakter; selbstverständlich ließ sie kein gutes Haar an ihm. Miller machte dem ganzen Klatsche in der originellsten Weise ein Ende, indem er sein Leben unter den Modocs beschrieb.

„Wie amüsirt es mich,“ sagt er in diesem interessanten Buche, „zu sehen, wie sehr meine Freunde sich bemühen, in Abrede zu stellen, daß ich der Mann war, welcher unter den Indianern lebte und dieselben gegen die Weißen in die Schlacht führte! Ach, meine Freunde, Ihr kennt mich schlecht! Ohne Zweifel habe ich Viel gethan, was ich bedauern muß, aber Nichts, was ich zu verheimlichen brauche. Ein für allemal sei es hier gesagt, daß gerade die Dinge, welche ich bedauere, nichts mit meinem Leben unter den Indianern und mit meinen Versuchen, ihre Lage zu [403] verbessern, zu thun haben; ich bedaure nur, daß ich so schlechten Erfolg hatte. Im Uebrigen werfe ich der ganzen Welt den Handschuh hin und sage: Ich bin stolz auf jene Periode meines Lebens. Dieselbe ist die einzig reine Stelle meines Charakters, sie war das einzige Bestreben in meiner Laufbahn, auf welches ich mit Freuden und Genugthuung zurückblicke, das Einzige, was ich jemals that oder versuchte, welches geeignet ist, mir einen Rang unter den großen Männern meines Vaterlandes zu sichern. Und was ist mein Lohn gewesen? – – Doch lassen wir das; die Zeit wird mich rechtfertigen. Es mag sein, daß sich noch ein Wendell Phillips erhebt, um für diese Leute zu sprechen, daß ein anderer John Brown ersteht und für sie in den Kampf zieht, dann wird man wohl auch meiner gedenken.“

Durch dieses Buch hat Miller dem ganzen unseligen Scandal über seine Vergangenheit ein Paroli gebogen; er erzählt mehr, als alle seine Gegner über ihn zu sagen wußten, und er thut das mit einer Gleichgültigkeit über das Urtheil der Welt, welche geradezu Bewunderung erregt. Es sei mir hier gestattet, nach Miller’s „Bekenntnissen“ und anderem Material eine kurze Skizze dieser interessanten, wechselvollen Laufbahn zu entwerfen.

Cincinnatus Heine Miller ist der Sohn einer westlichen Pionierfamilie. Entweder ist sein Vater deutscher Abstammung oder seine Mutter war eine Deutsche, was aus dem Vornamen Heine erhellt. Der Amerikaner nennt seine Kinder gern nach großen Männern; wahrscheinlich nannte der Vater den Knaben Cincinnatus, die poetische Mutter aber – alle Mütter von großen Dichtern schwärmen für Poesie – nannte ihn Heine. Der Dichter wurde am 10. November 1841 im Staate Indiana geboren. Anfangs der fünfziger Jahre zog die Familie westlich über die unermeßliche Prairie und über die von ewigem Schnee bedeckten Felsengebirge in die Niederungen am Stillen Ocean, wo sie sich am Willamette im nördlichen Californien, dem jetzigen Oregon, niederließ. An eine Schule war bei diesem Wander- und Grenzerleben an den fernsten Außenposten der Civilisation nicht zu denken; nothdürftig lesen und schreiben lernte der geweckte Knabe wahrscheinlich von den Eltern. Schon frühzeitig half er das Feld bestellen, hütete das Vieh, und lernte Beil und Büchse in allen Fällen handhaben. Noch nicht vierzehn Jahre alt, beschloß der Bursche sein Glück selbstständig zu suchen. Er sah seine Eltern unter der Last der Arbeit altern, ohne daß es ihnen gelungen wäre, in die Verhältnisse zu kommen, in denen man sich behaglich fühlt; er hörte täglich von den reichen Goldfunden im Norden und Osten des Landes, und das reizte ihn: eines Morgens bestieg er seinen Pony, steckte sich einen Revolver in den Gürtel und ritt – ein neuer Jung Siegfried – auf Abenteuer aus in die von Goldsuchern und wilden Indianerhorden nach allen Richtungen durchschwärmte Wildniß. Unterwegs traf er einen Heerdenbesitzer, welcher ihn als Vaquero in Dienst nahm. Die von Weißen und Halbblut-Indianern gehütete Heerde näherte sich langsam den goldreichen Wildnissen Nevada’s. Eines Tages wurden sie von feindlichen Indianern überfallen, welche Alles niedermachten; der junge Miller sah bereits den Tomahawk über seinem Haupte geschwungen und hatte die Augen geschlossen, um den Todesstreich zu empfangen, als sich der Häuptling – vielleicht aus Scham einen Knaben zu tödten – abwandte und ihn liegen ließ. Zum Glück war sein Pferdchen in dem hohen Prairiegrase von den Rothhäuten nicht bemerkt worden; er schwang sich in den Sattel und erreichte glücklich ein Goldgräber-Lager. Der schüchterne, träumerische Junge war jedoch unter den rauhen Männern der Minen nicht am Platze, und hätte sich nicht zufällig ein professioneller Spieler seiner angenommen, so würde er wahrscheinlich verhungert sein. Dieser Mann „mit dem Aussehen eines Fürsten, dem Muthe eines Sioux und dem Gemüthe eines Mädchens“ wurde schließlich Goldgräber und der junge Miller sein Handlanger.

Eines Tages war außerhalb des Lagers ein weißer Strolch ermordet worden, und der Verdacht fiel auf die in der Nähe campirenden Indianer. Die Goldgräber, durch den strengen Winter desperat gemacht, beschlossen ihren Unmuth an den Indianern auszulassen; nach Rache dürstend, überfielen sie deren Dorf und schlachteten unbarmherzig Alles, was nur einer Rothhaut ähnlich sah. Miller und sein Principal waren dem Zuge gefolgt; der Spieler, welcher eine magische Gewalt über die rohen Gesellen besaß, that dem Morden Einhalt und rettete bei dieser Gelegenheit zwei Kinder der Modocs, einen Knaben und ein Mädchen. – Mehrere Wochen später suchte ein deutscher Doctor, der im Verdachte stand, zwei Haupträdelsführer jenes Massacres kurz nach einander in der Nacht erstochen zu haben, Schutz bei dem gefürchteten, unnahbaren Spieler, und dieser beschloß mit seinen vier Schutzbefohlenen, dem Deutschen, Miller und den beiden Indianerkindern, in das Land der Modocs zu ziehen. Jenseits des Shasta-Gebirges, in einer noch niemals von einem Weißen betretenen Gegend entdeckte die durch sonderbare Zufälle zusammengewürfelte Colonie eine reiche Goldader und erbaute die seither so berühmt gewordene Lost Cabin, welche fast in allen Goldgräber-Romanen eine Rolle spielt.

Die Indianer jener Gegend zerfielen in drei zusammengehörige Stämme, die Shastas, Modocs und Klamats, und mit dem ersteren Stamme wurden die Einsiedler durch Vermittelung der Kinder befreundet. Der alte Häuptling Worretotot gewann den jungen Miller mit der Zeit außerordentlich lieb, theilte seinen Wigwam mit ihm und gab ihm nach Jahresfrist seine Tochter Winnema zur Frau. Der Spieler und der Doctor wandten sich später wieder den Ansiedelungen zu, Miller aber blieb und wurde, bis auf die Hautfarbe, Indianer. Der nach hohen Dingen strebende Eidam des mächtigen Häuptlings setzte sich’s in den Kopf, eine große Indianerrepublik aus den drei verwandten Stämmen zu bilden und die Bundesregierung zur Anerkennung derselben zu zwingen. Die Indianer erklärten sich mit Enthusiasmus für den Plan; Miller brachte denselben zu Papier und übersandte ihn dem Gouverneur von Californien; dieser aber warf die (ohne Zweifel sehr unorthographisch geschriebene) Mittheilung in den Papierkorb. Auf andere Zuschriften erfolgte ebensowenig eine Antwort, was den ehrgeizigen jungen Mann nicht wenig erbitterte.

In einem der ewigen Kämpfe war der Häuptling der Modocs gefallen und Worretotot schlug seinen Schwiegersohn, der sich bereits in verschiedenen Gefechten die Adlerfedern verdient hatte, als Kriegshäuptling vor. Der unter Widerwärtigkeiten, Entbehrungen und Kämpfen aller Art früh zum Manne gereifte Jüngling wurde erwählt. Miller führte sehr bald den Oberbefehl in den Schlachten gegen die Weißen; er war überaus glücklich, und die von Messiashoffnungen erfüllten Rothhäute verbreiteten seinen Ruhm über ganz Californien. In San Francisco und Sacramento-City erzählte man es als dunkle Sage, daß die Indianer des Nordens von einem Weißen mit goldgelben Locken in der Schlacht befehligt würden; verschiedene Goldgräber und Milizsoldaten wollten dem lockigen Helden selbst im Gefechte begegnet sein, kurzum, der „weiße Häuptling“ war eine Zeit lang die Sensation des Tages. Selbstverständlich dachte man bei diesen Berichten nur an einen reifen Mann, und Niemand hatte eine Ahnung davon, daß der gefürchtete Feldherr der Rothhäute ein bartloser Junge sein könne. Und das war sein Glück; denn bald darauf wurde Miller gefangen, und er wäre ohne Zweifel niedergeschossen worden, wenn man im Entferntesten geahnt hätte, wer er war; die Milizen hielten ihn für einen ungefährlichen Mitläufer und schenkten ihm das Leben, zwangen ihn jedoch, sich in ihre Reihen zu stellen und gegen die Indianer zu kämpfen.

Der Zug galt den Pit-River-Indianern. Die Führer der Milizen waren Falstaffe, ohne Muth und ohne Kenntniß der Taktik; während des Gefechtes, als die Weißen rathlos schwankten, stellte sich Miller plötzlich an die Spitze; Alles gehorchte seinem Commando und er schlug die Indianer in einer heißen Schlacht. Nach Beendigung des Feldzuges bat der Sieger um seinen Abschied und erhielt ihn, die Weißen mochten ihm aber nicht trauen und beschlossen, ihn heimlich ermorden zu lassen; offen hätte man bei der Popularität, deren sich der entschlossene junge Mann unter den Soldaten erfreute, nichts gegen ihn unternehmen dürfen. Als Miller allein durch den Urwald ritt, erhielt er einen Schuß in den Arm; eine zweite Kugel verfehlte ihr Ziel; nur seinem flüchtigen Pferde verdankte er das Leben, und schwer verwundet kam er in Winnema’s Wigwam an.

Die Shastas hatten bereits erfahren, daß der weiße Kriegshäuptling gegen ihre Brüder gekämpft; sein Ansehen unter den Stämmen hatte einen Stoß erlitten, und nur die Zeit konnte ihn rehabilitiren. Zur Abwechselung machte er eine Reise in das Unterland. Zu jener Zeit (1858) organisirte Walker in San [404] Francisco seinen zweiten Flibustierzug nach Nicaragua. Miller schloß sich demselben an und half jenes Land erobern. Der aristokratische Bandenchef, Sohn einer stolzen virginischen Familie und besonderer Günstling des damaligen Kriegsministers Jefferson Davis, schloß enge Freundschaft mit dem genialen Californier, und dieser hat in seinem Gedichte „Mit Walker in Nicaragua“ jenem zweifelhaften Helden ein unvergängliches Denkmal errichtet.

Die amerikanischen Usurpatoren wurden nach einer kurzen Herrlichkeit von wenigen Monaten durch die vereinigten Truppen von Honduras und Nicaragua geschlagen. Walker, zu stolz, um zu fliehen, wurde standrechtlich erschossen. Nur eine Handvoll seiner Leute entkam, unter ihnen auch Miller. Letzterer kehrte nach Californien zurück und ging stehenden Fußes wieder unter die Indianer. Hier hatte sich aber in der kurzen Zeit eines Jahres viel geändert. Die beständigen Kriege und Kämpfe hatten die Reihen der rothen Helden stark gelichtet; die meisten seiner Waffengefährten waren gefallen; von den näheren Bekannten lebten fast nur noch Worretotot und dessen Tochter. Noch einmal versuchte es Miller mit seiner Indianerrepublik; er hielt bei dem gegen die drei Stämme heranziehenden Bundesmilitär um einen Waffenstillstand an, die Officiere handelten jedoch verrätherisch an den Parlamentären, und Miller rettete sich mit knapper Noth. Dies bestimmte ihn zu einem verzweifelten Schritte; er organisirte einen förmlichen Vernichtungskrieg gegen Militär und Grenzer. In der genialsten Weise und unter tausend Gefahren verschaffte er den Rothhäuten Waffen und Munition, wurde aber schließlich bei diesem Paschergeschäfte gefangen. „Hängt mich nicht, sondern erschießt mich!“ flüsterte er dem Sheriff zu, und dieser brachte ihn vorläufig in Haft. In der Nacht erschien seine Jugendgespielin, das von dem Spieler gerettete Modocmädchen; das Gefängniß wurde erbrochen und auf raschen Pferden begann die Flucht. Eine Abtheilung Cavallerie folgte; in den Sacramentostrom stürzten die Verfolgten und mehrere Carabinersalven wurden ihnen nachgeschickt; schwer verwundet erreichte Miller und tödtlich getroffen die Indianerin das andere Ufer. Diesen entsetzlichen Ritt um’s Leben findet man in seiner „Geschichte des schlanken Alcalde“ geschildert.

Miller sah, daß die Sache der Indianer verloren war und daß jedes weitere Opfer nutzlos sein würde; er berief eine Rathsversammlung und schlug vor, sich zu unterwerfen und sich von der Regierung ein Jagdgebiet anweisen zu lassen. Die rothen Krieger beschlossen jedoch, das Land ihrer Väter zu behaupten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Miller überließ sie ihrem Schicksale. – In einer nahe gelegenen Ansiedlung machte er die Bekanntschaft eines Advocaten und studirte bei diesem die Rechte; kaum zwanzig Jahre alt, etablirte er sich als Rechtsanwalt. Ein Advocat ist in jenem halb wilden Lande etwas Anderes als in einem civilisirten Gemeinwesen. Wehe dem Juristen, der dort in den Gesetzen vollständig, mit dem Revolver aber nur halb Bescheid weiß! Er ist verloren. Der erste beste Raufbold, gegen den er plaidirte, schießt ihn nieder, und es kräht kein Hahn danach. Miller war der Mann für jene barbarischen Zustände; er wußte vom Ius gerade genug, um nicht erröthen zu müssen, wenn sich einer seiner Gegner am Gerichtshof – die glücklicher Weise auch keine von der Pfordten waren – auf eins der ersten Capitel von Blackstone’s Commentaren bezog; dagegen war er außerordentlich flink mit dem Revolver, und die gefährlichen Subjecte fürchteten diesen Schützen, von dem man sagte, daß er seinen Mann nie fehle. Der unerschrockene Advocat erwarb sich rasch einen Namen; aber die in seiner Natur liegende Unrast ließ ihn nirgends verweilen. In der Mitte der sechsziger Jahre strömte Alles nach den Goldminen Idahos; Miller wurde gleichfalls dorthin verschlagen, und da Richter Lynch, der allein dort herrschte, keinen Vertheidiger zuließ, so etablirte sich unser vielseitiger Mann als Expreßbote, wozu ihn seine bei den Indianern erworbene Kenntniß des Landes ganz besonders befähigte. Riesige Summen wurden von ihm, trotz aller Wegelagerer, glücklich nach Yreka befördert; kein Räuber wagte, den kühnen Reiter anzufallen, und in kurzer Zeit hatte er mit diesem waghalsigen Geschäfte circa viertausend Dollars verdient.

Miller suchte ein neues Feld der Thätigkeit und fand dasselbe in einem Wochenblatte, welches er in Common-City herausgab und redigirte. Gerade zu jener Zeit herrschte in der amerikanischen Presse eine fieberhafte Aufregung; in Virginien wurden die letzten Schlachten des Bürgerkrieges geschlagen, und in den loyalen Staaten steigerte sich die Erbitterung der Parteien noch einmal auf einen fast nie dagewesenen Grad. Auf die Bundesregierung, welche seine Gründungspläne so wegwerfend behandelt, deren Militär ihn wie einen Verbrecher gehetzt und verfolgt hatte, war unser neugebackener Journalist von vornherein nicht gut zu sprechen; der frühere Einfluß seines Freundes Walker, dessen Ideal bekanntlich eine Universal-Sclaven-Oligarchie war, mochte gleichfalls in die Wagschale fallen, und Miller nahm Partei für den Süden in einem Staate, wo jeder denkende Bürger auf Seiten der Freiheit stand. Zu derselben Zeit machte er einen zweiten, noch verhängnißvolleren Mißgriff. Unter den Correspondenten seines Blattes war eine Dichterin, Fräulein Minnie Theresa Dyer, die Tochter einer Waschfrau. Miller stattete ihr einen Besuch ab, kam sah und siegte; allein war er gekommen, mit einer Frau kehrte er zurück. Sehr bald fand er aus, daß die Frau seiner nicht würdig war. – –

Die leidenschaftliche Sprache und bundesfeindliche Haltung seiner Zeitung blieb von Seiten des Militärcommandanten nicht unbeachtet, und das Blatt wurde unterdrückt. Miller wurde jedoch in der nächsten Wahl zum Kreisrichter erwählt; augenscheinlich geschah dies von Seiten der Goldgräber und Ansiedler als Protest gegen das willkürliche Verfahren der Regierung, denn die Unterdrückung eines Blattes in dem Lande der Preßfreiheit gilt dem Amerikaner in jedem Falle als etwas Unerhörtes. Der vierundzwanzigjährige Daniel machte seinem neuen Stande alle Ehre. „Mit einem nicht allzu dicken Gesetzbuche“, sagt er launig, „und zwei sechsläufigen Revolvern gelang es mir vortrefflich, der Themis Achtung zu verschaffen.“

Im Jahre 1869 bewarb sich der Kreisrichter Miller um das Amt eines beisitzenden Staatsoberrichters, – hier aber sollte seine Carrière scheitern. Die persönlichen Feinde und politischen Gegner des Dichters hatten eifrig seiner dunklen Vergangenheit nachgespürt, und kurz vor der entscheidenden Wahl begannen die Enthüllungen. Miller war im ganzen Staate unmöglich geworden. Seine Frau war eine der Ersten, welche sich gegen ihn wandten; eine Scheidung wurde erwirkt, und die Dame machte ihrer Abstammung alle Ehre; sie hat seitdem unermüdlich auf dem Rostrum und in der Presse das Zeug des Dichters – gewaschen. Der in seiner bürgerlichen Stellung vernichtete Poet raffte seine Manuscripte zusammen und wandte sich nach dem Osten. In New-York lachte man ihn aus, als er seine wildfremden Gesänge einem Verleger anbot. Miller reiste nach London, und dort wäre er fast verhungert. Durch einen Zufall wurde die Rosetti auf ihn aufmerksam, und sein Glück war gemacht. Sein Buch erschien bei der aristokratischen Verlagsfirma Langman und Brüder unter dem Namen, welchen er seitdem führt, und als Miller eines Morgens aufstand, war er ein berühmter und gleichzeitig ein reicher Mann. Die ersten Kreise Londons erschlossen sich dem berühmten Dichter, und der schöne blondgelockte Amerikaner war der Liebling der feinen Welt.

Im Frühling des Jahres 1872 kehrte der Poet nach einer kurzen Tour durch Südeuropa in seine Heimath am Shastagebirge zurück. Sein Ruhm war ihm vorausgeeilt und seine Vergangenheit vergessen, höchstens daß ein neidischer Literat oder ein scandalsüchtiger Journalist auf dieselbe zurückkam. Miller besuchte noch einmal die Spielplätze seiner Kindheit, die Jagdgründe seiner Jünglingsjahre, die Schlachtfelder, auf denen er, ein neuer Themistokles, neben den Barbaren gekämpft, auf denen jeder seiner Winke, jedes Wort einst Tod und Verberben bedeutete. Doch wo waren die mächtigen Stämme, welche sich vor einem halben Menschenalter um ihn schaarten? Bis auf etwa hundert Familien ausgerottet, – gestorben und verdorben. Der junge Modochäuptling Capitain Jack hatte die Reste der drei Stämme um sich versammelt, und über den unglücklichen Rothhäuten zog sich gerade damals das Gewitter zusammen, welches die kleine stolze Nation der Shasta-Indianer fast bis auf den letzten Mann vernichten sollte und welches unter dem Namen Modockrieg einen Weltruhm erlangte.

Der Dichter war nicht gekommen, dem Capitain Jack seinen Rang streitig zu machen. Weshalb er das Modoc-Land durchstreifte, mag er hier selbst erzählen. „Ein Gerücht war zu mir [405] gedrungen, daß ein kleines braunes Mädchen in diesen Wäldern lebe; wild, scheu, sensitiv und wunderbar schön. Wer war sie, die, halb Prophetin, halb Elfe, durch die Tannen huschte, das Auge der Anglo-Sachsen meidend? – Hier ist ein kleines Geheimniß, und es soll ihr gewahrt bleiben. Ihr Name ist Calle Shasta. – Durfte ich sie in den Wäldern lassen und dem Sturme preisgeben, welcher mit verheerender Gewalt über die Modocs und ihre Alliirten hereinzubrechen drohte? – Gegenwärtig befindet sich die Kleine in einem Pensionate in San Francisco. Ihre großen, schwarzen Augen, tief und sympathisch, die Jedermann zu fesseln scheinen, die bis in’s Innerste der Seele eindringen, blicken träumerisch auf das Wogen und Treiben der Menschen, welche sie umgeben. Sie sitzt schweigend unter ihnen, denn Herz und Seele sind weit hinweg, im Geiste schreitet sie durch den Urwald. Und wer ist sie? werdet Ihr fragen. Gerade das ist ihr Geheimniß. Von mütterlicher Seite, müßt Ihr wissen, fließt das beste Blut eines ehemals großen und mächtigen Stammes in ihren Adern. Und ihr Vater? Ah, das ist’s. Nur wir wissen es, und wir lachen über die zahlreichen Vermuthungen und Speculationen der Welt. Wenn es mir nicht gelingt, mit einer ungeschulten Feder Erfolge zu erringen, wenn mir auch dieses Unterfangen fehlschlägt, wie mir Anderes vorher fehlgeschlagen ist, so ist sie nicht mein; aber wenn ich einen Namen erwerben sollte, auf den man stolz sein kann, – dann soll sie diesen Namen tragen. – Armes Mädchen! Wie verloren und verlassen muß sie sich fühlen! Niemals wird sie die Stimme ihrer frühesten Kindheit wieder vernehmen, denn es gibt kein menschliches Wesen mehr, das ihre Muttersprache spricht. Gehe sanft mit ihr um, o Schicksal, denn sie steht allein! Sie ist die letzte der Shastas.“

Lange vorher, ehe Obiges geschrieben wurde, hatte übrigens schon die Tagespresse das Geheimniß der schönen Halbindianerin verrathen. Ein Journal in San Francisco schreibt nämlich über dieses Mädchen:

„Sie ist jetzt 16 Jahre alt, und der Dichter läßt sie erziehen. Die junge Dame wird als auffallend schön geschildert. Sie hat die tiefen dunkeln Augen, sowie das reiche, schwarze Haar ihrer Mutter, von ihrem Vaters besitzt sie die weiße kaukasische Hautfarbe. Die Nachbarn nennen sie allgemein die ‚schöne Spanierin‘, denn ihre romantische Geschichte ist Wenigen bekannt, nur in einem sehr engen Kreise gilt sie als das begabte Kind des Dichters. Es ist nur gerecht gegen diesen rauhen, halb wilden Mann, wenn wir hier constatiren, daß er das Mädchen innig liebt und Alles thut, was in seinen Kräfte steht, ihr das Leben angenehm zu machen.“

Nachdem Miller an der Küste des stillen Oceans seine Verhältnisse geordnet, kehrte er wieder nach England zurück, wo bald ein zweiter Band Gedichte unter dem Titel „Songs of the Sun-Lands“ von ihm erschien. – Unterdessen war in Oregon der Krieg gegen die Modocs ausgebrochen, welcher mit der gänzlichen Vernichtung jenes Stammes endigte. Auch die „Gartenlaube“ hat seiner Zeit Artikel über die Modocs gebracht, und es dürfte die Leser vielleicht interessiren, zu hören, was der ehemalige Häuptling dieses Stammes über den Krieg und dessen Ursachen zu sagen hat. Miller schreibt:

„Die Ursachen des letzten Modockrieges, welcher thatsächlich von geringerer Bedeutung war, als die früheren Kämpfe, in welchem jedoch die letzten tapferen Sprößlinge des Stammes untergingen, mag hier kurz geschildert werden.

Unter den Indianern ist oft, ebenso wie unter christlichen Nationen, mehr als ein Mann, welcher auf die Führerstelle Anspruch macht. Seit Jahren ist es nun eine feststehende Politik der Indianeragenten, irgend einen Feigling oder Schwachkopf, der sich mit Leichtigkeit leiten läßt, als Häuptling über einen Stamm zu setzen und Verträge mit ihm abzuschließen und den ganzen Stamm für dessen Verpflichtungen verantwortlich zu machen. Auf diese Weise werden den Indianern große Gebiete und verbriefte Rechte gestohlen. Wenn sich irgend Einer widersetzt, dann wird die Armee gerufen, um dem Vertrage Geltung zu verschaffen.

Der alte Vertrag mit den Modocs war nach obigem Muster gemacht. Jeder Fuß breit Landes ihres ehemals unabsehbaren Gebietes war von einem Menschen an die Weißen cedirt worden, welcher kein Recht hatte, für den Stamm Verträge abzuschließen. Sie wurden größtentheils nach einem im Norden für sie reservirten Gebiete gebracht, auf welchem sich bereits ihre bittersten Feinde befanden. Es war das ein ödes, unfruchtbares Land, auf welchem die Indianer beinahe verhungerten. Capitain Jack, welcher jetzt der wirkliche und anerkannte Häuptling der Indianer war, blieb in dem Lande seiner Väter; er war ein aufrichtiger, rechtschaffener Mann und sammelte die besten und tapfersten Krieger seines Stammes um sich. Die Leute blieben, lebten nach der alten Weise von der Jagd und der Viehzucht, bis es die Ansiedler nach ihrem Lande gelüstete.

Dann kamen die Behörden zu Capitain Jack und sagten ihm, er müsse sein Land verlassen, auf das reservirte Gebiet gehen und dort neben seinen Feinden leben. Der Indianer weigerte sich, zu gehen.

,Dann mußt Du sterben,‘ hieß es.

‚Gut,‘ antwortete Capitain Jack, ‚es bedeutet den Tod in jedem Falle, ob wir gehen oder bleiben; dann wollen wir wenigstens sterben, wo unsere Väter starben.‘

In der Nacht, der Zeit, welche der Indianer den wilden Thieren überläßt, indem er sich vertrauensvoll dem großen Geiste empfiehlt, wurde das Lager von den Bundestruppen überfallen. Die Modocs traten ihren Feinden wie Spartaner entgegen.

Nachdem sie sich lange erfolgreich gewehrt hatten, kamen die Friedenscommissäre, um über Frieden zu unterhandeln. Die Indianer, eingedenk der Tragödie, welche vor zwanzig Jahren stattfand, desperat und nach Rache dürstend, waren der Ansicht, die einzige Alternative sei hier, zu morden oder sich morden zu lassen, und so ermordeten sie die Commissäre, wie man früher ihre Friedenscommissaire von Seiten der Weißen ermordet hatte. Sie thaten dies angesichts der furchtbaren Folgen, welche sie recht wohl voraussahen.

Wenn es erlaubt ist, irgendwie Thaten des Krieges zu verherrlichen, wie kann man anders, als die Tapferkeit dieser wenigen Männer bewundern, welche im Schatten des Shastaberges kämpften für Alles, was dem Christen oder dem Wilden heilig ist, welche die Truppen der Vereinigten Staaten ein halbes Jahr lang im Schach hielten, dem Tode fest in’s Auge sahen und weiter kämpften, Tag um Tag, jeden Tag weniger zählend, auf einen engeren Kreis zusammenschrumpfend, blutend, hungernd und sterbend, mit dem klaren Bewußtsein, daß gänzliche Aufreibung nur eine Frage der Zeit war. Sie kannten den schrecklichen Preis und zahlten denselben ohne Murren. Es giebt in der ganzen Weltgeschichte keinen solchen Fall (?). Doch die Leute sollen nicht vergessen werden. Die Leidenschaften werden schwinden, und selbst ihre heutigen Feinde werden noch mit Achtung von diesen Männern sprechen.

Ich weiß es recht wohl, daß Einige sagen werden, es sei unmöglich, friedlich mit den Indianern zu verkehren. Ich frage: Wer hat’s denn versucht? Penn versuchte es und fand in ihnen die friedfertigsten, aufrichtigsten und edelsten Wesen. Die Mormonen, sicherlich nicht die musterhaftesten Menschen, versuchten es, und sie wurden von den Indianern wie Brüder behandelt. Ein verkommener, halbverhungerter Zug von Ausgetriebenen, ließen sie sich mitten unter den wildesten und schlechtesten Indianern nieder, und die Rothhäute gaben ihnen Fleisch zu essen, Land zum Pflügen; sie gewährten ihnen Schutz und Unterhalt, bis sie sich selbst schützen und ernähren konnten. Dies sind die beiden einzigen Beispiele eines ehrlichen, fortdauernden Strebens, friedlich mit den Indianern zu verkehren und sie gerecht zu behandeln, die einzigen Beispiele seit dem Tage, an welchem die Indianer dem Columbus die Hand zuerst zur Begrüßung entgegenstreckten.

Am Tage des jüngsten Gerichts werde ich dieses Buch als eine furchtbare Anklage gegen die Regenten meines Vaterlandes emporhalten, weil sie dieses Volk ausgerottet haben.

Wackere kleine Heldenschaar! Wenn ich jemals zum Shastagebirge zurückkehre, dann soll man mir die Stelle zeigen, wo der letzte Mann gefallen ist; dort werde ich ein Monument errichten lassen und den Platz ‚Thermopylä‘ nennen.“

Joaquin Miller’s poetische Schöpferkraft hat augenscheinlich, trotz der bereits ausgezeichneten Leistungen, ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht, und hoffentlich erfüllt er die [406] großen Erwartungen, welche sein Gedicht „Arizonian“ bei allen Verehrern der englischen Literatur wachrief. Möge es ihm gelingen, seinen Namen dauernd mit einem Glanze zu umgeben, der alle Jugendtollheiten und Thorheiten verdeckt! Möge es ihm vergönnt sein, wie sein deutscher Pathe stolz von sich sagen zu können: „Nennt man die besten Namen, so wird auch der meinige genannt.“

B.

Eduard F. Leyh.




Auf den Friedhöfen einer frühern freien Reichsstadt.


Frau Rath Goethe. – Thomas von Sömmerring. – Anselm von Feuerbach. – Arthur Schopenhauer. – Elise Bürger. – Bethmann-Hollweg. – Lichnowsky und Auerswald. – Kurfürstlich hessisches Mausoleum. – Für die Gefallenen aus dem Volke.


Die Frankfurter Friedhöfe bilden in ihrer Anlage und Ausschmückung eine wahrhafte landschaftliche Zierde, wie sie wenige Städte aufzuweisen haben dürften. Es sind Gärten, belebt vom Gesange der Vögel und durchhaucht vom Dufte der Blumen und Sträucher, die das memento mori der Grabdenkmäler sinnig umranken. Während ehedem, wie auch anderwärts, so in der alten Reichsstadt die Todten in und um den Kirchen herum bestattet wurden, erkannte bereits vor mehr als drei Jahrhunderten der Rath der Stadt das Gesundheitsschädliche dieser Sitte oder vielmehr Unsitte und gebot, trotz den Einwänden der Geistlichkeit, die Benutzung des damals noch außerhalb der Stadt gelegenen, neuangelegten Sanct Peterskirchhofs und des Friedhofs bei dem deutschen Hause in Sachsenhausen. Bis in die ersten Decennien dieses Jahrhunderts reichten diese für das Bedürfniß der Stadt aus, bis auch für sie die Zeit kam, wo sie den letzten Todten aufnehmen sollten. Der Friedhof in Sachsenhausen wurde 1812 in einen dem deutschen Orden gehörenden Weinberg verlegt, um im Jahre 1869 bereits zu Gunsten eines weiter gelegenen wieder geschlossen zu werden. Der Sanct Peterskirchhof in Frankfurt wurde 1828 am 30. Juni geschlossen und der neue Friedhof am 1. Juli gleichzeitig mit dem neben ihm errichteten neuen israelitischen Friedhofe seiner Bestimmung übergeben.

Der alte Peterskirchhof ist heute ein mitten in der Stadt liegender schöner Garten, in welchem sich die Jugend, uneingedenk Derer, die unter der Erde ruhen, fröhlich und guter Dinge tummelt. Von den dortigen Gräbern zieht eines am nordöstlichen Eingange die Blicke des Besuchers auf sich und gemahnt nicht allein an Frankfurts größten Sohn, sondern auch an die bedeutendste Epoche der deutschen Literaturgeschichte. Hier unter lauschigen Büschen, an fast unbeachteter Stelle des Kirchhofs ruht unter von Eisendraht gehaltenem Epheu „Frau Aja“, die Mutter Goethe’s, die sinnige Frau, die in ihrem sechsundsiebenzigsten Lebensjahre mit berechtigtem Stolze sagen durfte: „Ich bin nicht allein um meines Sohnes willen da, sondern auch der Sohn um meinetwillen, und ich kann mich wohl eines Antheils an seinem Wirken und an seinem Ruhme versichert halten, indem sich ja auch kein vollendeteres und erhabeneres Glück denken läßt, als um des Sohnes willen allgemein so geehrt zu werden,“ und welche am Morgen ihres Todestages, als man sie zu einer Gesellschaft laden wollte, wohlgemuth antworten ließ: „Die Frau Rath könne nicht kommen, denn sie müsse alleweile sterben.“ In der Nacht des 13. September 1808 schlummerte sie sanft hinüber in die andere Welt.

Während wir hier nur dieser einen Grabstätte näher treten, fesseln uns auf dem neuen Friedhofe gar viele, die durch ihren künstlerischen Schmuck oder durch die Erinnerung, die sich an die darin Schlummernden knüpft, unser Interesse erregen. Wenn wir hier durch das große griechische Portal in den friedlichen Todtenhain eintreten, lenkt rechts nicht weit vom Eingange ein einfacher, aus Felsengestein aufragender Obelisk unsere Aufmerksamkeit auf sich. Es ist die Begräbnißstätte des Arztes und Professors Dr. Samuel Thomas von Sömmerring. Auf dem Grabsteine meldet eine lateinische Schrift Namen, Ort und Tag der Geburt und des Todes; die Embleme der ärztlichen Wissenschaft und Kunst sind darunter eingehauen, darüber ein Immortellenkranz. Wenn von dem Forschen und Wirken des bedeutenden Mannes die Annalen der ärztlichen Wissenschaft einst vielleicht nur Denen, die eine gleiche Berufsbahn betreten, Kunde geben werden, so wird ein anderes Ergebniß seines Geistes eine weitere Würdigung finden. Sömmering’s Verdienst ist es nämlich, den ersten elektrischen Telegraphenapparat angegeben zu haben. Derselbe befindet sich in den Denkschriften der Münchener Akademie für 1809 und 1810 abgebildet und beschrieben. Dieser Urapparat war durch Vermittelung der kaiserlich deutschen Generaldirection der Telegraphen auch auf der Wiener Weltausstellung producirt und eine Copie desselben wird einem in Berlin zu gründenden historischen Museum einverleibt und an die Spitze aller Telegraphenapparate gestellt werden.

Nicht weit von dieser Stätte befinden sich die Gräber zweier Männer, von denen der Eine, ein wackerer Sohn seiner Vaterstadt Frankfurt, deren Geschichte in vorzüglicher Darstellung bearbeitet und kommenden Geschlechtern bewahrt hat; es ist der lutherische Stadtpfarrer Anton Kirchner. Der andere, der dort unter weißer Marmorsäule schlummert, ist der Schweizer Liedercomponist Xaver Schnyder von Wartensee. Noch über andere bekannte Meister im Reiche der Töne hat der Friedhof seine schweigsame Decke gebreitet. Franz Messer, Dr. phil. Aloys Schmitt, Karl Gollmick und Ferdinand Keßler, Letzterer vielleicht der bedeutendste Harmonielehrer Deutschlands, fanden hier ihre letzte Heimstätte.

An der südlichen Einfassungsmauer des Friedhofs treffen wir auf ein Grab, das den Frankfurter schmerzlich an die neueste Geschichte seiner Vaterstadt erinnert, das Grab des letzten regierenden ältern Bürgermeisters der „freien Stadt“ Frankfurt, das Grab Carl Constanz Victor Fellner’s. Als der deutsche Krieg des Jahres 1866 auch den Einzug preußischer Truppen in die wehrlose Stadt zur Folge hatte und der hartheimgesuchten Bürgerschaft auch noch von den commandirenden Generalen Vogel von Falckenstein erst sechs Millionen und von Manteuffel dann fünfundzwanzig Millionen Gulden als Contribution abgefordert wurden, da mochten es wohl ernste Gedanken sein, die das Gemüth Fellner’s so tief erschütterten, daß er an seinem neunundfünfzigsten Geburtstage, am 24. Juli, Hand an sich selbst legte und freiwillig aus dem Leben und der Würde trat, mit welcher ihn seine Mitbürger betraut hatten. Am 25. Juli früh Morgens fünf Uhr – eine spätere Bestattung wurde von der preußischen Behörde untersagt – wurde seine sterbliche Hülle von Tausenden in stummer Trauer zum Grabe geleitet. Das Denkmal, das seine letzte Schlummerstätte zieren soll, ist noch nicht vollendet.

In nicht weiter Entfernung von hier sehen wir die Grabschrift des geistvollen Criminalrechtslehrers und Verfassers des baierischen Strafgesetzbuches, Dr. Paul Johann Anselm von Feuerbach, des Vaters des berühmten Philosophen Ludwig Feuerbach und Onkels des genialen Malers Anselm Feuerbach.

Wie diese Ueberreste des Vaters eines Philosophen der Neuzeit, so umschließt der Frankfurter Friedhof auch die Hülle eines Philosophen selbst, dessen Lehre, lange Zeit fast ungekannt, plötzlich in ungeahnter Weise beachtet und namentlich in Folge der geistvollen Erklärungen Dr. Julius Frauenstädt’s in Berlin und Dr. C. G. Bähr’s in Leipzig Anhänger und Schüler fand. Es ist Arthur Schopenhauer, der Sohn der Romanschriftstellerin Johanna Schopenhauer.

Unfern des Denkers ruht das „Schwabenmädchen“, welches dem Dichter Gottfried August Bürger, nachdem dessen geliebte „Molly“ gestorben war, in einem Gedichte seine Hand antrug, dadurch aber sich und den Dichter unglücklich machte. Arm und verlassen fand die Schwäbin endlich hier Ruhe. Die Grabschrift bezeichnet sie als „Elise Bürger, geborene Hahn, separata des gewesenen Professors an der Universität zu Göttingen und Dichters Gottfried August Bürger.“

In der Mitte des ersten Theils des Friedhofs erhebt sich ein Denkmal von rothem Sandstein, welches an die für Frankfurt bewegte Zeit des Jahres 1832 erinnert. Die damals [407]

DIE FRIEDHÖFE IN FRANKFURT. A/M.
DAS DENKMAL D. 1848 1. MARZ GEFALLNEN.  HOFRATH Dr D. W. SOEMMERING.
SCHOPENHAUERS GRAB. FRAU RATH GÖTHE.
FÜRST v. LICHNOWSKY u. v. AUERSWALD. KURFÜRSTL. HESS. MAUSOLEUM.
DAS DENKMAL DER GEFALLNEN FRANKFURTER.
AUS DEM KRIEGE v. 1870–71 NACH SEINER VOLLENDUNG[WS 2]
MODELLIRT v. RUDOLPH ECKHARD.

[408] durch Deutschland flüchtenden Polen fanden in Frankfurt enthusiastische Aufnahme, und manche Scene spielte sich in dessen Mauern ab. Der hier Ruhende war der polnische Artillerie-Lieutenant Ludwig Lang, welcher am 27. Januar im Gasthofe zum weißen Schwan dem Todesschlafe in die Arme sank und in höchst sympathischer Weise zu Grabe getragen wurde.

Der künstlerisch hervorragendste Schmuck des Frankfurter Friedhofs ist das an der Bethmann’schen Familiengruft angebrachte, in carrarischem Marmor ausgeführte Basrelief von Thorwaldsen, welches dem Andenken des in Florenz verstorbenen jüngeren Bruders des preußischen Cultusministers von Bethmann-Hollweg gewidmet ist. Ein scheidender Jüngling, abgerufen von dem Genius des Todes mit verlöschender Fackel, dem sterbend der herzueilende Bruder noch einen Eichenkranz, das Sinnbild männlicher Tugend, reicht, die trauernde Mutter, die schmerzlich sehnsüchtig aus der Ferne nach dem Scheidenden die Arme ausbreitet, ungetröstet durch die ihr zur Seite stehende und die im tiefsten Leide ihr zu Füßen liegende Tochter, der Flußgott des Arno, an dessen Ufern der Jüngling endete, eine Adrastea, welche die Thaten des Geschiedenen aufzeichnet und gerechten Lohn verheißt, der Löwe endlich, das Sinnbild des Muthes – der Jüngling hatte sich bei einem ausgebrochenen Brande eine tödtliche Krankheit zugezogen –, bilden die Motive des leider durch Frevlerhand verstümmelten Kunstwerkes.

Die Kunst, welche hier in so edler Weise dem Geschiedenen ihren Tribut gezollt, ist selbst in diesem Reiche des Todes durch manchen würdigen Namen vertreten. So ruhen hier in ewigem Schlafe der Architekt und weiland Professor am Städel’schen Kunstinstitute Friedrich Maximilian Hessemer, der Architekt Oscar Pichler, Erbauer der Irrenhäuser in Frankfurt am Main und bei Hildburghausen, der Kupferstecher Eugen Schäffer, der Bildhauer Eduard von der Launitz, die Maler Ernst Schalck, Karl Ballenberger, Professor Jacob Becker, Philipp Winterwerb, Franz Winterhalter u. A. – gewiß leuchtende Namen am deutschen Kunsthimmel.

Nach dem Entwurfe des ersten der eben Genannten erhebt sich in der zweiten Abtheilung des Friedhofes auf mäßigem Hügel ein umfangreiches, im byzantinischen Stile erbautes Mausoleum aus rothem Sandsteine. Es wurde von dem ehemaligen Kurfürsten Wilhelm dem Zweiten von Hessen errichtet und birgt jetzt nur die Hülle des am 21. December 1861 im dreiundvierzigsten Jahre in Prag verstorbenen und am 2. Januar 1862 hier beigesetzten Grafen Gustav Karl von Reichenbach-Lessonitz.

Wir gedenken hier zum Schlusse noch dreier Gräberreihen von geschichtlicher Bedeutung. Der 18. September 1848 brachte für Frankfurt einen blutigen Tag. Der Kampf, der sich zwischen dem Militär und den die aufgeworfenen Barricaden Vertheidigenden entspann, kostete schwere Opfer, die jetzt auf einem und demselben Fleckchen Erde friedlich schlummern, die Einen wenige hundert Schritte von den Anderen entfernt. Beider Gräber zieren schöne Denkmale. Das Denkmal der Gefallenen aus dem Heere ist eine durch den damaligen Prinzregenten von Preußen, jetzigen König und deutschen Kaiser, errichtete, in gothischem Stile aus hellgrauem Marmor ausgeführte, mit Spitze und Eckenausläufern versehene Pyramide, die auf der Nordseite das Medaillonbildniß des Grafen Hans von Auerswald und auf der Südseite das Medaillonbildniß des Fürsten Felix von Lichnowski (derselbe ist indeß zu Krzizanowitz in Schlesien beerdigt) trägt. Auf der Pyramide sind sodann eingeschrieben die Namen der beiden eben Genannten so wie die Namen des Hauptmanns Julius Hübner, des Secondelieutenants Wilhelm von Hillesheim, des hessischen Oberlieutenants Hermann Zimmermann und von neun Soldaten. Die Gedenksäule der Gefallenen aus dem Volke bildet einen circa fünfundzwanzig Fuß hohen, auf Untersatz stehenden Obelisken aus rothem Sandsteine, der das Motto trägt:

„Und setzet Ihr nicht das Leben ein,
Nie wird Euch das Leben gewonnen sein.“

Die Nordseite trägt zwölf Namen, die Südseite deren ebenfalls zwölf, darunter den eines Dienstmädchens, alle Nicht-Frankfurter, die Westseite trägt acht Namen von Frankfurtern und die Ostseite zwei Namen von Sachsenhäusern.

Die dritte Reihe von Gräbern deckt einen Theil der im französisch-deutschen Kriege von 1870 bis 1871 gebliebenen Frankfurter. Von den dreiundvierzig vor dem Feinde gebliebenen oder an Wunden und Krankheiten verstorbenen Söhnen dieser Stadt birgt der Frankfurter Friedhof nur dreizehn, deren Namen wir hier aufzählen wollen: Ferdinand Karl Friedrich Collischonn, Karl Christiani, Franz Peter Nunz, Johann Friedrich Wiessen, Karl Wiederhold, Karl Robert Enders, Wilhelm Karl Klaus, Louis Heinrich Gottfried Engelke, Cos. Theodor Schlösser, Karl Gmaner, Joh. Thomas Mack, Alfred Müller, Fritz Marschall. Es ist kein gemeinsames Grab, das sie beherbergt; sie ruhen in den Stätten ihrer Familie oder in den Reihen, wie die Gräberordnung sie anwies. Aber ihre Namen und die ihrer in ferner Erde schlummernden Cameraden wird in wenigen Jahren ein von dem jungen Bildhauer Rudolf Eckhard erfundenes, bei der Concurrenz mit dem Preise gekröntes gemeinsames Denkmal, von dem wir andererseits eine Abbildung (wie es in seiner Vollendung erscheinen wird) geben, bewahren.

–n.




Die erste Geistererscheinung des neunzehnten Jahrhunderts.


Von Ferdinand Dieffenbach in Darmstadt.


Zwischen heute und dem Anfange unseres Jahrhunderts liegt, wenn wir die Culturentwickelung der letzten Jahrzehnte in Betracht ziehen, ein ungeheurer, unschätzbarer Zwischenraum. Heute können wir mit allen Vorurtheilen nicht eilig genug aufräumen, und selbst die Ehrfurcht schwindet, mit welcher wir seither die Reste unserer Hinterbliebenen betrachteten. Damals fand noch die Lüge der Alchemie ihre Gläubigen; der Glaube an Geister und Gespenster spukte noch in den Köpfen, und die Literatur besitzt aus jener Zeit noch dicke Bücher über Hexen und Zauberwesen. Den Lesern der „Gartenlaube“ erzählte ich bereits von jener, der hiesigen Hofbibliothek einverleibten, merkwürdigen Wunderlich’schen Bibliothek, in welcher der alte Sonderling während seines langen Lebens so ziemlich die gesammte alchemistische und kabbalistische Literatur aufhäufte und so ziemlich Alles, was im Laufe der Jahrhunderte über Geister, Gespenster und Hexen geschrieben wurde, sammelte. Diese Bibliothek steht vielleicht auf der ganzen Welt als ein Unicum da, und der alte Sonderling hat sich durch ihre Gründung ein Verdienst erworben, von dessen Größe er wohl selbst nie eine Ahnung hatte.

Die großherzoglich darmstädtische Hofbibliothek stellt diese Büchersammlung Jedermann mit der größten Bereitwilligkeit zur Verfügung, und mit besonderem Behagen habe auch ich von derselben Gebrauch gemacht. Anfänglich ist das Durchstöbern dieser Folianten zwar keine besonders erquickliche Beschäftigung, denn die Logik des Unsinns ist nicht sofort für Jeden faßbar, allein mit der Zeit gewinnt der Humor dem anfangs widerlichen Gegenstand seine heiteren Seiten ab, und auch die falsche Weisheit erscheint in einer anziehenden Gestalt. Eine große Wahrheit aber bestätigt diese Sammlung, die Wahrheit des alten Spruchs: Es ist nichts so verkehrt, das nicht schon von einem Gelehrten vertheidigt worden wäre. Die Sammlung liefert uns hierfür manches erheiternde Beispiel.

Wir erwähnen nicht die zahlreichen Inauguraldissertationen, welche die wunderlichsten Themata behandeln. „Von den Besessenen“ und „vom Teufelaustreiben“, von Hexen und Zauberern und ähnlichen Gegenständen. Noch im Jahre 1706 disputirte in Rostock ein gewisser Michael Schilberg über die Frage: „Ob man den Sterbenden einen Gruß an die Seinigen in der andern Welt mitgeben könne?“ Aus dem Jahre 1735 ist noch eine Abhandlung: „Von dem Kauen und Schmatzen der Todten in den Gräbern“ vorhanden, im Wesentlichen eine Wiederholung einer Leipziger Dissertation von 1725: „De masticatione [409] mortuorum in tumultis“, welche zwar gegen den Unsinn der Lehre von den Vampyren ankämpfte, aber immer noch genug sonderbare Ansichten vertritt. Eine der unterhaltendsten Schriften dieser Art stammt jedoch aus dem Anfange unseres Jahrhunderts. Es erschien im Jahre 1805 in der Jacobäer’schen Buchhandlung in Chemnitz ein Buch, welches ungemein viel von sich reden machte. Es führte den Titel: „Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode von Dr. K. J. W.“

Das Aufsehen war um so größer, als die Schrift, welche alsbald in zweiter Auflage erschien, dem aufgeklärten Herzog Karl August von Sachsen-Weimar gewidmet war und es alsbald bekannt wurde, daß ihr Verfasser ein gewisser Dr. Karl Wötzel in Leipzig sei, der als philosophischer Fachschriftsteller schon mehrfach angetreten war und den strengwissenschaftlichen Kreisen angehörte.

Herr Dr. Karl Wötzel erzählt uns in dieser Schrift, daß seine Frau, welche, nebenbei bemerkt, angeblich von den Aerzten falsch behandelt wurde, an der Wassersucht gestorben und ihr dieser Tod durch einen Traum gewissermaßen voraus verkündigt worden sei. Es habe ihr geträumt, sie sei mit ihrem Manne und ihren beiden Hündchen spazieren gegangen und in einen tiefen Wassergraben am Wege gefallen. Ihm (Wötzel) habe zu gleicher Zeit dasselbe geträumt, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß nicht blos seine Frau, sondern auch das eine Hündchen „Diana“ in’s Wasser gefallen sei. „Er habe nie an Träume geglaubt“, und diese beiden Träume hätten auch damals keinen Eindruck auf ihn gemacht, allein zur Lichtmeß 1803 habe die Diana plötzlich ihr Leben geendigt und habe ihn, da sie auf das gefrorene Wasser zufällig begraben wurde, in sonderbarer Weise an jenen fatalen Traum erinnert.

Herr Dr. Wötzel erzählt nun weiter, wie er sich mit seiner Frau oft über die Unsterblichkeit unterhalten habe. Er und seine Frau seien Beide so begierig gewesen, darüber in’s Klare zu kommen, daß sie sich gegenseitig einst das Versprechen gegeben hätten, dasjenige, welches zuerst sterben würde, sollte dem anderen nach seinem Tode wieder erscheinen und ihm, um einen parlamentarischen Ausdruck zu wählen, gewissermaßen über das Jenseits Bericht erstatten. Noch auf ihrem Sterbebette erinnerte er seine Frau an dieses Versprechen und pflegte sie dann treulich bis auf ihren letzten Augenblick.

„Lebe wohl,“ rief sie und reichte ihm lächelnd die Hand, „und gieb mir noch ein Bischen Baumöl!“

„Hier ist es; nimm so viel Du willst!“

„Nun dank’ ich Dir; jetzt muß ich scheiden,“ rief sie und starb.

Der Leser vermuthet wohl, weil wir diese Episode mit so großer Ausführlichkeit behandeln, daß wir ein besonderes Wohlgefallen daran hätten, die Pietät Wötzel’s in einem komischen Lichte erscheinen zu lassen; dem ist aber nicht so, denn gerade dieser Vorgang, namentlich das „Baumöl“, ist von großer Wichtigkeit für die weitere Entwickelung unserer Darstellung.

Es war am 16. Juli Morgens halb acht Uhr, wo Frau Dr. Wötzel starb. Am 31. Juli Abends bemerkte Dr. Wötzel das erste Anzeichen der bevorstehenden Geistererscheinung. Ein Licht, das sich in der ehemaligen Schlafkammer seiner Frau befand, zeigte eine eigenthümlich flackernde Bewegung.

Am 2. August Nachts fühlte er eine eigenthümliche Bewegung unter seinem Deckbett (!) und ein eiskalter Wind blies ihm auf den Rücken. Es schien ihm, als ob ihm Jemand das Deckbett, das er mit beiden Händen zu halten hatte, entreißen wollte. Er denkt sofort, seine selige Frau „möge sich einen kleinen Scherz mit ihm erlauben“, und fragt: „Hannchen, bist Du es?“

Allein Hannchen antwortete nicht, und auch mehrere längere Reden verhallten erfolglos in der leeren Stube.

Erst drei Nächte später, als er zwar spät, gegen zwölf Uhr, aber, wie er sagt, „ohne im geringsten von hitzigen Getränken berauscht zu sein“, nach Hause zurückkehrte, sollte sein Verlangen befriedigt und er von der Unsterblichkeit Hannchens überzeugt werden. Er begab sich gegen halb ein Uhr zur Ruhe und als er ungefähr eine halbe Stunde gewacht, öffnete sich plötzlich das Fensterchen seines Alkovens, ein schwacher Strahl erhellte den Raum und „vor mir stand wirklich eine weißliche Figur in der Lebensgröße meiner verewigten Gattin, welche mit sanfter, aber für mich vernehmbarer Stimme sagte: ‚Karl, ich bin unsterblich. Erst einst sehen wir uns wieder.‘“

Pfeilschnell sprang Wötzel auf und versuchte seine Gattin zu umfassen, allein die Gestalt zerfloß in Nebel und gleichwie von einem starken elektrischen Schlage wurde er zurückgeschleudert.

Dr. Wötzel unterhielt sich nun in den nächsten Wochen auf das Lebhafteste mit befreundeten Personen über die merkwürdige Erscheinung; allein seine Frau, „die ihn in den ersten vier Wochen wie ein Schutzgeist bis zu Ende des halben Trauerjahres umschwebte“, erschien ihm noch einmal, um ihn zu beruhigen. Er lag, gerade im Begriffe seinen Mittagsschlaf zu halten, auf dem Sopha seiner Studirstube, „als sich die Thür öffnete und die Verewigte erschien mir in eben der Gestalt, wie ehedem in der Nacht und wie sie im Sarge aussah, mit demselben weißen Anzuge und freundlichen Blicke (?), mit dem sie leise, aber doch vernehmlich sagte:

‚Karl, beruhige Dich! Ich bin unsterblich! Mehr vermag ich Dir nicht zu offenbaren. Bis auf einstiges Wiedersehen lebe wohl!‘“

Daß dieser Geist derjenige seiner Frau war und nicht etwa eine trügerische Erscheinung, wurde dieses Mal Herrn Dr. Wötzel noch durch ein anderes Zeichen unzweideutig dargethan. Der Schoßhund seiner Frau, „Mignon“, welcher neben Dr. Wötzel auf dem Sopha lag, „wedelte mit dem Schwanze, zum Zeichen der Freude über das Wiedersehen der guten Frau“.

„Seit dieser Zeit habe ich weder was Aehnliches von der Verewigten gesehen noch gehört,“ beschließt Wötzel seine Darstellung.

Ist diese Gespenstergeschichte an sich schon ergötzlich, so ist es noch mehr die von Herrn Dr. Karl Wötzel hinzugefügte physikalische Erklärung der Erscheinung. Er sagt:

„Als Embryo im Mutterleibe lebt der Mensch im Wasser, ist also sozusagen ein Wasserthier. Nach seiner Geburt ist die Luft und das Licht eines seiner wesentlichen Lebenserfordernisse, und er verwandelt sich aus einem Wasserthier in ein Luftthier, das seine Nahrung aus der Luft und dem Lichte nimmt. Dieser verschiedenen Zusammensetzung und Ernährung des menschlichen Körpers entsprechen verschiedene Hüllen, eine irdische, eine wässerige und eine unsichtbare Luft- und Lichthülle, welche die Seele umgeben. Sobald sich nun nach dem physischen Tode alle gröberen Stoffe und Körperhüllen von der wesentlichen Grundlage aller Theile der menschlichen Natur, folglich von dem Lichtstoffe trennen, so muß der Lichtstoff, welcher mit der sich aus ihm entwickelnden Seele nur ein unzertrennliches Ganze bildet, noch ebensowohl als vorher einen ganzen Menschen vorstellen und seinen Raum erfüllen, zwar nicht mehr der Dichtigkeit, aber doch der Ausdehnung nach.

Auf diese Art muß man einen solchen von allen gröberen Stoffen bis auf den Lichtstoff entkleideten und verdünnten Menschen in Lebensgröße sehen können, weil er jetzt der Ausdehnung nach ebensowohl als vorher seinen Raum erfüllt, nur jetzt weniger dicht als ehedem.“

Diese Schrift Wötzel’s rief eine wahre Fluth von Entgegnungen hervor, in welcher sich zum Theil die Satire mit vielem Geschicke der in ihr enthaltenen Albernheiten bemächtigte, wie zum Beispiel in den beiden Broschüren „Meines Gatten wirkliche Erscheinung nach seinem Tode“ und „Kilian, ich komme wieder, oder meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode, von Dr. Kilian Zebedäus Spitznagel“.

Wötzel konnte nicht umhin, sich zu rechtfertigen, und er versuchte dies in einer weiteren von ihm herausgegebenen Schrift „Nähere Erklärung und Aufschlüsse über meine Schrift ‚Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode‘“. Seine Rechtfertigung war jedoch, obwohl sie mit einer gewissen nicht ungeschickten Rabulistik abgefaßt war, der Hauptsache nach ebenso albern wie seine erste Schrift. Er wiederholte in derselben ausführlicher die von ihm aufgestellte Gespenstertheorie, ohne durch dieselbe über den Vorfall selbst Licht zu verbreiten. Besser als von ihm wurde diese seine Theorie von dem pseudonymen „Dr. Kilian Zebedäus Spitznagel“ ausgebaut und angewandt. Derselbe schreibt im Geiste Wötzel’s wie folgt:


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp

[410] „Der Mensch besteht aus Wasserstoff und Lichtstoff. Diese zwei Stoffe machen die menschliche Substanz aus. Wenn nun der Lichtstoff nach dem Tode als entzündbarer Stoff fortbrennt, so erscheinen die Weiber wieder. Wie macht man es aber, daß jener Stoff, nämlich der Lichtstoff, nach dem Tode fortbrennt?

Recept. Nimm zwei Loth Baumöl oder auch ein Achtel guten Branntwein, mische es wohl untereinander, thue es in einen silbernen oder blechernen Löffel und gieb ein- oder zweimal davon Deiner Frau vor ihrem Tode ein. Item es hilft und sie wird wiedererscheinen.“




Blätter und Blüthen.


Eine Kreuzigung im neunzehnten Jahrhundert. Ueber Muckerthum und protestantische Pietisterei ist unendlich viel geschrieben worden, aber sehr gering ist die Zahl der Schilderungen, die uns einen vollen Einblick in das Wesen und den Charakter, die Bethätigungen und thatsächlichen Aeußerungen dieser krankhaften Verzerrtheit religiösen Anschauens und Fühlens gewähren. Der Pietismus des neunzehnten Jahrhunderts hat seine für die Entwickelung unserer deutschen Verhältnisse bekanntlich sehr verhängnißvoll gewordene Geschichte. Erst seit einigen Jahrzehnten hat ihn der auf dem protestantischen Gebiete wieder erstarkende Pfaffengeist als ein narkotisches Reizmittel in das erstarrte officielle Kirchenthum herübergenommen und ihn zu diesem Zwecke anständig zugestutzt und äußerlich präsentabel gemacht. Vorher war er ein nur wild in verschiedenen Volkskreisen aufwucherndes Gewächs, hat aber gerade in diesem Stadium die volle Kraft seines vergiftenden Einflusses unwidersprechlich zu Tage gelegt. Davon hat aber das große Publicum bis jetzt Specielleres nicht erfahren. Selbst die offenkundig gewordenen Gräuel muckerhaften Treibens, die weithin in der Welt ein staunendes Entsetzen erregten und oft die salbungsvollen Brüder und ihre „Seelenbräute“ aus der heimlichen Süßigkeit ihrer andächtigen Zusammenkünfte in die Criminalgefängnisse führten, selbst diese von ruhigen Menschen kaum für möglich gehaltenen Paroxysmen und Excesse einer aus Seelen- und Sinnenbrunst gemischten, heuchlerisch sich selber täuschenden Bestialität blieben zum Theil in Dunkel gehüllt und wurden dem Volke nicht anschaulich vor das Auge geführt. Der Grund der Unterlassung liegt wohl vielfach auch in der meistens sehr delicaten Natur der Vorgänge, welche dem volksthümlichen Darsteller eine fast unlösbare Aufgabe stellt, wenn er das Häßliche nicht verschweigen oder gar beschönigen will. Im Uebrigen aber ist der Gegenstand nur einseitig von theologischen, juristischen, ärztlichen, philosophischen oder belletristischen Standpunkten aus behandelt worden, während er doch wesentlich eine Erscheinung der Culturgeschichte ist und nur eine culturgeschichtliche Betrachtung die Entstehung und den Charakter solcher Auswüchse aus den Zuständen und Zusammenhängen der Zeitalter erklären und alle die Gesichtspunkte zusammenfassen kann, welche sie erschöpfend zu beleuchten vermögen.

Das hatte unstreitig Johannes Scherr gefühlt, als ein ebenso bezeichnendes wie furchtbares Ereigniß aus der Geschichte des modernen Frömmlerthums lebhaft seine Aufmerksamkeit beschäftigte und er den Entschluß faßte, die gewonnenen tieferen Einblicke in das Getriebe jener verschollenen, der Oeffentlichkeit niemals voll enthüllten Geschichte unserer hart durch den pietistischen Zelotismus behelligten und gefährdeten Gegenwart zur Anschauung zu bringen. Die Darstellung, welche wir diesem Entschlusse verdanken, ist schon vor längerer Zeit veröffentlicht, aber bisher in Norddeutschland so wenig besprochen worden, daß sie einem sehr großen Theile unserer Leser wohl erst in ihrer zweiten Auflage sich nahe legen wird, die unter dem Titel „Die Gekreuzigte oder das Passionsspiel in Wildisbuch“ soeben (bei Günther in Leipzig) erschienen ist.

Wir glauben keine Uebertreibung auszusprechen, wenn wir dieses Buch als einzig in seiner Art bezeichnen, da wir in der That keine Enthüllung aus dem verworrenen Nebelreiche des neueren Glaubens- und „Erweckungs“rausches kennen, die ihm in Betreff der Bedeutsamkeit der Auffassung wie der eindrucksvollen Herausgestaltung des Stoffes an die Seite zu stellen wäre. Die erschütternde und grauenhafte That religiöser Verirrung, um die es sich handelt, hat sich im Jahre 1823 in einem abgelegenen Schweizerdörfchen zugetragen, und Scherr führt dieselbe am Schlusse seiner Schilderung mit allen charakteristischen Einzelnheiten der haarsträubend wilden und wüsten Scenen an uns vorüber, von denen das schauerliche Ereigniß begleitet war. Dennoch liegt der Reiz und die eigentliche Bedeutung des Buches nicht in den drastisch geschilderten Schlußacten dieser wahren, aus den Acten des Züricher Stadtarchivs geschöpften Dorfgeschichte, sondern in der lebendigen Vergegenwärtigung der innerlichen Antriebe und von außen kommenden Einflüsse, der weit in die Zeitgeschichte bis in die Kreise der Aristokratie sich verzweigenden Wege, welche die leibhaftig vor unseren Augen sich bewegenden Helden und Heldinnen des Schauerdramas, einfache Bauern, Dorfhandwerker und Bauermädchen, schrittweise zu einer solchen Mord- und Selbstmordkatastrophe geführt haben.

Hier vereinigt Scherr als Denker und fesselnder Erzähler, als Geschichtsforscher, Sitten- und Menschenschilderer alle starken und zarten Eigenschaften, allen unerbittlichen Wahrheitssinn und alle poetische Wärme und Gemüthsinnigkeit seiner hervorragenden Originalität, um ein Gemälde von außerordentlicher Wirkung zu entfalten, das den düsteren und theilweise rührenden Ernst des Nachtbildes zu seinem vollen Rechte kommen läßt, ohne dem komischen Realismus des Ganzen und der einzelnen Figuren und Situationen etwas von ihrer eigenthümlichen Färbung zu nehmen. An verschiedenen sehr heikligen, aber unverwischbaren Punkten dieses zur Tragik sich zuspitzenden Unsinns, welche das Buch uns mit allem ergötzlichen Tiefblick eines gesunden und anmuthigen Humors bloßzulegen weiß, würde die Kunst manches gewiegten Erzählers gescheitert sein. Scherr tritt aber weder als frivoler Carricaturenzeichner, noch als steif absprechender Moralist an seine Personen und ihr Handeln und Denken heran; mit dem unbefangen und human alles Menschliche prüfenden Auge des Culturhistorikers sieht er in ihnen bethörte und bemitleidenswerthe Opfer nicht blos einer verirrten Zeitrichtung, sondern der Priester- und Theologenlüge des uralten „Molochismus“, deren Pesthauch durch Jahrtausende sich wälzt und bis zum heutigen Tage fort und fort Millionen von Seelen um den Frieden, die wahre Freudigkeit und Fruchtbarkeit des Daseins bringt, wenn er auch nicht immer und überall seine Verderblichkeit so unverkennbar an’s Licht fördert, wie in dem Wildisbucher Bauernhause und in vielen ähnlichen Fällen. Derartige Ungeheuerlichkeiten wollen nicht einfach verdammt, sondern erklärt sein, und brachen also ja einmal Zorn und Entrüstung in unserer Erzählung durch, so werden sie nur laut gegen jene mehr oder minder einflußreichen Kasten und Cliquen, die heute das Gift jener volksverderblichen Religionslehren wieder in den Dienst eigensüchtiger Machtinteressen gezogen und es mit der Miene der Amtspflicht berufsmäßig zu verbreiten und fortzupflanzen suchen.

Wie kopflos albern und abscheulich auch das Denken und Handeln jener einfältigen schweizerischen Bauern und Bäuerinnen gewesen ist, ihr Fanatismus war ein aufrichtiger und uneigennütziger Taumel; ein unzweifelhaft begeisterungsvoller Drang nach Lösung der großen und ewigen Räthselfragen des Menschendaseins hatte sich in der Enge ihrer unwissenden und umnebelten Seelen bis zur Tollheit verirrt; sie machten erschütternden Ernst mit ihren Wahnbildern und brachten ihnen mit freiwilligem Heroismus nichts Geringeres zum Opfer als sich selber und all ihr irdisches Glück. Was thun dagegen die jetzt in hohen Lehr-, Staats- und Kirchenämtern wirkenden Förderer der pietistischen „Erweckung“? Wir sehen und wissen es; hören wir aber einmal Johannes Scherr darüber, wenn er an einer Stelle seiner Schilderung mit dem ganzen Nachdrucke seiner Kraft- und Kernsprache ruft: „Das war Wahnwitz, sagt Ihr? Ja wohl! Aber sagt uns, Ihr Prediger der Umkehr, Ihr Baalspfaffen und Pharisäer unserer Zeit, sagt uns, wo ist die Grenzlinie zwischen Eurem Buchstabengötzendienste und dem Wahnwitz? Ihr könnt es nicht, denn jene Grenzlinie existirt nicht. Oder doch! Ja, für Euch selbst existirt sie, denn Ihr hütet Euch klüglich, aus Opferern zu Opfern zu werden. Ihr wißt Euch zu wehren nicht allein vor den Flammen der Scheiterhaufen, sondern vor jedem ungläubigen Blicke allerhöchster Beschützer. Ihr seid lange nicht so dumm, wie Ihr ausseht. Ihr wißt recht gut, was die guten Sächelchen des Diesseits zu bedeuten haben. O, wir kennen Euch, Brut Ahriman’s, wir kennen Euch. Nicht eine Silbe Eurer Titel, nicht ein Tausendstel Eurer Pfründen, nicht ein Endchen Eurer Ordensbänder würdet Ihr Eurem ‚Herrn‘ zum Opfer bringen.“ Mit dem Bemerken, daß Scherr selber seine Geschichte der Gekreuzigten von Wildisbuch als eine „Warnungstafel“ für die Jetztzeit bezeichnet, schließen wir unsere Hinweisung auf das unserem Urtheile nach, ebenso bedeutsame wie genußreiche Werkchen. Nicht wenige unserer Leser werden es uns Dank wissen, daß wir einen so werthvollen und doch so volksthümlich ansprechenden Beitrag zur neuesten Zeitgeschichte ihrer Beachtung empfohlen haben.

A. Fr.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.




In Folge einer Verordnung der kaiserlichen Post werden die nach Erscheinen der ersten Quartalnummer aufgegebenen Bestellungen nur gegen Portovergütung von 1 Sgr. ausgeführt. Wir ersuchen also unsere Post-Abonnenten, zur Ersparung dieser überflüssigen Ausgabe, ihre Bestellungen

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aufzugeben, bei späteren Bestellungen aber den von der Postbehörde octroyirten Groschen zu zahlen und jedenfalls die bereits erschienenen Nummern des Quartals zu reclamiren. Jede Postbehörde hat die Verpflichtung, das Quartal vollständig zu liefern.

Die Verlagshandlung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. hierzu Berichtigung in Heft 28.
  2. Vorlage: VOLLENDUN