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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 19. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Der Fels der Ehrenlegion.
Novelle von Berthold Auerbach.
(Schluß.)


Der Maler reichte Louisen die Hand, sie stand neben ihm, und bald betrachtete sie das Bild auf der Staffelei, bald den Felsen den Sturzbach und die Umgebung. Was war anziehender, die Wirklichkeit oder deren Wiedergabe durch die Kunst? Der Bach stürzte über einen Felsen wurde aber sofort in zwei Strömungen zertheilt von einem Trümmerstück, auf dem sich eine junge Tanne mühsam hielt. Rechts war eine kleine Schlucht, in der sich das Laub vieler Jahre gesammelt hatte, welches nun in wunderbaren Farben glänzte. Hoch oben durch das Tannengezweig schaute ein kleiner Fleck blauen Himmels hinein.

„Und Sie sagen nichts?“ fragte der Maler, als Louise noch immer stumm dreinschaute.

„Ich möchte am liebsten schweigen. Ich kann nur sagen: das thut wohl; man sieht dem Bilde an, wie wohl es Ihnen bei der Arbeit ist, Licht und Luft und Farben sprechen das in die Seele.“

„Danke. Ich freue mich, daß Sie nicht, wie so manche, namentlich deutsche Damen von besserer Bildung, sofort eine parlamentarische Debatte über ein Kunstwerk eröffnen. Zuerst wird eine Interpellation an den Künstler als verantwortlichen Minister der Natur gestellt: Wie meinen Sie das? Woher haben Sie das? Vor Allem aber, wie decken Sie Ihr Deficit, das die Kunst gegenüber dem Leben doch nie begleichen kann?“

Louise erbebte. Warum erwählt der Künstler gerade diese Vergleiche vor der ehemaligen Tochter des Parlaments?

Herr Edgar aber fuhr heiter fort: „Ach Fräulein, nichts Aergeres, als ein Kunstwerk abdebattiren. Wenn man das, was solch ein Bild sagen will, in Worte sagen könnte, wäre das Malen höchst überflüssig.“

Louise erbebte auf’s Neue. Der Künstler sagte ihr das, was sie in Italien in sich erlebt und sich abgerungen hatte.

„Ich glaube jetzt zu sehen,“ sagte sie, „was die Kunst kann und soll. Die weite Bergeskette erquickt das Auge des Naturfreundes, aber –“

„Nun, aber? –“

„Ach, verzeihen Sie, daß ich mich jetzt doch in Worten ergehe und es mir zu erklären suche.“

„Nein, Sie sind auf dem vollkommen richtigen Wege. Sie zeichnen auch?“

„Ja, ich malte sogar, aber von jetzt an nicht mehr!“

„Ja, so ist’s!“ nahm Edgar auf. „Die Luft bedarf nicht der überwältigenden Massenhaftigkeit der Berge und der weiten Aussicht. Ein paar Bäume, eine Erhöhung und der Himmel darüber, das genügt.“

Louise setzte das Gespräch nicht fort; sie bat nur Herrn Edgar, sich in seiner Arbeit nicht unterbrechen zu lassen, sondern fortzufahren. Es sei ihr von größtem Interesse, so hineinzuschauen in das Entstehen eines Kunstwerkes. Sofort willfahrte Herr Edgar und malte weiter an dem falben Laube, indem er dabei erzählte, daß er diesem Stück Welt sein Lebensglück verdanke; er bat Louise, sich etwas nach der Seite zu biegen; dort an einer nicht leicht zu entdeckenden Stelle hatte er den Orden der Ehrenlegion mit grellen Farben angemalt, und nun erzählte er, daß er dieses Bild zum zweiten Male ausführe, er habe dem Steine da den Namen „Der Fels der Ehrenlegion“ gegeben, denn dem Bilde, das er im vorigen Jahre vollendet, verdanke er seinen Ruf und die äußerliche Auszeichnung, die, wie es nun einmal in der Welt sei, ihre Bedeutung habe. Es war ein eigenthümlich zutraulicher Ton, in dem er sprach; er sah Louise nicht an, er sah nur immer nach dem Felsen und dann wieder auf die Staffelei. Jetzt wendete er sich und fragte, aus welcher Gegend Deutschlands Louise sei.

Sie nannte ihre Heimath, und der Künstler sagte, daß er auch dort manche gute Studie gemacht und noch manches Bild dort auszuführen hoffe. Jetzt malte er weiter und fragte, ob Louise die Garnisonstadt kenne.

Sie bejahte.

„Kennen Sie vielleicht auch die hinterlassene Tochter eines ehemaligen Majors, Marie von Korneck?“

„O gewiß! Das ist meine Jugendfreundin. Sie war vor Kurzem auf unserem Gute mit ihrem Bräutigam.“

Die Brücke krachte, der Maler stürzte, er schrie; auch Louise schrie, aber schnell hob sie das Bild von der Staffelei hoch in der Hand empor, auch sie glitt aus, aber sie hielt das Bild hoch.

Triefend erhob sich der Maler wieder, er sah Louise, die krampfhaft das Bild hoch hielt.

„Nehmen Sie mir es ab, ich kann nicht mehr,“ rief sie.

Er nahm ihr rasch das Bild aus der Hand und hing es glücklich an einen aus dem Wasser hervorragenden Brückenstamm; er umfaßte Louise und trug sie mehr, als er sie führte, nach dem Ufer.

„Haben Sie sich Schaden gethan?“ fragte er.

„Ich glaube, es ist ohne Bedeutung, ich kann nur nicht auf den linken Fuß auftreten.“

[290] Der Knabe war schnell bei der Hand, er eilte hinab nach dem Gasthause, der Vater Louisens kam und mit ihm zwei Träger mit einem Tragsessel. Louise wurde hinabgetragen, neben ihr ging Herr Edgar, er hatte das Bild in der Hand.




13. Liebe mit Manschetten.

Der Unfall Louisens brachte das ganze Haus in neue Bewegung. Zunächst war man froh, einen Arzt unter sich zu haben, und der junge Mann, der bisher so verdrossen und schweigsam, auch von allen Anderen übersehen war, wurde nun in den Mittelpunkt des Interesses versetzt. Er untersuchte den Fuß und fand allerdings eine starke Anschwellung des Knöchels.

Caspar, der Allesversorger, hatte auch für solche Fälle Hülfe bereit. Er kam mit einem Topf Salbe, die er noch aus seinem Dienst im päpstlichen Heere als überaus heilsam für solche Fälle pries. Er war nicht wenig stolz, als der Arzt vorläufig diese Salbe annahm.

Als Louise verbunden war, bat sie, daß man sie allein lasse. Sie räthselte über die Erschütterung, welche die Erwähnung von Mariens Verlobung bei Herrn Edgar hervorgebracht; sie konnte die Lösung nicht finden. Dann suchte sie sich hineinzudenken, was die Mitbewohner jetzt über das Begegniß sprechen möchten. Aber auch dies gelang ihr nicht, und ein beglückender Schlaf befreite sie von allem Sinnen und Grübeln.

Als sie erwachte, war es noch heller Tag und sie sah zu ihrer Freude das Bild auf einer Staffelei vor sich aufgestellt. Sie ließ den Vater und Herrn Edgar rufen und in ruhigem Tone berichtete sie, daß sie natürlich keine Ahnung davon gehabt, in welchem Verhältniß Herr Edgar zu Marie von Korneck gestanden habe. Jetzt zum ersten Male hörte Louise ausdrücklich, daß der Rittmeister nur zum Schein als Bräutigam auf dem Gute zum Besuch war, damit sie ihn um so unbefangener kennen lerne. Sie bedeckte sich das Gesicht mit einem Taschentuche; der Maler aber rief: „Das ist einer ihrer tollen Streiche, aber er ist doch zu frei. Das darf kein Mädchen und am wenigsten ein Mädchen, das durch ein persönliches Gelöbniß mit einem Andern verbunden ist.“

Louise gewann Fassung und Ruhe genug, Marien zu vertheidigen, und sie konnte nicht umhin, auch des ständigen Ausdrucks der Großmutter zu erwähnen, daß Marie Neigung und Beruf zum Theaterspielen habe.

Der Maler sah Louisen ernst an und bat, daß er erzählen dürfe, wie er mit Marie bekannt geworden und welcher Art ihre Verbindung sei. Louise richtete sich auf und athmete tief. Der Vater legte ihr die Hand auf die Stirn und ersuchte den Maler, die Erzählung auf den andern Tag zu verschieben. Louise wagte nicht zu widersprechen, der Maler zog sich zurück und Louise saß allein beim Vater. Sie forschte nochmals nach, ob es in der That ganz so sei, daß der Rittmeister nur als Scheinbräutigam auf dem Gute erschienen war. Herr Merz mußte es wiederholt bestätigen.

Der Abend brach herein, Louise fieberte und der Arzt gab ihr ein beruhigendes Mittel. Vor dem Hause hörte man keinen Laut und Conrad verstopfte auch den Springbrunnen, damit man sein geschwätziges Plätschern nicht höre.

Am Morgen erwachte Louise neubelebt. Herr Edgar ließ fragen, ob er sie besuchen dürfe. Louise bejahte, und nun saß er vor ihr und dem Vater und erzählte:

„Wie Sie, Herr Merz, mir gestern Abend berichteten, haben Sie mit lebhafter Theilnahme sich den allgemeinen Angelegenheiten des Vaterlandes gewidmet, und ich kann Ihnen nur beistimmen, daß die Art, wie die ganze jugendliche Männerwelt heute in Waffen steht, etwas Barbarisches hat. Gewiß! diese Verschwendung von Lebenskraft und Besitz ist ein tiefer Widerspruch mit dem humanen Charakter unserer Zeit; aber vielleicht haben auch Sie weniger in’s Auge gefaßt, wie viele aufgeputzte vornehme Scheinexistenzen ohne gesunde feste Widerlehne sich aus diesen Verhältnissen gestalten. Ich weiß das. Ich bin ein Soldatenkind, ein früh vaterlos gewordenes. Von meinem siebenten Jahre an trug ich die Uniform; meine Mutter lebte kümmerlich und sie entschloß sich sogar in Dienst zu treten. Sie war vierzehn Jahre lang Wirtschafterin auf einem Landgute, nicht weit von Ihrer Heimath. Ich machte ihr vielen Kummer, denn statt, wie es sich gehörte, zum Officier befördert zu werden, verließ ich mit dem Scheine großer Undankbarkeit den Soldatenstand und folgte meiner Neigung zur Kunst. Sie mögen sich den Kummer meiner guten Mutter denken, und in ihre Klagen, daß ich ein Vagabund werde, mischte sich oft und oft der seltsame Ausdruck ihres Schmerzes, daß ich nie wie der Vater einen Orden auf der Brust tragen werde. Sie sehen, daß es nicht Eitelkeit ist, sondern eine Befriedigung des seltsamen Mutterwunsches, daß ich den Orden trage. Doch, entschuldigen Sie, ich erzähle verwirrt. – Ich habe vielerlei Lebensnoth durchgemacht; aber das ist ein Glück unserer Natur, daß wir Schmerz und Noth in nachfolgender Zeit vergessen. Mir ist jetzt, als hätte das ein Anderer erlebt, nicht ich selbst. Es sind jetzt vier Jahre her, da ward mir ein großes Glück zu Theil. Ein deutscher Kaufmann, der sich in Schottland ein bedeutendes Vermögen erworben hatte und sich nun ein schönes Landhaus in der Nähe von Bieberich erbaute, wollte den großen Gesellschaftssaal mit Bildern aus Schottland schmücken. Er hatte bei einem Kunsthändler ein von mir zum Kaufe ausgestelltes Landschaftsbild gesehen, und nun erhielt ich den überraschenden Auftrag, den Gesellschaftssaal zu schmücken. Ich empfing Reisegeld, um einen ganzen Sommer mich in Schottland umherzutreiben. Ich kam zurück und nahm mit frischer Lust meine Arbeit auf. Eine ältere Schwester von der Frau des reichen Kaufherrn, eine Dame des edelsten und durchgeklärtesten Wesens, nahm mich in ihren besonderen Schutz, und ich kann sagen, nächst meiner Mutter hat mir im Leben nie irgend ein Mensch das Herz so tief erquickt, wie Frau Agathe. Was kann es Schöneres geben? Ich hatte wohlwollende, mich freundlich hegende und fördernde Menschen; ich konnte meine Mutter bestimmen, daß sie ihren Dienst aufgab und zu einer Schwester zog, die an den Förster in N. verheiratet ist, und dazu hatte ich große Wandflächen und das beste Licht, um meine Bilder zu malen.

In mir sang und jubelte es beständig. Da siedelte sich im Hochsommer eine Freundin meiner Gönnerin in Bieberich an und bei ihr war Fräulein Marie von Korneck. Sie kamen öfter zu uns in’s Haus; die alte Dame hatte keinen Sinn für Malerei und war stolz und ehrlich genug, ihn nicht zu heucheln. Marie dagegen verfolgte meine Arbeiten mit großer Theilnahme.

So saß ich einst, es war in der Dämmerung, im Garten und träumte so hinein in die Zukunft und in die weite schöne Landschaft. Da hörte ich, wie meine Gönnerin, die mit ihrer Schwester lustwandelte, sagte: ‚Ja, wenn ich mir eine Frau für Edgar wünschen könnte – es wäre Marie Korneck.‘ Mich erschütterte es. Auch ich hatte tiefes Wohlgefallen an dem allezeit frischen Naturell Mariens gefunden, aber sie zu erringen, sie mein zu nennen, war mir nie in den Sinn gekommen. Ich gestehe ganz offen, ich habe eine tiefe Furcht vor der Armuth; ich habe sie kennen gelernt in ihren bittersten Folgen. Oft in stillen Stunden, wenn ich an die Zukunft dachte, sagte ich mir: du darfst dir nie eine Häuslichkeit gründen, die auf einen fraglichen Erwerb gestellt ist. Ich wies jede Anmuthung zurück, und so war ich dreißig Jahre alt geworden und immer mehr befestigte sich in mir der Vorsatz, auf Familienglück zu verzichten, wenn ich es nicht auf eine gesicherte Existenz bauen könnte. Man mag dieses philisterhaft finden – zaghaft – muthlos …“

Herr Merz schüttelte den Kopf verneinend und Edgar fuhr fort: „Ich machte mir selbst oft Vorwürfe wie diese und mit noch strengeren Ausdrücken; aber meine Entsagung auf Liebesglück und Familienglück stellte sich auf die vielbedachte Erwägung: ich war aus der gewöhnlichen bürgerlichen Ordnung, aus dem Streben nach bloßer Versorgung ausgetreten, – ich war meiner Neigung gefolgt in meinem Berufe und war dafür entschlossen, jede andere Neigung nach häuslicher Seßhaftigkeit zu unterdrücken. Ich sagte mir, daß ich das Opfer schuldig sei, und ich sah so viele meiner Berufsgenossen verkommen, weil sie nicht mehr den Eingebungen ihres Genius folgen durften, sondern für Frau und Kind gut verkäufliche Arbeiten ausführen mußten. Ich hatte einen Freund, der auf jedem Bilde, mochte es passen oder nicht, zwei Mädchen anbrachte, ein blondes und ein braunes; das eine wo möglich in Sammet, das andere in der Regel in Seide – das sind Bilder, die sich gut verkaufen, aber sie verunstalten die reine Kunst. So war ich also entschlossen, für mich allein und, so weit es möglich war, für meine Mutter mein Leben frei in meiner Kunst zu erhalten. Eine Familie mit mir in diese Fraglichkeit hineinzuziehen, dazu hielt ich mich nicht für berechtigt.

[291] Jetzt wurde das auf einmal anders, es sprach etwas in mir, daß ich nicht entsagen dürfe. Ich verspottete meine Furcht vor Armuth und sagte mir, es sei Feigheit, man müsse eine Lebensstellung erobern und in bescheidenen Verhältnissen glücklich sein können. Ich näherte mich Marie nun immer mehr, und ihr Frohsinn und ihre Frische belebten mich auf’s Neue. Oft wollte mich wieder die Furcht beschleichen, daß ich es wage, ein anderes Leben an das meinige zu knüpfen, das doch selbst noch so fraglich war; aber wenn ich Marie sah, wenn ich ihre Stimme hörte, waren alle Bedenken verflogen. Wir waren Beide Soldatenkinder, wir hatten Beide jene Bitterkeit der Scheinexistenz kennen gelernt, von der ich Ihnen früher sprach – ich konnte mich noch glücklich nennen im Vergleich zu Marie, denn sie mußte dienen, ihren Jugendmuth den Launen einer nicht unedlen, aber pedantischen und kleinlichen Frau unterordnen, und ich bewunderte ihre Spannkraft, mit der sie doch ihr freies Naturell bewahrte. Aber bei alledem – ich mache mich nicht besser, als ich bin – ich hatte den Muth nicht, ihr meine Liebe einzugestehen, und sagte mir oft: hätte Frau Agathe das Wort nicht hingeworfen, du hättest dir nie ein ernstliches Hinwenden zu Marie gestattet.

So kam der Herbst heran, es war und blieb eine unausgesprochene, halbunterdrückte Beziehung zwischen Marie und mir.

Der Tag der Abreise kam, ich begleitete Frau Agathe nach Bieberich, um den Freundinnen noch einmal Lebewohl zu sagen. Die Koffer waren gepackt; Marie sah sehr erregt aus; wir standen an einem Fenster und schauten hinaus über den Strom; da sagte ich: ‚Es ist gut, daß Sie reisen, so weh es mir auch thut.‘ – Sie sah mich groß an und erwiderte nichts. Mir ward klar, daß ich den Widerspruch, der in mir lebte, unwillkürlich kundgegeben, und ich sagte nur: ‚Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich hier Lebewohl sagen; ich möchte nicht drunten beim Dampfschiffe an der Landungsbrücke … und so lassen Sie mich Ihnen sagen: Freuen wir uns dessen und betrachten wir es als ein Lebensgeschenk, daß wir einander begegnet und unvergeßliche Erinnerungsbilder in der Seele bewahren. Wenn Einem von uns ein Lebensglück beschieden, dann wissen wir, daß das Andere sich in der Ferne dessen erquickt. Ich habe lange darüber gesonnen, ob ich Ihnen nicht ein äußerliches Andenken geben soll; ich finde nichts, und es ist auch besser, Sie haben nichts als einfach die Erinnerung einer Begegnung auf der Lebensreise, und ich wünsche Ihnen von Herzen glückliche Fahrt.‘ –“

Edgar hielt inne. Nach einer längeren Pause fuhr er fort: „Entschuldigen Sie, daß ich das Alles so ausführlich wiederhole; ich weiß nicht, wie es kam, ich werde mich fortan kürzer fassen.

‚Das Dampfschiff kommt!‘ wurde plötzlich gerufen. Koffer und Kasten wurden nach der Landungsbrücke gebracht; ich blieb dabei, nicht, wie meine Gönnerin that, die Freundin noch eine Strecke Wegs zu begleiten; ich sagte der älteren Dame und Marien Lebewohl; wir sprachen kein Wort mehr; ich sah Thränen in ihrem Auge, ich sah sie zittern durch die Thränen in den meinen. Die Koffer wurden hinabgebracht, Alles war leer. Ich ging, den Schmerz verbeißend, in den wie ausgeraubten Zimmern umher und sagte mir: Es ist gut, daß es vorbei ist. Du hast kein Recht, ein anderes Schicksal an das deine zu binden. –

Da sah ich auf dem Nähtischchen Mariens ein Paar gestickte Manschetten liegen – sie waren vergessen worden. – Ich kann nicht sagen, wie es kam – ich nahm die Manschetten in die Hand, ich eilte die Treppe hinab, ich kam noch glücklich bei der Landungsbrücke an, wo das Schiff eben abstoßen wollte. Ich wollte Marien die Manschetten hinüberreichen, aber der Capitain, der glaubte, daß ich noch mitfahren wollte, faßte mich an der Hand, riß mich auf das Schiff, und fort ging’s.

Die alte Frau sah mich verwundert an, aber Frau Agathe reichte mir die Hand und ich sah, wie Marie zitterte. Wir fuhren eine Weile still dahin. ‚Wir haben nur wenige Minuten,‘ sagte ich endlich, ‚denn in Walluf müssen wir aussteigen.‘

‚Es ist lieb von Ihnen, daß Sie noch gekommen sind,‘ sagte Marie. In ihrem Tone lag etwas so Bewältigendes, daß alle Bedenken verschwanden und jeder Blutstropfen in mir aufwallte. ‚Marie,‘ sagte ich ihr, ‚nur wenige Minuten. Nun höre, was ich Dir sage. Ich habe kein Recht, Dein Schicksal an das meine zu binden, und so halte fest: ich will Dein Lebensglück nicht hindern, das Du finden magst. Nur drei Jahre schenke mir, das heißt, ich lasse Dich frei, wenn ich Dir in drei Jahren nicht schreibe. Ich will suchen eine gesicherte Existenz für uns zu finden. Gelingt mir das nicht, so bist Du frei. Ich bitte Dich, binde Dein Leben nicht unauflöslich an mich. Willst Du mir das versprechen?‘ – Sie bejahte. –

Ich kann nicht mehr Alles erzählen – ich habe vergessen zu sagen, daß wir uns unsere Liebe gestanden hatten.

Die Glocke läutete, vor den Augen meiner Gönnerin und der alten Dame küßten wir uns zum ersten Male.“

Wieder machte Edgar eine Pause. Er wagte nicht Louisen anzuschauen, er senkte den Blick zur Erde und doch hätte er gern gewußt, wie Louise ihn jetzt betrachtete. Endlich fuhr er fort:

„Ich war ein seltsamer Mensch voll Widersprüche, bald betrachtete ich mich als verlobt, bald als vollkommen frei. Es ist ja auch nichts geschehen, nichts Bindendes. Meine Arbeit im Hause des Kaufherrn war zu Ende. Ich hatte so viel erworben, um meine Mutter für Jahre sorglos zu stellen, und jetzt wanderte ich frisch und frei in die Welt hinaus. Ich war in Italien und wunderbarer Weise zur selben Zeit, wo auch Marie da war; ich hörte aber erst davon, als sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Ich kam hierher. Ich malte das Bild, bei dessen Wiederholung wir uns gefunden haben. Ich habe in Paris die größte Auszeichnung erhalten – ich darf sagen, daß mir die äußere nur meiner Mutter zu lieb von Werth war, und in der That war ihr Brief auf meine Anzeige der Ordensverleihung hin ein überaus glücklicher. Ich habe einen guten Namen und Bestellungen auf viele Jahre hinaus. Jetzt war die Zeit da, wo ich Marien ein auskömmliches Leben bieten konnte. Ich schrieb ihr. Ich bin noch einmal hierher gereist, um auf Bestellung das Bild noch einmal in kleinerem Maßstabe zu wiederholen; – ich erwarte Nachricht von Marie, ja vielleicht sie selbst.“

Edgar hielt inne. „Was nun ist, was geworden ist,“ schloß er, „das wissen Sie.“

Geraume Zeit saßen die Drei stumm neben einander, endlich sagte Louise: „Ich danke Ihnen, Herr Edgar.“

Edgar stand auf und ging davon; der Vater blieb noch bei seiner Tochter, aber bald kam er Edgar nach und wußte nichts weiter zu sagen als: „Ich bitte, wollen Sie nicht eine Cigarre mit mir rauchen?“

Rauchend und schweigend saßen die beiden Männer beisammen, bis der Vater wieder zu Louisen ging.




14. Auf dem wogenden See und im Hause.

Tage vergingen, Louise konnte wieder in’s Freie gebracht werden, sie lag auf einem Ruhebett im Garten. Die Kinder spielten um sie her, die Frauen saßen bei ihr, auch der Arzt, der nun wie erlöst erschien, da auch Edgar ein Deutscher war und sich ihm freundlich anschloß, wie der Vater Louisens selbst. Er erwies sich als gediegener und hochgebildeter Mann. Ja, selbst der Schwermüthige, in dessen Begleitung er war, verließ sein einsames Zimmer und kam zu Louisen. Er war der Erste, der das Wort aussprach: „Sie sollten Herrn Edgar heirathen! Sie Beide wären ein schönes Paar.“

Louise erbebte, und alle Umstehenden sahen einander erstaunt an und blickten dann zur Erde. Der Verstörte, der sich zu erholen schien, sprach aus, was Alle dachten.

Man wartete auf Briefe. So oft Caspar, der Allesversorger, den Briefbeutel brachte, war Louise voll Aufregung. Welch eine Nachricht wird von Marie kommen, und wie, wenn gar kein Brief kommt, sondern sie selbst? Sie bat ihren Vater, doch mit ihr abzureisen, aber der Arzt wollte das nicht gestatten und so blieb sie. Tagtäglich im Verkehr mit Herrn Edgar lernte sie dessen gediegene frische Natur und seine offene, freie Seele immer neu erkennen, aber es lag ein Schleier auf ihren beiderseitigen Beziehungen, den sie nicht zu lüften wagten.

Wieder und wieder empfand Louise den schmerzlichen Gedanken, daß sie ihr Herz einem Manne geoffenbart hatte, der einer Andern angehörte. – Endlich am zweiten Sonntage kam ein Brief an Edgar mit der Handschrift Mariens. Louise sah, wie Caspar die Briefe vertheilte – sie sah, wie Edgar erblaßte, da er die Aufschrift las. Er hielt den Brief in der Hand, er öffnete ihn nicht. Die Versammelten hatten Briefe erhalten und gingen damit nach einsamen Bänken, um sie zu lesen. Auch Herr Merz [292] hatte Briefe und Zeitungen erhalten und entschuldigte sich bei seiner Tochter, daß er damit in’s Haus gehe.

Noch immer stand Edgar mit dem unerbrochenen Briefe regungslos da, der Blick Louisens war auf ihn gerichtet, endlich trat er zu ihr, legte den Brief auf die Decke und sagte: „Fräulein Merz, was der Brief auch enthält, ich muß Ihnen vorher sagen, wie ich entschieden habe. Ich kann Marien nicht mehr die Meine nennen, denn mein Herz gehört einer Andern. Ich glaube, daß es minder schlimm ist, einmal die Treue zu brechen, als ein ganzes Leben zu führen in innerer Untreue. Wie ich jetzt bin und bleibe, kann ich Marien nicht mehr glücklich machen. Ich fragte mich, ob es nicht das Beste wäre, wenn ich den unentsiegelten Brief hier in den See werfe. Ihr Blick sagt mir, das darf ich nicht. Gut denn! So wollen Sie den Brief öffnen!“

„Ich?“

„Ja, Sie! Nichts, was mich angeht und in mir lebt, ist ein Geheimniß für Sie und darf Ihnen fremd sein.“

Louise öffnete rasch den Brief. Sie war betroffen, nicht geschriebene, sondern gedruckte Worte darin zu finden. Auf gelbem, pergamentähnlichem Papier stand mit gedruckten Worten:

„Marie von Korneck,

Albrecht von Birkenstock,
Rittmeister a. D., Amtsrath auf der königlichen Domaine R.

Verlobte.“

Edgar empfing das gedruckte Blatt, er schlug die Seiten um, es mußte sich doch noch ein Wort von Marie finden, – aber es fand sich keins. Edgar faßte die Hand Louisens und rief: „Nun darf ich’s sagen! Darf ich’s sagen? – Ich bin Dein. – Willst Du mein bescheidenes Loos mit mir theilen?“

„Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht hier,“ rief Louise, sie wußte, wie sich von den Fenstern, vom Balcon die Blicke auf sie richteten. „Ich will in’s Haus zurück.“

Caspar war schnell bei der Hand, ein zweiter Mann fand sich nicht; Caspar und Edgar trugen Louisen im Tragsessel nach dem Hause zurück. Sie trafen den Vater in seine Zeitungen vertieft, und er rief:

„Louise, sie schlagen mich wieder zum Candidaten vor. Nächsten Winter sind wir wieder in der Residenz.“

Louise schüttelte den Kopf.

„Du glaubst nicht, daß sie mich wieder wählen?“

„Das nicht, aber ich bin gewählt! Und ich wähle, – hier. Nun bitte, sprich Du!“ wendete sie sich zu Edgar.

Dieser konnte kaum das Wort hervorbringen; der Vater umarmte ihn und umarmte sein Kind. Man saß wohlgemuth beisammen, da erklärte Edgar, daß er Louisen ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben bieten könne.

Der Vater lächelte und schilderte das schöne Atelier auf dem Landgute, das einem wirklichen Künstler und nicht blos einem Dilettanten zustehe.

Louise war aufgestanden und sie konnte jetzt ganz schmerzlos auftreten. Der Arzt bat, nur noch einen einzigen Verband anlegen zu dürfen, dann wäre Alles vorbei.

Der alte Bundesrath hielt seit Jahren streng darauf, keinerlei Beziehung zu den Fremden im Gasthause einzugehen; er wollte seine Ruhe nicht stören lassen und er und seine Frau genügten sich vollauf an der Friedsamkeit ihres Hauses und dem erquicklichen Athem der weiten Naturumgebungen. Mit Herrn Merz war er nun in ein so freundliches Verhältniß getreten, daß er seine alte Regel verließ. Die Wirthsleute begrüßten ihn mit großer Ehrerbietung, er dankte in landsmännischer Vertraulichkeit, lobte den Wirth und die Wirthin, und auch Caspar bekam ein gutes Wort. Er ging nach den Zimmern des Herrn Merz und nach einem herzlichen Glückwunsche sagte er: „Sie sind ein so rechter Bürgersmann, daß es sich für Sie und Ihr Kind nicht schickt, eine Verlobung hier, so halb auf der Straße, im Wirthshause, zu feiern. Meine Frau läßt Ihnen auch sagen, Sie sollen zu uns kommen.“

Man nahm das freundliche Erbieten gern an. Im Hause des Bundesrathes unter den theilnahmvollen Blicken der Frau und herzlichen Worten des alten Herrn wurde die Verlobung gefeiert.

Louise trug den Verlobungsring an der Hand, und das Erste, was sie mit dieser Hand unternahm, war, daß sie einen Brief an die Mutter Edgar’s schrieb. Dann wanderte sie an seinem Arme durch das Dorf zurück nach dem Gasthause.

Die Verlobung Louisens versetzte die ganze Gesellschaft in neuen Aufruhr, und wieder kam der Schwermüthige zuerst und brachte seinen vollen Glückwunsch dar. Die Bedrückung, die auf seinem Gemüthe lastete, schien inmitten der heiteren Menschen immer mehr zu schwinden. – Dann kamen die Kinder mit Blumen, die Frauen der Maler, die Männer, – Alles war voll Jubel.

Caspar aber schleppte einen kleinen Böller hinaus nach dem Berge, oberhalb des Felsens der Ehrenlegion; er ließ durch die Wirthin sagen, man möge nicht erschrecken, wenn man schießen höre, – und jetzt krachte es vom Felsen und der Widerhall tönte weit hinaus über den See von den jenseitigen Bergen.

Louise ging mit ihrem Bräutigam nach dem Garten, sie riefen sich alle Augenblicke zurück von der ersten Begegnung bis jetzt. Am Abend, als der Mond hell auf dem See glänzte, stiegen sie in den Kahn und ruderten miteinander hinaus, und draußen jodelten sie miteinander in die linde Nacht hinein, daß es Allen, die es hörten, das Herz erquickte. Wie glücklich aber mochten die da draußen allein sein – –

Auf dem Bahnhofe der mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt wieder ein Fuhrwerk, aber jetzt ein fest verschlossener Wagen. Die Blätter vom Buchenbaume wirbelten durch die Luft, ein naßkalter Strichregen schien sich den Spaß zu machen, bald nach dem Gebirge hin zu ziehen, bald unversehens wieder Kehrum zu machen.

Auf dem Perron zeigte sich kein Mensch, und jetzt, als es pfiff, kam der Kutscher des Wagens eilig heraus, hielt sich den Cocardenhut mit beiden Händen und kaute noch an einem Bissen, den er im Munde hatte.

Der Zug rollte in den Bahnhof, der Inspector begab sich an die erste Wagenclasse, öffnete, hieß Herrn Merz herzlich willkommen und gratulirte ihm zur Wiederwahl. Schnell aber setzte er hinzu: „Entschuldigen Sie, man hat ja noch zur Verheirathung des Fräulein Louise zu gratuliren. Darf man fragen, ob sie mit ihrem Gatten zu uns zurückkehrt?“

„Gewiß! Zum Frühling. Jetzt sind die jungen Leute in Paris.“

Herr Merz stand fröstelnd und den Mantel fest zusammenziehend auf dem Bahnhofe. Der eintretende nordische Winter schien ihm, der aus dem Süden kam, um so schärfer und heftiger. Das Gepäck war ausgeladen, der Zug rollte davon; Herr Merz wollte selber nach seinen Effecten sehen, der Bahnmeister widerrieth ihm das wegen des scharfen Windes, auch der Diener sagte, er werde schon Alles richtig besorgen; aber Herr Merz blieb dabei, er müsse selber nachsehen, es sei da eine Kiste, die besonders behutsam behandelt werden müsse.

„Sie haben doch nicht auch einen Streich gemacht wie damals die Freundin Ihrer Tochter, Fräulein von Korneck, die einen Hund als Wickelkind mitnahm?“

„Nein, nichts dergleichen! Es ist ein Bild, von meinem Schwiegersohne gemalt. Besuchen Sie mich einmal, Sie sollen es sehen.“

„Was stellt es denn dar? den Monte Rosa, den Rigi oder die Jungfrau?“

„Nichts von dem. Eine ganz unbekannte Felsenanhöhe am Vierwaldstätter See, es kennt sie Niemand als wir; sie hieß früher der Fels der Ehrenlegion und heißt jetzt der Fels der Liebe.“




manicula An die Leser der Gartenlaube. manicula

Wir bedauern, den Lesern der mit so vielem Beifall aufgenommenen Erzählung „Aus eigener Kraft“ die Mittheilung machen zu müssen, daß Frau von Hillern, eben mit einer von ihr gewünschten nochmaligen Durcharbeitung des Romans beschäftigt, derart erkrankte, daß sie sich auf ausdrückliches Verlangen ihres Arztes von jeder geistigen Anstrengung fern halten muß. Wir sind dadurch leider gezwungen, in dem Abdruck der Erzählung eine vierzehntägige Pause eintreten zu lassen, nach deren Ablauf jedoch „Aus eigener Kraft“ ununterbrochen zum Ende geführt werden wird.

Die Redaction. 
[293]
Der Nestor der deutschen Bühnendichter.

Karl Toepfer.

Der „Aufruf an mein Volk“ war erschienen. Friedrich Wilhelm der Dritte weilte in Breslau – damals für kurze Zeit das Herz Deutschlands, ja, gewissermaßen Europa’s. Nach jahrelanger Nacht der Unterdrückung und des Elends leuchtete unserem Vaterlande eben das erste Morgenroth der Freiheit wieder. Der Himmelstochter gewaltiger Odem hatte jedes Herz ergriffen; selbst in dem Busen Solcher, welche nur die Künste des Friedens pflegten, entbrannte patriotische Begeisterung für den heiligen Kampf, den es galt, und machte sich Luft auf alle Weise. Besonders die Jünger jener Kunst, welche vor vielen berufen ist, das Volk unmittelbar zu bewegen und zu rühren – der Schauspielkunst – benutzten die häufige Anwesenheit des Königs und seiner Familie im Theater, ihrem Tyrannenhasse freien Lauf zu lassen und ein Witzwort, eine satirische Anspielung in die Massen zu werfen.

So gab man eines Abends den „Herodes vor Bethlehem“, vortreffliche Mahlmann’sche Parodie von Kotzebue’s „Hussiten vor Naumburg“. Ludwig Devrient, damals im Zenith seiner Kraft und eine Zierde der Breslauer Bühne, spielte den thränenreichen Viertelsmeister Wolf, der die Stadt Bethlehem gegen Herodes zu vertheidigen hat. Im dritten Acte sollen die Truppen gegen den Feind geführt werden, und Wolf hat dieselben zur Bravour anzufeuern.

Helden meiner Wachtparade –
Zupft den Busenstreif gerade!“

beginnt Devrient voll Pathos. Da erscheint als letzter dieser Helden, die ihre Courage durch Zittern und Beben an den Tag zu legen suchen, einer mit zerrissener französischer Uniform, in Lumpen und Pelze gehüllt, vor Frost klappernd. Die Zuschauer, welche ähnliche Jammergestalten auf dem Wege von Rußland her zahlreich hatten ankommen sehen, brachen über die schlagende Satire in wildes Hurrahgeschreih aus, und lange, lange hielt der Jubel an. – Der Schauspieler, welcher es verstand, auf so einfache Weise ein ganzes Publicum patriotisch zu entzünden, war aber auch kein Geringerer, als – Karl Toepfer. Er, bei dessen Namen wir uns gegenwärtig zunächst der genußreichen Stunden erinnern, welche seine Lustspiele uns verursacht, war früher darstellender Künstler. Der Verfasser so vieler geist- und wirkungsvoller Bühnendichtungen kennt die Scene aus eigener praktischer Erfahrung. –

Geboren im December des Jahres 1792 zu Berlin, zählt Toepfer gegenwärtig achtundsiebenzig Jahre und dürfte somit wohl [294] für den Nestor der deutschen dramatischen Schriftsteller gelten. Sein Vater war Geheimer Archivar, der Sohn sollte ebenfalls in den Staatsdienst treten und lag zu diesem Zwecke den vorbereitenden Studien ob; doch, mochte seine Theilnahme für die erhabene Welt antiker Classicität noch so blühend sein: mächtiger zog es ihn zu jener Idealwelt auf dem bretternen Gerüst der Scene, von deren zauberischer Gewalt ein jugendlich-schwärmerischer Sinn selten ganz unberührt bleibt. Das Verlangen, dieser romantischen Wunderwelt selber anzugehören, regte sich immer mächtiger in Karl Toepfer, und so verließ, nicht eben nach dem Wunsche seines Vaters, der Neunzehnjährige seine Geburtsstadt, um sich nach Mecklenburg-Strelitz zu einer wandernden Schauspielergesellschaft zu begeben.

Man nennt den Stand des Mimen so oft ein „glänzendes Elend“; Toepfer sollte vorerst nur das Elend kennen lernen. Auf ihm, der in behäbigem[WS 1] Wohlleben erzogen worden, lastete die Misere der kleinen Wandertruppe doppelt schwer; kein Wunder, daß er dem Druck derselben schon nach sechs Wochen wieder entfloh und nach Berlin in das elterliche Haus zurückkehrte. Aber der Beruf Toepfer’s zur Kunst hatte sich doch dargethan, und so ergab sich denn der Vater in das Unabänderliche und benutzte seine Verbindungen, um dem Sohne ein ehrenvolles Engagement bei dem Theater in Breslau zu verschaffen, welches damals unter der Leitung des kunstsinnigen Regierungsraths Streit stand.

Ein edler Kreis bedeutender Talente war zu jener Zeit dort versammelt; in ihre Mitte trat der rüstig Strebende. Munter förderte ihn Beispiel und Lehre; namentlich genoß er den Unterricht der berühmtem Tragödin Henriette Händel-Schütz.

So wirkte er mehrere Jahre in Breslau, bis ihn ein ehrenvoller Ruf nach Brünn und bald darauf nach Wien zog, wo der um die Kunst hochverdiente Schreyvogel das Hofburgtheater leitete. Das war im Jahre 1815.

Der Erfolg auf diesem schwierigen Boden war ein glänzender, und fortan, eingereiht unter die Würdigsten und Besten, thätig unter der geistvollen Führung eines so bedeutenden Mannes wie Schreyvogel, war Karl Toepfer auf dem Wege zur höchsten Staffel der Kunst.

Der Lehrer, gefesselt durch die reiche Bildung, den warmen Eifer seines Schützlings, wurde bald zum Freunde; und das Band der Intimität schlang sich um so fester, als Schreyvogel, der unter dem Namen C. A. West vielfach literarisch thätig war (wir verdanken ihm bekanntlich eine Reihe wahrhaft mustergültiger Uebersetzungen namentlich spanischer Dramen), auch bei Toepfer schriftstellerische Gaben entdeckte. Er regte den Trieb nach einer Nebenbeschäftigung mit der Feder bei dem jungen Darsteller mehr und mehr an; und dieser begann, sich mit Entwürfen kleiner, von Schreyvogel controlirter Lustspiele zu versuchen. Das gelang über Erwarten, und wie der Mensch mit seinen größeren Zwecken wächst, glückte es Toepfer gar bald mit umfangreicheren Arbeiten.

Die ersten seiner Stücke, welche durchschlagende Erfolge erzielten, waren das vieractige Schauspiel „Hermann und Dorothea“ (1820) und „Des Königs Befehl“ (1821) – jenes hat vor Kurzem den fünfzigjährigen Geburtstag seiner ersten Aufführung erlebt, und es zeugt von der strotzenden Lebensfülle desselben, daß es auf uns noch mit der nämlichen Frische wirkt wie auf unsere Väter.

„Hermann und Dorothea“ ist bekanntllch nach Goethe’s gleichnamigem Gedichte bearbeitet. In den letzten Monaten des Jahres 1819 für das Hofburgtheater geschrieben, ward es dort im Januar 1820 zum ersten Male aufgeführt. Toepfer, damals noch Mitglied jener Bühne, hatte gleichwohl keine Rolle übernommen: er wollte den Gang des Ganzen und den Erfolg unbehindert überwachen und widmete sich der Scenirung mit äußerster Sorgfalt.

Das Elternpaar, die Hauptgruppe des Genrebildes, fand treffliche Vertreter in dem alten Eckardt gen. Koch und Frau von Weißenthurn, als dramatische Schriftstellerin bereits Notabilität und dem jungen Kunstcollegen geistverwandt; in ihren feinen häuslichen Cirkeln verlebte er fröhliche Stunden.

Mit dieser Besetzung gefiel das neue Stück, dessen erster Aufführung Kaiser Franz, die Kaiserin, alle Erzherzöge und der ganze Hofstaat anwohnten, überaus; sämmtliche Darsteller wurden gerufen – eine Ehre, welche am Schlusse auch dem Verfasser zu Theil wurde. Nicht wenig hatte zu dieser Wirkung die technische Ausstattung beigetragen: Ritter von Stubenrauch hatte die Figurinen behufs der Costüme gezeichnet und die Anfertigung der Decorationen auf’s Sorgfältigste geleitet. Von den Logen aus sah man in dem Brunnen wirklich das Bild Dorothea’s und des hinter ihr stehenden Hermann erscheinen, ein Effect, der durch einen mit Gaze bedeckten Spiegel hervorgebracht war; und einen magischen Eindruck machte es, als die hinter den mit weißen Aehren bedeckten Hügeln untergehende Sonne die in Hermann’s Arme gesunkene Jungfrau mit goldigem Schimmer der Abendröthe umwob.

Nachdem so die Dichtung in Wien ihre Feuerprobe mit Glück bestanden, richtete der Verfasser sein Auge dahin, wo die Wiege der Idee stand, welche dem Schauspiel zu Grunde gelegen: nach Weimar. Dort unter den Augen des Dichterfürsten Goethe sein Stück aufgeführt zu sehen, mußte den Stolz des jungen Bühnenschriftstellers ausmachen; er legte deshalb seine Arbeit dem Regisseur Genast, welchem er das Manuscript zusandte, warm an’s Herz, bevorwortete indessen selbst, daß eine Aufführung nur stattfinden dürfe, wenn Altmeister Goethe seine Zustimmung ertheile.

Nicht lange sollte Toepfer auf Antwort von Genast harren, und – was er kaum zu hoffen gewagt! – Goethe urtheilte mit großer Wärme über die Dramatisirung seines Idylls. Genast’s Schreiben enthielt eine mündliche Aeußerung des Alten von Weimar, welche dieser gethan, nachdem er das Schauspiel gelesen. „Schreiben Sie dem Verfasser,“ hatte Goethe gesagt, „das sei sehr geschickt gemacht. Hätte ich gefunden, daß in dem einfachen Idyll solche Theaterwirkung stecke, so wäre die dramatische Bearbeitung von mir selbst unternommen worden. Uebrigens ist es mir lieb, wenn das Stück überall gegeben wird; da es die Quelle angiebt, so wird man aus Neugier nach meinem Gedichte, das bis jetzt wenig populär geworden ist, greifen. Sagen Sie aber auch dem Verfasser, daß er es mit den Abschriften etwas zu leicht nähme; er liest sie gar nicht durch – in dem Exemplar fehlt eine ganze Zeile, wodurch der Sinn in Unsinn verkehrt wird – ich habe aber die Zeile hineingedichtet.“

Das ist gewiß ein herziger, liebenswerther Zug des großen Todten, eines jener kleinen Merkmale, welche geeignet sind, dem leider noch immer verbreiteten Wahne entgegenzutreten, es habe dem edlen Goethe an Gemüth gefehlt!

Da „Hermann und Dorothea“ auch in Weimar mit Erfolg gegeben worden, so konnte es nicht fehlen, daß die Bühnenleitungen auf das Stück aufmerksam wurden, und bald wanderte dasselbe von Theater zu Theater. Noch war es indessen nicht in des Autors Vaterstadt, in Berlin, gegeben worden – erst wenn es auch hier mit Ehre bestanden, wollte Toepfer seinen Triumph für vollkommen erkennen.

Da es sich in den Augen des jungen Schriftstellers um Sein oder Nichtsein handelte, so beschloß er, sich der Scenirung von „Hermann und Dorothea“, wie in Wien, so auch in Berlin selbst zu unterziehen, und begab sich zu solchem Zwecke nach dieser Stadt. Hier fand er am Grafen Brühl, welcher nach Iffland’s Tode die Leitung übernommen, einen ebenso gebildeten wie kunstbegeisterten Intendanten, und zu so großer Intimität führte bald die Uebereinstimmung Beider in theatralischen Fragen, daß Toepfer einen kleinen Schlüssel für die Hinterthür des Intendanturbureaus erhielt, damit er nicht zu antichambriren brauchte.

Um einige seiner Lustspiele zur Darstellung vorzubereiten, wurde Toepfer vom Grafen Brühl die Regie übertragen; eine Maßregel, von welcher das Hoftheaterpersonal mittelst Circular in Kenntniß gesetzt wurde, und mit der Aufforderung, den Anordnungen Toepfer’s unbedingt Folge zu leisten. Diese Bestimmung, ohne des Letzteren Wissen getroffen, brachte ihn in Conflict mit seinem ehemaligen Breslauer Collegen Ludwig Devrient, der den Titel eines Regisseurs führte, sich aber so wenig mit den Geschäften eines solchen zu befassen hatte, wie ein Hofrath in die Lage kommt, dem Hofe Rath zu ertheilen. Auf Zureden beruhigte sich denn auch Devrient bald, und die Leseprobe von „Hermann und Dorothea“ wurde angesetzt.

Der Künstlerkreis, welcher Toepfer empfing, suchte seines Gleichen. Als Darsteller des Elternpaares standen der geistvolle, ebenfalls literarisch thätige Pius Alexander Wolff, bekannt als Verfasser der „Preciosa“, und dessen treffliche Gattin Amalie geb. Malcolmi oben an; Beide, unter Goethe’s Leitung in Weimar gebildet, waren noch von Iffland für die Berliner Bühne gewonnen worden. Den Apotheker spielte kein Geringerer als der [295] geniale Ludwig Devrient, während ein Künstler wie Lemm, der Darsteller erster Partieen wie Wallenstein und Götz, die Episode des Rectors, und der gleichfalls bedeutende Beschort diejenige des Richters übernommen hatte. Die Titelrollen befanden sich in den Händen eines Lieblingsschülers von Iffland einerseits: Rebenstein – und der später so berühmten Madame Stich(-Crelinger) andererseits; eine Besetzung, welche gewiß auserlesen zu nennen ist.

Kaum war Toepfer, um die Leseprobe zu leiten, in diesen edeln Verein großer Talente getreten, so wandte sich Madame Wolff an ihn mit der Bitte, der Versammlung sein Stück vorzulesen. Der Bescheidene lehnte ab und wies darauf hin, daß „solche Künstler …“ – „Nein, nein,“ unterbrach ihn die Wolff, „wir wollen das Stück ganz so spielen, wie Sie es sich gedacht haben; lesen Sie nur, lesen Sie!“

Toepfer mußte sich fügen. – Nach seinem Vortrage schüttelten ihm die Schauspieler die Hände; Amalie Wolff rief voll Wärme: „Nun wollen wir getrost auf die Bretter gehen; Sie werden zufrieden sein!“

Schon bei der ersten Theaterprobe ging der Dialog fließend und pointirt. Nur Ludwig Devrient wußte von seiner Rolle nicht ein Sterbenswort. Der Souffleur wurde für des Apothekers immerwährendes Stocken verantwortlich gemacht. „So thun Sie doch den Mund auf!“ rief ihm Devrient zu, „mit dem Menschen ist es unmöglich zu probiren!“ – Dann kehrte er sich zu Toepfer und sagte: „Du brauchst nicht bange zu sein; Abends geht es doch!“ – „Spiele immerhin, wie Du gewohnt bist,“ beruhigte ihn Toepfer. „Wir sind ja alte Freunde und kennen uns nicht erst seit heute!“

Der arme Mensch da unten im Kasten soufflirte nun, daß ihm der Angstschweiß auf die Stirn trat – aber der Apotheker war wie mit Taubheit geschlagen. Nach ein paar Sätzen ging das Schelten wieder an, und da Devrient Miene machte, Toepfer zuzurufen: „habe keine Angst …“, so kehrte dieser mit einem verdrießlichen: „Laß mich zufrieden,“ der Bühne den Rücken, weil er glaubte, der reizbare Künstler ließe sich durch die fremde Regieführung beirren.

Bei der zweiten und dritten Probe ging es ebenso. Toepfer hielt sich während der Scenen Devrient’s hinter den Coulissen und beobachtete von dort aus mit gelindem Grauen, wie dieser bis auf den letzten Moment nicht eine einzige Rede ohne merklich lautes Vorsagen des Souffleurs zu recitiren wußte. So rege Befürchtungen indeß der junge Schriftsteller in Betreff eines tadellosen Ineinandergreifens der Vorstellung hegte: er schwieg, aus Rücksicht für Devrient’s Empfindlichkeit.

Der Abend kam. Das Haus war von Zuschauern gedrängt voll. Toepfer’s Herz schlug gewaltig – handelte es sich doch um das Schicksal seines ersten bedeutenden Stückes in der Vaterstadt, waren doch seine Eltern, seine Verwandten, seine Jugendfreunde als Zeugen gekommen, zu seinem Triumphe – oder zu seiner Niederlage.

Allein bald löste sich der Felsblock, der ihm den Athem hemmte, von der Brust des Bangenden – die Darstellung war von einer unvergleichlichen Trefflichkeit. Das Wolff’sche Künstlerpaar überbot sich selbst, gleicherweise die Inhaber der übrigen Rollen; und Devrient –? Devrient gab den alten Junggesellen mit so scharfem und doch graziösem Humor, groß, wenn er sprach, und noch größer, wenn er nur mimisch an der Handlung Theil nahm, stattete er den Charakter mit einer solchen Fülle lebenswahrer Nuancen aus, daß das Publicum ihn mit Beifall überschüttete. Er trieb die Figur fast zu sehr in den Vordergrund, Wolffs mußten sich mit ihm in die Lorbeeren des Abends theilen – ein Erfolg, der nur einem so wunderbar begnadeten Genius, wie dieser, erreichbar war. Stück und Darstellung wurden mit wahrem Jubel aufgenommen; man sprach in den Zeitungen von einem Weiheabend, und gegen fünfzig Mal wurde das einfache Schauspiel im ersten Jahre wiederholt.

Reich mit Lorbeeren beladen, kehrte Toepfer nach Wien in sein Engagement zurück. Auf der so erfolgreich betretenen Bahn rüstig fortschreitend, schrieb er schon im nächsten Jahre sein vaterländisches Lustspiel „Des Königs Befehl“, welches den Helden des siebenjährigen Krieges, Friedrich den Großen, auf die Bretter brachte und schnell die Runde über alle deutschen Bühnen machte, während er als Schauspieler mit Erfolg weiter wirkte.

Trotzdem Toepfer solchergestalt eine sehr hervorragende Stellung in der deutschen Theaterwelt bekleidete, reifte doch gerade damals der Entschluß in ihm, der praktischen Bühnenthätigkeit zu entsagen und sich gänzlich der Dramaturgie und der Feder zu widmen. Er mochte die Wahrheit des Goethe’schen Ausspruchs über die Schauspielkunst an sich erfahren haben: „Ist wohl irgend ein Stückchen Brod kümmerlicher, unsicherer und mühseliger in der Welt? Beinahe wär’s eben so gut, vor den Thüren zu betteln.“ Nur mit Mühe konnte der beliebte Darsteller seine Entlassung bekommen; ja, man bot ihm an, seine Stelle ein Jahr lang offen zu halten, damit er sie wieder einnehmen könne, wenn seine Ansichten sich geändert hätten. Toepfer wußte, daß dies nicht geschehen würde, und verließ Wien. Die Richtung seiner Reise ging nach Norden; Hamburg war der Ort, den er sich zu seinem Domicil auserwählt.

Um jene Zeit, und zwar im Juni 1822, ernannte ihn die Universität Göttingen zum Doctor der Philosophie, „post exhibita ingenii specimina“, wie es in dem Diplom heißt. Im Hannöverschen war der junge Autor wohlbekannt; hatte er doch ein Bändchen Novellen, „Zeichnungen aus meinen Wanderjahren“, im Verlage der renommirten Hahn’schen Hofbuchhandlung erscheinen lassen.

In Hamburg sich eine Stellung zu gründen, war dem begabten Manne, dem liebenswürdigen Gesellschafter rasch gelungen – bald schuf er sich denn auch einen häuslichen Heerd, indem er sich im Jahre 1831 mit Fräulein Friederike von Hafften aus Bützow in Mecklenburg-Schwerin vermählte. Mit ihr lebt er seit achtunddreißig Jahren in glücklichstem Vereine; ein Sohn, welcher aus dieser Ehe hervorging, advocirt in Hamburg, nachdem er zum Dr. jur. utr. promovirt worden.

Die literarische Wirksamkeit Toepfer’s in Hamburg erstreckte sich anfangs auf die Redaction der Zeitschrift „Thalia“, welche er sieben Jahre hindurch leitete; dann gründete er zunächst die „Originalien“, ein schnell renommirt gewordenes Blatt, welches seiner Zeit die vorzüglichsten Namen zu seinen Mitarbeitern zählte, und später die kritische Wochenschrift „Der Recensent“. Für diese Blätter war Toepfer zugleich neben der Oberleitung noch mannigfach selbstschöpferisch thätig: so schrieb er mehrere kleine Romane, die später im Buchhandel erschienen, aber jetzt sämmtlich vergriffen sind, und dichtete neben verschiedenen Balladen eine Menge lyrischer Kleinigkeiten, von denen einst Heinrich Heine, der mit Toepfer befreundet war, sagte, daß sie ihm den ersten Anstoß zum lyrischen Dichten gegeben hätten.

Toepfer’s langjährige und ersprießliche Thätigkeit als Dramaturg ist bekannt; befanden sich doch unter seiner Leitung Künstler von dem Renommée eines Hendrichs und einer Krebs-Michalesi. Aus weiter Ferne kamen sie, um bei Toepfer einen Cursus durchzumachen. Dabei lag auch die dramatische Schriftstellerei nicht still. Die Zahl der von Toepfer auf die Bühne gebrachten Werke beläuft sich auf zweiunddreißig, theils Originale, theils Nachbildungen fremder, namentlich englischer Stücke. In allen klingt als Grundton jene Seite des Toepfer’schen Wesens wieder, welche schon dessen schauspielerische Gebilde vortheilhaft charakterisirte und welche auch dem Menschen so zahlreiche Freunde erworben hat: innere Liebenswürdigkeit und reichste Herzensgüte. – Auf dem Repertoire befinden sich gegenwärtig noch: „Hermann und Dorothea“, „Des Königs Befehl“, „Die Einfalt vom Lande“, „Nehmt ein Exempel dran“, „Zurücksetzung“, „Freien nach Vorschrift“, „Der Pariser Taugenichts“, „Bube und Dame“, „Karl der Zwölfte auf der Heimkehr“, „Der reiche Mann, oder: Die Wassercur“, welches in Wien eine so lange Reihe von Darstellungen erlebte, daß man dem Verfasser aus freien Stücken das Honorar noch einmal zahlte – und manches andere. Sämmtlich vor Erlaß des Tantièmegesetzes abgefaßt, gewähren sie ihrem Autor nicht den mindesten Vortheil. Nur „Rosenmüller und Finke“ ward nach Erlaß jenes Gesetzes zur Darstellung gebracht; von diesem Lustspiel allein zahlen Wien und Berlin Tantième.

Dieser Thatsache eingedenk, veranstaltete das Hamburger Thalia-Theater am 29. Januar dieses Jahres eine fünfzigjährige Jubiläumsfeier von „Hermann und Dorothea“, die Einnahme des Abends dem greisen Bühnendichter überweisend. Die Vorstellung wurde mit wahrhaft festlicher Stimmung aufgenommen, die sich namentlich gegen die Darsteller des Ehepaares Feldern – Heinrich Marr und Frau Petzold – in unablässigem [296] Beifall kund gab und am Schlusse in dem einmüthigen Hervorrufe des Verfassers Ausdruck fand. Hamburgs Publicum aller Gesellschaftsschichten hatte sich an dem Ehrenabend so zahlreich betheiligt, wie derselbe durch Zweck und Gegenstand verdiente, und damit den ersten Anstoß gegeben, eine Ungerechtigkeit des Schicksals auszugleichen. Denn der Ertrag von „Hermann und Dorothea“ allein würde dem Verfasser eine ansehnliche Lebensausstattung verliehen haben, hätte die damalige Gesetzgebung einen Schutz der Autorrechte gekannt. Doch gleich so Vielen hat Toepfer nur gesäet, um Andere die Frucht seiner Mühen ernten zu sehen.

Das ist nun Gottlob anders; aber wie warm auch die Gesetze gegenwärtig für das geistige Eigenthum eintreten, sie können nicht wieder gut machen, was früher vernachlässigt worden. Nur die deutschen Theater, dem Beispiele von Hamburgs Thalia-Bühne folgend, können dem Nestor der dramatischen Schriftsteller durch späte, aber gerechte Anerkennung seines Wirkens den Lebensabend verschönen.

Es ist Ehrensache der Bühnenleitungen, des literarischen Veteranen ihres Repertoires und der Verpflichtung gegen denselben eingedenk zu sein. Es gilt, Karl Toepfer die verdienten Beweise pietätvoller Erinnerung zu geben, und zu handeln im Geiste des Dichterwortes:

„Wer mit Schädel und mit Hirn
Hungernd pflügt – sei nicht vergessen!

Hermann Uhde.




Eine Fahrt mit dem „Hotelzuge“ der Pacificbahn.
Von Theodor Kirchhoff in San Francisco.

Es war am Morgen des 16. März 1870, als ich bei der Stadt Oakland, am östlichen Ufer der großen San Francisco-Bai, in den Hotel- und Expreßzug der Central- und Union-Pacific-Eisenbahn stieg, und sieben Tage später befand ich mich an Bord eines schwimmenden Dampfpalastes auf dem unteren Mississippi, mehr als dreitausend Meilen vom Goldenen Thore entfernt. Eine solche Reise, nach Meilenzahl und Tagen betrachtet, hat selbst im neunzehnten Jahrhunderte, wo der Dampf die alten Begriffe von Zeit und Entfernung vernichtet hat, etwas Märchenhaftes. Mancher möchte vermuthen, daß ich nach einer Eisenbahnfahrt von zweitausenddreihundertsechsundachtzig Meilen, als ich in St. Louis an Bord des stolzen Mississippidampfers trat, halb gerädert war. Nichts von dem! Ich hätte sogar meine Eisenbahnreise auf beinahe viertausend Meilen bis nach New-Orleans ausdehnen können, ohne mich dabei im Mindesten zu strapaziren.

Als ich in St. Louis nach einer ununterbrochenen Eisenbahnfahrt von fünfundeinhalb Tagen und fünf Nächten anlangte, war ich so wenig ermüdet, als ob ich meine comfortable Wohnung in dem fernen San Francisco nie verlassen hätte. Jede Nacht habe ich auf meiner drittehalbtausend Meilen langen Eisenbahnreise in einem bequemen Bette geschlafen; während der eiserne Rappe oft in Wolkenhöhe durch die endlose Breite dieses Continentes eilte, habe ich in einem prachtvollen Hôtelwaggon dejeunirt, dinirt und soupirt, und habe unterwegs gerade so gelebt und mich ebenso prächtig amusirt wie in einem Hôtel und dabei die Welt im Fluge betrachtet.

An jedem Mittwoch verläßt jetzt ein „Hôtelzug“ der Pacificbahn die Stadt Oakland, welche am Ostrande der großen Bai und San Francisco gerade gegenüber liegt, und an jedem Donnerstag die eintausendneunhundertundzwölf englische Meilen von San Francisco entfernte Stadt Omaha am Missourifluß.

Bei der von immergrünen Eichen umgebenen schmucken Stadt Oakland verließ ich, wie gesagt, das Dampffährboot, welches mich von San Francisco über die große Bai gebracht hatte, und stieg in „Pullman’s Palast-Salon- und Schlafwaggon Winona“. Der „Winona“ (alle diese Hôtelwagen haben Namen) ist der letzte in der stolzen Reihe von Prachtwaggons, die unseren Zug bilden. Außer dem „Winona“ befinden sich die Pullman’s Palast-Salon- und Schlafwaggons „Woodstock“ und „Northwestern“ im Zuge; dann der Pullman’s Palast-Speisewaggon „Cosmopolitan“; ferner, außer zwei gewöhnlichen Passagier- und einem Gepäck-, noch vier Silberpalast-Schlafwaggons der Central-Pacific-Eisenbahn. Hochklingende Namen für nichts als Eisenbahnwagen! wird Mancher denken. Einverstanden! Dennoch erregen diese die Bewunderung eines Jeden, der sie zum ersten Male besteigt.

Herr Pullman ist der Erfinder und Besitzer jener Prachtwaggons, welche seinen Namen führen, und dieser Beglücker der Reisenden hat auch die Hôtelzüge auf der Pacificbahn eingeführt. Die Einrichtung der amerikanischen Schlaf- und Reisewaggons darf ich wohl als bekannt voraussetzen; die Pullman’schen sind aber das Nonplusultra von Eleganz und Bequemlichkeit und verhalten sich zu den anderen amerikanischen Schlafwaggons wie ungefähr die erste Kajüte eines Oceandampfers zu dessen zweiter Kajüte.

Mit der Pacificbahn hat Herr Pullman einen Contract abgeschlossen, welcher ihm das Recht giebt, seine Palastwaggons jedem ihrer Züge anzuhängen. Seine Conducteure, Köche und Aufwärter muß er selbst besolden. Seine Einnahme besteht in dem Schlafgeld für Betten, achtzehn Dollars von San Francisco nach Omaha von jedem Passagier für ein doppeltes Lager, wozu das Geld für Mahlzeiten und Getränke im Speisewaggon kommt, ein Dollar für Frühstück und Zwischenmahlzeiten und anderthalb Dollar für Mittagsessen, und Getränke extra. Die Eisenbahngesellschaft berechnet jedem Passagier auf den Hotelzügen zehn Dollars extra von San Francisco nach Omaha und einen Cent pro englische Meile mehr als den gewöhnlichen Fahrsatz für kürzere Distancen, welches jenen das Recht giebt im Speisewaggon (natürlich für Bezahlung) zu tafeln. Wer die Extragebühr nicht zahlt, der hat keinen Zutritt in den Speise- und die anderen Pullman’s-Waggons, und muß in einem gewöhnlichen Wagen reisen und auf den Stationen oder aus seinem Brodkorb essen. Für die von jedem Passagier der Hôtelzüge gezahlten zehn Dollars oder einen Cent pro Meile mehr hält die Pacificeisenbahngesellschaft die Pullman’s-Waggons in gutem Stand. Alle Interessenten stehen sich bei diesem Contracte vortrefflich. Herr Pullman bezieht hundertfünfzig bis hundertfünfundsiebenzig Dollars pro Nacht für jeden Schlafwaggon, dazu das Geld für Mahlzeiten und Getränke; der Pacificbahn werden die prachtvollen Wagen umsonst gestellt, und die Passagiere haben für eine geringe Zulage zu dem gewöhnlichen Ansatz der Reisekosten unterwegs die Bequemlichkeiten eines Hôtels erster Classe.

Die Namen der Reisenden, welche die Hôtelzüge benutzen, werden bei der Abfahrt, von San Francisco sowohl als von Omaha, nach Ost und nach West über den Continent telegraphirt; sowohl in San Francisco als in New-York und anderen Großstädten der Union liest man sie in den täglichen Zeitungen.

Die Herstellung der Pullman’s-Waggons kostet im Durchschnitt zweiundzwanzigtausendfünfhundert Dollars für jeden Wagen; die der Silberpalast-Schlafwaggons der Central-Pacific-Eisenbahn zwanzigtausend Dollars. Der feinste von den Pullman’s-Waggons „Orleans“ hat zweiunddreißigtausend Dollars gekostet. In einigen derselben befinden sich Melodeons und Pianos, damit die musikalischen amerikanischen Ladies unterwegs darauf klimpern können. Gottlob war kein Clavier auf unserem Zuge, und blieben mir diese Ohrenschmäuse erspart. Unser Fortepianowaggon war nämlich auf der letzten Reise mit vier andern Wagen in einen Graben gestürzt. Im Sommer werden den Hôtelzügen offene sogenannte „Observationswaggons“ angehängt, welche den Passagieren eine freie Umschau bieten.

Die Palast-Salon- und Schlafwaggons wiegen jeder sechszigtausend Pfund und laufen auf zwölf Rädern; die Speisewaggons haben ein Gewicht von etwa achtzigtausend Pfund und laufen jeder auf sechszehn Rädern. Die Palast-Speisewaggons werden immer eleganter hergestellt und jeder neue übertrifft an Pracht die alten. Der demnächst zu erbauende soll, wie der deutsche Oberkoch im Cosmopolitan-Waggon mir mittheilte, etwas Pompöses werden. Früher war auch eine Bar (Trinkstand) in den Speisewaggons; dieselbe wurde aber neuerdings wieder entfernt, weil die Bremser, Zugführer, Conducteure und andere Bahnbeamte sie zu sehr patronisirten und man mit Recht befürchtete, die Liste der [297] „Zufälle“ im Verhältniß zu der Zahl der genossenen Liqueure zu vermehren. Gegenwärtig werden Wein, Bier und sonstige Getränke dort den Passagieren nur flaschenweise verkauft.

Die Pullman’s-Waggons werden im Winter durch Röhren geheizt, welche unter den Sitzen hinlaufen und die Temperatur ununterbrochen gleichmäßig warm halten. Die Röhren sind mit Salzwasser gefüllt und stehen mit einem mit Kohlen geheizten Ofen am Ende des Waggons in Verbindung, der das Salzwasser gleichmäßig erhitzt, – eine außerordentlich praktische Vorrichtung. Diese Waggons sind im Winter bei eisiger Kälte im Hochgebirge so angenehm warm wie ein fürstliches Boudoir. Beim Betrachten derselben muß man über den praktischen Sinn der Amerikaner erstaunen. Jede Stelle, jeder Winkel ist benutzt worden. Die Wandspiegel zum Beispiel kann man in die Höhe schieben; dahinter befinden sich in den Schlafwaggons Nachtlampen, im Speisesalon Weingläser. In den mit solidem Wallnußholz überaus prächtig getäfelten Wagen kann man ordentlich auf Entdeckungsreisen ausgehen. Zwischen jedem mit Sammet gepolsterten Doppelsitze bringt ein stets diensteifriger Aufwärter auf Verlangen niedliche Klapptische an, woran man schreiben, lesen, spielen, essen kann. An jedem Ende des Waggons befinden sich schmucke Toilettezimmer. Ein Vergnügen ist es, des Abends die Kammerdiener beim Aufmachen der Betten zu beobachten die hinter dem getäfelten Gesims und hinter den Sitzen verborgen sind und die gleichsam aus nichts hervorquellen und den prächtigen Salonwaggon schnell in kosige Schlafgemächer umwandeln. Die Hälfte jedes derselben ist in allerliebste Cabinete zum Gebrauch für Familien abgetheilt. Alle diese Waggons haben feine Fußteppiche. Daß auch in jedem Wagen für Closets gesorgt worden ist, versteht sich bei amerikanischen Eisenbahnen von selbst.

Unsere Fahrt ging zunächst auf der Western-Pacific-Eisenbahn, dem westlichsten Gliede der großen Ueberlandbahn, nach der Stadt Sacramento, der Hauptstadt Californiens, die wir um zwei Uhr Mittags nach einer Fahrt von hundertachtunddreißig englischen Meilen erreichten. Hier beginnt das siebenhundertzweiundvierzig englische Meilen lange Gebiet der Central-Pacific-Eisenbahn. Wir bemerken dieses aber nur aus unseren Meilentabellen; die Schienenstränge sind nicht unterbrochen und unseren Hôtelzug kümmert der Wechsel des Regimentes nicht im Mindesten. Schon liegt die blühende Hauptstadt des Goldlands hinter uns, wir donnern vorbei bei den stadtähnlichen Maschinenwerkstätten und Gebäulichkeiten der Central-Pacific und wenden uns wieder ostwärts, dem Hochgebirge der Sierra entgegen.

Die schwarzen Diener im Salonwaggon „Winona“ melden unterthänigst, daß das Diner im Palast-Speisewaggon „Cosmopolitan“ servirt wird. Im Fahren gehen wir durch die nächsten Salonwaggons, welche durch mit Kautschukteppichen bedeckte Brücken miteinander verbunden sind, so daß die Passage von dem einen der dahinfliegenden Waggons in den anderen über den offenen Bremserplatz ohne besondere Gefahr bewerkstelligt werden kann, und erreichen bald den Speisewaggon. Die vordere Hälfte desselben ist im Restaurationsstil, mit Tischen zu beiden Seiten, an denen je vier Personen Platz nehmen können, eingerichtet; die andere Hälfte ist Küche und Vorrathskammer, woselbst unser geehrter Landsmann Wilhelm Eberle als General-Oberkoch und Küchenmeister das unumschränkte Commando führt. Ein riesiger Kochofen, die angehäuften Vorräthe für den „inneren Mann“, der geschäftsmäßige Eifer der Ober- und Unterköche und die Aromadüfte, welche den Raum erfüllen, geben die Versicherung, daß wir auf unserer Zweitausend-Meilen-Reise nicht darben werden.

In Gesellschaft von mehreren Deutschen – denn Landsleute finden sich schnell auf einer solchen Reise zusammen – nehme ich Platz an einem der sauber gedeckten Tische, die auch mit frischen Blumen geschmückt sind. Hier giebt es köstliche Auswahl von Gerichten, wie sie ein Reisender, der mit gutem Appetite gesegnet ist, sich nur wünschen mag; alle Sorten von Fleisch und Geflügel, Austern und Pasteten etc., californisches Gemüse, z. B. Blumenkohl, Spargel, junge Kartoffeln, Radieschen, Erbsen etc., ich bitte zu erinnern, am 16. März! Die Speisen sind nach guter deutscher Küche zubereitet, der californische Wein ist vortrefflich, der Kaffee, die frischen californischen Wallnüsse und Orangen, das feine Backwerk schmecken ausgezeichnet. Die Aufwärter sind auch Deutsche, so daß wir uns ganz heimisch fühlen. Nur die eleganten Speisekarten sehen ausländisch aus. Der amerikanische Pullman’s-Oberconducteur hat dieselben mit englisch-französischen Hieroglyphen ausgefüllt, die zu entziffern selbst einem deutschen Doctor Mühe kosten möchte. Die eine Hälfte jeder Speisekarte ist mit Annoncen bedruckt, da der praktische Amerikaner gern das Nützliche mit dem Angenehmen verbindet.

Während des interessanten Mahles schaue ich ab und zu aus dem Fenster des dahinfliegenden Speisegemachs hinaus in die vorbeikreisende Gegend. Wir durchkreuzen soeben einen alten Minendistrict, und ich bemerke hier und da Goldwäscher, die den vorbeirasenden Dampfzug, auf ihre Schaufeln und Hacken gestützt, betrachten; auch einige Hundert Chinesen, die von der emsigen Arbeit einhalten und unsere Prachtwaggons anstaunen. Dreißig bis vierzig Passagiere leisten uns Gesellschaft bei dem Diner. Bei dem Städtchen Colfax, 2448 Fuß über dem Meere, verlassen wir den Speisewaggon und wandern zurück nach unserem Salonwaggon.

Das romantische Cap Horn, ein wundervolles Bild des Hochgebirges, liegt vor uns, – die bewaldete Sierra, der Stolz Californiens. Wir donnern über eine fünfundsiebenzig Fuß hohe lange Trestlebrücke, und mit zwei Locomotiven als Vorspann braust die lange Reihe der prächtigen Waggons in großem Bogen herum an der waldbedeckten Höhe. Ueber uns ragen die Felsen schroff empor; zur Rechten, zweitausendfünfhundert Fuß unter uns, schlängelt sich der Americanfluß durch das Waldthal. Eine schwarze Linie kreuzt seinen Silberfaden; es ist die breite Brücke einer chaussirten Landstraße. Der Bergabhang ist so steil, daß es Einen dünkt, man könne vom Waggon direct in den Fluß hinunterspringen. Das Bahnbett ist aus der Bergwand herausgeschnitten und die lange Waggonreihe fliegt gleichsam am waldigen Abhange herum – ein unvergeßliches Bild für Jeden, der es geschaut hat! Es ist dieses der schönste Punkt auf der ganzen Ueberlandreise.

Allmählich breiten sich die Schatten der Nacht über das Hochgebirge. Höher und höher die Sierra hinan arbeiten die schnaubenden Locomotiven; oft donnert der Zug über thurmhohe Trestlebrücken und durch riesige Durchstiche. Wir erreichen Alta dreitausendsechshundertfünfundzwanzig Fuß, Blue Cannon viertausendsiebenhundert Fuß, Emigrant Gay fünftausenddreihundert Fuß; eins immer prächtiger, immer wildromantischer als das andere; bei einbrechender Nacht zeigen sich die ersten Schneefelder; wir donnern hin durch riesige Tunnels und unter scheinbar endlosen Schneedächern. Vierzig Meilen weit erstrecken sich dieselben, um den Zügen Schutz gegen die Lawinen zu geben; das längste Schneedach, ein geschlossenes Gebäude, ist fünfzehn englische Meilen lang, – wie eine riesige Anaconda windet es sich um das Gebirge. Mitunter bildet ein Schneedach nur die Fortsetzung eines steilen Abhanges; der Schnee rollt darüber weg in das tiefe Thal und ungefährdet eilt der Dampfzug darunter hin.

Ich habe mein Nachtlager aufgesucht; die Lampen im Schlafwaggon flimmern matt, die Reisegefährten schlummern. Eine Nachtfahrt im Dampfzuge auf der Sierra Nevada! ich konnte die Augen nicht schließen. Den Schieber des Fensters an meiner warmen Lagerstätte öffnete ich und blickte hinaus in die winterliche, gespenstisch vorbeihuschende Gegend. Wie ein silberner Schleier lag das Licht des Vollmonds auf dem Gebirge. Gigantische Fichten huschten vorbei und streckten mir ihre schneeigen Arme entgegen; die Finsterniß der Tunnels und der Schneedächer wechselte ab mit mondbeleuchteten Schluchten, Schneefeldern, Thälern, Felsen, Schneegipfeln und riesigen Tannenwäldern. Wir waren siebentausend Fuß über dem Meere! Es rasselt dicht über mir auf dem Dache des Waggons; der Hagel eines Schneesturmes, der über das Gebirge hinsaust und dem es doch nicht gelingt, den Schlaf von meinem bequemen Lager wegzuscheuchen.

Die goldene Morgensonne schien durch das Fenster und weckte mich auf zu früher Stunde. Welch ein Wechsel des Landschaftsgemäldes! Weit hinter uns lagen die Schneezinnen der Sierra, um uns eine traurige Wüste; mit spärlichem, verkrüppeltem Salbeigestrüpp. Ich erhebe mich von meinem Lager und kleide mich an, finde die Stiefel geputzt am Bett stehen und mache Toilette im Toilettezimmer, der Schlafwaggon verwandelt sich wieder in einen Salonwaggon; im „Cosmopolitan“ wird gespeist wie gestern.

Da die Gegend an diesem Tage wenig Interessantes bot, ging es in dem Hôtelzuge um so lustiger her. Die Reisegesellschaft machte schnell Bekanntschaft untereinander und war bald [298] wie eine große Familie. Bunt genug war dieselbe. Da waren unter Anderen ein Midshipman der Vereinigten-Staaten-Flotte, der vor Kurzem von den Fidschi-Inseln in San Francisco angelangt war und eine fliegende Visite nach New-Jersey machte; eine junge amerikanische Dame, die ganz allein zu Besuch nach New-York reiste; ein Amerikaner, der in Heidelberg studirt hatte und sehr gut Deutsch sprach; ein deutscher Kornhändler und Millionär aus San Francisco, sieben Fuß hoch, eine von den Damen besonders geschätzte Persönlichkeit; eine Familie von Michigan mit zwei allerliebsten Kindern, die im Waggon spielten und sich herumjagten, daß Jeder seine Freude daran hatte.

Hier und da wurden die kleinen Klapptische zwischen den sammtgepolsterten Doppelsitzen in Requisition gebracht, und wir spielten Karten, Dame etc. Zwischen den Mahlzeiten versammelten sich die meisten Herren im „Cosmopolitan“-Waggon, rauchten und spielten und lasen und discutirten die Gegend. Nicht wenig Interesse erregten die vielen Indianer, Shoshones und Piutes, welche an jeder Station versammelt waren. In zerlumpten Kleidern bettelten sie von den Passagieren, – die verkommensten Geschöpfe, welche man sich nur denken kann.

Die nächste Nachtfahrt brachte uns nach dem geschichtlichen Promontory am Nordende des großen Salzsees, achthundertundzwanzig englische Meilen von San Francisco. Nichts bezeichnet dort die Stelle, wo am 10. Mai des vorigen Jahres die letzte Schwelle der verbundenen Weltbahn niedergelegt wurde, wo die Locomotiven „Jupiter“ von der Central und „Nr. 116“ von der Union Pacific sich zum ersten Mal begrüßten, wo der weltberühmte goldene Nagel eingeschlagen wurde, und von wo der Telegraph die Kunde der großen That gleichzeitig nach allen Enden der civilisirten Welt brachte. In Amerika ist das Ereigniß so gut wie vergessen; Niemand auf unserem Zuge sprach davon.

Die Stadt Promontory ist bald nach dem goldenen Nagel und der Lorbeerholzschwelle, die nach San Francisco wanderten, vom Erdboden so gut wie verschwunden. Sechsunddreißig englische Meilen weiter entstand an der Eisenbahn eine blühende Stadt Corinne, die einzige „Heiden-Stadt“ im Mormonenlande. Um die Frühstücksstunde erreichten wir die ansehnliche Mormonenstadt Ogden, wo sich die Union Pacific an die Central Pacific anschließt. Eine Zweigbahn läuft von Ogden nach Great Salt Lake City, der Residenz des Mormonenpascha Brigham Young.

Die Gegend am großen Salzsee mit den schmucken Mormonenniederlassungen, welche mich vor drei Jahren im Monat Mai, auf der Reise von Texas nach Idaho, so entzückt hatte, sah jetzt ganz winterlich aus. Ich konnte nicht umhin, an jene Postfahrt über die Steppe und die Felsengebirge recht oft zurückzudenken, als ich jetzt in dem glänzenden Hôtelzuge über denselben Boden dahinsauste. Zweiundvierzig Tage dauerte damals meine Reise von St. Louis nach Idaho City und wochenlang saß ich während derselben in der Postkutsche. Gefechte in der Kutsche mit Indianern, meilen- und meilenweit durch Schneefelder zu waten, Umwerfen der Postkutschen, Schneeschaufeln, durchnäßt, halberfroren, halbverhungert, auf Rumpelwagen und im Schlitten über die Felsengebirge, zu Fuß über die schneebedeckten Wasatchgebirge, – das war damals mein wenig beneidenswerthes Loos. Im Hôtelzuge ging die Reise diesmal etwas angenehmer von Statten! Damals war ich während Wochen von der civilisirten Welt ganz abgeschnitten; jetzt las ich jeden Morgen die neuesten Telegramme von Ostindien bis nach San Francisco, heute in dieser, morgen in jener Zeitung, und in Städten gedruckt, die vor drei Jahren noch gar nicht existirten.

Unter der Aegide der Union Pacific setzten wir unsere Reise von Ogden fort. Beim Teufelsthore traten wir mit doppeltem Vorspanne des Dampfes ein in die Cannons, die natürliche Straße vom Osten in das Utah-Bassin. Quer durch die Wasatchgebirge führen diese Felsenstraßen, Weber Cannon und Echo Cannon, – die Via Mala der Neuen Welt. Die thurmhohen Felsenwände hallten wieder vom Brausen des Dampfzuges, als wir uns vierzig Meilen weit durch diese hochromantischen Gebirgspässe hinwanden. Unangenehm überraschten mich nur die an die Felsen gemalten Annoncen. In Echo Cannon paradirten an den schönsten rothen Felsmauern die Worte: „Drake’s Plantation Bitters!“ die ein Yankee mit ellenlangen weißen Buchstaben dorthin gemalt hatte. Es kam mir wie eine Entheiligung vor. – „1000 Mile Tree!“ (der Tausend-Meilen-Baum) liest man an einem einsamen Baume in Weber Cannon. Nur tausend Meilen nach Omaha? Uebermorgen sind wir dort!

Am nächsten Tage dejeunirten wir siebentausend Fuß über dem Meere, auf der ganz eingeschneiten großen Laramie-Ebene, Bergforellen, Antilopensteaks, californische Spargel, Blumenkohl etc. In der winterlichen Oede unserer letzten Tagereisen nahm der Comfort des Hôtelzuges so zu sagen einen poetischen Charakter an. Was kümmerten uns Schnee und Eis und Hagel und Sturm, ob Hochgebirge auf unserem Pfade, ob endlose Wüsten, ob wir fünftausend oder sechstausend oder achttausend Fuß hoch über dem Meeresspiegel dahinsausten! Wir trugen ja die Civilisation des neunzehnten Jahrhunderts mit uns durch die Wolken, – auf Flügeln des Dampfes!

Laramie City, 7123 Fuß über dem Meere, war so zu sagen der erste civilisirte Ort, den wir sahen, seit wir den großen Salzsee und die Mormonenniederlassungen verlassen hatten. Während der letzten zwei Tagereisen und namentlich in den Schwarzen Hügeln, wo die Union Pacific bei Sherman, 8242 Fuß über dem Meere, den höchsten Punkt ersteigt, waren die Schneefänge mir etwas ganz Neues. Dieselben sind schräge, über Kreuz aufgestellte Latteneinfriedigungen, die meistens parallel mit der Bahn laufen; mitunter sieht man mehrere in Zwischenräumen von etwa hundert Schritt hintereinander angebracht. Nach den Massen von Schnee zu urtheilen, die an den Schneefängen lagen und die sonst sicherlich auf die Bahn geweht wären, müssen jene ihrem Zwecke vollkommen entsprechen. Fast alle Schneefänge sind an der südlichen Seite der Bahn, weil die meisten Schneestürme aus jener Himmelsrichtung von den Felsengebirgen herwehen.

Von Sherman, wo ein heftiger Schneesturm wüthete, ging’s wieder bergab, aber so allmählich, daß man es gar nicht gewahr wird. Unsere letzte Nacht im Hôtelzuge verbrachten wir auf den Ebenen; die letzte Nacht brachte uns in das Thal des Platte, in eine angebaute Gegend und nach Omaha. Die Ebenen waren eine endlose, ganz mit Schnee bedeckte Fläche. Nur die Stationsgebäude an der Eisenbahn unterbrachen mitunter das Bild der menschenleeren Oede. Um ein Uhr und vierzig Minuten nach San Francisco Zeit langten wir in Omaha an, wo es bereits ein Viertel nach drei Uhr war. Pünktlich, auf die Minute der vorgeschriebenen Zeit, hatte der Hôtelzug die Fahrt von neunzehnhundertzwölf englischen Meilen zurückgelegt.




Unter den Schleichhändlern an der russischen Grenze.

Ein schneidend kalter Wintertag neigte sich zum Abend, und sein grellblendender Glanz dämpfte sich zu jenem milden, rosigen Licht, das wie ein Glorienschein die winterliche Grabesruhe der nordischen Natur verklärt. Unsere Fahrt ging auf knirschender Schneebahn durch einen dichten Forst der preußisch-russischen Grenze zu, die wir in etwa einer Stunde zu erreichen hofften. Wir kamen von Memel, dieser ultima Thule des deutschen Reiches, und unsere Reise galt einem etwa vier Meilen jenseits der Grenze tief im dunkeln Walde gelegenen Forsthause zu einem Weihnachtsbesuch bei einem lieben Jugendfreunde, welcher als fürstlich O.’scher Oberförster seit Jahren in Rußland lebte. Er selbst holte uns in seinem mit drei flinken Steppenpferden echter Race bespannten Jagdschlitten ab; in scharfem Trabe ging es vorwärts, so daß wir hoffen durften, unser Ziel noch vor dunkler Nacht zu erreichen. Der bis dahin schon scharf und schneidend wehende Ostwind, dem es darauf anzukommen schien, uns seinen Ursprung aus den eisigen Schneewüsten Sibiriens möglichst eindringlich zu demonstriren, und gegen den kaum die zottige Wildschur genügenden Schutz verlieh, war nach und nach zum heftigen Sturm geworden, der mit den lockeren Schneemassen sein wildes Spiel begann. Bald fegte er sie zu dichten Wolken geballt über den Weg und die weiten Lichtungen, bald schleuderte er sie gleich flatternden zerrissenen Schleiern zu den Wipfeln der schwarzen Föhren empor, die ob der Wucht des mächtigen Anpralls ächzten und stöhnten.

[299] Wir hatten bei einem elenden Dorfe, dessen Hütten tief verschneit am Waldessaum lagen, den festgebahnten Weg verlassen und fuhren nun über eine weite Haide, auf der sich die Spuren einiger Schlitten bald verloren. Das Wetter war immer wilder geworden, aber unsere struppigen Renner, denen es in ihrer heimathlichen Steppe schon ganz anders um die mähnenumwallten Köpfe geweht hatte, flogen muthig schnaubend vorwärts dem Schneesturm entgegen.

„Das ist ein rechtes Wetter für die Schmuggler,“ bemerkte mein Freund, „und es würde mich wundern, wenn wir nicht noch heute Gelegenheit haben sollten, diese wilden Gesellen zu Gesicht zu bekommen.“

Wir hatten uns mittlerweile mehr und mehr der Grenze genähert und befanden uns auf einem Terrain, das dem Kenner der hiesigen Verhältnisse sofort den verderblichen Einfluß des Schmuggels verrieth. Der größte Theil des Bodens war nämlich ödes Haideland, weil der litthauische Grenzbauer den leichten Erwerb durch den Schleichhandel der schweren Feldarbeit, die er überhaupt gern den Weibern aufbürdet, vorzieht und so die Urbarmachung weiter Strecken seit Generationen versäumte.

Ein Dorf, das wir später erreichen, war nach der Mittheilung meines Freundes als Schmuggelstation allgemein berüchtigt. Welch ein trauriges Bild der wirthschaftlichen Verwahrlosung und Verkommenheit bot sich uns hier dar! Halb verschneite, elende Hütten, niedrig und mit halbgeborstenen Lehmwänden, bildeten die schmale Gasse, durch die wir fuhren, zum größten Theile Wohnstätten eines ökonomisch und moralisch verkommenen Proletariats, das seit langen Jahren ein bedeutendes Contingent zu den Verbrechern der Grenzdistricte liefert. Der Bauer und Tagelöhner, durch den mühelosen Erwerb im Schmuggel verwöhnt und der ehrlichen Arbeit entfremdet, wird zum herumlungernden Tagedieb und Trunkenbold, der leichtsinnig durchbringt, was er leicht erworben. Durch den Trunk und rohe Gewaltthätigkeit gegen die Wächter eines despotischen Gesetzes, dessen Uebertretungen ihm zur Gewohnheit geworden, wird er in jeder Beziehung gewissenlos und brutal und neigt zu all jenen zahlreichen Verbrechen, zum Diebstahl (besonders an Vieh und Pferden), zu Raub, Brandstiftung, Mord und Todtschlag, die den größten Theil des processualischen Materials der Gerichte jener Gegenden liefern.

Das Schmugglerdorf lag hinter uns, und wir fuhren bei sinkender Sonne in schneller Fahrt durch einen dunklen Fichtenwald, dessen mächtige Bäume öfter so nahe an unsern Weg traten, daß uns ihre weitausgreifenden schneebeladenen Aeste streiften. Plötzlich tönte durch das weithin schallende Geläute unseres Gespanns lautes Hundegebell, und um eine Waldecke biegend, bekamen wir auf einer weiten Lichtung eine einsame Waldschenke in Sicht, die unser kundiger Begleiter als einen berüchtigten Sammelplatz der Schmuggler bezeichnete, welche von hier aus unter der verwegenen Führung des Wirthes ihre Expeditionen über die nahe Grenze antreten. Von dem wilden Gebell zweier riesiger[WS 2] Wolfshunde empfangen, näherten wir uns dem einsamen Hause, dessen weißes mit langen Eiszapfen behangenes Dach in scharfem Contrast gegen die schwarzen Fichten des Hintergrundes abstach. Der bläuliche Rauch, der in dichten Wolken dem verfallenen Schornsteine entquoll, um dann vom Sturme zerzaust zu werden, gemahnte zu gastlicher Einkehr, obgleich die Herberge sonst wenig Einladendes hatte. So ließen wir denn unsere braven Renner halten und traten durch die niedrige Thür in ein dunkles Gemach, in welchem uns eine den halberstarrten Gliedern gar wohlthuende Wärme empfing, während freilich der dichte Qualm, der dem kratergleichen Schlunde eines riesigen Ofens entquoll, uns unangenehm in Augen und Nase beizte. Der Wirth war nicht daheim, und seine Frau, eine alte, schwarz geräucherte Litthauerin, welche uns mit mißtrauischen, finsteren Blicken musterte, fragte in gebrochenem Deutsch nach unseren Wünschen. Sie erhielt den Auftrag nach unseren Pferden zu sehen; wir aber nahmen schnell einen kräftigen Imbiß aus unserm Reisevorrath. Plötzlich hörten wir draußen lautes Getümmel: Pferdegewieher, Hundegebell, Peitschenknall und heftiges Reden in fremdem Idiom. „Da kommen die Schmuggler,“ sagte mein Freund, und an’s Fenster tretend, bot sich uns ein eigenthümliches belebtes Bild: etwa fünfzehn Schlitten hielten auf dem weiten, sonst so einsamen Platze und immer noch neue fuhren herzu. Wilde malerische Gestalten schritten laut und leidenschaftlich sprechend und öfter nach unserm Fuhrwerk deutend umher, so daß wir sofort zu dem Schlusse kamen, daß die Anwesenheit von Fremden an ihrem Stationsorte sie beunruhige. Jetzt kam ein stämmiger, breitschultriger Litthauer zu Pferde an, den unser Forstmann als den Wirth der Schmugglerspelunke erkannte, und an ihn wendeten sich fragend jene Leute. Er trat gleich darauf mit höflichem Gruße in’s Zimmer, und nachdem er meinen Freund, der ihm von früheren Reisen her bekannt war, erkannt hatte, theilte er uns mit, daß jene Ankömmlinge, szamaitische und litthauische Schmuggler, für diese Nacht ein besonders großes Unternehmen beabsichtigten, daß sie durch die Anwesenheit von Fremden, welche sie, nach dem Gespann urtheilend, für Russen hielten, in Besorgniß und Unruhe versetzt seien und daß er sie daher jetzt beruhigen wolle.

Wir traten mit ihm vor die Thür, und nachdem er ihnen gesagt, daß wir vollkommen „sichere“ Leute seien, von denen ein Verrath nicht zu befürchten, begrüßten sie uns freundlich grinsend mit einer Art von pfiffiger Vertraulichkeit. Wir betrachteten nun mit lebhaftem Interesse die bewegte charakteristische Scene, dann aber griff ich rasch zu Stift und Papier, um in flüchtiger Zeichnung die landschaftliche Scenerie zu skizziren. Die Staffage brauchte ich hier nicht besonders zu fixiren, da ich in Memel die Szamaiten alle Tage vor Augen hatte. Wer sie dort als Fremder zum ersten Male erblickt, wie sie einzeln oder in Gruppen meistens in eiligem Schritt durch die Straßen der Seestadt ziehen, um ihre Einkäufe zu machen, dem erscheinen sie sofort als Fremdlinge auf Germanias Boden, und nachdem er in der ethnographischen Musterkarte seines Gedächtnisses vergeblich nach einem analogen Typus gesucht, vermuthet er in ihnen einen Bruchtheil aus jener riesigen Völkermosaik, über welche der russische Doppelaar seine mächtigen Schwingen breitet.

Schlanken und hagern Wuchses, von sehnigem, kräftigem Körperbau und flinkem, unstätem Wesen, ein Idiom redend, das wildfremd an unser deutsches Ohr schlägt, erinnern sie durch ihre Tracht an den halbwilden Trapper Amerika’s: kurze Pelze oder Röcke von einem groben, selbstgefertigten Stoff, weite, bis über das Knie reichende Beinkleider, eine sandalenartige aus Fell oder Lindenbast bereitete, den Mocassins der Indianer gleichende Fußbekleidung, deren Bänder oder Riemen den Unterschenkel umwinden, endlich eine Mütze aus Fuchs-, Wolfs- oder Bärenfell (im letzten Fall von der turbanähnlichen Form der Tscherkessenmützen) bilden ihre malerische Tracht, und man könnte sich darüber wundern, daß nicht schon längst irgend ein nach neuen Motiven jagender Maler sie erspäht, wenn man nicht bedächte, wie weit ab von den Heerstraßen des bequemen Weltverkehrs dies Völkchen haust. Die Szamaiten sind ein Zweig des alten litthauischen Volksstammes, der als autochthone Bevölkerung den Nordosten der Provinz Ostpreußen bewohnt, und dem sie in Sprache, Sitte und Lebensweise vielfach verwandt sind. Der Ackerbau, den sie in allerdings höchst primitiver Form betreiben, gewährt ihnen die Mittel zu ihrer einfachen Existenz, sie suchen aber, besonders in der Nähe der Grenze, gleich ihren diesseitigen Nachbarn und Stammesgenossen, den preußischen Litthauern, einen nicht übel lohnenden Nebenerwerb im Schleichhandel, den sie entweder auf eigene Hand betreiben, oder dem sie als Transporteure, Spione oder Escorte dienen. Ihre listige Verschlagenheit läßt sie in kluger Berechnung aller günstigen und ungünstigen Verhältnisse tausend Mittel und Wege zur Ausführung ihrer Pläne finden; ihr verwegener Muth, der freilich die tollkühne Tapferkeit der preußischen Litthauer lange nicht erreicht, scheut vor dem offenen Kampfe mit den bewaffneten Hütern des Gesetzes nicht zurück, und ihre Geschicklichkeit in der Führung der Schußwaffen entscheidet denselben oft zu ihren Gunsten. Unterstützt werden sie in ihren Unternehmungen von ihren zwar kleinen und unansehnlichen, aber sehr schnellen und ausdauernden Pferden.

Das waren also die Gestalten, die sich hier vor der einsamen Waldschenke tummelten, beschäftigt mit allerlei Vorbereitungen zu ihrem gefährlichen Unternehmen; hier flickten einige an dem Geschirr ihrer Rosse, dort vertheilten sie die Ladung, kleine Fäßchen und Bällen, zweckmäßig auf die einzelnen Schlitten und Packpferde, hier wurden die Waffen hervorgeholt und sorgfältig revidirt, dort gingen Spione zu Fuß und zu Pferde ab, nachdem sie ihre Weisungen von dem Führer erhalten hatten, welcher mit einigen Litthauern, seinen bewährten Helfershelfern, großen Kriegsrath hielt. [300] Ganz besonders fesselte unsern Blick eine Gruppe inmitten des Bildes, deren Hauptperson, ein alter Jude, der sogenannte „Macher“, Entrepreneur des Unternehmens war. Sein altes, von hundert Falten durchzogenes Gesicht mit den unter weißen Brauen hervorblitzenden listigen Augen war ein förmliches Qualificationszeugniß für sein verdächtiges Metier, in welchem er, wie er versicherte, „mit Ehren grau geworden“. Dieser Ausdruck hatte übrigens, so sonderbar es auch scheinen mag, seine entschiedene Berechtigung, denn die Kaufleute, die solchen Machern ihre Waaren auf Discretion übergaben, setzten dabei, besonders in der Blüthezeit des Schmuggels, öfter Werthe von zehn- bis fünfzehntausend Thalern aufs Spiel, so daß ein Spitzbube, welcher sich etwa mit den russischen Grenzwächtern darüber geeinigt hätte, ihnen unter der Gewähr eines gewissen Beuteantheils einen solchen Transport zu verrathen, durch seinen Judaslohn sich schöne Summen hätte verdienen können. – Etwa ein halbes Dutzend Schmuggler umringte den alten Juden, um ihm begreiflich zu machen, daß zum Gelingen ihrer Expedition Muth, sehr viel Muth erforderlich sei, und daß man diesen durch den „Brandewyne“ (Schnaps) des Krügers bedeutend erhöhen könne. Aber der alte, schlaue Sohn Abraham’s ist, wie er sagt, „ein Mann nicht von heute oder gestern“; er hat seinen Leuten, wie das bei solchen Zügen Brauch ist, schon bedeutende Quantitäten ihres Lieblingsgetränkes gespendet und sieht die Wirkung desselben an ihrem erregten Wesen; im Bewußtsein seiner großen Verantwortlichkeit verhält er sich ihren Forderungen gegenüber daher strenge ablehnend.

Nachdem noch etliche Litthauer aus dem benachbarten Schmugglerdorfe mit ihren Packpferden angelangt und sämmtliche Vorbereitungen beendigt waren, setzte sich der Zug in Bewegung, und bald entzog der dichte Wald ihn unsern Blicken. Wir selbst konnten ihm nicht weiter folgen, da dies Wagstück für uns leicht üble Folgen hätte haben können; wir wendeten uns daher rechts auf einem andern Wege der Grenze zu und passirten diese bald darauf auf einem officiellen Uebergangspunkte, erfuhren aber auf der Rückreise das Nähere von dem Wirth jener Waldschenke.

Janis Caireronke, das heißt Linkhand, er führte diesen Beinamen, weil er sich der Rechten nicht bedienen konnte, da ihm vor Jahren ein russischer Grenzsoldat, mit dem er um einen Ballen kostbarer Waare rang, mit seinem Säbel die Finger abgeschlagen hatte, erzählte etwa Folgendes: „Wir stellten uns an jenem Abende, nachdem wir die Grenze erreicht hatten, in einem dichten Gehölz diesseits derselben auf, um das Dunkel der Nacht abzuwarten. Das Wetter wurde immer ärger, und wir hätten daher vor den Russen ziemlich sicher sein können, wenn wir nicht in Folge eines andern Umstandes besorgt gewesen wären. Trotz der größten Vorsicht waren nämlich unsere Unternehmungen in letzter Zeit mehrmals verrathen worden; wenngleich nun unsere Kundschafter auch berichteten, es sei drüben Alles sicher, so mußten wir dennoch in Besorgniß sein, es sei vielleicht auf einen Hinterhalt abgesehen, und daher mit doppelter Vorsicht zu Werke gehen. ‚Wollen die Feinde uns belangen, so betrügen wir sie erst recht, denn wenn der Russe schlau ist, ist’s der Litthauer noch zehnmal mehr,‘ sagte ich zu meinen Leuten und schickte eine Abtheilung derselben unter der Führung des alten Jurgis, den wir den ‚Sibirier‘ nennen, weil er vor Jahren das Unglück hatte, mit russischen Schmugglern gefangen genommen und zu einem Spaziergang nach Sibirien verurtheilt zu werden, die Grenze weiter hinauf, damit sie durch einen zum Schein ausgeführten Uebergang die Grenzwächter täuschen sollten. Sie mußten sich also mit Stroh gefüllte Säcke und leere Kisten auf den Rücken binden, damit sie von jenen für Packträger gehalten würden. Der alte Jurgis verstand sich trefflich auf solche Finten, denn er hatte sie in den dreißig Jahren, welche er beim Schmuggel verlebte, oft genug geübt, so daß wir uns ganz auf ihn verlassen konnten. Er ging also mit seinen Leuten die Grenze entlang bis zu einem Cordonhause, passirte hier dieselbe und wurde bald darauf von einem Posten bemerkt, welcher sofort mit dem üblichen Signalschuß die Wache alarmirte. Diese erschien denn auch fluchend und schimpfend, gab auf die Unsrigen mehrere Schüsse ab und diese zogen sich, ebenfalls schießend, auf das diesseitige Gebiet zurück, gingen, sich immer mehr von uns entfernend, die Grenze weiter hinauf, wodurch sie die Russen glauben machten, sie wollten dort den Uebergang erzwingen. Sie und wir Alle erreichten dadurch unsern Zweck, jene zu täuschen, vollkommen, wobei das Dunkel der Nacht und das Brausen des Schneesturms uns die besten Dienste leistete.

Ich selbst wartete mit meinen Leuten während dieser Zeit im dichten Gehölz versteckt, denn wir mußten zunächst die Patrouille, die an dieser Stelle die Grenze zu bereiten hat, vorbei passiren lassen. Ich selbst stieg auf einen alten buschigen Fichtenbaum, von dem aus ich nach zwei Seiten den sogenannten neutralen Boden – einen mehrere Schritte breiten, von den beiden Grenzgräben eingefaßten Streifen Landes – eine ziemliche Strecke weit übersehen konnte. Wir hatten bald nach dem Schießen unserer Leute und der ihnen gegenüberstehenden Russen auch nach der entgegengesetzten Richtnug zu, also zu unserer Rechten, mehrere Signalschüsse gehört, und in lautloser Stille warteten wir auf das von dorther kommende Reiterpiquet. Meine Leute standen bei ihren Pferden, um etwaiges Wiehern derselben sofort zu verhindern; der ganze Zug hatte sich in der von uns meistens festgehaltenen Ordnung aufgestellt, nach welcher die Spione, Führer und die Packträger mit den billigeren Waaren vorangehen, während die Schlitten je nach dem Werth ihrer Ladung ihnen folgen. So wußte ich denn Alles in Ordnung und horchte und spähte von meiner Warte in die dunkle Nacht hinaus. Endlich vernahm ich das mir so wohlbekannte Klirren von Waffen, und bald kam das Piquet in scharfem Trabe daher. Es waren elf Reiter, darunter ein Officier, und sie ritten jetzt, um eine Biegung des Grenzweges abzuschneiden, über preußisches Gebiet, so nahe an meinem Versteck vorbei, daß ich dem einen fast die Bärenmütze vom Kopfe hätte nehmen können; aber sie bemerkten mich im Dunkel der Nacht nicht und bald waren sie meinen Blicken entschwunden.

Schnell schlüpfte ich nun von meinem Baume hinunter, eilte zu meinen Leuten zurück und gab den Befehl zum Aufbruch. In möglichster Eile ging es über die Grenze nach Rußland hinein, denn es kam uns darauf an, für den Fall, daß etwa bei dem späteren Absuchen des neutralen Weges mit Laternen unsere Spur gefunden werden sollte, einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen. Durch Busch und Wald, über Felder und Sümpfe, meistens in tiefem Schnee, ging es vorwärts bis in die Nähe des zweiten Zollcordons, der sich etwa eine halbe Stunde (öfter auch mehr) von dem ersten entfernt in ziemlich gleicher Richtung mit demselben weiter landeinwärts hinzieht. Die vorausgeschickten Spione kehrten mit der frohen Botschaft zurück, daß hier noch Alles ruhig sei; wir passirten glücklich auch diese Linie und kamen nach Mitternacht zu einem ziemlich großen Marktflecken, in welchem wir unsere Waaren an den Sohn unseres ‚Machers‘, welcher dort ein Gasthaus hielt, ablieferten. Noch in derselben Nacht kehrten wir, froh, wieder einmal ein gutes Geschäft gemacht zu haben, unangefochten nach Preußen zurück, meine Leute aber konnten es sich nicht versagen, einige Kugeln nach dem Cordonhause, an dem wir diesmal ganz nahe vorüberzogen, zu schicken, während ich selbst in der nächsten Wachthütte, in welcher, wie ich wußte, am folgenden Tage mein alter Bekannter, der russische Gefreite Gregoriew, die Wache hatte, für diesen eine Flasche Rum, die ich ihm lange versprochen, niederlegte.“

Die Unternehmungen der Schleichhändler haben nicht immer einen so glücklichen Erfolg, wie eben erzählt wurde; sie nehmen im Gegentheil öfter ein sehr verhängnißvolles Ende, indem nicht nur die oft höchst werthvolle Contrebande confiscirt wird, sondern zuweilen auch der Verlust von Menschenleben dabei zu beklagen ist. So fiel z. B. vor einigen Wochen bei einem heftigen Gefecht, welches ein großer Schmugglerzug in der Nähe des Grenzstädtchens Garsden den Russen lieferte, ein Officier, während mehrere Grenzsoldaten schwerer oder leichter verwundet wurden. Der Werth des „Schmuggelgutes“, das in diesem Falle ausschließlich aus Spiritus bestand, war überdies ein verhältnißmäßig sehr geringer und höchstens auf etwa vierhundert Rubel zu veranschlagen.

Aus der großen Zahl von theils sehr interessanten Fällen dieser Art, über welche ich von Beamten, alten Schmugglern, aus den Verhandlungen der Schwurgerichte oder den Berichten der Presse Kunde erlangte, möge hier nur einer Platz finden, welcher durch ein Versehen der russischen Justitia (die sich diesmal übrigens mit ihrer Blindheit passend entschuldigen konnte) für einen der dabei Betheiligten in eigenthümlicher Weise verhängnißvoll wurde.

(Schluß folgt.)


[301]

Ein Schmugglerzug an der preußisch-russischen Grenze.
Nach der Natur aufgenommen C. Schiemann.

[302]
Berliner Erinnerungen.
Von Eduard Devrient.

1. Spontini.

(Fortsetzung.

So kam die erste Aufführung heran, am 14. Mai 1821, und machte einen mächtigen Eindruck. Die Großartigkeit des Zuschnittes im ganzen Werke, die Macht der musikalischen Gedanken, die declamatorische Schönheit und Gewalt in der vorzüglichsten Verlebendigung: Statira durch die majestätische Frau Milder, Olympia, Cassander, Antigonus durch die energischen Talente der Frau Schulz, der Herren Bader und Blume, die großen Ensemblestücke in nie erlebter Zahl von Chor- und Orchesterkräften, die glänzenden Ballets, der Decorations- und Costümpomp, alles das versetzte das Berliner Publicum in einen wahren Taumel von großartigen Eindrücken.

Mit dieser oft wiederholten Aufführung der Olympia hatte Spontini den Gipfel der Bewunderung und des Beifalls erreicht, welche Berlin ihm gewähren sollte. Seine Gegner traten für einige Zeit in den Hintergrund und die Partei der enragirten Verehrer riß die allgemeine Meinung mit sich fort. Daß seine Productionskraft noch leistungsfähig, auch dafür fand Spontini Gelegenheit Zeugniß abzulegen. Der Besuch der ältesten Tochter des Königs mit ihrem jungen Gemahl, dem Großfürsten Nicolaus, wurde Anlaß zu einem glänzenden Hoffeste, bei welchem die Darstellung des englischen Gedichtes „Lalla Rookh“ in lebenden Bildern von Seiten des Hofes den wichtigsten Platz einnahm. In glänzender indischer Tracht zog der Hof durch die Bildergalerie des Schlosses – auf prächtigem Palankin die schöne zarte Großfürstin, das Costüm mit Diamanten besät – nach dem weißen Saale und nahm vor der im Hintergrunde für die lebenden Bilder errichteten Bühne Platz.

Spontini hatte in merkwürdig kurz gemessener Zeit die Festmusik und die Begleitung der Bilder, zum Theil in Liedern und Chören, welche der Herzog Karl von Mecklenburg, der Schwager des Königs, gedichtet, componirt. Dieses Fest wurde der Anlaß zur Composition der Oper „Nurmahal, oder das Rosenfest von Cachemir“, welche, nach Angabe des Herzogs, von Herklotz gedichtet wurde. Schon am 22. Mai 1822 ging sie, zur Feier der Vermählung der Prinzessin Alexandrine mit dem Erbgroßherzoge von Mecklenburg-Schwerin, in Scene.

Die Pracht der Ausstattung, der Reiz der Balletmusik, in welcher, nach dem Urtheile aller Parteien, Spontini’s Compositionstalent excellirte – die Präcision und Energie der Aufführung ließen im ersten Eindruck übersehen, daß der dramatische Gehalt der Oper sehr schwach war und daß der sinnliche Zauber dieser Balletoper ihr ganzer Werth sei. Mit diesem Werke trat offenbar der Wendepunkt in Spontini’s Productionskraft ein, die, weil sie innerlich an Gehalt verlor, sich immer mehr auf Berechnung äußerer Effecte und auf blendende Ausstattung stützte. Der selbstständige und bahnbrechende Geist, welcher sich in der Vestalin angekündigt, in Ferdinand Cortez und Olympia in voller Eigenthümlichkeit und Größe seiner leidenschaftlichen Gewalt ausgesprochen hatte, dieser Geist wich von Spontini und machte einer kleinlichen Effectjagd Platz, einem Hange, durch sinnlichen Reiz, Nervenerschütterung und blendende Pracht dem Geschmack des Hofes und des großen Publicums zu schmeicheln.

Spontini hatte, seinem Anstellungsstatut gemäß, die Verpflichtung, alle zwei Jahre eine große Oper, oder in jedem Jahre eine kleine zu componiren, wozu ihm die General-Intendanz die Texte liefern sollte. Diese wunderliche Verpflichtung, nur geeignet, stete Unzufriedenheit zwischen den Verpflichteten zu erhalten, führte natürlich nicht zum Zweck. Die Schwierigkeit, gute Operngedichte zu erlangen, ist bekannt genug; begreiflich war es, daß Spontini alle, die ihm Graf Brühl bieten konnte, als untauglich zurückwies. Ein Gedicht von Joni, das Spontini noch von Paris mitgebracht hatte, um es in Berlin zu componiren, und das er schon zum Gegenstand verschiedener feierlicher Besprechungen gemacht hatte, kam um so weniger in Angriff, als der Auftrag zu einer neuen Vermählungsoper in Aussicht stand, für welche der Gegenstand des Joni’schen Gedichtes, die grausige Sage von den Danaiden, nicht geeignet war. Es wurde Hülfe in Paris gesucht.

Die illustrirten Prachtausgaben der solennen Opern-Aufführungen in Versailles, bis auf Lully zurück, wurden durchforscht, der Dichter Théaulon nach Berlin berufen, um aus diesen älteren Opern und neuen Motiven für Ballet- und Decorationspomp eine Zauberoper zusammenzuleimen, die dann, von Herklotz übersetzt, unter dem Titel „Alzidor“ am 23. Mai 1825 zur Feier der Vermählung der jüngsten königlichen Prinzessin zu dienen hatte.

Noch mehr als in Nurmahal war in dieser Oper das dramatische Moment versäumt, Ballet und überraschende Schaustellungen nahmen allen Raum ein. Diese Arbeit war eine deutliche Bankerotterklärung des berühmten dramatischen Componisten. Obenein hatte seine Erfindungskraft nicht mehr ausgereicht, um die Partitur zu füllen; und er hatte zu Einschaltungen aus seinen früheren italienischen Jugendcompositionen, komischen Opern, Zuflucht nehmen müssen, denen er durch unerhörte Orchester- und sonstige Toneffecte großen Styl zu geben versuchte. Zum Introductionschore wurde auf sechs Amboßen Alzidor’s Schwert geschmiedet, in einem Zaubergarten, in dem statt der Früchte Glocken an den Büschen hingen, wurde bei gewissen Stellen von mehr als hundert Glocken, Glöckchen und Schellen ein betäubendes Geräusch gemacht. Diese Dinge trieben manchen Zuhörer vorzeitig aus dem Theater; der alte Zelter, dem das auch geschah, traf beim Hinausgehen den vorüberziehenden großen Zapfenstreich und rief gegen seinen Begleiter aus: „ah, welch eine sanfte Musik!“ Alzidor erhielt den Spottnamen „Allzudoll“, und dabei war diese Oper das Resultat jahrelanger, peinvollster Nachtarbeiten.

Spontini’s zunehmende Langsamkeit im Arbeiten wurde ihm immer hinderlicher. Er hatte die Gewohnheit, am Clavier zu componiren und die musikalischen Gedanken mühsam auf den Tasten, in endlosen Versuchen, zu finden. Dazu war er, bei einer sehr unvollkommenen italienischen Schule, in allem Erlernbaren der Theorie und in der Fertigkeit des Schreibens weit hinter seiner Erfindungskraft zurückgeblieben. Er malte sehr lange an den runden Köpfen seiner Noten, während andere Musiker die Köpfe nur durch einen breiten Druck der Feder herstellen, verrieth auch selbst, daß er es thue, um Zeit zu haben, sich recht genau auf die nächste Note zu besinnen. Darum ließ er sich auch vielfach beim Instrumentiren helfen. Der junge Componist Telle, der gewesene Capellmeister Kiehnlein – den er deshalb zu sich in’s Haus nahm – die Musikdirectoren Henning und Abraham Schneider – letzterer von außerordentlicher Fertigkeit im Schreiben, der ihm von einem Musikstücke sogleich verschiedene Instrumentationen zur Auswahl machen konnte – sie Alle haben nach einander sich Spontini sehr hülfreich erwiesen.

Mit Alzidor ging der durch Nurmahal schon wankend gewordene Credit des berühmten Componisten in der Musikwelt zu Grunde, er büßte den Vorzug, Componist für Hofgelegenheiten zu sein, sehr schwer. Sein Anhang schmolz, man spottete seiner deutschen Compositionen, der Unfähigkeit seinen Verpflichtungen nachzukommen. Man fing an, ihn als fremden Eindringling zu hassen, der durch seinen selbstsüchtigen Ehrgeiz der Oper ebenso großen Nachtheil brachte, als man sich Vortheil davon versprochen hatte. Und in der That vermochte Spontini, dem nach seiner Instruction als General-Musikdirector viele Rechte und Machtvollkommenheiten zuerkannt, aber wenig Pflichten und Verantwortlichkeiten auferlegt waren, zu Gunsten seiner Opern, die er vorzugsweise les grands ouvrages nannte, das Aufkommen aller neuen, Sensation verheißenden Werke zu hindern und begonnene Studien und Proben anderer Arbeiten rücksichtslos zu kreuzen. Indessen konnte der General-Intendant Graf Brühl, der nur kurze Zeit seine selbstbeschränkte Stellung eingehalten und, theils um den Nachtheil von dem Theater abzuwenden, theils um das Heft nicht ganz aus seiner Hand zu geben, sich des Opernrepertoires wieder angenommen hatte, dabei doch 1822 die Aufführung von Weber’s „Freischütz“ und 1825 die der „Jessonda“ von Spohr durchsetzen, auch 1828 die des „Oberon“.

Spontini’s Dirigententhätigkeit, neben der bei seinen eigenen Opern, beschränkte sich auf Mozart’s „Don Juan“, Gluck’s [303] „Armida“ und auf sein Einstudiren von Cherubini’s „Abencerragen“ im Jahre 1828, für welches Werk er sich besonders interessirte. Er wußte wohl, daß diese Oper niemals Popularität gewinnen und den grands ouvrages Abbruch thun könne, aber er verehrte auch das Meisterwerk aufrichtig, wie er denn für tiefsinnige Musik entschieden Neigung hatte. Sebastian Bach war ihm überaus merkwürdig, auch ließ er sich lange Zeit des Sonntags vor Tische Beethoven’s nachgelassene Quartette vorspielen, wozu ich öfter eingeladen war. Er las dann in der Partitur nach, um mit peinlichem Eifer sich anzueignen, was ihm nur halb verständlich war.

Mehrmals unternahm er auch Werke von dem ihm völlig geistesfremden Händel zu dirigiren, Alexanderfest und Simson; d. h. er tactirte nach den Winken, die Andere ihm geben mußten. Da er wußte, daß mir, als ständigem Solosänger der Singakademie, Händel’s Werke sehr bekannt waren, forderte er mich auf, bei den Proben unter den Sängern einen Platz ihm gegenüber einzunehmen, wo er dann fragende und sorgenvolle Blicke über die Partitur hin nach mir sandte, die ich so discret als deutlich zu erwidern suchte.

Daß bei einer solchen Art von Musikmacherei von einer eigentlichen Interpretation, von einer Reproduction des Musikwerkes nicht die Rede sein konnte, war selbstverständlich, es handelte sich auch nur darum, den eitlen Ehrgeiz Spontini’s zu befriedigen, die Thatsache festzustellen: daß er Händel’sche Oratorien dirigire, daß er eben Alles verstehe und könne. Wenn er bei solchen Anlässen der Beschämung nicht immer entging, so wußte er das vornehm zu ignoriren.

Einst trat er, als eine seiner Conferenzen noch nicht vollzählig war, auf die Bühne und fand uns bei einer Probe der Zauberflöte, im letzten Finale, beim Erscheinen der Königin der Nacht. Das Tempo più moderato des geheimnißvollen Cmoll-stückes sagte ihm nicht zu, und eingedenk des ihm zustehenden Rechtes: jederzeit und überall in die musikalische Direction eintreten zu dürfen, unterbrach er die Musik, an die Lampen tretend: non, non, ce n’est rien, il faut plus d’énergie. Und er markirte das eben gehörte Thema in verdoppeltem Tempo, mit Fußtritten die halben Tacte bezeichnend und die Schlußnote mit einem stärkeren Aufstampfen, dazu den ihm gewohnten Ausruf pang!

Der gute alte Musikdirector am Dirigirpulte war verdutzt, sammelte sich aber zu einigen französischen Worten mit denen er eine Berufung auf die Partitur ausdrücken wollte, welche er Spontini hinaufreichte. Dieser nahm sie, trat näher an die Lampen und warf mir einen fragenden Blick zu, den ich mit einem warnenden Kopfschütteln erwiderte. Er sah in die Partitur, sagte vornehm: „eh bien!“ wandte sich kurzum und ging zu seiner Conferenz.

Je länger je mehr enthielt er sich vorwitziger Einmischungen und fand in seiner reservirten Haltung besser seine Rechnung; den Nimbus, den er um sich verbreitet wünschte, wollte er selbst in seinen engsten Beziehungen nicht schädigen. Ich war öfter in seinem Hause, als ich, bei meiner Antipathie gegen sein Naturell, es wünschte, und hatte hinlängliche Gelegenheit, ihn in vertrautem Kreise, bei Tisch etc. zu beobachten, aber niemals bin ich einem Zuge von harmloser Unbewachtheit, von zwangloser Hingebung begegnet. Selbst seiner gutmüthigen und wohlwollenden Frau, die überall zu vermitteln suchte, all’ seine Besorgungen und Bestellungen übernahm, selbst dieser begegnete er herb. Freundlich und schmiegsam habe ich ihn nur gegen vornehme adlige Personen gesehen; denn in eine höhere Standesschicht sich hinaufzubringen war sein vorherrschender Ehrgeiz, obschon er den Stolz auf seinen Künstlerruhm gern geltend machte. Als Weber mit seiner Euryanthe sich auf denselben Boden mit den grands ouvrages stellte, Auber mit seiner „Stumme von Portici“ die größten Erfolge erlangte, Rossini mit seiner „Eroberung von Corinth“ und mit „Wilhelm Tell“ sich in die Reihe der hochdramatischen Componisten drängte, sagte Spontini mit großem Selbstgefühl: „c’est moi, qui a mis la brêche, par laquelle ils marchent tous! tous!“ Auch dem Grafen Brühl erwiderte er in einem Competenzdisput, als dieser ihn seine Rangstellung empfinden ließ, „eh bien, vous êtes un des chambellans du roi, et moi, je suis Spontini.“ Doch hätte er gern den Ruhm, Spontini zu sein, für den Grafentitel oder einen Ministerposten hingegeben. Wie man in wohlunterrichteten Kreisen besprach, hat er zur Zeit der Wirren der Regierung mit dem Erzbischofe von Köln den König bestürmt, ihn als außerordentlichen Gesandten nach Rom zu schicken; er stehe gut mit dem Papste und verbürge die Beilegung der Differenz.

Diesen eiteln Hochmuth gab er sogar jedem ihn Besuchenden preis, denn in seinem Arbeitszimmer prangten in reichen, vergoldeten Rahmen nicht nur seine Ordensdiplome und die Pläne zu einer Kuppelkirche, deren Bau er in seinem Geburtsorte Jesi im Kirchenstaate projectirte, sondern auch das gemalte Wappen, das er bei seiner künftigen Standeserhöhung sich wollte ertheilen lassen; es zeigte im Hauptfelde ein stattliches Schiff, das mit schwellenden Segeln der Sonne zusteuert. In seinem Salon, wo die Clavierproben der grands ouvrages stattfanden, hing sein lebensgroßes Bild in ganzer Figur, von Winterhalter gemalt. Er war in schwarzem Hofanzuge, mit allen Orden angethan, sitzend dargestellt, seine linke Hand griff die Tasten des Claviers, die rechte hielt einen offenen Brief, an dessen Schluß zu lesen war: „tout à Vous.   Witzleben.“ Die Intimität mit diesem einflußreichen Manne sollte an seinem Portrait nicht vermißt werden.

Schon 1822 hatte sein Benehmen bei seinem Besuche in Wien Fiasco gemacht, wie man mir ein Jahr danach in Wien allgemein erzählte. Seine ceremoniösen Manieren, sein tägliches Prunken mit allen Ordensdecorationen, die er sogar in verkleinerten Nachbildungen auf seinem weißflanellenen Morgenrocke hatte sehen lassen, erregten den Spott der leichtlebigen Wiener, und das um so mehr, als der zu derselben Zeit anwesende Rossini – damals auf dem Gipfel der Popularität – sich frei und prätensionslos, in seiner witzigen liebenswürdigen Weise, dem lustigen Wiener Leben harmlos hingab und alle Welt bezauberte. Spontini hatte gerade in Wien den von ihm verachteten Melodisten durch sein Ansehen in Schatten zu stellen gesucht, und ging nun verspottet von dannen.

In Berlin wuchs seine Unbeliebtheit von Jahr zu Jahr; man warf es ihm auch als Geringschätzung der Nation, die ihn hoch bezahle, vor: daß er sich so leichtfertig mit deutscher Musik und so gut als gar nicht mit deutscher Sprache beschäftigte. Denn was er papageienmäßig an deutschen Wörtern gelernt hatte, brachte er meistens in lächerlicher Weise zur Anwendung. Seine piano-Verordnung „rien qu’un souffle“ dolmetschte er: „ich will nichste ören, nur eine Luft!“ und als er, während einer Probe bei einem störenden Zank, den immer rothglühend ereiferten alten Chordirector beruhigend an sein Alter mahnen wollte, sprach er mit Salbung: „o stillen Sie, Sie sind ein altes Mensch!“

Aber diese Fremdheit deutscher Sprache und deutschen Geistes sollte ihm ernsthaft zum Nachtheil gereichen, als wieder eine Compositionsnöthigung – für eine abermalige Vermählung im Königshause – am Horizont erschien, und ihm dazu ein Gedicht von Raupach geboten wurde. Dieser stand damals bei Hof und Publicum im vollsten Ansehen, und nur Kundige erblickten die Klippe, die sich für Spontini aus dieser Aufgabe erhob. Der Stoff war die heimliche Verheirathung von Agnes von Hohenstauffen mit dem Prinzen von Braunschweig, aber Raupach war durch und durch unmusikalisch, verstand also die musikalischen Motive der Handlung weder aufzufinden, noch sie für die Composition geschickt auszubeuten. Der Auffassungsweise Spontini’s war das Gedicht sehr fremd und mit aller Selbstplage konnte er bis zum 28. Mai 1827, dem Vermählungstage des Prinzen Karl, nur einen Act zu Stande bringen, dessen Aufführung dann mit einem großen Ballet „Amphéon“ eine etwas klägliche Festzierde abgab, und Anlaß zu vielfachem Spott und Hohn wurde. Zwei weitere Jahre brauchte er, um zur Vermählung des Prinzen Wilhelm, des jetzigen Königs, 12. Juni 1829, die Oper in drei Acten fertig zu machen.

Diese Oper bezeichnete die unterste Stufe des Verfalls von Spontini’s Talent, sie entbehrte aller Erfindungskraft, war ohne alles Verständniß des Charakters und Ausdrucks des Gedichtes, mühsam aus dem Abfall seiner letzten schwachen Opern zusammengestoppelt. In diese künstlerische Oede hatte der eitle Hochmuth seiner Stellung, die ehrgeizige Prätension mit ihrem äußerlichen Apparat und ihrer wachsamen Intrigue, den ruhelosen Mann geführt. Und so lebte er in Berlin noch über zwölf Jahre hin in Streit und Chicane gegen die General-Intendanz zur Aufrechthaltung seiner für das Kunstinstitut vollständig unfruchtbaren Vorrechte, gegen welche die General-Intendanz bei jeder Vornahme verstoßen mußte, um nur die Arbeit in Thätigkeit zu setzen. Der [304] unablässige Aerger dieser Conflicte hatte die Gesundheit des weichherzigen Grafen von Brühl untergraben, dem zum Ueberfluß das Hausministerium Wittgenstein die härtesten Kränkungen bereitete. Aus Anlaß eines Deficits, an dem die Spontini’schen Ausstattungsforderungen gewiß den größten Antheil hatten, setzte man dem edlen Manne ein Curatorium, an dessen Spitze sich der dem Spontini’schen Hause befreundete Geheimrath Tschoppe befand, ein Mann, nur zu bekannt durch sein Verdienst um die Demagogenriecherei jener Zeit und um die Einkerkerung der deutschen Jugend. Dieses Curatorium nahm nicht nur die Ueberwachung der Finanzverhältnisse des Theaters in die Hand, sondern kündigte sich selbst dem Kunstpersonal als eine neue Autorität – als die dritte – an, verfügte Gratificationen, um bei dem Personal Partei zu machen, ja der Geheimrath Tschoppe ermunterte die Künstler, Beschwerden und Anzeigen von Mißständen bei dem Curatorium anzubringen. Die Denunciation des eigenen Chefs war also verdienstlich geworden! Daß in allen diesen Dingen Spontini seine Hand im Spiele hatte, war Niemandem zweifelhaft, über den Ausgang derselben sollte er aber sehr getäuscht werden.

Der Graf von Brühl mußte sich in Folge einer gefährlichen Leberkrankheit – bald nach Aufführung des ersten Actes von Agnes von Hohenstauffen – den Geschäften geraume Zeit entziehen. Eine Commission von Theatervorständen führte die Geschäfte und zog sich, Spontini’s Verlangen gegenüber, hinter ihre unvollkommene Competenz zurück, was diesem sehr unbequem wurde. Als der Graf von Brühl im Frühjahr 1829 von der Hoftheater-Intendanz erlöst und zum Intendanten des neuerrichteten Museums eingesetzt worden, hatte sich der junge Graf von Redern durch vielfaches und gewichtiges Andringen bewegen lassen, die General-Intendanz provisorisch zu vertreten. Er wußte genug von den obwaltenden Verhältnissen, um nicht eine wesentlich veränderte Dienstcompetenz zu verlangen, und war ein zu begüterter und selbstständiger Cavalier, als daß er die Stelle übernommen hätte, ohne seiner Autorität sicher zu sein. So verging noch Jahr und Tag, bevor Graf von Redern sich zur definitiven Annahme entschloß. Er hatte sich bis daher zurückhaltend gegen Spontini verhalten, aber deutlich gezeigt, daß er schlechterdings nicht geneigt sei, über sich ergehen zu lassen, was der Graf von Brühl ertragen hatte. Indessen scheinen die Competenzen der Intendanz und der Musikdirection auch bei Graf von Redern’s definitiver Ernennung nicht klar und ausdrücklich geordnet worden zu sein, wenigstens wurde dem Personal des Hoftheaters darüber nichts mitgetheilt, und Spontini verfuhr, als ob seine Stellung nicht die mindeste Beschränkung erfahren hätte.

Compositionen brachte er gar nicht mehr zu Stande, unbedeutende Abänderungen der Partitur von Ferdinand Cortez abgerechnet, welche eine scenische Veränderung der letzten Hälfte des letzten Actes erforderlich machte. Indessen ließ er immer neue Arbeiten erwarten. So sprach er neuerdings wieder viel von seinem kleinen Pariser Idyll „Milton“, das er schon vor zehn Jahren geschrieben und das er nun umarbeiten wollte; er wußte nur immer nicht wie. Er suchte mit diesen sich nie erfüllenden Projecten das übrige Repertoire des Grafen Redern zu stören, und da dieser sich gegen die Beredsamkeit Spontini’s sehr unempfindlich zu zeigen begann, so gerieth der Letztere, dessen einzige Sorge war, seine grands ouvrages in Achtung und Beifall zu erhalten, in Gemeinschaft und Abhängigkeit von der Clique und Claque der untergeordnetsten Journalisten, welche Saphir’s Beispiel in Berlin hervorgebracht hatte. Denn der angesehenste Kritiker, Rellstab, der den nachtheiligen Einfluß Spontini’s unerbittlich verfolgte, war nicht umzustimmen, nicht zu gewinnen. Dies brachte bei Spontini eine so leidenschaftliche Erregung hervor, daß er im Corridor des Opernhauses eines Abends Rellstab zur Rede stellte, einen lebhaften Wortwechsel herbeiführte und für irgend eine seiner Angaben sein Ehrenwort verpfändete. Rellstab, der sich in den Nachtheil versetzt hatte, mit unvollkommenem Französisch auf diesen Streit einzugehen, vermochte nicht seine Geringschätzung fein zuzuspitzen, sondern fuhr heraus: „Votre parole d’honneur! Je n’en donne pas le sou!“ Nun erhob Spontini gerichtliche Klage. Die Beleidigung war im königlichen Hause gegen einen königlichen Beamten geschleudert worden, Rellstab wurde also zu vierzehntägigem Hausvogteiarrest verurtheilt. Hier aber, wie nach seiner Befreiung in der ganzen Stadt empfing er so viele Zeichen der Theilnahme, die allgemeine Schadenfreude war von seinem Ausfall gegen den verhaßten Mann so befriedigt, daß er, als Märtyrer der öffentlichen Meinung, nur mehr in Ansehen kam.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Marie Petersen’s, der vor einem Jahrzehnt verstorbenen Dichterin, reizendes Märchen „Prinzessin Ilse“ wird jetzt in’s Englische übersetzt, und zwar von einer Dame Miß Lizzi Selina Eden, die aber leider nicht so viel Gerechtigkeitsgefühl hat, den Namen der Verfasserin zu nennen. Die englische Kritik lobt die Schönheit und Anmuth des Gedichts, ohne zu ahnen, daß es aus einer weiblichen Feder geflossen ist und daß „die Irrlichter“, die sehr unverdient getadelt werden, von derselben Verfasserin sind. Marie Petersen gehörte zu den Veilchenseelen, die nur in der Verborgenheit erblühen können; sie war eine echt poetische Natur, die durch äußere Leiden zu inneren Freuden gelangt. Sie war ein Stiefkind des Glücks; das Leben in der Welt bot ihr keine Glanzseiten. Mit Ergebung, Sanftmut und wahrhafter Liebenswürdigkeit gegen ihre Umgebung hatte sie ihre Jugend freudlos hinschwinden sehen. Da lernte sie an der Grenzscheide derselben eine unverweltliche Freude kennen, die Poesie, die Gabe auszusprechen, was ihre Seele bewegte. Eine Reise in den Harz wurde für sie entscheidend; in dem Waldesduften und Quellenrauschen des deutschen Wunderberges dichtete sie die „Prinzessin Ilse“ und gewann sich alle Herzen damit, denn es war gleichsam die Quintessenz der Harzpoesie darin verkörpert.

Anonym ging das Gedicht in rasch aufeinander folgenden Auflagen durch die gebildete Lesewelt; man rieth hin und her, ohne die bescheidene Marie Petersen als Verfasserin zu vermuthen. Sie lebte in Frankfurt an der Oder, einer sogenannten Haupt- und Handelsstadt der Provinz Brandenburg; ihr Vater war der Erbe einer Jahrhunderte alten Apotheke und führte den Doctortitel. Ihr elterliches Haus war ein uraltes Meßhaus mit Gewölben und Läden, die zu den dreimal alljährlich stattfindenden Messen an Handelsleute vermiethet wurden. Das seltsame geschnörkelte Gebäude mit feinen Thürmchen, Treppchen und Gallerien war schon frühzeitig eine Fundgrube für die Phantasie des dichterisch begabten Mädchens gewesen, und eine kleine Monographie des alten Meßhauses findet sich in einer Schauernovelle à la Hoffmann unter ihren Schriften der letzten Zeit. Sie schilderte darin die dumpfen geheimnißvollen Gewölbe und malte die Schrecken einer Feuersbrunst, die auf den schwindelerregenden Gallerien und halsbrechenden engen Stiegen des alten Gemäuers in der That ein grauenhafter Gedanke war. Er hatte in schlaflosen Nächten die kleine, schwächliche Dichterin oft geängstigt.

Es war als wenn sie vorgeahnt hätte, daß die von ihr gefürchteten Gewölbe einst ihre Grabesschauer über sie selbst ausschütten würden. Sie starb in heißer Sommerzeit während des Lärms einer sehr frequenten Messe, und es war in dem überfüllten Hause kein anderer Raum für ihren Leichnam, als das düstere, kühlste und grausigste der Gewölbe. Wie ein rührendes Gedicht lag sie im Sarge von Sommerblumen bedeckt und von Wachskerzen umstanden, die an den feuchten Kellerwänden wie klagende Geister emporflackerten, gleich den Irrlichtern ihres tiefsinnigen Märchens. Wenige Jahre später, wieder zur Zeit des Meßgewühls, trat auch die Feuersbrunst ein, die sie vorahnend geschildert hatte. Die Flammen züngelten wie Schlangen an den Gallerien entlang, und das graue, ehrwürdige Gebäude sank in einer stürmischen Nacht in Trümmer. Die alte Handelsstadt Frankfurt an der Oder besitzt noch manches denkwürdige Haus, von dem sich viel erzählen läßt, aber keins, das wir so gern in seinen Wunderlichkeiten erhalten gesehen hätten, wie das Geburts- und Sterbehaus der Dichterin Marie Petersen.


Zur Ehrenrettung deutschen Erfindungsgeistes. In der Gartenlaube Nr. 11 dieses Jahres erzählten wir, daß Newton schon vor zweihundert Jahren einen Wagen erfunden habe, den der darin Sitzende ohne äußere Hülfe in’s Fahren bringen konnte. Wie uns nun der Stadtbibliothekar in Nürnberg, Herr Lützelberger, in dankenswerter Weise schreibt, ist Newton keineswegs der Erste, der so Etwas erdachte. In Doppelmaier’s „Historischer Nachricht von dem Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern, Nürnberg 1730“ findet man geschrieben, daß der Mechaniker Johann Hantsch, geboren 1595 in Nürnberg, einen Wagen mit vier Rädern verfertigte, auf dem man ohne Pferde, nur mit Beihülfe eines im Wagen befindlichen Räderwerks, auf den Straßen, wohin man wollte, sich führen lassen konnte, und daß er mit diesem Wagen anno 1649 in der Stadt bergauf und bergab öfter Proben abgelegt und in einer Stunde zweitausend Schritt weit gelangte, wobei vorn am Wagen ein Drache Wasser ausspie, um das Menschengedränge auseinander zu treiben, und zwei Engel die Posaunen bliesen.

Ebenso erzählt Doppelmaier, daß der Uhrmacher Stephan Farfler in Altdorf, geboren 1633, sich erst einen vierrädrigen und dann einen dreirädrigen Wagen machte, auf dem er sich selbst ohne eines Andern Beihülfe zur Kirche fuhr, weil er, von Jugend auf gelähmt, nicht gehen konnte. Der dreirädrige Wagen steht heute noch als Merkwürdigkeit auf der Stadtbibliothek in Nürnberg, und von beiden Wagen, wie von dem des Mechanikers Hantsch, giebt Doppelmaier Abbildungen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: behäbigen
  2. Vorlage: riesigen