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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[449]
Ein Polterabend.
Von J. O. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Die Frau Bertossa war ihrem Gatten entgegengeeilt. Sie hatten sich getroffen, und sie richtete mit ängstlichem Gesicht und bebenden Lippen eine hastige Frage an ihn. Er verneinte mit einem schmerzlichen Kopfschütteln. Sie verschwanden hinter der Menge. Mein Freund und ich waren zurückgeblieben.

„Was ist Dir?“ sagte mein Freund, der nicht blos Maischbütten und Braukessel, sondern auch Menschen beobachten konnte. „Mit Dem hast Du was gehabt?“

„Nein,“ erwiderte ich.

„Aber Du kennst ihn?“

„Ja.“

„Und nun bist Du auch auf einmal über den Andern klar!“

„Kannst Du in meinem Innern lesen?“

„In Deinem Gesichte. Und da man so leicht darin lesen kann, und der Andere, der Baron dort, wahrscheinlich sehr gut zu lesen versteht, so denke ich, wir ziehen uns ein wenig zurück. – Aber da fällt mir ein, daß ich in dem Gesichte des Herrn Bertossa nichts darüber lesen konnte, daß er Dich schon gesehen habe.“

„Er kennt mich auch nicht. Ich denke es mir wenigstens.“

„Du denkst es Dir? Hm, und auch dem Baron schien es eben keine Sorge zu machen, daß er Dich und seinen künftigen Schwiegervater so nahe beisammen sah!“

„Er kann auch nicht wissen, daß ich den Herrn Bertossa kenne.“

„Und doch kanntest Du sie Beide früher in naher Beziehung zu einander?“

„In sehr naher.“

„Darf ich das Nähere erfahren?“

„Warum nicht? Ich werde zudem Deines Rathes, Deiner Hülfe bedürfen, denn hier wird schleunig gehandelt werden müssen, schon um des armen Mädchens willen dort.“

„Der Braut?“

„Sie darf seine Frau nicht werden.“

„Ah, mein braver Holm –“

„Und doch,“ mußte ich ihn unterbrechen, „was ist denn härter für das unglückliche Kind, für die arme Frau? Entgehen sie dem einen Schicksal, verfallen sie dem anderen.“

„Du sprichst in Räthseln,“ sagte der Steuerrath. „Löse sie. Erzähle.“

Wir waren in das Bosket zurückgetreten, an welchem die kleine Polterabendposse ausgeführt wurde. Die Schauspieler spielten noch immer, machten Schwänke und überboten sich in Witz und Scherz. Der Bräutigam sah finster zu. Seine glühenden Augen waren unruhig; sein Gesicht war blaß, erschlafft geworden; seine Gedanken waren anderswo. Die Braut saß wie ein armer Engel des Leidens und des Schmerzes neben ihm, und wenn man sah, wie sie zu einem Lächeln sich zwang, so sah man, wie ihr Herz weinte, und man hätte mit ihr weinen mögen.

Der Hausherr und die Hausfrau waren fortgegangen, um ihre Angst und ihre Noth auszutauschen und sich die schweren Herzen noch schwerer zu machen; mein Freund und ich standen von der Seite.

„Aber Dein armer Holm!“ sagte ich, ehe ich meine Erzählung begann. „Du wolltest in zehn Minuten wieder bei ihm sein!“

„Er wird schon warten. Vielleicht ist sie auch zu ihm gegangen; vielleicht mit ihrem Mann. Erzähle.“

Was ich ihm mitzutheilen hatte, war nicht das Große. Vor etwa vier Jahren aus einer der entferntesten Provinzen des Staats hierher versetzt, hatte ich auf meiner langen Reise von zweihundert Meilen einen Freund zu begrüßen. Es war anderthalbhundert Meilen von hier. Er war Criminalrichter, wie ich. Der Freund war nicht in seiner Wohnung. Er sei auf dem Criminalgerichte, wurde mir gesagt. So mußte ich denn zugleich das Handwerk begrüßen.

Ich ging zum Criminalgerichte. Seine Verhörstube wurde mir angewiesen. Er war darin mit Inquiriren, Verhören, beschäftigt. Mir um desto lieber. So kam ich medias in res. Ich trat unangemeldet in die Stube. Er war mit seinem Protokollführer darin und einem Manne, den er verhörte. Wir umarmten uns, ohne daß unsere Namen dabei genannt wurden. Alter Freund! damit hatten wir uns begrüßt. Es fiel mir hier vorhin wieder ein. Der Freund, der Criminalrichter, war fertig; er entließ den Mann, den er verhört hatte. Wenn man das Handwerk begrüßt, so spricht man bald von dem Handwerke.

„Hast Du Dir den Menschen angesehen, den ich da vernahm?“ fragte mich der Freund.

„Ja.“

„Ist Dir nichts an ihm aufgefallen?“

„Es war ein kleiner, häßlicher Mann, mit struppigem, schwarzem Haar, zusammengekniffenen Lippen, glühendem Gesichte.“

„Das Gesicht ist sonst blaß, sehr blaß.“

„Er war also aufgeregt?“ 

„Vom Inquiriren.“

„Er war Inquisit?“ [450] „Er war Zeuge, aber ich glaube, ein Zeuge, der als Inquisit hier stehen sollte.“ 

„Er schien den besseren Ständen anzugehören?“ 

„Er ist ein Gutsbesitzer der Gegend, der Baron – der Baron –“ 

„Teufel,“ mußte ich mich gegen den Steuerrath unterbrechen. „Da hatte ich plötzlich den Namen auf der Zunge, und auf einmal ist er wieder fort. Ich habe den ganzen Abend nach ihm gesucht, seit dem Momente, da ich den Baron Föhrenbach sah. Ich konnte ihn nicht finden. Auf einmal glaube ich ihn so eben zu haben; fort ist er wieder.“ 

„Er wird Dir wieder einfallen; erzähle weiter“ sagte der Steuerrath. 

Ich erzählte weiter, was mir der Criminalrichter, der Inquirent, erzählt hatte. 

Ein paar Meilen weit war in einem Dorfe Jahrmarkt gewesen. Es war ein für die Gegend berühmter, sehr besuchter Jahrmarkt. Am meisten fanden sich die reichen Gutsbesitzer und die manchmal nicht minder reichen Viehhändler und Fleischer von weit und breit ein. Sie kannten sich; sie standen mit einander in vielfachem Geschäfts- und Handelsverkehr; sie erledigten auf dem Jahrmarkte alte Geschäfte, schlossen neue ab, gingen neue Verbindungen ein, tranken mit einander und spielten hoch, um bedeutende Summen. So war es auch an jenem Jahrmarkte gewesen. Ein reicher Viehhändler hatte die Bank gehalten; er hatte sehr viel gewonnen. Er hatte noch mehr Geld von den Fleischern eingenommen, denen er im Laufe des Jahres verkauft, und mit denen er heute abgerechnet. Man wollte ihm zwölf- bis funfzehntausend Thaler im Ganzen nachrechnen. Er war ein paar Meilen von dem Dorfe zu Hause und war zu Pferde gekommen, ohne Gesellschaft. Er ritt auch in der Nacht, als das Spiel zu Ende war, allein wieder fort; allein, aber mit seinem Gelde, seinem eigenen und dem gewonnenen. Er war nicht zu Hause angekommen. Sein Pferd wurde am anderen Morgen im Felde umherirrend angetroffen. Man suchte nun auch nach dem Reiter und fand endlich seine Leiche – ungefähr eine Meile weit von dem Dorfe, auf dem halben Wege zwischen diesem und seiner Wohnung. Er war ermordet und aller seiner Baarschaft beraubt, aber auch nur seines baaren Geldes. 

Wer der Mörder war, ist die fast bei jedem Morde zuerst sich aufdrängende und so schwer zu beantwortende und bei so wenigen beantwortete Frage. Spuren zu ihrer Beantwortung fanden sich lange nicht. Der Selbstverrath gab sie zuletzt, wie so oft. 

Auf dem Gute des Barons – der Name will mir fremd bleiben, aber so nennen wir ihn denn bei seinem jetzigen Namen, denn dieser kleine, blasse, häßliche Herr Bertossa war es – diente ein Knecht, ein seit ein paar Jahren aus der Fremde, ich glaube aus Belgien, vagabundirend herübergekommener unheimlicher Mensch, dem alle Welt alles mögliche Schlechte zutraute, den man aber behalten, weil er der tüchtigste Arbeiter war, den man finden konnte. Ein Vierteljahr nach dem Morde war verflossen, als dieser Mensch anfing, sich dem Trunke zu ergeben und Geld zu zeigen. Eines Abends in der Betrunkenheit ließ er dann in der Schenke Aeußerungen fallen, die dringend auf den Mord an dem Viehhändler hinwiesen. Er wurde sofort verhaftet und durchsucht, und man fand noch mehrere hundert Thaler in Gold bei ihm, und eine Börse, die dem Ermordeten zugehört hatte. Er wollte anfangs von dem Morde nichts wissen, verwickelte sich aber bald in so viele Lügen und Widersprüche, daß er nicht ferner leugnen konnte. Er legte ein Geständniß des Mordes ab und gab als Mitschuldigen, oder vielmehr als Hauptschuldigen, den Inspector des Gutes an, auf dem er diente. Und dieser Inspector – auch sein Name will mir ja nicht wieder beifallen; ich weiß nicht einmal ob der Inquirent ihn mir nannte; nennen wir ihn deshalb gleichfalls bei dem Namen, den er jetzt führt – er war der Bräutigam des heutigen Polterabends, der Baron Theobald von Föhrenbach. Baron – in der That – es steht mir vor – ja, ja, es fällt mir ein, ich erinnere mich bestimmt, daß der Inquirent mir sagte, er sei von Adel; Du wirst es gleich hören; nur den Namen hat er mir nicht genannt. 

Der Knecht hatte Folgendes zugestanden und angegeben. 

Er war ebenfalls auf dem Jahrmarkte gewesen. Sein Herr hatte ihm die Erlaubniß ertheilt. Er hatte in einer Schenke getanzt. Um Mitternacht auf einmal hatte der Inspector ihn herausgerufen, war mit ihm auf die Seite gegangen und hatte ihn gefragt, ob er zwei bis dreihundert Thaler verdienen wolle. 

„Teufel, das ist viel!“ 

„Aber es kostet Blut!“ hatte der Inspector gesagt. 

„Herr, damit habe ich nichts zu thun!“ 

„Ich hätte Dich für keine feige Memme gehalten.“ 

„Herr –“ 

„Prahlen kann Jeder; tanze weiter, ich werde einen Anderen finden, der mehr Muth hat.“ 

„Herr, sprechen Sie.“ 

„Zu sprechen ist nichts, nur zu handeln. Willst Du mir folgen?“ 

Der Knecht folgte ihm. Sie verließen das Dorf und gingen querfeldein durch Wiesen, über Aecker, durch Waldungen. Der Inspector machte den Führer. Nach einer starken Stunde machten sie Halt. Sie waren an einer Landstraße, in der Nähe eines Gehölzes. Zu beiden Seiten der Straße standen Weidenbäume. An einen der Bäume stellte der Inspector den Knecht. 

„Hier bleibst Du stehen, ohne Dich zu rühren, bis es Zeit ist. In einer Viertelstunde, vielleicht auch erst in einer halben, wird ein Reiter die Straße herauf kommen, von dem Jahrmarkte her. In dem Augenblicke dann, wenn Du einen Schuß fallen hörst, springst Du auf ihn zu, fällst dem Pferde in die Zügel und, reißest den Menschen vom Pferde, wenn der Schuß ihn nicht schon heruntergeworfen hat.“ 

Der Knecht stellte sich an den Baum. Der Inspector begab sich zu einem anderen Baume, dem zweiten oberhalb dessen, an dem der Knecht stand. Sie standen eine halbe Stunde so. Es war unterdessen Alles ruhig geblieben. Nur einmal meinte der Knecht ein leises Schleichen vernommen zu haben. Es war in der Nähe des Baumes gewesen, an dem der Inspector stand. Er hatte geglaubt, der Inspector gehe vielleicht ungeduldig auf und ab. Sehen konnte er in der Finsterniß der Nacht nichts. Da war es ihm aber gewesen, als wenn er ein leises Sprechen höre, als wenn Jemand dem Inspector etwas zuflüstere und dieser eben so leise antworte. Gleich darauf hatte er aber nichts mehr gehört, und er hatte gedacht, er habe sich vielleicht geirrt. 

Wenige Minuten darauf hörte man den langsamen Schritt eines Pferdes auf der Landstraße herankommen, in der Richtung von dem Jahrmarkte her, wie der Inspector gesagt hatte. Der Reiter mußte zuerst an dem Baume vorbei, an dem der Inspector stand. Als er den Baum erreichte, fiel ein Schuß. Das Pferd machte einen Satz – setzte sich in Galopp. Der Knecht sprang ihm entgegen, fiel ihm in die Zügel und hielt es auf. Der Reiter glitt von dem Pferde, er hatte nur noch halb darauf gehangen; der Schuß hatte ihn getroffen. Der Inspector sprang herbei und warf sich über ihn her. 

„Halte das Pferd, bis ich fertig bin,“ sagte er zu dem Knechte. 

Der Knecht hielt das Pferd. Der Inspector durchsuchte die Taschen des Reiters und plünderte ihn. 

„Laß das Pferd laufen,“ sagte er zu dem Knechte, als er fertig war. 

Der Knecht ließ das Pferd laufen. 

„Hilf anfassen,“ sagte der Inspector dann zu dem Knechte. 

Sie nahmen Beide den Körper des Reiters auf, der todt war, und trugen ihn zu einem Graben, der zwanzig Schritte seitab durch eine Wiese floß, und warfen ihn in denselben. 

„Hier hast Du Dein Geld,“ sagte darauf der Inspector zu dem Knechte. Er zählte ihm dreihundert Thaler in Gold, sechzig Stück Friedrichsd’or, in die Hand. 

„Wie viel haben Sie, Herr?“ fragte ihn der Knecht. 

„Geht es Dich etwas an? – Geh’ nach Hause, aber auf dem geradesten Wege, nicht durch das Dorf zurück. Laß Dich von keinem Menschen sehen. Sieht Dich einer, so wirst Du geköpft.“ 

„Und Sie mit, Herr,“ sagte der Knecht. 

„Pah!“ lachte der Inspector. 

Sie trennten sich. Der Inspector kehrte auf die Landstraße zurück. Der Knecht nahm den geradesten Weg nach Hause durch Wiese, Acker, Gehölz. An der Hecke der Wiese, in der sie den Leichnam in den Graben geworfen hatten, blieb er stehen, sah sich um, sah aber nichts mehr, auch den Inspector nicht. Aber er glaubte wieder, unter den Bäumen der Landstraße ein leises Flüstern zu vernehmen. Dahin zurückzukehren, hatte er nicht den Muth. 

„Der Inspector,“ sagte er im Verhöre, „konnte sein Pistol wieder geladen, oder noch ein zweites bei sich haben. Es konnte dann um mich geschehen sein. Er ist ein Mensch, der zu Allem im Stande ist. Und wer wußte, wer bei ihm war?“ [451] Er kam zu Hause an. Es war gegen vier Uhr Morgens, im October noch dunkle Nacht.

„Sind der Herr und der Inspector schon zu Hause?“ fragte er die anderen Knechte.

„Schon vor Mitternacht,“ wurde ihm geantwortet.

Er verwunderte sich im Stillen, aber er fragte nicht weiter. Der Inspector sprach nie wieder mit ihm über die Sache.

Das war die Aussage des Knechtes. Gegen sich hatte er ein Geständniß abgelegt, das gegen ihn voll Beweise war; gegen den Inspector hatte er nur Bezichtigungen vorgebracht, die anderweit bewiesen werden mußten. Sie konnten freilich auch durch ein Geständniß des Inspectors bewiesen werden.

Der Inspector wurde verhaftet. Seine Sachen wurden durchsucht. Es geschah Alles mit der größten Sorgfalt und Vorsicht, aber es wurde nichts bei ihm gefunden. Es war kein Geständniß von ihm zu erhalten. Andere Beweismittel fehlten eben so vollständig. Es war ihm nicht einmal eine Unwahrheit, ein Widerspruch nachzuweisen. Er gerieth in keine Unruhe, in keine Verlegenheit, in keine Verwirrung und erklärte die Angaben des Knechtes einfach für Lügen, die ihm unbegreiflich seien. Er wurde mit dem Knechte confrontirt, blieb aber kalt, ruhig, selbst würdevoll. So war kein Beweis gegen ihn da. Er führte sogar einen Gegenbeweis, daß er der Mitschuldige des Knechts nicht sein könne. Er hatte schon um elf Uhr in der Nacht mit seinem Herrn, dem Baron, den Jahrmarkt verlassen. Sie waren zusammen gefahren, in dem Wagen des Barons, und waren kurz vor Mitternacht zu Hause angekommen. Der Kutscher, der sie gefahren hatte, bestätigte es; die Wirthshausleute im Dorfe hatten das Abfahren gesehen, die Leute im Schlosse bekundeten die Ankunft.

Ob der Knecht wirklich gelogen und einen Unschuldigen falsch bezichtigt hatte, dazu fehlte für seine Angaben der juristische Beweis; der moralischen Ueberzeugung von ihrer Wahrheit konnte der Inquirent sich nicht erwehren. Der Kutscher, die Wirthschaftsleute, die Knechte auf dem Schlosse hatten die Wahrheit bekundet. Aber der Inspector konnte sofort vom Schlosse zurückgeeilt sein und darauf noch Alles gethan haben, dessen der Knecht ihn bezichtigte. Er war dann absichtlich zum Schein zurückgekehrt, um künftig einen Abwesenheitsbeweis zu haben. Er war ein rüstiger, kräftiger, behender Mensch. Die Entfernungen waren zu sehr groß nicht. Die Uhren gehen auf dem Lande verschieden. Er konnte selbst dem Knecht, als er ihn von dem Tanzboden abrief, eine falsche Stunde angegeben haben. Das Abrufen hatte Niemand gesehen.

Der Baron mußte noch vernommen werden. Der Inquirent verschob es bis zuletzt. Er hatte seine Gründe dazu.

Mit den Vermögensumständen des Barons stand es nicht besonders. Sein Gut war verschuldet. Die Gläubiger konnten ihre Zinsen nur unregelmäßig erhalten. Er war eng verbunden mit dem Inspector, den Jedermann zu allem Schlechten für fähig hielt. Ihm selbst traute Niemand; seinem häßlichen Aeußern, seinen stets zusammengebissenen Lippen, seinem unstäten Blick entsprach sein verschlossener und doch wieder jähzorniger und zugleich wieder nachtragender, rachsüchtiger Charakter. Man wußte von allen diesen Eigenschaften Beispiele genug zu erzählen. Er hatte auf dem Jahrmarkte an der Bank des Viehhändlers gespielt und hatte viel verloren, Alles, was er bei sich hatte. Und wer war jener Mensch gewesen, mit dem, nach der Versicherung des Knechts, der Inspector zweimal so heimlich geflüstert hatte, einmal gleich vor, das zweite Mal gleich nach dem Morde? Der Mörder ging jedenfalls sicherer, wenn er genauere Nachricht von der baldigen Ankunft des Viehhändlers erhielt.

An dem Tage, da ich meinen Freund, den Inquirenten, besuchte, war die Vernehmung erfolgt. Ich traf gerade bei ihrer Beendigung in dem Verhörzimmer ein. Der Baron war in allen seinen Aussagen vollkommen klar und besonnen gewesen. Nicht die geringste Unwahrheit oder nur Unwahrscheinlichkeit in seinen Angaben, nicht der leiseste Widerspruch konnte ihm vorgeworfen werden; seine äußere Ruhe war unbeweglich, unzerstörbar geblieben. Aber wie in seinem Innern die Angst, die Angst des Todes kochen und sieden mochte, das hatte deutlich genug die wilde, glühende Hitze gezeigt, mit der das sonst ewig graue, blasse Gesicht noch übergossen war, als das Verhör zu Ende war und ich ihn sah. Er mußte in seiner inneren Aufregung kaum mich gesehen haben.

„Sie sind schuldig,“ sagte der Inquirent zu mir. „Sie sind die eigentlichen Schuldigen, der Baron und sein Inspector. Meine innere Ueberzeugung sagt es mir. Aber es fehlt der gesetzliche Beweis gegen sie, der Knecht, der Verleitete, der Mitschuldige in zweiter Linie, wird zum Tode, zum Rade verurtheilt werden, und sie, die Verführer, die eigentlichen Mörder – den Baron wird man gar nicht einmal zur Untersuchung ziehen können, den Inspector wird man vorläufig freisprechen müssen.“

Er hatte Recht.

„Hast Du noch eine Handhabe? Weißt Du noch einen Ausweg?“ fragte er mich.

Wir überlegten. Es war keine Handhabe, kein anderer Ausweg mehr da.

„Zeige mir den Inspector,“ bat ich ihn.

Er führte mich in das Gefängniß des Inspectors. Wir traten hinein, als wenn wir nur das Zimmer besichtigen wollten. Ich besah mir unterdeß den Gefangenen. Mein erster Blick auf ihn sagte mir, daß aus diesem finsteren, harten, entschlossenen und verwegenen Menschen kein weiteres Wort, als was er schon gesprochen hatte, heraus zu bekommen war. Und der Baron war vielleicht noch zäher und verschlossener.

„Gieb Dir keine Mühe weiter,“ sagte ich zu dem Inquirenten. „Laß alle Hoffnung fahren. Den Beiden wird man nach unseren vortrefflichen Gesetzen nichts anhaben können, und der Andere wird zum Tode verurtheilt werden, wenn nicht die Gnade des Königs etwas Anderes über ihn beschließt.“

Und so war es gekommen, wie mir ein halbes Jahr später mein Freund, der Inquirent, schrieb. Die Gerichte hatten erkannt, wie sie nach den Gesetzen nicht anders erkennen konnten: der Baron war gar nicht zur Untersuchung gezogen; der Inspector war vorläufig freigesprochen; der Knecht war zum Rade verurtheilt. Der König hatte die Strafe im Wege der Gnade in lebenslängliche Zuchthausstrafe verwandelt, weil bei der moralischen Ueberzeugung der Richter wie des Volkes von der Schuld wenigstens des Inspectors, das allgemeine Rechtsgesühl durch die Hinrichtung des minder Schuldigen gegenüber der Freisprechung des wahren Mörders doch zu schwer würde verletzt worden sein.

Bald nach Verkündigung des Erkenntnisses hatte übrigens der Baron sein Gut verkauft und mit seiner Familie die Gegend verlassen. Wohin er gegangen war, wußte man nicht. Einige Zeit vorher, während der Untersuchung, hatte seine Frau eine bedeutende Erbschaft gemacht. Dies war keine Vorspiegelung, die Gelder waren theilweise durch das Gericht selbst ausgezahlt worden. Der Inspector war gleichzeitig mit ihnen aus der Gegend verschwunden.

Ich habe vergessen, über die früheren Verhältnisse des Barons und des Inspectors, wie sie zu den Untersuchungsacten festgestellt waren, zu sprechen. Der Baron stammte aus der Gegend. Er gehörte einer bekannten adligen, aber verarmten Familie an, hatte in seiner Jugend die Heimath verlassen und war in fremde Kriegsdienste gegangen; nach Rom oder Neapel, meinte man. Vor etwa funfzehn Jahren war er mit Frau und zwei Kindern zurückgekehrt, und hatte das väterliche Gut übernommen. Die Frau sollte aus Italien oder aus der italienischen Schweiz sein. Der Inspector war der Sohn eines pensionirten, verkommenen Hauptmanns, der in einem kleinen Städtchen der Nachbarschaft von seiner geringen Pension ein jämmerliches Leben führte. Der Bursche war schon zu Lebzeiten des Vaters ein verwahrloster Taugenichts gewesen. Nach dessen Tode gab es keinen schlechten Streich, den er nicht ausführte. Als auch seine Mutter starb, hatte er etwas lernen müssen. Er hatte sich der Landwirthschaft gewidmet und war seit drei Jahren Inspector auf dem Gute des Barons. Der Baron und der alte Hauptmann sollten in ihrer Jugend befreundet gewesen sein.

Das war es, was ich meinem Freunde, dem Steuerrath, zu erzählen hatte.

„Und nun?“ sagte er.

„Und nen? Die beiden Verbrecher, die beiden Mörder, denen ihr Verbrechen nicht nachgewiesen werden konnte, sind hier; wir sind in ihrem Hause, wir sind ihre Gäste. In jener Gegend war ihre Ehre verloren, selbst ihre Sicherheit. Sie waren nicht ganz, nicht wegen erwiesener Unschuld frei gesprochen. Irgend ein Zufall konnte einen neuen Verdacht gegen sie hervorrufen, dieser eine neue Untersuchung, die Untersuchung doch zuletzt eine Strafe. So mußten sie fort, auch nachdem der Baron durch die Erbschaft seiner Frau ein reicher Mann geworden war. Er vergrub sich mit seinem Reichthum unter einem fremden Namen in diesem verborgenen [452] Winkel des civilisirten Lebens. Von seinem Mitschuldigen, dem Inspector, hatte er sich zugleich trennen müssen. Ihr ferneres Beisammensein hätte schon für sich allein einen neuen Verdacht, wenigstens gegen den Baron, begründen müssen. Noch mehr mußte es ihm ein Bedürfniß sein, sich des rohen, übermüthigen Burschen zu entledigen, der schon vorher – wer weiß durch welche andere gemeinsam verübte Niederträchtigkeiten? – eine Gewalt über ihn gewonnen hatte, und in dessen Hände er, in Folge jenes Verbrechens, sich ganz und gar gegeben hatte. Aber der Fluch des Verbrechens weicht nicht von dem Menschen; er verfolgt ihn überall hin und er wächst im Verfolgen lawinenartig. Jener Elende hat ihn aufgesucht, hat ihn wiedergefunden, hat sich wie ein Alp, wie das Unglück auf ihn gelegt, hat ihn und seine Familie tyrannisirt, hat sie Alle zu willenlosen Werkzeugen und zugleich Opfern seines Uebermuthes, seiner Rohheit, seiner Gemeinheit gemacht; er will morgen das arme, blasse, von Schmerz und Leiden schon halb aufgezehrte Kind an den Traualtar schleppen, damit sie ihm ganz, wie dem Moloch, geopfert werde. Welch’ ein Elend, welch’ ein Jammer! Und es ist keine Rettung, keine Hoffnung, kein Lichtstrahl in diesem Labyrinthe von Verbrechen und von Unglück, von der Strafe, die der Himmel sendet, und die auch, oft noch mehr als die weltliche Strafe, den Unschuldigen mit dem Schuldigen trifft. Und nun der Sohn, der nicht da ist, und über den sie in Schmerzen Nachrichten erwarten! Ist da nicht auch wieder eine jener Strafen der ewigen Gerechtigkeit? – Laß uns zu dem armen Holm gehen, den diese Gerechtigkeit so schwer mittrifft; vielleicht theilt er uns etwas mit.“

Wir verließen den Garten, um wieder auf den Gutshof zu gehen, auf dem der junge Mann noch warten mußte, wenn nicht unterdeß die Frau des Hauses schon zu ihm gekommen war. Unser Weg führte uns durch das Haus, in welchem uns die Hausfrau begegnete. Ihr Mann war nicht mehr bei ihr; sie war allein und sah fast verstört aus. Sie mußte eine schwere Schreckensnachricht erhalten haben. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu.

„Sie wollten mich vorhin zu Holm führen,“ sagte sie zu dem Steuerrath. „Ich habe ihn noch nicht gesprochen. Ich war auf dem Wege zu ihm. Darf ich bitten, mich zu begleiten?“

„Auch wir waren gerade auf dem Wege zu ihm,“ sagte der Steuerrath.

Sie sah uns zweifelhaft an, besonders mich.

„Darf ich fragen, zu welchem Zweck?“ fragte sie dann den Steuerrath.

„Gnädige Frau,“ antwortete dieser, „Ihr Herr Gemahl hatte Ihnen offenbar keine angenehme Nachricht zu bringen. Da fürchtete ich, Sie hatten Holm vergessen, und wir wollten ihn bitten, noch zu warten.“

Der Steuerrath sprach die Worte theilnehmend, sorglich, wie ein Freund. Die unglückliche Frau mußte Einem leid thun. Es schien ihr leichter um das Herz zu werden. Sie faßte Muth, Vertrauen, anfangs nur noch halb.

„Mein Mann hat mir in der That keine angenehme Nachricht gebracht,“ sagte sie. „Und wenn Holm –“ Sie stockte und sah mich noch einmal zweifelhaft an. Sie konnte in meinem Gesichte nur das aufrichtigste Mitleid lesen. Aus dem ihrigen verschwand der letzte Rest des Mißtrauens. Sie mußte sich das Herz ganz erleichtern.

„0 meine Herren,“ sagte sie, „darf ich vorher ein paar Worte mit Ihnen reden? Besonders mit Ihnen, Herr Kreisjustizrath, dem Criminalrichter des Kreises? Wollen die Herren die Güte haben, mir zu folgen?“

Wir waren noch im Hause. Sie schloß ein Zimmer auf.

„Wir vermissen unseren Sohn Ulrich,“ sagte sie, nachdem wir in das Zimmer getreten waren, „unseren einzigen Sohn. Vor acht Tagen verließ er uns. Er hätte schon vor drei Tagen zurück sein müssen und ist nicht zurückgekommen; wir haben nicht die geringste Nachricht von ihm. Doch. Er ist schon seit vier Tagen von dem Ort seiner Bestimmung fort. Mit dieser Nachricht ist heute Abend mein Mann zurückgekehrt, der in unserer Angst ihm gestern nachgereist war. Ihnen, Herr Kreisjustizrath, wird so Manches angezeigt. Hätten Sie nichts vernommen, was auf ihn Bezug haben könnte?“

Mir wollte eine Centnerlast auf das Herz fallen. Sollte ich etwa den Ermordeten entdecken?

„An welche Art von Nachrichten denken Sie, gnädige Frau?“ fragte ich. „Ich bin Criminalrichter.“

„Ich weiß es,“ sagte sie. Aber sie hatte nicht den Muth, mehr zu sagen.

„In welchem Alter ist Ihr Sohn?“ mußte ich sie endlich fragen.

„Er ist fünfundzwanzig Jahre alt.“

„Wohin war Ihr Sohn gereist?“

Sie nannte eine kleine Stadt der Gegend, etwa sieben bis acht Meilen entfernt.

„Und er ist seit vier Tagen von da fort?“

„Um direct nach Hause zurückzukehren, wie er gesagt hat. Niemand hat ihn wieder gesehen.“

„War er in Geschäften hingereist?“

„Um Korn zu verkaufen. Es sind große Kornmärkte dort.“

„Und allein?“

„Allein, und zu Fuße. Es war seine Liebhaberei. Er streifte gern im Lande umher, bald hier, bald dort einen Abstecher machend.“

„Ich könnte Ihnen keine auf ihn zu beziehende Nachricht mittheilen, gnädige Frau, obwohl ich theilweise aus jener Gegend komme.“

„Aber Ihre Fragen waren so speciell, als wenn sie sich doch auf etwas bezögen.“

„Sie sollten nur meinen morgen anzustellenden Nachforschungen eine bestimmtere Richtung geben. Darf ich bitten, jetzt den Herrn Holm aufzusuchen?“

Sie war bereit, ihre eigene Unruhe trieb sie. Wir gingen zu Holm, auf den Gutshof hinaus. Er mochte nicht gerne das Haus wieder betreten wollen, aus dem er doch immerhin vertrieben war, und die Frau wollte es ihm nicht zumuthen. Er stand wartend am Ende des Hofes, hinter dem Baume, bei dem wir ihn vor einer halben Stunde verlassen hatten. Die Frau eilte auf ihn zu.

„Sie haben Nachrichten von Ulrich, Holm?“

„Nachrichten und keine Nachrichten, gnädige Frau.“

„Gute?“

„Ich weiß es nicht –“

„Es sind schlimme. Ich höre es an Ihrer Stimme. Aber was es auch sei, theilen Sie es mir mit, vollständig.“

Die Stimme, wie die Zurückhaltung des jungen Mannes, Beides ließ auf gute Nachrichten nicht schließen. Darin hatte die Frau Recht. Aber ihre Aeußerung ließ auch nicht auf einen Mord schließen, wenigstens nicht auf eine Furcht, daß ihr Sohn ermordet sei. Holm wollte noch einmal zweifelnd auf mich sehen. „Der Herr darf Alles wissen,“ sagte sie schnell. „Er muß Alles wissen. Erzählen Sie.“

„Ulrich ist schon am Sonnabend vom Kornmarkte abgereist.“

„Ich weiß es. Mein Mann hat ihm dort nachgeforscht. Haben Sie eine andere Spur von ihm?“

„Lassen Sie mich Ihnen ausführlich erzählen, gnädige Frau. Am Mittwoch, heute vor acht Tagen, war Ulrich bei mir. Sie wissen, wir waren befreundet. Er kam von Hause und brachte mir Nachrichten und Grüße von –“

Er stockte. Der Freund hatte ihm wohl Grüße, die letzten Grüße von der Schwester gebracht.
(Fortsetzung folgt.)

Aus dem Leben deutscher Schauspieler.
2. Theodor Döring.

Auf seinem Krankenbette lag ein vierjähriger Knabe; der Arzt hatte ihn so eben verlassen, und die Mutter, eine sanfte Frau mit feinen, milden Zügen, war damit beschäftigt, ihrem Liebling den verordneten Heiltrank zu bereiten, ab und zu einen sorgsamen Blick auf den kleinen Patienten werfend. Dieser befand sich bereits in der Besserung, und da er ein sehr lebhaftes Temperament besaß, quälte er die gute Mutter mit seinen unaufhörlichen Wünschen und Fragen, so daß diese zuletzt sich genöthigt sah, ihm mit dem Arzte zu drohen, der ein alter, sehr ernster Herr war.

„Weißt Du auch Mama,“ fragte das frühreife Kind, ohne

[453]

Theodor Döring als Malvolio.


sich einschüchtern zu lassen, „was der Doctor für ein Gesicht macht, wenn er böse ist?“

„Nun, Du kleiner Affe?“

„So sieht der Herr Doctor aus, gerade so.“

Dabei rümpfte das Kind seine kleine Nase, zog die Augenbrauen zusammen und copirte den würdigen Mann so treffend und wunderbar, daß die nachsichtige Mutter sich des Lachens kaum enthalten konnte.

„Willst Du wohl, Du Taugenichts!“ drohte sie dem Knaben, dessen mimisches Talent sie im Stillen bewundern mußte.

[454] Dieser kleine vierjährige Künstler war der jetzige Hofschauspieler Theodor Döring in Berlin. Er wurde im Jahre 1805 in Warschau geboren, wo sein Vater das Amt eines königlich preußischen Salzinspectors bekleidete. Durch die nachfolgenden politischen Ereignisse und den unglücklichen Frieden von Tilsit verlor derselbe seinen Posten und mußte sich mit seiner Familie kümmerlich ernähren, bis er in späterer Zeit wieder eine Anstellung erhielt, die es ihm möglich machte, den talentvollen Knaben auf das Joachimsthaler Gymnasium in Berlin zu schicken. Auch hier zeichnete sich der kleine Theodor durch seine dramatische Begabung aus, Lehrer und Schüler nannten ihn nur „den Schauspieler“ oder den „kleinen Roscius“, und bei jeder Festfeier oder öffentlichen Gelegenheit glänzte er durch seine Deklamationen und Vorträge. Sein mimisches Talent entwickelte sich mit den Jahren immer mehr, verursachte ihm aber auch zuweilen manche Unannehmlichkeit. Es fehlte nicht an Strafen und selbst an Prügel von Seiten der Beleidigten, die sich nur oft zu getroffen fanden. Ursprünglich zum Theologen bestimmt, zwang ihn die traurige Lage seiner Eltern, dem Studium zu entsagen und sich dem Handelsstande zu widmen. Er trat als Lehrling in ein Tuchgeschäft, mit dem zugleich eine Weinhandlung verbunden war. Aber Döring war einmal zum Schauspieler geboren und deshalb zum Kaufmann verdorben. So oft er konnte, stahl er sich in’s Theater, um sich von Künstlern wie Beschort, Lemm, Wolff etc. entzücken zu lassen, sein Liebling aber war der berühmte Ludwig Devrient, den er sich zum Vorbild machte. Mit der Zeit wuchs seine Liebhaberei zur wahren Leidenschaft; er wurde Mitglied des Liebhaber-Theaters „Urania“, dieser Pflanzstätte und Wiege manches großen Talents, in Berlin und spielte daselbst in kleinen Rollen, ohne jedoch die Aufmerksamkeit in irgend einer Weise auf sich zu ziehen.

In seinem zweiundzwanzigsten Jahre faßte er endlich den Entschluß, seine kaufmännische Carrière aufzugeben und sich ganz der Bühne zu widmen. Er ging von Berlin nach Bromberg, wo er bei der Gesellschaft des Director Gurray ein Engagement fand. Sein erstes Debut als Julius in dem „armen Poeten“ von Kotzebue fiel jedoch so unglücklich aus, daß der Vorhang sinken mußte, bevor er noch seine Rolle zu Ende gespielt hatte. Döring bekam nämlich das Lampenfieber, eine nicht seltene Krankheit bei angehenden Künstlern, der Anblick des Publicums wirkte vollkommen lähmend auf sein Gedächtniß und seine Bewegungen, das Wort blieb ihm in der zugeschnürten Kehle stecken, und statt zu sprechen, stotterte er vor unbesiegbarer Verlegenheit. Seit diesem traurigen Abende war er die Zielscheibe der Lacher im Parterre, und so oft er auftrat, wurde der Arme mit Spott und Hohn empfangen. Erst nach und nach legte er diese Furcht ab, und es gelang ihm sogar in Thorn, wohin sich die Gesellschaft indeß begeben hatte, als „Portechaisenträger“ in der „Schachmaschine“ durch ein geistreiches Impromptu den ersten Applaus zu gewinnen, der einen wunderbar belebenden Einfluß auf sein niedergedrücktes Gemüth ausübte. Geduldig ertrug er fortan die kleinen Leiden des Schauspielerlebens und seine Armuth, die bei seiner geringen Gage so groß war, daß er mehr als einmal sich hungrig zu Bett legen mußte. Mit vielem Humor erzählte Döring später seinen Freunden, wie er einmal, als er den „Prinzen“ in Körner’s „Rosamunde“ halbverhungert gespielt, noch im Hermelinmantel auf die Einladung seiner Wirthin, einer armen Buchdruckerfrau, sich zu der dampfenden Schüssel mit Kartoffeln gesetzt und sich einmal wieder seit langer Zeit satt gegessen, wobei er die Versicherung zu geben pflegte, daß es ihm nie in seinem Leben besser geschmeckt habe, als an jenem Abend. Die Begeisterung für die Kunst hielt ihn jedoch aufrecht, und sein angeborener Humor ließ ihn nicht verzweifeln.

Mit neun Thalern und sechs Groschen in der Tasche verließ Döring Bromberg und wanderte zu Fuß in grimmiger Decemberkälte nach Breslau, um daselbst ein Unterkommen zu finden. Sein Geld war bald zu Ende und seine Stiefeln so abgelaufen und durchlöchert, daß er sich unmöglich in diesem erbärmlichen Zustande präsentiren konnte. Seine ganze Garderobe bestand in einem abgeschabten, zeisiggrünen Leibrock mit hellen Metallknöpfen und in gelben Nankingbeinkleidern. Zum Glück erinnerte er sich an eine Freundin, die Schauspielerin Carlberg, mit der er zusammen auf dem Uraniatheater in Berlin aufgetreten. Diese streckte ihm einige Thaler vor, welche er zu dem nothwendigen Ankauf von einem Paar Stiefeln verwendete. So ausgerüstet stellte er sich dem Director Bierey vor, der ihm jedoch mit einem Seitenblick auf die traurige Garderobe ein Engagement rundweg abschlug. Seine inständigen Bitten und ein geschickt angebrachter Handkuß bei der Alles vermögenden Frau Directorin erweckten das Mitleid der gutmüthigen Dame und verschafften Döring ein Engagement mit einer wöchentlichen Gage von vier Thalern. Glücklich begab sich derselbe zu dem damaligen Regisseur Herrn Stawieski, der schon damals den Ruf eines ausgezeichneten Künstlers hatte, um sich pflichtschuldigst bei ihm als neuengagirtes Mitglied zu melden. Die ganze Erscheinung und vornehme Haltung Stawieski’s machte einen imponirenden Eindruck auf den armen Döring, besonders aber wirke das Arom des feinen holländischen Tabaks, den der Herr Regisseur aus seiner langen Pfeife rauchte, wahrhaft bezaubernd auf seine Sinne. Mit sichtlichem Wohlbehagen schlürfte er den würzigen Dampf ein, und sein ausdrucksvolles Gesicht verrieth so stark seinen Appetit nach einem ähnlichen lang entbehrten Genuß, daß sein jetziger Vorgesetzter ihm lächelnd eine gestopfte Pfeife anbot, wodurch er ihn in den siebenten Himmel versetzte. Seit jenem Tage wurden Döring und Stawieski Freunde für das ganze Leben, und noch heute erinnern sich Beide, wenn sie in der Weinhandlung bei Luther traulich beim Glase sitzen, lächelnd an diese erste Friedens- und Freundespfeife.

Unter der Leitung des trefflichen Stawieski entwickelte sich Döring’s Talent mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit; er gefiel dem Publicum besonders im Fache der Intriganten und in komischen Rollen. Aber trotz dieser Erfolge und des allgemeinen Beifalls wurde sein Einkommen erst nach drei Jahren um einen Thaler für die Woche erhöht und seine Bitte um eine Verbesserung seiner Lage als eine sträfliche Anmaßung zurückgewiesen. Unter diesen Umständen folgte Döring dem tüchtigen Schauspieler August Haake, als dieser das Theater in Mainz übernahm, dorthin nach mit einer alle seine Erwartungen übersteigenden Gage von 1200 Gulden jährlich. Haake selbst war ein anerkannter Künstler und übte besonders auf Döring einen höchst günstigen Einfluß aus. Ihm verdankte er zum großen Theil seine bessere Richtung und seine höhere Entwicklung, indem ihn Haake durch sein Beispiel und seine Belehrung wesentlich hob und förderte. In Mainz spielte Döring zuerst und mit großem Beifall jene Rollen wie „Schewa“, „Polonius“, „Lanzelot Gobo“ und den „Orgon“ in Molière’s „Tartuffe“, welche den Grundstein zu seinem Künstlerrufe legten. Immer klarer und bestimmter trat sein Talent hervor, immer entschiedener wendete er sich dem von ihm in der glänzendsten Weise vertretenen Charakterfach zu, nachdem er früher ohne Auswahl sich in den verschiedensten Rollen, als Liebhaber, Komiker und Intrigant, wenn auch immer mit Erfolg, versucht hatte und dadurch in die Gefahr gerathen war, sich allmählich zu verflachen. – In Mainz lernte Döring auch die Tochter eines angesehenen Arztes kennen, mit der er sich verheirathete. Leider sollte das Glück dieser Ehe nur von kurzer Dauer sein, da die junge reizende Frau schon nach vier Monaten ihm durch ein nervöses Fieber wieder entrissen wurde.

Um so leichter entschloß er sich, ein Engagement in dem nahen Mannheim anzunehmen, das ihm von dem dortigen Intendanten, Grafen Luxburg, angeboten wurde. Dieser war ein ausgezeichneter Pferdekenner, besaß aber nebenbei einen gewissen theatralischen Instinct, der ihn selten einen Fehlgriff thun ließ, wie auch die Anstellung Döring’s durch ihn bewiesen hat. Zu den Eigenheiten des originellen Mannes gehörte es, daß er nachträglich jeden von ihm engagirten Schauspieler den Mund öffnen ließ, um die Zähne einer genauen Untersuchung zu unterwerfen, wie er sonst beim Kaufe seiner Pferde zu thun pflegte. Waren dieselben gesund und vollständig, so sagte der Herr Graf in seinem Dialekt: „Ich geb’ Ihne noch 200 Gulde zu, die Zähn’ sein gut.“ – Da Döring noch heute sehr schöne und fast vollzählige Zähne besitzt, so äußerte der wunderliche Intendant seine volle Zufriedenheit mit ihm und legte die gewiß sehr willkommenen 200 Gulden dem erfreuten Künstler zu. In Mannheim gefiel Döring dem Hofe und dem Publicum; wahrhaft Furore machte er aber daselbst in dem Bauernfeld’schen Lustspiele „die Bekenntnisse“ als „Banquier Müller“, eine Rolle, die zu den vorzüglichsten Leistungen der deutschen Schauspielkunst gehört und die er mehr als dreihundertmal in den verschiedensten Städten stets mit dem gleichen Beifall gegeben hat. Kein zweiter Künstler besitzt aber auch wie Döring diese genaue Kenntniß des jüdischen Volkscharakters mit allen seinen Schwächen und Vorzügen, wofür dieser Banquier Müller das glänzendste [455] Zeugniß ablegt. Hier ist jeder Zug dem Leben abgelauscht, wahr und natürlich, ohne jede Uebertreibung, ein vollendetes Genrebild.

Auf Empfehlung eines ihm befreundeten Engländers reiste Döring im Jahre 1836 nach Hamburg zu einem Gastspiele bei dem originellen Theaterdirector Friedrich Ludwig Schmidt, der ihn jedoch keineswegs ermuthigend empfing. Die Jahreszeit war sehr ungünstig gewählt, da im heißen August das Theater nur wenig besucht wurde; außerdem war der fremde Künstler in Hamburg wenig oder gar nicht bekannt. Alle diese Umstände stellte der wackere Director in seiner derben Weise Döring vor, ohne daß dieser sich davon abschrecken ließ. Endlich wurden ihm drei Gastrollen mit einem Honorar von zwölf Friedrichsd’or bewilligt, wenn auch nur mit großem Widerstreben. Döring trat in Hamburg auf und zwar mit einem so großen und unerwarteten Erfolg, daß er statt der zugestandenen drei Rollen siebenzehmnal vor überfülltem Hause spielen mußte. Das Publicum war entzückt und hingerissen, der tüchtige Kritiker Reinhold sprach offen seine Bewunderung und sein Erstaunen aus, daß ein so genialer Künstler so lange in Deutschland unbekannt bleiben konnte. Der alte Schmidt, selbst ein ausgezeichneter Schauspieler und der würdige Nachfolger des berühmten Schröder, bot ihm einen Contract auf zehn Jahre mit einer jährlichen Gage von 2500 Thaler, eine für die Hamburger Bühne und die damaligen Verhältnisse ungeheuere Summe. – Drei Jahre verweilte Döring in seiner neuen Stellung unter dem Director Schmidt, dem er seine künstlerische Vollendung und Abrundung zu verdanken hatte. Manche Rolle, wie zum Beispiel der „Dorfrichter Adam“ in dem „zerbrochenen Krug“ von Heinrich Kleist, worin Döring noch jetzt die größten Triumphe feiert, zeigen deutlich die Spuren der Schmidt’schen originellen und stets bedeutenden Auffassung. – Auch auf dem Hofburgtheater in Wien eröffnete Döring ein mit dem glänzendsten Erfolge gekröntes Gastspiel, das jedoch zu keinem Engagement führte, da das von ihm beanspruchte Rollenfach anderweitig besetzt wurde. Unterdeß erhielt Döring, nachdem Seydelmann einem Rufe nach Berlin gefolgt war, den ehrenvollen Antrag, dessen Stelle in Stuttgart zu ersetzen. Trotzdem er noch auf mehrere Jahre in Hamburg gebunden war, entband ihn der wackere Schmidt von seinem Contract, um ihn nicht in seinem Fortkommen zu hindern. In Stuttgart gefiel zwar Döring dem Publicum, aber er selbst hatte mit manchen Theatercabalen zu kämpfen, welche ihm seinen Aufenthalt verleideten, so daß er nach Pauli’s Tod sich nach Dresden wendete, wo ihm ein lebenslängliches Engagement mit einem ansehnlichen Gehalt geboten wurde. Seine Stuttgarter Gegner hatten jedoch an den sächsischen Generalintendanten, Grafen von Lüttichau, Briefe geschrieben, worin sie vor Döring wegen seines unverträglichen und unzufriedenen Charakters warnten. Als Graf Lüttichau diesen Verleumdungen Glauben zu schenken schien und ihn deshalb zur Rede stellte, zerriß der leicht verletzte Künstler den eben unterschriebenen Contract mit den Worten: „Wenn Sie so mit mir sprechen, so zwingen Sie mich, Herr Graf, auch Ihnen meinen unzufriedenen Charakter zu zeigen.“

Vergebens eilte der gutmüthige Hofrath Winkler dem zornigen Döring nach, um ihn zu beschwichtigen. Dieser verließ sogleich Dresden und reiste nach Hannover, wohin er ebenfalls eine Einladung erhalten hatte. Hier wurde er unter glänzenden Bedingungen engagirt; sein Künstlerruf steigerte sich von Tag zu Tag, so daß der bekannte Generalintendant Herr von Küstner sich veranlaßt sah, ihn zu einem Gastspiel an der Berliner Hofbühne aufzufordern, wo Seydelmann’s Tod einen entsprechenden Ersatz dringend forderte. Zum zweiten Mal in seinem Leben sah sich jetzt Döring berufen, der Nachfolger des berühmten Seydelmann zu werden, ein Beweis seiner eigenen Künstlerhöhe. Es war jedoch keine kleine Aufgabe für ihn, das für Seydelmann[1] mit Recht begeisterte Berliner Publicum zu gewinnen. Indeß gelang dies Döring bei seinem ersten Gastspiel so vollständig, daß ihm ein lebenslänglicher Contract an dem Berliner Hoftheater angeboten wurde. Indeß erhob sich eine neue große Schwierigkeit, da der damalige König von Hannover, der bekannte Ernst August, ihn nicht aus seiner bisherigen Stellung gutwillig entlassen wollte, so dringend auch Döring ihn darum wiederholt ersuchte.

„Warum,“ fragte ihn bei solcher Gelegenheit eines Tages der König in seinem gebrochenen Englisch-Deutsch. „warum willst Du fort von mir?“

„Eure Majestät,“ erwiderte der Künstler, „ich bin ein geborener Preuße und finde in meinem Vaterlande einen größeren Wirkungskreis.“

„Dummer Kerl!“ sagte der originelle Fürst wörtlich, „ich möchte auch lieber König sein von Engeland und muß doch hier bleiben in Hannover.“

Nur durch die Verwendung einer hochgestellten Dame, welche dem Könige sehr nahe stand, gelang es endlich Döring, seinen Abschied zu erhalten. Im Jahre 1844 kam er nach Berlin, wo er bald der Liebling des Publicums wurde und zu den ersten Künstlern nicht nur der Hofbühne, sondern in Deutschland überhaupt gerechnet wird. – Döring ist der geborene Schauspieler, eine wahrhaft geniale Künstlernatur, die in ihrer Vielseitigkeit unwillkürlich an den unübertroffenen Ludwig Devrient erinnert, mit dem er auch in seiner äußeren Erscheinung und Gesichtsbildung manche Aehnlichkeit zeigt. Wie dieser tritt auch Döring in den verschiedensten Fächern, in der ernsten Tragödie und im heiteren Lustspiel, mit gleichem Erfolge und gleicher Meisterschaft auf, indem er heute den „Franz Moor“ und „Shylock“, morgen den „Falstaff“ oder den schon erwähnten „Banquier Müller“ mit hinreißendem Talente spielt. Im höchsten Grade besitzt er das erste Erforderniß des darstellenden Künstlers, die proteische Gestaltungskraft und Verwandlungsfähigkeit, unterstützt durch sein ausdrucksvolles Gesicht und ein von Jugend auf geübtes und wunderbar entwickeltes Mienenspiel. Ohne Perrücke und Schminke, ohne alle gewöhnliche Hülfsmittel vermag Döring jeden beliebigen Charakter, jede Leidenschaft sogleich, blos durch die Gewalt, mit der er seine Züge beherrscht, vollkommen wahr und überraschend auszudrücken. Mit Hülfe eines weißen Taschentuches verwandelt er sich in eine alte Frau von so täuschender Aehnlichkeit, daß man das Gemälde eines niederländischen Meisters zu sehen glaubt. In demselben Grade, wie sein Gesicht, beherrscht er auch sein Organ, besitzt er die Fähigkeit jede Stimme, jeden Dialekt nachzuahmen, den er nur einmal gehört hat. Durch diese Eigenschaften übt er schon außerhalb der Bühne im alltäglichen Verkehr einen ganz eigentlichen Zauber auf seine Umgebung und seine näheren Bekannten und Freunde aus. Man kann sich nichts Interessanteres und Amusanteres denken, als wenn Döring irgend eine Geschichte, eine ganz gewöhnliche Begebenheit erzählt. Seine Züge beleben sich dabei, seine Mienen sind in fortwährender Spannung und begleiten jedes seiner Worte in sprechender Weise; man sieht die Personen, um die es sich handelt, man hört sie reden, und verkörpert steht ihr Bild vor unsern Augen. Das alltäglichste Ereigniß erhält daher in Döring’s Mund einen dramatischen Reiz, ein eigenthümliches Leben, eine fesselnde Gewalt. So oft der Künstler in der Weinhandlung von Luther, die er, wie der große Ludwig Devrient, gerne besucht, eine kleine Geschichte erzählt, sammelt sich ein Kreis von bewundernden Zuhörern um den vollendeten Mimiker. – Auf dem Theater verbindet Döring mit den genannten Eigenschaften eine lebendige, schöpferische Phantasie und eine wahrhaft geniale Gestaltungskraft. Den darzustellenden Charakter faßt er mit einer ihm eigenthümlichen Schärfe auf, die freilich zuweilen das Maß des Schönen überschreitet und ihm den Vorwurf der Carricatur, besonders in komischen Rollen, zuzieht. Immer bleiben aber seine Schöpfungen originell und von hinreißender Wirkung, und selbst sein „Elias Krumm“ in Kotzebue’s „Der gerade Weg ist der beste“, sein „Commissionsrath Frosch“ im „Verschwiegenen wider Willen“ sind trotz der Ausstellungen einer strengen Kritik nur unumstößliche Beweise einer Genialität, wie sie kein zweiter Schauspieler in Deutschland gegenwärtig aufzuweisen hat. Sein angeborener Humor, sein natürliches Gefühl für das Lächerliche, seine scharfe Charakteristik und ursprüngliche Komik weisen ihn vorzugsweise auf das Lustspiel an, wo er auch stets die glänzendsten Triumphe feiert.

Rollen wie „Falstaff“ und „Malvolio“ in Shakespeare’s „Was ihr wollt“ sind Döring’s Meisterstücke; hier entwickelt er einen unübertroffenen Humor, ein wahres Raketenfeuer von sprudelndem Witz, von bezaubernder Laune, von hinreißender Komik. Jede Miene, jede Bewegung, jeder Blick, jedes Lächeln übt einen unwiderstehlichen Zauber auf das Publicum, und selbst ein Cato wird sich des Lachens nicht enthalten, selbst der eingefleischteste Hypochonder nicht länger finster sehen, wenn Döring auf der Bühne erscheint. Oft reicht schon seine stets charakteristische Maske, seine bloße, stumme Erscheinung hin, um einen allgemeinen Jubel hervorzurufen. Aber auch im ernsten Schauspiel und selbst in der höheren Tragödie erzielt der Künstler ähnliche, wo nicht noch größere Erfolge. Sein [456] „Nathan“ in Lessing’s „Nathan dem Weisen“, sein „Shylock“ in Shakespeare’s „Kaufmann von Venedig“, sein „Mephisto“, „Jago“, und vor Allem sein „Tischlermeister Anton“ in Hebbel’s „Magdalena“ reihen sich den vorzüglichsten Schöpfungen des deutschen Theaters an und beweisen die geniale Vielseitigkeit Döring’s.

In der Gesellschaft und im Umgange ist Döring eine der liebenswürdigsten Erscheinungen, ein heiterer, harmloser, stets zum Scherz aufgelegter Camerad, der einen Spaß versteht und gern einen zum Besten giebt, fröhlich mit den Fröhlichen, aber auch betrübt mit den Betrübten und stets bereit die Leidenden zu trösten und nach Kräften ihnen zu helfen. Der Grundzug seines Charakters ist eine fast an Schwäche grenzende Gutmüthigkeit, verbunden mit einer hohen, bei Künstlern aber nicht seltenen Reizbarkeit. Leicht erregt, ist er auch schnell wieder besänftigt und bietet dann gern die Hand zur Versöhnung. Seine Reden klingen zuweilen scharf und verletzend, aber sein Herz weiß nichts von dem, was der Mund spricht. Sein Hang zur Satire, durch sein großes Nachahmungstalent noch gesteigert, artet nie in Bosheit aus, und zuletzt lacht auch der Beleidigte über den stets zutreffenden und nie bös gemeinten Scherz. In guten Stunden und wenn er heiterer Laune ist, gilt Döring mit Recht für den besten Gesellschafter, den man in der Welt finden kann. Solche Abende, wo er beim schäumenden Champagner seinem Humor die Zügel schießen läßt und die Schleußen seiner bezaubernden Heiterkeit öffnet, werden gewiß allen seinen Freunden und Bekannten unvergeßlich sein.

Der beigegebene Holzschnitt, welcher den Künstler in der Rolle des komischen Haushofmeisters „Malvolio“ in Shakespeare’s „Was ihr wollt“ darstellt, ist nach einer trefflichen Photographie des Herrn Hofphotographen Graf in Berlin gefertigt und zeichnet sich eben so sehr durch charakteristische Auffassung als durch sprechende Aehnlichkeit mit dem Künstler aus.

Max Ring.



Ein Verleumdeter.
Von Dr. Ludwig Brehm, dem Vater.

Wer an einem stillen Maiabende durch den lieben Wald geht, begegnet oft genug, gewöhnlich wohl ohne daß er es weiß, einem der sonderbarsten Gesellen aus der ganzen Vogelwelt. Wie ein Schatten huscht in der Dämmerung an ihm Etwas vorüber, leicht und gewandt wie eine Schwalbe, rasch und zierlich wie ein Falk, und ist im Nu, vielleicht mit einer geschickten Wendung hinter einem Baum sich bergend, dem Auge verschwunden. Ich nehme es Niemandem übel, wenn er mir sagt, daß er diesen Vogel nicht kenne. Im Mai giebt es im Walde so viel zu hören und so viel zu sehen! Von den Auwäldern, in denen der Sänger Königin, die Nachtigall, ihr Hoflager aufgeschlagen hat, will ich gar nicht reden, ich habe unseren lieben Nadelwald, den würzigen, duftigen, im Sinne. Gerade ihn, ja gerade seine ärmsten Theile bevorzugt der Schattenvogel, welchen ich meine. Wer in der öden Haide oder auf ausgedehnten Schlägen beobachten will, wird ihn nicht nur sehen, sondern sicherlich auch hören; denn auch ihm wurde Klang und Stimme verliehen. Aber freilich, sein Gesang fällt nur durch seine Eigenthümlichkeit auf, und wenn die Singdrossel oder die Amsel, wenn der Mönch oder die Braunnelle, wenn Rothkehlchen oder Zaunkönig sich hören lassen, da verschwindet des armen Schelms ausdauerndes Flehen um Minne und Minnesold gänzlich dem verwöhnten Ohre. Dennoch kann es kommen, daß der aufmerksame Wanderer plötzlich überrascht stehen bleibt, weil er ein sonderbares Tönen vernimmt, welches ihn lebhaft an das Spinnen unseres Hausfreundes Hinz erinnern will. Lang gezogen und leise, abwechselnd bald wie „Oerrrrrr“, bald wie „Errrrrr“ klingend, tönt es durch den Wald, mit einer Ausdauer, die geradezu unbegreiflich scheint, weil man sich nicht denken kann, wie der eifrige Sänger inzwischen nur zu dem ihm doch unbedingt nöthigen Aufwand von Luft gelangen mag. Man geht, verdutzt fast, den sonderbaren Klängen nach, aber man muß geübt sein, wenn man ihren Urheber entdecken will. Ja, es kann kommen, daß man dicht an ihm vorübergeht, ohne ihn zu bemerken.

Der Vogel, den ich meine, ist aber durchaus nicht so unbekannt, als es nach Vorstehendem scheinen mag. Man berichtet von seinem Leben und Thaten Unglaubliches; man hat ihn schon vor Jahrhunderten in schlimmen Ruf gebracht, und, wie das Böse immer eher geglaubt wird als das Gute, alle Verleumdungen für baare Münze genommen. Ihm, welcher sein ganzes Leben nützlichen Geschäften widmet, wird Schuld gegeben, daß er sich gegen den Menschen und zwar vorzugsweise gegen den Armen sonderbare Eigenthumsvergehen zu Schulden kommen läßt. Das Alles geschah und geschieht einzig und allein aus einem Grunde, welchen sicherlich kein rechtlich Denkender billigen kann. Man urtheilt von der auffallenden Gestaltung unseres Vogels auf sein Thun und Treiben, ohne auch nur den geringsten weiteren Halt für sein Urtheil zu haben.

Viele meiner Leser haben längst errathen, daß mit Obigem ihnen der Ziegenmelker oder Nachtschatten vorgestellt werden soll. Mit diesen beiden Namen wird jener Vogel in den meisten Gegenden unseres Vaterlandes und in den wissenschaftlichen Schriften bezeichnet. Aber er trägt auch noch andere Titel, welche so recht eigentlich von jener ungerechtfertigten Mißachtung Kunde geben, zugleich aber auch von der großen Bekanntschaft, deren sich der Ziegenmelker erfreut. Nicht blos Ziegen-, Geis- und Rindermelker, oder Ziegen-, Kuh- und Milchsauger wird er genannt, sondern auch Nachtwanderer, Nachtrabe, Brillennase, Kalfater, Hexe und Pfaffe, – der verdienten Namen Tagschlaf und Nachtschwalbe nicht zu gedenken. Die Spanier schelten ihn, wie meine Söhne mich berichteten, Hirtenbetrüger, Windvater und Großmaul, und die übrigen Völker geben ihm in diesem Verhältnisse fast sämmtlich eine Menge ähnlicher Titel.

Ein so großer Reichthum an Namen hat stets seine Gründe, wenn auch dieselben nicht immer gerechtfertigt sind. Die Ziegenmelker gehören unzweifelhaft zu den merkwürdigsten Vögeln der Erde. Sie sind dasselbe unter den Schwalben, was die Eulen unter den Raubvögeln sind. Mit diesen Nachtgeistern haben sie das weiche Gefieder, das Sammtartige an den vordern Schwungfedern, die großen Augen und den weiten Rachen gemein. Der letztere aber ist verhältnißmäßig bedeutend größer als bei irgend einem anderen Vogel, und er allein ist es auch, welcher zu so schlimmen Verleumdungen Veranlassung gegeben hat. Der Rachen steht mit dem kleinen, unbedeutenden Schnäbelchen in gar keinem Verhältniß. Er öffnet sich bis hinter die Augen und ist so groß, daß er die Faust eines Kindes in sich aufnehmen könnte. Das Kinnladengelenk steht ganz nahe am Kopfende. Bei einigen Riesen der Familie kann der Rachen geradezu ungeheuerlich genannt werden; er wäre groß genug, um unseren deutschen Ziegenmelker mit Haut und Federn in sich aufzunehmen. Daß dieser Rachen zu den vielen Namen des Thieres und, wie bemerkt, zu den Verleumdungen Anlaß gegeben hat, ist leicht erklärlich. Dem mit dem Leben dieses Vogels nicht Vertrauten ist es undenkbar, wozu das Thier ein so gewaltiges Maul bedarf, und weil die liebe Phantasie ein gar geschäftiges Ding ist und den Verstand, wo sie kann, zu bemeistern und zu überwuchern sucht, mußte der Unwissende natürlich sich eine ihm zusagende Erklärung des Auffallenden ausdenken. Der weite Rachen des Ziegenmelkers ist gerade groß genug, den Strich eines Ziegen- oder Kuheuters in sich aufzunehmen, – der Vogel muß also ein Milchdieb sein; der erschreckte oder gefangene Nachtschatten sperrt entsetzt diesen Rachen vor seinem Gegner auf, so weit er kann, – und der Grund für die Schimpfnamen Hexe, Windvater und Großmaul ist gefunden; die Nachtschwalbe bleibt bei Tag so lang als möglich auf dem Boden liegen; sie wird am öftersten von den Hirten gesehen, deren weidende Schafheerden sie auftreiben; der Hirt versucht das merkwürdige Geschöpf zu fangen und wird betrogen, – hiermit ist ein neuer Titel erklärt. Selbst Humor liegt in der Namengebung. Der Name „Pfaffe“ will wahrscheinlich andeuten, wie viel schon in den Schlund Derjenigen hinabgegangen ist, welche sich Verkündiger des göttlichen Wortes nennen – ich wenigstens könnte mir sonst die Ursache nicht erklären, daß man ein so nützliches Geschöpf „Pfaffe“ schilt. Ueber die übrigen Namen brauche ich weiter nichts zu sagen, die nachstehende Beschreibung wird sie hinlänglich erklären.

[457] Alle Ziegenmelker sind echte Nachtvögel. Der erste kundige Blick auf ihr Gefieder beweist dies. Das Federkleid zeigt immer und überall düstere, nur selten halbwegs lebendige Farben, welche stets mit der Umgebung auf das Allergenaueste übereinstimmen. Nur ein geübtes Auge vermag unseren auf der Erde ruhenden Ziegenmelker und ein Stück flechtenübersponnener Baumrinde zu unterscheiden, wenn die Entfernung nicht gar zu gering ist. Schon auf zwanzig, dreißig Schritte hin verschwindet das Thier fast dem Blick. Die südlichen Arten sind sämmtlich lichter gefärbt als die unserigen, ja, in Afrika giebt es eine fast goldgelbe, welche die Steppe bewohnt und die Färbung der dürr gewordenen Grashalme trägt. Andere Arten sehen sandfarbig aus, und wieder andere gleichen der Rinde dortiger Bäume. Die Zeichnung ist bei allen Arten eine überaus zarte und zierliche. Die feinsten Wellenlinien laufen über die Federn, und nur hier und da sieht man größere Flecke, auf denen die Grundfärbung nicht unterbrochen ist.

In ihrem Betragen ähneln sich die verschiedenen Arten mehr oder weniger. Bei Tage legen sie sich zwischen hohes Gras, Haidekraut oder Gebüsch platt auf den Boden, gewöhnlich so dicht, daß ihr sonst runder Leib förmlich breit gequetscht erscheint und somit die Aehnlichkeit mit einem zufällig herabgefallenen Stück Baumrinde nur noch vermehrt. Mit Sonnenuntergang werden sie munter und zeigen sich nun in ihrem wahren Leben. Derselbe Vogel, welchen man bei Tag mit halb- oder ganzgeschlossenen Augen träge dasitzen, so zu sagen auf der Erde kleben sah, ist ein behender, rascher Flieger geworden, welcher mit den schönsten Schwenkungen und Windungen durch die Luft eilt, ganz lustig wird, komische Spiele aufführt und seinen merkwürdigen Gesang hören läßt. Die meisten Arten ähneln sich auch hinsichtlich ihrer Stimme vollkommen. Sie spinnen fast sämmtlich in der oben angegebenen Weise. Doch giebt es Ausnahmen. Ein amerikanischer Nachtschatten trägt den Namen „Whip poor Will“ zu deutsch: „Peitsche den armen Wilhelm!“ weil er Töne, die mit diesen Worten Aehnlichkeit haben, ohne Unterlaß hervorbringt. Ihre Nahrung besteht ausschließlich in Kerbthieren, und eben deshalb werden sie den Menschen nur nützlich und verdienen alle Schonung.

Wir lernen so ziemlich das Leben aller Ziegenmelker kennen, wenn wir uns mit dem Thun und Lassen der bei uns lebenden Art vertraut machen. Und deshalb will ich diese hier kurz zu beschreiben versuchen.

Der europäische oder getüpfelte Ziegenmelker hat ungefähr die Größe einer Schwarzamsel. Er ist elf bis zwölf ein halb Zoll lang, seiner großen Schwingen halber aber bis über zwei Fuß breit. An dem kleinen kurzen Körper fallen die starken Brustmuskeln auf; sie müssen aber auch gewaltige Schwingen in Bewegung setzen. Die Füße dagegen sind verschwindend klein und so wenig zum Gehen geeignet, daß der Ziegenmelker nur zu trippeln vermag. An den Zehen ist die mittlere ihres sägenartig gerandeten Nagels wegen und die innere deshalb merkwürdig, weil sie eben so wohl nach hinten als nach vorn gerichtet werden kann. Der Schnabel ist kaum zwei Linien lang und durch seine röhrenförmigen Nasenlöcher ausgezeichnet. Ein aus steifen, borstenartigen Gebilden bestehender Bart umgiebt ihn und die ganze Mundöffnung, welche dadurch vergrößert und zum Fange der fliegenden Kerfe geschickter wird. Das aschgraue Gefieder zeigt auf dem Oberkörper braune, schwarze und rostgelbe Streifen, Flecken und Tüpfel und eine äußerst feine, lichtgraue Wässerung; der Unterleib ist bis auf die weißgefleckte und bräunlich umränderte Kehle braungrau und dunkelgelb. Ueber den Kopf verlaufen zwei deutliche schwarze Längsstreifen, über die Flügel oben eine lichtere, unten eine dunklere Binde. Die drei vordersten Schwungfedern des Männchens haben einen runden, weißen, die des Weibchens einen gelben Fleck. Bei dem Ersteren zeigt auch der Schwanz auf jeder Seite einen weißen Spitzenfleck, welcher aber den Jungen noch fehlt.

Ein großer Theil von Europa ist die Heimath unseres Nachtschattens. Im Süden ist er häufiger als im Norden. Wälder, und zwar vorzugsweise mit Nadelholz bestandene, sind seine Wohnsitze. Hier zieht er die Stellen, auf denen große Bäume neben Schlägen und Dickichten stehen, allen übrigen vor. Man findet ihn übrigens nirgends häufig, sondern immer nur paarweise. Jedes Paar besitzt ein Gebiet von einer Viertel-, vielleicht von einer halben Meile ins Geviert und behauptet es hartnäckig gegen jeden frechen Eindringling. Während der Zugzeit erscheint der Ziegenmelker auch in Gärten und verweilt hier, auf einem wagerechten Aste sitzend, vom Morgen bis zum Abend. Dann setzt er seine Reise fort. Zärtlich, wie er ist, bringt er nur den warmen Sommer bei uns zu. Er erscheint spät, etwa zwischen dem fünfzehnten April und fünfzehnten Mai, und verläßt uns schon Ende Septembers wieder, um in Afrika den Winter zu verbringen. Dort traf ihn mein Sohn Alfred noch unter dem zwölften Grad nördlicher Breite als Wandervogel. Er scheint also, wie die Schwalbe, noch tiefer in das Innere Afrika’s zu gehen.

Bei Tage liegt der Ziegenmelker in der oben beschriebenen Weise auf dem Boden. Einen zufällig Vorübergehenden läßt er gewöhnlich so nahe an sich herankommen, daß man ihn erschlagen zu können glaubt, d. h. falls man ihn wirklich gesehen hat. Gewöhnlich ist das nicht der Fall. Er erhebt sich plötzlich dicht vor Einem, steigt rasch in die Luft, fliegt etwa zweihundert Schritte weit und läßt sich dann an einer anderen Stelle des Dickichts wieder nieder. Am liebsten liegt er auf ganz ebener Fläche. Tiefstehende starke Aeste, der Schaft eines umgefallenen Baumes, eine niedrige Stange oder eine alte Bank sind Lieblingssitze von ihm; immer aber wählt er seine Orte so, daß sie der Zeichnung und Färbung seines Gefieders auf das Vollständigste gleichen. Er ist sich dieser Gleichfärbigkeit mit Boden und Baumrinde so bewußt, daß er sich ganz ruhig niederdrückt und still verhält, wenn er einen herankommenden Feind rechtzeitig entdeckte, d. h. bei Zeiten wach wurde und deshalb Muße genug hat, den Fall zu bedenken. Besonders gern versteckt er sich auch unter Büsche, jedoch immer nur unter lichtere, deren Aeste nicht ganz bis auf den Boden herabreichen. Auch in der Art und Weise, wie er sich auf Aeste setzt, zeigt er etwas Eigenthümliches. Während die meisten anderen Vögel so sitzen, daß ihre Zehen den Zweig oder Ast umklammern, und ihr Körper mit dem Ast etwa einen rechten Winkel bildet, setzt sich der Ziegenmelker immer der Länge nach auf einen Ast. Der Kammnagel der mittleren Zehe und die Wendezehe mögen ihm dabei gute Dienste leisten.

Sobald die Sonne am westlichen Himmelsrande verschwunden ist, beginnt das lustige Treiben unseres Nachtfreundes. Jetzt zeigt er sich in seinem wahren Leben, und jetzt erst gewährt er jedem Thierfreunde großes Vergnügen. Gleich nach seiner Ankunft hat er sich gepaart, denn der Wonnemonat Mai ist auch für ihn die Zeit der Minne. Mit lautem „Häit, häit“ ruft das fliegende Männchen sein Weibchen herbei, klatscht, wenn er es gefunden hat, wie der liebesselige Tauber mit den Flügeln, umschwebt es im zierlichsten Reigen und setzt sich dann auf einen benachbarten Ast nieder, um dort flugs ein Stückchen an dem Liebesnetze zu spinnen, mit welchem er seine Geliebte umstricken will. Die wechselnden Laute „Oerrrrrr“ und „Errrrrr“ werden jetzt mit einer Ausdauer vorgetragen, welche des edlen Zweckes vollkommen würdig ist. Ohne Unterbrechung währt der sonderbare Gesang, und man wird versucht zu glauben, daß er den höheren Ton, wie andere Vögel, durch Ausstoßen der Luft, den zweiten aber beim Einathmen derselben hervorbringt. Mehrere Naturforscher haben dies geradezu ausgesprochen; mir ist aber ihre Ansicht aus dem Grunde nicht wahrscheinlich, weil das tiefere „Oerrrrr“ viel länger als ein gewöhnliches Einathmen dauert. Ich glaube, er schöpft Luft, ehe er den tieferen Ton ausstößt, und wechselt erst mit dem höheren Ton ab, wenn ihm der Athem knapp wird. Niemals läßt er diesen Liebesgesang im Fluge, sondern immer nur im Sitzen hören. Und wenn er damit zu Ende ist, beginnen von Neuem die Flugspiele der Liebe, das Werben durch die Künste der Schwingen von Seiten des Männchens, das Versagen auf gleichem Wege, das Sprödethun von Seiten des Weibchens.

So eintönig der Stümpergesang unseres Vogel auch sein mag, soviel Gemüthliches hat er für den Beobachter. Alte Vogelfreunde stimmen darin mit mir überein, daß das Spinnen des Ziegenmelkers zu der angenehmsten Nachtmusik gehört, welche der Nadelwald zu bieten vermag. Mein Sohn gedenkt noch heute mit freudigen Gefühlen der Nächte, welche er in den Wald- und Steppendörfern Afrikas zubrachte.

„Wenn ich des Nachts in ein afrikanisches Wald- oder Steppendorf einritt,“ sagt er in seinem Leben der Vögel. „und Alles schon zur Ruhe gegangen war, höchstens die Hunde noch bellten, um eine von fern heulende Hyäne oder einen Schakal, vielleicht auch einen Leopard oder Löwen von ihrer Wachsamkeit zu benachrichtigen, spannen die Ziegenmelker, unbekümmert um die nächtlichen Raubthiere und mich, den nächtlichen Wanderer, zwischen den [458] Häusern und auf den nächsten Büschen ruhig ihren gemüthlichen Gesang ohne Ende. Denn wenn der eine endigte, begann ein anderer, und so hörte man die Vorträge in einem fort. Und in einer Nacht war er mir besonders erfreulich: das war, als ich mich einmal verirrt hatte, mitten in einem Steppenwalde übernachten mußte, von Hyänen umheult, aber wegen des heftigen Windes kein Feuer machen konnte und mein erschreckendes Kameel zu beruhigen hatte. Als da vier bis sechs langschwänzige Nachtschatten um meine einfache Lagerstätte schwebten und mit bewunderungswerther Ausdauer ihr Gesangsstück vorzutragen begannen, da war ich getröstet ob alles Ungemachs der Nacht, denn ich wußte, daß der Morgen nicht mehr fern war und von den Sängern begrüßt werden sollte.“

Der eigenthümliche Gesang unseres Ziegenmelkers ist zugleich auch die hauptsächlichste Waffe, welche er gegen einen etwaigen Nebenbuhler – wer hätte denn solche nicht! – zu verwenden weiß. Doch kommt es manchmal auch noch zu ernsteren Thätlichkeiten. Wüthend stoßen zwei Männchen aufeinander, und gar grimmig und bösartig pfauchen sie einander an. Und wenn auch das nicht viel sagen will, sie erreichen doch ihren Zweck. Der eine schlägt den andern in die Flucht und eilt dann beglückt zu seinem Weibchen zurück, um mit diesem die Spiele der Liebe von Neuem zu beginnen. Gar artig sieht es aus, wenn dann beide Gatten neben- oder hinter einander herfliegen. Sie erscheinen noch einmal so groß als sie sind und verdienen jetzt ihren Namen Nachtschatten vollständig. Wie Gespenster schweben sie vorüber, die Flügelspitzen hoch über den Körper emporgehoben, oft auf lange Strecken hin ohne allen Flügelschlag.

Wenn der Ziegenmelker einmal munter geworden ist, kommt es ihm gar nicht darauf an, auch seinen lieben Wald zu verlassen. Er erscheint während der Nacht gar nicht selten in den Dörfern oder kleinen, nahe am Walde gelegenen Städten. So heimisch, wie in den Walddörfern Afrikas oder in den Gärten der Stadt Madrid, wird er freilich bei uns nicht, denn er kehrt immer und immer wieder nach seinem Walde zurück. Dort befindet sich ja das, was ihn am meisten zu fesseln weiß, sein Nest, oder richtiger sein Nestplatz.

Unser Ziegenmelker macht nicht besondere Umstände mit seiner Brut. Sein Weibchen legt die zwei gleichhälftigen, länglichen, glattschäligen, schwachglänzenden, auf bräunlichem oder schmuzigweißem Grunde mit erdfarbigen oder braunen Flecken bestreuten Eier ohne Weiteres auf den bloßen Boden hin. Niemals trägt er sich einen Halm oder ein Würzelchen zum Neste zusammen. Das Nest wird höchstens so angelegt, daß ihm ein dicker Baumast darüber einigermaßen zur Decke dient, d. h. dem brütenden Vogel der Tag ein paar Minuten lang Schatten gewährt. Gleichwohl liebt die Mutter ihre Brut so außerordentlich, daß sie sich beim Nest manchmal mit den Händen greifen läßt, und es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß auch für unseren Ziegenmelker die schöne Beobachtung eines amerikanischen Forschers gilt, nach welcher eine Art des dort lebenden Nachtschattens ihre Eier in den weiten Schlund nimmt und nach einer andern Stelle schafft. Die Jungen, welche nach achtzehn- bis zwanzigtägiger Bebrütung dem Ei entschlüpfen, sind mit einem langen, grauen, hier und da schwarzfleckigen Flaume bedeckt. Man findet sie nicht immer zu Zwei im Neste, denn gar oft kommt das eine Ei gar nicht auf, und die Eltern haben dann nur für einen Sprößling zu sorgen. Wenn dieser bereits im Juni vollkommen flügge und zum eigenen Nahrungserwerb geschickt genug ist, machen die Alten wohl auch zur zweiten Brut Anstalt, und dieser gehören dann die Jungen an, welche wir noch im August zuweilen finden. Sie ziehen gewöhnlich nicht mit den Alten im September, sondern erst im October von uns weg, auf gut Glück dem nahrungsreichen Süden entgegen.

Unter allen Eigenschaften des Ziegenmelkers ist seine Neugierde besonders hervorzuheben. Sie zeigt sich auf eine sehr auffallende Art. Sobald unser Vogel etwas Ungewöhnliches bemerkt, beginnt er zu rütteln, d. h. sich durch schnellen Flügelschlag oder durch eine fast zitternde Bewegung der Schwingen auf einer Stelle zu halten, um den ihm fremden Gegenstand recht in’s Auge zu fassen. Erst, wenn er seine Neubegier hinlänglich befriedigt hat, fliegt er weiter. Zuweilen wird ihm diese sonderbare Sucht verderblich. Ein schlechter Schütz z. B. dem der Ziegenmelker zu sehr Nachtschatten ist, braucht nur den einen Lauf seines Gewehrs auf ihn abzuschießen, um ihn zu veranlassen, sich zur bequemsten Zielscheibe selbst des ärgsten Sonntagsschützen zu stellen. Nach dem Schuß beginnt der Vogel sofort zu rütteln und kann dann auch ohne jede Kunstfertigkeit herabgedonnert werden. Nur ein erfahrener Ziegenmelker widersteht der Versuchung, nach einem Schusse durch Rütteln seiner Neugierde Genüge zu leisten.

Von dieser sonderbaren Leidenschaft des Ziegenmelkers erhielt ich vorigen Sommer einen mir besonders erfreulichen Beweis. Im Anfang des Juli ging ich Abends von dem benachbarten Karlsdorf nach Renthendorf zurück. Der Weg führte durch einen etwa dreißig Minuten breiten Nadelwald. Ich war kaum eingetreten, da flog ein Ziegenmelker über meinen Weg, erblickte mich, rüttelte, besah mich ganz genau, setzte sich dann auf eine wenig entfernte Kiefer nieder und begann zu spinnen. Ich mochte noch nicht hundert Schritte weiter gegangen sein, da erschien mein lieber Freund schon wieder, schwebte neuerdings über mir herum, besah mich noch einmal und flog auf einen andern Baum, wo er sein Spinnen wieder aufnahm. Ich setzte meinen Weg fort und mochte, während der Ziegenmelker unverdrossen fortspann, um 500 Schritte weiter gegangen sein. Da erschien der Vogel zum dritten Male und begleitete mich wieder ein Stückchen. Der Weg hatte mich jetzt tief in das Thal hinabgeführt und der dichte Wald meinen neugierigen Beobachter entzogen. Als ich aber den gegenseitigen Hügel heraufgestiegen und dahin gekommen war, wo der Weg wieder frei wurde, erschien auch der Ziegenmelker abermals und flog längere Zeit als gewöhnlich über mir herum, gerade, als wolle er mir sagen: „Hier ist meines Reiches Grenze, an dieser will ich Abschied nehmen.“ Er that dies denn auch und kehrte über das Thal nach seinem Brutorte zurück, wie ich aus seinem von rückwärts zu mir hertönenden Geschnurre erkannte. Im Ganzen hatte er mich über eine Viertelstunde weit begleitet.

Bald darauf sprach ich mit dem auf alle Naturerscheinungen sehr aufmerksamen Herrn Förster Spittel in Mäusebach über dieses sonderbare Betragen des mir so lieben Vogels. Herr Spittel versicherte mir zu meiner großen Freude, daß er dieselbe Beobachtung schon mehrmals gemacht und bereits schon einige Mal mit Vergnügen gesehen habe, daß ein Ziegenmelker ihm Abends das Heimgeleite gab.

Zum Schluß noch eine Bitte. Jeder Leser, welcher mit dem gezeichneten Vogel in Berührung kommen sollte, möge ihn schonen. Er ist ein außerordentlich nützliches Geschöpf, denn er verzehrt bei seiner regen Eßlust eine große Menge schädlicher Kerbthiere, besonders Käfer, Abendfalter und Nachtschmetterlinge. Seine weite Speiseröhre gestattet ihm, Kerfe von bedeutender Größe herabzuschlingen, welche die meisten andern Insectenfresser fliegen lassen müssen, weil sie dieselben nicht bewältigen können. Wenn man nun bedenken will, daß während der Nachtzeit gerade die schlimmsten Feinde unseres Waldes fliegen und außer am Ziegenmelker nur noch an den Fledermäusen verfolgungsfähige Feinde haben, wird man die Wichtigkeit jenes Vogels kaum unterschätzen.

Einer, welchen ich kurz nach Sonnenuntergang erlegte, hatte, obwohl er höchstens drei Minuten geflogen, doch schon vier Maikäfer gefangen, und bei anderen fand ich den großen Magen von diesem schädlichen Gewürm und anderen Baumvertilgern dick aufgetrieben. Der Ziegenmelker richtet unter den Abend- und Nachtschmetterlingen große Niederlagen an und verdient die Schonung, welche ihm gegenwärtig von allen einsichtsvollen Forstfreunden wird.

Merkwürdig ist, daß der Vogel die lebenskräftigen Käfer herunterschlingt, wie sie ihm vor den Rachen kommen. Ich habe einen erlegt, welcher eine noch sehr muntere Nonne in seinem Rachen hatte.

Zahm gehalten macht der Ziegenmelker dem Besitzer wenig Freude, weil er fast immer mit dem Vorderkörper auf dem Boden des Käfigs liegt und wegen seines schlechten Ganges nicht herumspaziert. Wenn man ihn zum Zorn reizt, sperrt er den Rachen auf und pfaucht wie eine Schleiereule. Er hält sich auch bei dem besten Futter, welches man ihm nur mit größter Mühe beibringt, in der Gefangenschaft selten länger als eine oder zwei Wochen.



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Eine schlimme Stelle des menschlichen Körpers.

Diese schlimme Stelle unseres Körpers, – welcher ein ruhiger und verständiger Leser nach Durchsicht dieser Zeilen erst dann besondere Aufmerksamkeit schenken wird, wenn’s wirklich Noth thut, und nicht, wie der krankheitssüchtige Angstmichel, bei jedem leisen Bauchknippe, – sie befindet sich rechts unten am Bauche, dicht über der Schenkelbeuge und wird vom Arzte Blinddarmgegend genannt. Als eine schlimme bezeichnen wir diese Stelle, weil hier ebenso in der Bauchwand, wie hinter und unter dieser in Organen der Bauch- und Beckenhöhle Krankheiten auftreten können, die, wenn sie mit hartnäckiger Verstopfung und heftigem, beim Drucke sich steigerndem Schmerze in der gespannten oder geschwollenen Blinddarmgegend einhergehen, von Bedeutung sind und einer sehr genauen ärztlichen Untersuchung bedürfen.

Der gedanken- und urtheilslose Leser wird hiermit gebeten, sich von dem eben Gesagten die Worte „Schmerz in der gespannten Blinddarmgegend und hartnäckige Verstopfung“ gefälligst einprägen zu wollen, damit er nicht schließlich jedes seiner Unterleibsleiden für eine gefährliche Blinddarmgegend-Krankheit ansieht und sich unnützerweise abängstigt. Denn kaum zu glauben ist es, wie theils kurz-, theils schwarzsichtig von vielen Lesern diese populär-medicinischen Aufsätze gelesen werden. Schreibt man von Mattigkeit in den Beinen und Druck im Halse, so sieht sich Mancher nächstens schon an Rückenmarksdarre und Kehlkopfschwindsucht zu Grunde gehen. Ist bei Schwächezuständen die Milch als das unentbehrlichste Stärkungsmittel angegeben, so trinkt trotzdem ein schwächlicher Leser statt Milch das früher gegen ganz bestimmte Leiden, aber niemals zur Stärkung empfohlene heiße Wasser und schimpft auf dasselbe, wenn er sich dadurch nicht bald gekräftigt fühlt. Wird vor dem Mißbrauche des kalten Wassers und des Turnens bei gewissen Zuständen gewarnt, so geräth der Kaltwasser und Turnfanatiker außer sich und meint, das kalte Wasser und Turnen sollten als Gifte ganz und gar von der Erde vertilgt werden. Räth man einem an häufigen Rheumatismen oder Brustbeschwerden leidenden ältern Herrn das Tragen eines Unterjäckchens an, so wird man von jungen, zur Zeit noch gesunden und kräftigen Abhärtungsrenommisten mit den Worten angefahren: „Wollen Sie denn nicht lieber gleich die ganze Menschheit in Flanell einnähen lassen?“ Ach wenn der Mensch in der Schule außer vieles unnütze Andere doch auch denken lernte!!!

Was nun zuvörderst unsere obenberührte Bauchwand in der Blinddarmgegend betrifft, so hat diese ein Paar offene Stellen, durch welche Theile aus der Bauchhöhle (Darm, Netz) herausrutschen und durch ihre Einklemmung Gefahr bringen könnten. Man pflegt solche Ortsveränderungen von Baucheingeweiden „Bruchschäden“ zu nennen, und jene Austrittspforten heißen „Leisten- und Schenkelcanal“; der erstere zieht sich von außen und oben schräg, oberhalb und in der Richtung der Schenkelbeuge nach innen herab, während der letztere gerade in der Mitte der Schenkelbeuge seine Lage hat. Schmerzhafte Anschwellungen im Bereiche dieser Canäle, zumal wenn sie von Verstopfung begleitet sind, müssen zum sofortigen Herbeirufen eines Arztes, der zu untersuchen versteht, auffordern. In solchen Fällen kann gar nicht genug vor homöopathischen Heilkünstlern gewarnt werden, da diese durch ihr Nichtsthun schon manchmal den Brand des eingeklemmten Bruches und so Tod des Kranken veranlaßten. Uebrigens kommen an den genannten Stellen auch schmerzhafte Anschwellungen vor, welche keine Bruchschäden zu sein brauchen und demnach eine ganz andere Behandlung verlangen. Es könnten nämlich erkrankte (äußere oder innere, oberflächliche oder tiefe) Leistendrüsen oder auch Eitersäcke sein, welche letztere mit einer Vereiterung von Muskeln (Schenkelbeugern) innerhalb der Bauchhöhle in Verbindung stehen. Bisweilen führt sogar ein wassersüchtiger Schleimbeutel am Hüftgelenke den Arzt irre, und so kann es recht leicht kommen, daß Anschwellungen in der Blinddarm-Leistengegend falsch beurtheilt werden und zwar gar nicht selten zum großen Nachtheile des Patienten. Darum hinaus mit jedem Arzte, der bei dergleichen Uebeln nicht die scrupulöseste Untersuchung vernimmt!

Denken wir nun die Bauchwand weg und uns in die Bauchhöhle hinein, so fällt sofort ein ziemlich weiter, kuglig-sackförmiger Darm in die Augen, an dessen blindem Grunde ein regen- oder spulwurmähnliches, blind-endigendes, 1–5 Zoll langes Darmröhrchen hängt. Jener Darm ist der Blinddarm und dieses Anhängsel der Wurmfortsatz. Ein Stück höher oben am Blinddarme ist die Stelle, wo der vom Magen herkommende und mit einer Klappe versehene Dünndarm in den Dickdarm übergeht.

Der Wurmfortsatz, dessen Zweck noch ganz unbekannt ist und der an seiner Einmündungsstelle in den Blinddarm durch eine Klappe von verschiedener Größe mehr oder weniger vollständig verschlossen werden kann, hat eine nur geringe Weite, so daß bloß fremde Körper von kleinem Umfange (Kirschkerne, Erbsen, Linsen, Gerstenkörner, Kothsteine) in denselben eintreten können. Leider geschieht dies nun aber gar nicht so selten und ist insofern mit Gefahr verbunden, als dadurch eine sehr heftige Unterleibs- (Bauchfell-)Entzündung hervorgerufen werden kann. Da nun eine Entfernung des fremden Körpers aus dem Wurmfortsatze von Seiten des Arztes, selbst wenn dieser die Gegenwart eines solchen Körpers mit Gewißheit erkennen könnte, durchaus nicht möglich ist[WS 1], so muß ein vorsichtiger, sein Leben und seine Gesundheit liebender Mensch sich vor dem Verschlucken kleiner fremder fester Körper, die in den Canal des Wurmfortsatzes einzutreten im Stande sind, hübsch in Acht nehmen. So ist es eine sehr üble Angewohnheit, beim Kirschenessen die Kerne mit zu verschlucken; ebenso hat der Genuß von nicht enthülsten durchgeschlagenen Hülsenfrüchten seine Nachtheile. Denn abgesehen davon, daß die unlöslichen Hülsen dieser Früchte (Linsen, Erbsen) die Verdauung dieser Speisen bedeutend erschweren, so daß sich dieselben gewöhnlich zum größten Theile unverdaut, also ohne Nahrungsstoff geliefert zu haben, mit dem Stuhle wieder aus dem Körper entfernen, so häufen sich derartige Nahrungsmittel auch sehr gern im Blinddarme an, dringen zum Theil in den Wurmfortsatz ein, und können so in diesen Theilen nicht unbedeutende Leiden erzeugen. Auch tragen kleine verschluckte harte Gegenstände zur Bildung von Kothsteinen bei und zwar insofern, als sie den Mittelpunkt abgeben, um welchen sich zwiebelschalenartig harte Kothschichten anlagern. So fand man als Centrum von Kothsteinen verschluckte falsche Zähne, Goldklümpchen aus plombirten Zähnen, ein Stückchen Schweinsborste aus der Zahnbürste, Kerne von Beeren, Haferspelzen u. s. w.

Der Blinddarm oder das Cöcum, welches durch sehr lockeres Zellgewebe an die unterliegende Muskelbinde angeheftet ist, wird sehr häufig der Aufenthaltsort von großen Massen größtentheils unverdauter, eingedickter und verhärteter Nahrungsmittelreste (Kothballen) sowie von sogenannten Darm- (oder Koth-)Steinen, (Conglomeraten unverdaulicher Stoffe), die bis zu 29 Loth Schwere gefunden wurden. Auch setzen sich hier sehr gern verschluckte spitzige Gegenstände fest und bahnen sich später durch die Darm-, und Bauchwand hindurch einen Weg nach außen. Die erwähnten im Blinddarme angehäuften Massen, die sich gewöhnlich auch durch die Bauchwand hindurch fühlen lassen, erregen nun häufig eine Entzündung des Blinddarms und zwar am häufigsten bei Personen, die neben Beeinträchtigung der Verdauung eine sitzende, den Leib zusammenpressende Lebensweise führen, und bei denen deshalb die Thätigkeit der Darm- und Bauchmuskeln verringert ist. Am meisten wird aber die Verdauung beeinträchtigt und dadurch Blinddarmstopfungsmatertal geliefert, wenn zu viel Unverdauliches genossen wird und wenn feste Nahrungsstoffe nicht gehörig zerkaut oder zu schnell aus dem Magen (in Folge von Reizung desselben durch starke Spirituosa) herausgetrieben werden. Wer demnach einer Blinddarmentzündung in Folge von Ueberfüllung des Blinddarms mit Kotmassen entgehen will, der genieße nicht zu viel unverdauliche Stoffe und zerkaue die verdaulichen festen recht ordentlich, auch treibe er die Bewegung des Verdauungsapparates (des Magens und Darmcanals) durch Reizmittel nicht widernatürlich an, wohl aber kräftige er durch Turnen die Darm- und Bauchmusculatur.

Hat sich nun aber eine Blinddarmentzündung entwickelt, so läßt sich dies erkennen: durch eine gespannte Auftreibung der Blinddarmgegend oder auch des ganzen Bauches; durch das Fühlen eines festen, anfangs noch verschiebbaren, flach rundlichen Klumpens in jener Gegend; durch den hier festsitzenden, bald dumpfen bald sehr lebhaften, bei Druck und Bewegung heftiger werdenden Schmerz; durch hartnäckige Verstopfung, bisweilen mit Durchfall abwechselnd oder sogar mit Erbrechen verbunden. Bei höheren Graden und schnellerem Verlaufe dieser Entzündung fiebert der Kranke und fällt ziemlich schnell zusammen, während bei langwierigem Verlaufe zeitweilige [460] Besserung und wiederkehrende Verschlimmerung eintritt. – Fällt ein solcher Patient in die Hände eines mittelsüchtigen Heilkünstlers, dann fängt die Cur mit Setzung einer tüchtigen Anzahl von Blutegeln auf die Bauchwand vor dem Blinddarme an, obschon die Stelle, wo die Blutegel saugen, in gar keiner Verbindung mit dem entzündeten Darme steht und das Geld für dieses unnütze Viehzeug so gut wie zum Fenster hinausgeschmissen wird. Daß man nach Application dieser Blutsauger öfters Besserung wirklich eintreten sah, liegt darin, daß der Arzt sofort nach der Blutegelung fortwährend recht warme Breiumschläge auf die geschwollene und schmerzende Stelle machen läßt. Und diese Umschläge sind es eben, welche heilsam wirkten, obschon sie allein auch nicht zur baldigen Heilung hinreichen, denn dazu sind häufige Klystiere (von einer größern Quantität warmen Wassers mit Oel oder Stärke) ganz unentbehrlich. Sie müssen alle 2 bis 3 Stunden, aber so geschickt applicirt werden, daß sie auch gehörig hoch in den Darm hinauf gelangen und den kranken Blinddarm wirklich erreichen. Das bringt aber die gewöhnliche Hausklystiererei (zumal mit Clyssopompen) nicht fertig, und darum muß hier eine geübtere Hand sich der Operation unterziehen. Natürlich betrachtet der echte Prakticus das unbequeme und der Apotheke nicht entsprossene Klystier mit Verachtung und geht der Blinddarmverstopfung mit seinen Abführmitteln (Calomel, Ricinusöl, Sennaaufguß, Latwerge und abführende Mineralwässer) nicht direct und von unten, wie’s durch das Klystier auf rationelle Weise geschieht, sondern indirect von oben und unter Mißhandlung des Magens und Dünndarms zu Leibe. Von Glück hat dann aber der auslaxirte Patient zu sagen, wenn seine Blinddarmbauchgegend nicht auch noch mit Einreibungen (von Quecksilbersalbe), Pflastern und Jodbepinselungen maltraitirt wird. Der homöopathische Heilkünstler bekämpft die Blinddarmentzündung hauptsächlich mit Aconit und Belladonna; das letztere Mittel ist aber nach Herrn Sanitätsrath Lutze hier vorzuziehen, da Aconit vorzugsweise ein links- und Belladonna ein rechtswirkendes Heilmittel ist. Unsinn!

Wenn nun der Leser meint, daß es mit den ausgeführten Leiden in der Blinddarm-Gegend genug sei, so irrt er sehr, denn außerdem kommt hier noch eine nicht etwa gering zu achtende Entzündung (Perityphlitis) des lockern Zellgewebes, welches den Blinddarm mit seiner hintern Fläche an die Beckenwand anheftet, sowie eine typhöse, tuberculöse und carcinomatöse Entartung im Darme vor, auch sind in der Blinddarmgegend zuweilen Darmeinschiebungen, sowie beim weiblichen Geschlechte noch Ovariumkrankheiten auzutreffen. Kurz, es giebt wohl keine Gegend in unserem Körper weiter, die von so vielen verschiedenen Uebeln heimgesucht werden kann, als die besprochene. Alle diese Uebel braucht nun aber der Leser nicht näher kennen zu lernen; er möge mit den Winken zur Verhütung und Heilung der Blinddarmentzündung zufrieden sein und lasse sich nochmals als Haupterfordernisse bei fast allen diesen Leiden „reichliche warme Klystiere und einen genau untersuchenden Arzt“ empfohlen sein.

Bock



Ein Ausflug in’s Teufelsmoor.
Von J. G. Kohl.

Mit dem Namen „Teufelsmoor“ bezeichnen die Geographen auf unsern Landkarten einen beinahe acht Quadratmeilen großen Moorstrich, der ungefähr die Mitte des Herzogthums Bremen ausfüllt und ehemals eine zusammenhängende Wildniß gebildet haben mag, jetzt aber durch die eingedrungene Cultur und die ihm nun einverleibten Dorfschaften und Ackerfluren in eine Menge einzelner Moorstriche zerlegt ist, deren jede ihren besonderen Namen trägt.

Im Lande selbst wird der Name „Teufelsmoor“ (oder Düvelsmoor) kaum mehr in dem weiten Sinn, in welchem er auf den Landkarten erscheint, gebraucht. Vielmehr hört man die Leute nur immer von dem „Wallhofer Moor“, dem „Gieler Moor“, dem „Wilster Moor“, dem „Gnarsenberger Moor“ und den andern kleinen Moorabschnitten sprechen. Es geht bekanntlich in der Welt überall so, daß die großen, weltumfassenden geographischen Namen nur in der Ferne bekannt sind, während an Ort und Stelle Localbenennungen gelten. Der Name „Düvels-Moor“ ist jetzt im Lande selbst nur noch einem Dorfe, das ungefähr in der Mitte der ganzen Moorgegend liegt, eigen geblieben.

Am Eingange zum Teufelsmoor im Thale der Hamme, eines Flusses, der in die Weser mündet, liegt ein kleines Sandgebirge, der sogenannte „Weiherberg“, den aber das Volk kurzweg „Up’r Wehe“ (Auf der Wehe) nennt. Der höchste Gipfel dieser Düne soll 350 Fuß über dem Meeresspiegel liegen. Es ist die höchste Anhöhe weit und breit, und sie ist im morastigen Herzogthume Bremen so berühmt, wie der Blocksberg in Norddeutschland. Die Mythe sagt, daß ein „Hüne“, den Sand verstreuend, im Lande umhergewandelt sei, und jene Düne am Eingange des Moores aufgebaut habe, wie der griechische Hercules seine berühmten Felsensäulen am Thore des mittelländischen Meeres.

Die Abhänge und sanftgewölbten Rücken dieses kleinen Sandgebirges sind in das Gewand eines schönen, reichen Kornfeldes gehüllt, auf dem unangebauten Gipfel wurzelt ein kleiner Fichtenwald, in dessen Mitte sich eine Pyramide aus Granitsteinen, ein Monument für den größten Wohlthäter des Teufelsmoors, erhebt. Sie ist dem Andenken des wohlbekannten Herrn Findorff gewidmet, der im vorigen Jahrhundert zuerst mit Nachdruck und Erfolg die dem bösen Geist gewidmete Wildniß bekämpfte, in dem wüsten Bezirke die lieblichsten Oasen voll wohlhabender Dörfer und lachender Feldmarken schuf, und, ein zweiter „Hüne“ oder Hercules der Neuzeit, diesen Augiasstall, wenn auch nicht völlig, doch in verschiedenen Richtungen ordnete und ausputzte.

Von diesem hochgelegenen Monumente aus, das ich an einem schönen, hellen Juliabende bestieg, konnte ich die ganze interessante Gegend, die ich am folgenden Morgen durchpilgern wollte, weit hin überschauen. Die Niederung, in welcher das Teufelsmoor aufgewachsen ist, läßt sich als eine mehrere Meilen breite Kluft zwischen zwei Haide- oder Geestrücken bezeichnen, deren Ränder ich von meinem Standpunkte aus sowohl im Osten, als im Westen, wie eine Reihe niedriger Hügel sich hinziehen sah. Auf diesen Hügeln und so auch auf dem breiten Landrücken, dessen Ränder sie sind, giebt es kein Moor. Dagegen ist der ganze Zwischenraum damit angefüllt.

Der „Weiherberg“, der, wie gesagt, wie eine Art Riegel vor dem Eingange des Thales oder Kessels liegt, trug vielleicht selbst dazu bei, in dieser Mulde die trägen Gewässer aufzustauen und den Morast zu veranlassen. Jahrhunderte lang schlugen sich aus dem stockenden Wasser die Binsen, Riedgräser, Sphagnen und andere saure Sumpfpflanzen nieder, vermoderten und verweseten unvollkommen, häuften sich aufeinander, schwängerten sich mit allerlei vegetabilischen Auslaugungen und füllten so den ganzen Thalkessel mit einer 10 bis 20 Fuß dicken schwammigen, schwarzen Torfmoorschicht, einem „Hochmoor“.

Die Flüsse haben sich nachher durch diesen schwarzen, dickflüssigen Suppenbrei wieder Wege und Canäle ausgebahnt, haben zu beiden Seiten den Torf eine englische Meile weit weggerissen und in solchen schwimmenden Stücken, wie sie kurz nach Christi Geburt Plinius in der Weser treiben sah, in’s Meer hinausgeführt. Dadurch sind mitten in der Moorgegend breite bis auf den Untergrund ausgeschnittene Rillen entstanden, die jetzt mit Gräsern und Schilfen bestanden sind, und welche die Leute im Gegensatz zu dem braunen Hochmoore „das Grönland“ (das grüne Land) nennen.

Diese grünen, langgestreckten Schilf- und Grasniederungen, durch die sich viele Canäle und Flußarme ziehen, sind an dem Hauptflusse des Teufelmoores, der Hamme, wohl eine Stunde breit. Ich konnte sie vom Weiherberge aus wie grüne tief eingelegte Bänder weithin verfolgen. Zu beiden Seiten derselben erhebt sich das Hochmoor mit ödem Scheitel und vom Grabscheit des Menschen vielfach zernagt und zerarbeitet. Seine braunen melancholischen Flächen erstreckten sich vor meinen Augen weitin und verloren sich nach Bremervörde und den Elbgegenden zu im Nebel des Horizonts. Und als dritte Landesabstufung erhoben sich dann, wie schon gesagt, zu beiden Seiten des nackten Hochmoores, jene noch etwas höheren, hügligen und sandigen Geestränder, hie und da

[461] besetzt mit kleinen Hainen und Gehölzen, die aber mir jetzt nur wie grüne Flecken auf dem gelben Sanduntergrunde erschienen.

Von meinem Hügel, an dessen Abhange ich in einem kleinen Dorf-Hotel übernachtete, machte ich mich am andern Morgen in Begleitung eines der Wege kundigen Eingeborenen in besagtes Labyrinth von grünen, gelben, schwarzen Landparzellen und schimmernden Wasserstreifen hinaus, um mir die Sache mehr in der Nähe anzusehen.

Eine Zeit lang verschaffte uns noch der von den Weiherdünen aus im Lande verbreitete Sand trockene Füße und Wege. Bald aber kamen wir in das wässerige „Grünland“ hinab und waren dann genöthigt, uns nach einem Schiffe umzusehen. Wie in Nordamerika alle Ansiedelung mit einer Eisenbahn, so fängt hier in diesen Mooren aller Anbau, jedes Dorf mit einem Canale an. Ein Canal muß vor allen Dingen zuerst von dem Hauptflusse aus in den Busen des Moores hineingeschnitten werden. Er giebt den Zusammenhang mit der übrigen Welt. Auf ihm wird es möglich, den zu beiden Seiten abgeschnittenen Torf zu versenden und zu verwerthen und dadurch dem Colonisten eine Existenz zu verschaffen. Anfänglich ist die ganze Ansiedelung nichts als so zu sagen ein Torfbergwerk, zu dem der Canal den Hauptschacht abgiebt. Je mehr dieses Bergwerk vorwärts und zu den Seiten sich in die Masse einfrißt und den Torf bis auf den Unterboden abarbeitet, desto mehr Wiesen und Ackerfelder kommen an den Tag, und desto reicher und blühender wird das Dorf.

Wir erreichten einen solchen Canal, an dessen Ufern schon viele Ansiedler saßen, überredeten einen derselben, der eben daran wollte, sich zu rasiren, diese Operation zu verschieben, sogar auch seinen anderthalb Zoll dicken Buchweizenkuchen, der schon in der Pfanne zum Imbiß für ihn schmorte, im Stiche zu lassen und sofort mit uns in’s Schiff zu springen, um uns dem auf der andern Seite des „Grünlandes“ liegenden Orte Teufelsmoor zuzuführen.

Ein Moordorf im Teufelsmoor.

Wir fuhren eine Stunde lang aus einem Canale in den andern durch verschiedene Flußarme, lauter kaffeebraune Gewässer ohne Sand und Grand, ohne die von den Dichtern besungenen Bachkiesel, auf lauter Moorgrund fließend, wie sie hier in dem Teufelsmoor nicht anders üblich sind, und durch dichte Gras-, Ried- und Schilfwälder, unter denen überall der braune Spiegel der Moorwasser-Ueberschwemmung hervorschimmerte, und bekamen so endlich das besagte am Rande des Hochmoores gelegene Dorf in Sicht.

Es bot uns Heranschiffenden eine gar anmuthige Front dar, schöne, weitläufige Gehöfte und von Wohlhäbigkeit schimmernde Bauernhäuser unter dem Schatten eines Eichenhaines und mit künstlich geschaffenen Wiesengründen, die zu unseren Grünlandsümpfen hinabfielen und mit Geflügel und Vieh bedeckt waren. Es waren die Besitzungen einiger der ältesten und daher reichsten Colonisten.

Das Land pflegte bei dem Beginne solcher Moorcolonien billig zu sein und als Lockspeise freigebig verschenkt zu werden. Die ersten Anbauer schnitten sich aus dem wüsten Hochmoore die Morgen bei Hunderten heraus. Sie waren trotzdem nicht reich, aber ihre Nachkommen wurden es, da allmählich Alles zugänglicher, besser genutzt und höher verwerthet wurde. Die großen Grundbesitzer konnten zuletzt mit ihren Knechten nicht alle Arbeit, für die sich Aussicht eröffnete, mehr leisten. Sie siedelten daher auf ihren weitläufigen Ländereien Hintersassen oder sogenannte „Achtermeier“ an, die ihnen dafür 12 Tage im Jahre, – d. h. eben so viel Tage, als der Bauer dem Edelmann in der Moldau frohnt, – arbeiten mußten. Und die anfänglich so dürftig sich durchbringenden Torfcolonisten saßen daher am Ende wie vornehme Lehnsherren auf ihren Gehöften.

Die Dinge, nachdem sie einmal in Gang gekommen waren, schritten am Ende so schnell fort, daß jetzt auch schon jene „Achtermeier“ wieder reich und unabhängig geworden sind. Ja sie sind nun sogar bereits mehr eine Last, als eine Hülfe für ihre bäurischen Lehnsherren. Die Verhältnisse haben sich so rasch verändert, daß, was vor 50 Jahren sehr vortheilhaft erschien, jetzt höchst onerös geworden ist. Damals z. B. bekamen die Achtermeier die Erlaubniß, eine Anzahl Kühe auf ihres Lehnsherrn Weide zu treiben und dafür einen Thaler per Kuh zu entrichten. Jetzt aber sind die Weiden und Viehzuchtproducte so werthvoll geworden, daß dieser stipulirte Thaler per Kopf um das Zehnfache hinter dem, was man heutzutage fordern würde, zurückbleibt und natürlich den Grundherrn drückt.

Wir besahen uns einige dieser schönen reichen Gehöfte, die [462] aus dem unwirthlichen Schooße des Moores hervorgewachsen sind, und setzten dann unsere Reise durch das sogenannte „Niederende“ und „Oberende“ fort. Dies sind die Benennungen der beiden Hauptabtheilungen der weitläufigen Colonie, und die Prediger dieser Gegend pflegen, wenn sie auf der Kanzel das Teufelsmoor zu erwähnen haben, diesen unchristlichen Namen ganz zu umgehen. Sie nehmen das Wort nicht in den Mund und bezeichnen ihre Leute nur als „die vom Niederende“ und „die vom Oberende“. Die Regierung und ihre weltlichen Behörden geniren sich dagegen in dieser Beziehung nicht und gebrauchen in ihren officiellen Erlassen den hergebrachten Namen. Das Volk hat diesen Namen sogar noch weiter hin benutzt und unter andern das Wort „de Düvelsmöörschen“ daraus abgeleitet, mit welchem in der That schreckhaften Namen die Einwohner der Gegend selber bezeichnet werden.

Hinter dem sogenannten „Oberende“ der Düvelsmöörschen kamen wir auf einen Abschnitt des noch fast völlig uncultivirten und wilden Hochmoores hinaus. Es war das sogenannte Wallhöfer Moor, das sich drei Stunden weit wie ein wüstes Plateau vor uns ausdehnte. Obgleich wir mitten in der schönsten Jahreszeit dort waren, in der Alles umher, was nicht Moor war, grünte und blühte, und in der alle Gebüsche vom Gesange der Vögel erklangen, so war doch auf diesem Plateau Alles todt und öde, als wäre es der tiefste Winter.

Vögel giebt es da nicht, weil kein Gebüsch und keine Gelegenheit zum Nesterbau vorhanden ist. Keine Lerche jubelt in den Lüften. Selbst Fuchs und Hase können in diesen Sümpfen nicht wohnen und leben. Obgleich die Sonne lieblich strahlte, stolperten wir in Wasserstiefeln auf tiefen schmutzigen Morastwegen wie im trüben November. Die Oberfläche war überall mit verschiedenen Sorten schmieriger und schwammiger Moose bewachsen. Wir konnten uns einbilden, es wäre ein riesiger verfaulter, auf der Erde hingestreckter Baumstamm, auf dessen todter Rinde wir wie kleine Käfer kröchen.

Obgleich man im Grunde genommen sich auf dem Rücken einer Niederung befindet, so hat man doch den Eindruck, als wandele man auf einer hoch erhabenen Anhöhe. Solche Oeden sahst Du zuvor nur an den Enden und Gipfeln der Erde, auf dem Rücken der Hochgebirge und dicht unter dem Wolkenschleier. Auch mag der weite Blick, der sich über die unbegrenzte Fläche eröffnet, dazu beitragen, diese Illusion zu unterstützen. Sie wird dadurch noch vollkommenet, daß die Leute auch den Rücken dieses Hochmoores mit einer Anzahl armseliger Hütten bedeckt haben, die an die Sennhütten der Schweizer Alpenhöhen erinnern.

Wie in der Schweiz die Hirten auf „die Alm,“ so ziehen hier im Teufelsmoor im Frühling die Torfarbeiter auf’s Hochmoor, um ihren Torf zu ernten. Aus Strauchwerk und Torferde bauen sie sich temporäre Wohnungen, die das Primitivste von menschlichen Wohnungen sind, was man sehen kann, und in der Dürftigkeit ihrer Ausstattung noch unter den Sennhütten stehen. „De Huttens“, so nennen sie diese Sommerwohnungen des Hochmoores, sehen aus, wie alte vermooste Strohdächer, die man vom Hause abhob und auf den Boden stellte. Die Leute beziehen sie schon ganz früh im Frühling am Ende April oder Anfang Mai, wo ihre Torfarbeiten beginnen. Es sind die ärmeren Bewohner entlegener Dörfer, die wenig eigenen Grundbesitz haben, und die den großen Grundeigenthümern kleine Abschnitte des Moores abpachten oder abkaufen und diese dann für sich ausbeuten.

Da im Moore nichts Eßbares wächst, ja nicht einmal ein trinkbares Wasser träufelt, so müssen sie sich ihre Lebensmittel mitbringen, und diese sind besonders im Verhältniß zu der schweren Arbeit unsolide genug. Ihre Frauen gießen ihnen zu Hause die im Laufe der Woche gewonnene Buttermilch in ein Faß, backen Schwarzbrod dazu und verproviantiren damit ihre Männer auf dem Hochmoore. Die Buttermilch, wie man sich denken kann, macht allerlei Gährprocesse durch, sprengt zuweilen wie Champagner die Gefäße, und muß doch zum Frühstück wie zum Abendessen getrunken werden und auch zu Mittag statt der Suppe gelten.

Diese Hüttenwirthschaft in den Hochmooren scheint so trost- und freudlos, wie der Anblick der Hochmoore selbst. Von Festen und von irgend einer Art von Naturfeier unter den Leuten habe ich bei den Bewohnern der „Huttens“ nicht gehört. – Auch hat dasselbe kein Zweiglein eigenthümlicher Literatur oder Volkspoesie erzeugt, wie das Sennenleben in den Alpen. Die Beschäftigung der Leute ist so schwer, so einförmig und so unappetitlich, wie die Sclavenarbeit der Neger in den Diamantenwäschen Brasiliens.

Den ganzen Tag bewegen sie sich schleichend und mühselig im kalten schwarzen Sumpfe. Da stehen sie auf plumpen schwerfälligen Holzschuhen postirt in tief ausgehöhlten Gräben, in denen sie die träufelnden Morastschollen lösen, um sie 10 oder 12 Fuß hoch auf die Oberfläche hinaufzuschwingen. Oben fangen ihre Helfershelfer die übelriechenden Moderbrocken mit eisernen Gabeln auf und packen sie auf Schiebkarren, um sie zu einem geebneten Platze zu transportiren, auf dem sie weiter verarbeitet und geformt werden sollen. Die Räder der Karren sind dabei, um das Einsinken zu vermeiden, mit dichtem Strohgeflechte umwunden, und zuweilen die Füße der Arbeiter desgleichen.

Auf dem „Lagerplatze“ wird der ganze Brei gleichmäßig ausgebreitet, und hier beginnt dann das „Petten“ (das Treten). – Der Torf, wenigstens die beste Sorte desselben, der sogenannte „Backtorf“, muß wie das Brod geknetet oder wie die Trauben gekeltert werden. Die armen Düvelsmöörschen gebehrden sich dabei, wie die Traubenfaßtreter am Rhein. – Stunden lang treten und tanzen sie mit bloßen Füßen in dem Teige herum, um ihm größere Compactheit und gleichmäßige Dichtigkeit mitzutheilen. Es ist der schwerste Theil ihrer schwierigen Arbeit.

Zuweilen trifft es sich, daß noch im Mai starke Nachtfröste eintreten und dabei der ganze Brei sich mit einer Eiskruste bedeckt. Diese Kruste haben sie dann nicht selten am andern Morgen bei der Fortsetzung ihres Knetens mit den bloßen Füßen zu durchbrechen, und dabei fallen oft genug Verwundungen vor, und sicher noch öfter treten Gicht, Rheumatismus, Podagra und andere Gliederleiden ein. Man sagte mir, daß man sich bisher vergebens bemüht habe, diese Arbeit durch Maschinenkraft oder durch Thiere verrichten zu lassen, und daß nur der Mensch sie gut zu Stande bringen könne. Selbst lederne Fußüberzüge oder Stiefeln, die den Meisten ohnehin zu kostspielig sein würden, sollen dem Zwecke des Knetens hinderlich sein. Es gehört der nackte, gelenkige menschliche Fuß mit seinen fünf Zehen dazu.

Nach dem „Petten“ wird die ganze zerarbeitete Masse auf dem Lagerplatze ausgeebnet wie ein kolossaler Kuchen, einen halben preußischen Morgen groß und von der Dicke, von welcher die Torfstücke werden sollen. Mit breiten Holzschuhen springen sie nun hinauf, treten den Brei nieder und bearbeiten ihn auch noch mit Bretern und Schaufeln ganz glatt und eben. Bevor sie diese Masse in solche Stücke, wie sie gewünscht werden, von der Form und Größe unserer Ziegelsteine, zerlegen, machen sie eine Pause von ein paar Tagen, damit der Brei einige Consistenz gewinne. Diese Zwischenzeit muß je nach dem Zustande der Witterung abgemessen werden. Ist die Masse noch zu weich, so würde die Zerlegung nichts helfen. Alles würde wieder in einander verfließen. Wollte man damit aber zu lange warten, so würde der ganze Kuchen anfangen sich zu zerspalten und von langen Rissen durchsetzt werden.

Das Zerlegen geschieht in zwei Tempos. Zuerst werden Längslinien hindurchgeschnitten in einem Abstande von 9–10 Zoll, so lang jedes einzelne Torfstück werden soll, und auf diese Weise das Ganze in „Bänke“ zertheilt. Nach einer abermaligen kleinen Pause von ein paar Tagen, damit die Schnitte etwas vernarben, schreitet man dann zu den Querschnitten, die in den engeren Abständen der Breite der Torfstücke gemacht werden. Und so sind denn diese – der Form nach – fertig und können zum völligen Ab- und Austrockuen abgenommen werden.

Dies Austrocknen geschieht auch recht vorsichtig, sehr gradatim und schrittweise. Die Torflaibe sind anfänglich noch so schlaff und weich, daß man sie nicht gleich in jeder beliebigen Weise aufstellen kann. Sie müssen erst ein wenig auf die lange Kante und dicht neben einander gelegt werden, damit sie sich gegenseitig stützen, in langen sogenannten „Diken“ (Deichen). Wollte man sie gleich in hohen luftigen Pyramiden auftempeln, so würden sie Gefahr laufen, wie an der Sonne geschmolzener Käse auszulaufen und zusammenzusinken. In den „Diken“ liegen sie wieder je nach dem Wetter 8–14 Tage, bis sie, wie die Leute sich ausdrücken „kräftig“ genug werden zum „Ringeln“. Dies Ringeln besteht darin, daß man die nun schon ziemlich steifen Brocken zu kleinen runden spitzen Kegeln so übereinander legt, daß sie nur mit den Enden aufeinander fassen, und daß möglichst große Zwischenräume zwischen ihnen bleiben. Die Kegel sind inwendig hohl, und in dieser Aufstellungsweise [463] können Licht und Luft am besten einwirken, die Törfe völlig stärken und auch innerlich austrocknen.

Das Beste thut daran der Wind, der durch die durchlöcherten Ringeln hinzieht, wie dies auch schon Plinius, wo er in seiner Historia Naturalis vom Torfmachen im nordwestlichen Deutschland spricht, sehr richtig anmerkt, indem er von den alten Chauken sagt, daß sie „die brennbare Erde ihres Landes, mit der sie ihre Speisen kochten und ihren Leib wärmten, mehr mit Hülfe der Winde als der Sonne trockneten.“ Da der Wind natürlich die Spitzen der kleinen Kegel kräftiger angreift, als den Fuß, der auf dem feuchten Boden steht, und in den der Regen hinabsinkt, so wird es zuweilen nöthig gefunden, in diesen Pyramiden das Unterste zu oberst zu bringen oder, wie sie hier sagen, „umzuringeln“. Die kleinen mühsam gebauten Kegel werden umgerissen und dann so wieder aufgebaut, daß nun die bisher untersten Törfe der Wohlthat des Luftzugs, der auf die Spitzen wirk, theilhaftig werden.

Ist der Sommer, wie er es in Nordwestdeutschland oft zu sein pflegt, sehr naß, und kehren Gewitter und Regenschauer häufig wieder, so dürfen die armen geplagten Leute sich die Mühe nicht verdrießen lassen, wie Penelope ihre Arbeit zu zerstören und wieder herzustellen, ihre Pyramiden aufzubauen und einzureißen, unaufhörlich zu „ringeln“ und wieder „umzuringeln“.

Ist diese Bäckerei, bei der man, wie man sieht, nicht, wie beim Brodbacken, über Nacht zum Ziele kommt, die sich vielmehr durch mehrere Monate hinschleppt, endlich gelungen, sind die Torfkuchen innerlich ganz trocken, so beeilt man sich, um die fertige Waare vor ferneren Unfällen – beim Torf heißt das vor Naßwerden – zu schützen. Wie man sie zum Trocknen immer lockerer zerstreuen und vereinzeln mußte, so geht man umgekehrt nun darauf aus, sie immer mehr zu sammeln und in größeren Massen zu vereinigen. Wie jene Zerstreuung, so kann auch diese Vereinigung nur allmählich und stufenweise geschehen. Zunächst legen sie die Brocken noch auf dem Lagerplatze selbst schnell in sogenannte „Klikken“[2] zusammen. Es sind längliche Haufen von 8–10 Fuß Länge, 3 Fuß Breite und 5–6 Fuß Höhe. In diesen „Klikken“ steht der Torf meistens einen Theil des Spätsommers, und kann darin schon manchen Regenschauer, wie es in jener Zeit zu kommen pflegt, vertragen und abschütteln. Es schadet ihm nicht viel, wenn er nur innerlich ganz durchtrocknet ist.

Ist ein fahrbarer Canal in der Nähe, so kann er auch gleich aus den Klikken in die Schiffe verladen und in die Welt verfahren werden. Sonst wird er aus den Kliken zunächst zu den Schiffsplätzen gebracht und dort in großen „Hopen“ (Haufen) aufgestapelt. So kann er nun im Herbste wohl Monate lang liegen, und der bösen October- und November-Witterung trotzen, bis man die Schifffahrt mit ihm antreten und den Markt beziehen kann. Soll die Waare durchgewintert werden, so werden dafür noch größere „Hopen“ (Haufen) gebaut, die wohl 50 kleine Schiffsladungen und mehr enthalten.

(Schluss folgt.)



Blätter und Blüthen.

Die Hebung des „Ludwig“. „Rorschach, 3. Juli, 3 Uhr Nachm. – Ludwig gehoben auf achtzehn Fuß Grund. Alles gut gegangen. Brief mehr. Bauer.“

So lautete die telegraphische Freudenbotschaft über den Sieg einer Erfindung, für welche durch die „Gartenlaube“ die Theilnahme aller Deutschen in einer Weise angeregt worden ist, wie dies in der Geschichte der Erfindungen, namentlich in Deutschland, ohne Beispiel dasteht. Um so mehr fühlt die Gartenlaube sich verpflichtet, ihren Lesern eine eingehende Beschreibung der sämmtlichen Hebungsarbeiten zu geben; während jedoch die nöthigen Illustrationen hierzu hergestellt werden, glauben wir einstweilen den Freunden der Bauer’schen Bestrebungen eine Freude zu bereiten, wenn wir Ihnen die lebendige Schilderung über die Arbeiten der letzten Tage bis zur Hebung des Ludwig nach einem Briefe W. Bauer’s mittheilen.

In unserem vorläufigen Bericht (in Nr. 27) haben wir den Kampf Bauer’s mit den von ihm in den Dienst seiner Erfindung gezwungenen Elementen bis zum 20. Juni verfolgt. Von da bis zum 26. war es ihm gelungen, seine Ballone am Schiffe zu befestigen, so daß an diesem Tage Bauer die Hebung durchführen wollte. Aber gerade da brachen alle möglichen Widerwärtigkeiten noch einmal in voller Stärke gegen ihn los. Er schreibt u. A.:

„Eben hatte ich den Taucher August Schroff zum Ludwig entsendet, um den letzten nöthigen Reserveballon zu befestigen – es war 10½ Uhr –, da kommt wie Teufelshauch aus klarem Himmel ein Windstoß, und in zwei Minuten sind unsere Schleppschiffe vom Ludwig abgetrieben, und zwar so, daß ich den Taucher, welcher außen am Radkasten den Haken zu befestigen hatte, quer über den Ludwig reißen mußte. Da er aber den Haken bereits angebunden hatte, so verstrickte er sich mit dem Luftschlauch und der Signalleine – den beiden Lebensfäden des Tauchers in der Tiefe – in das Doppeltau, an welchem der Haken vom Arbeitsschiffe hinunter zum Ludwig gelassen worden war. Ich fühlte das durch das in meiner Hand befindliche andere Ende der Signalleine, ich erkannte sofort die ihm drohende Gefahr, aber im Augenblick konnte ich ihm nicht helfen, denn wir wurden so vom Sturme fortgeschleudert, daß uns selbst noch ein Ankertau riß. Das zweite mit dem unseren verbundene Schleppschiff konnte nicht schnell genug gelöst werden, daher es erst nach mächtiger Spannung das Verbandseil selbst absprengte, – wir zogen, wir ließen nach – ich signalisirte – Alles, Alles war vergebens. Da lass’ ich einen Seitenanker kappen, wir stellen unser Schiff in den Wind, und – o Glück! – unsere Taue (am Ballonhaken) lösen sich richtig auseinander, und der arme gezerrte Schroff kommt endlich lebend und wohlbehalten wieder heraus. Dieser Vorfall und die heftigen Wellen bewogen mich, für diesen Tag die Arbeit einzustellen.

Am 27. Juni fingen wir von Neuem an, den Reserveballon fest zu machen, und verbanden den Ludwig mit dem dritten rückwärts gegen Bord gestellten Schleppschiff. Nun ließ ich pumpen, – die Signalstange am Vordertheil des Ludwig steigt bis 5 Fuß, die am Hintertheil bis 3 Fuß – – da wölbt sich’s plötzlich auf dem See, und herauf kommt ein losgerissener Ballon und schleudert eine mehr als 14 Fuß hohe Welle mit sich in die Höhe. Die Schleppschiffe und Gondeln rollen gewaltig, und die Welle schlägt über Deck. Der Ballon ist gut und unverletzt, nur der Haken war der Zugkraft gewichen. Unbeirrt von diesem Zwischenfall ließ ich weiter pumpen. Zehn Minuten vergehen, – die vordere Signalstange steigt noch um 2 Fuß, – da, abermals ein Wogengewühl, kommt der zweite Radkastenballon herausgestürmt und schleudert uns die Wellen auf’s Schiff, – und wieder ist der stärkste Haken von vierzölligem Winkeleisen abgerissen. Macht nichts! Weiter pumpen! Und abermals steigt die Stange, – da rufen Hunderte: „Er kommt! Er kommt!“ – Grauen erfaßt die Menge. Das Wasser ist wie Schlamm, der Gischt von austretender Luft steigt höher und höher, – aber so rasend schnell fährt der Ludwig in diesem Wasserberg herauf, daß uns die Woge über Deck läuft und an 5 Fuß hoch über Niveau steigt. Die Radkasten schwingen sich über das Wasser auf, – aber der Rückfall des Ludwig sammt der durch ihn mit gehobenen Masse Wasser äußert einen so heftigen Stoß auf die Ballons, daß fünf Haken aus- oder abspringen, und mein alter Steiger steigt wieder in die Tiefe hinab. – Aber Ruhe ist ihm nun nicht mehr gegönnt. Wieder lasse ich pumpen, und siehe, das Hintertheil folgt meinem Rufe. Steh’ auf! Compaßkasten und Geländer ragen 5 Fuß über das Wasser empor. Das war gegen 9 Uhr des Abends. Die Nacht bricht an. Ich lasse ein starkes Seil unter dem Ludwig durchfahren und hüben und drüben je einen Ballon festmachen; – des Himmels Antlitz wird immer finsterer –; ich lasse bei Licht tauchen, und um 11 Uhr wird noch ein Schlauch auf einen kleinen Ballon geschraubt, und die Dampfpumpen „Stettin“ und „Nürnberg“, sowie die beiden „Bremen“ spielen wacker auf zu diesem Tanz; – da sehen wir in der Ferne Blitze, ein Gewitter ist im Anzuge. Um nicht das gehobene Schiff in neue Gefahr zu bringen und zugleich Verlust am Hebematerial zu erleiden, muß ich den armen Ludwig wieder möglichst langsam niederzulassen suchen. Um 11½ Uhr erschallt der Ruf: „Der Ludwig sinkt!“ – und mit stummer Trauer sehen wir ihn an diesem Tag zum zweiten Male in sein Grab zurückkehren.

Am 28. aber war die Last und Adhäsion des Ludwig gehoben, er ruhte in weichen Kissen, und am 29. wurden vier der losgerissenen Ballons wieder befestigt, eine Arbeit, die um 5 Uhr Abends vollendet war. Am 30. sollte nun die Hebung des Schiffs durch ein langsames Steigen desselben bewirkt werden. Die Locomobilen wurden geheizt, die Feuerwehr von Rorschach hat sich eingestellt, um ihre hülfreiche Hand dem Werk zu bieten. Alles ist bereit, – aber auch die tückische Laune des Wetters, die mich hier verfolgt. Es erhebt sich ein Wind, der die Segel aller Boote prachtvoll schwellt, nur mir fährt er quer durch die Seele, denn jetzt brauchte ich Stille in der Luft und Ruhe auf dem Waller. Wir warten und warten, aber erst um 4 Uhr des Abends wird es ruhig, aber nunmehr ist’s auch zu spät, und dazu gehen die Wellen immer noch 3–4 Fuß hoch, so daß das Tauchen, falls ein abermaliger Unfall es nöthig machen sollte, unmöglich würde. Um also mit der Arbeit nicht wieder in die Nacht zu kommen, stellte ich sie für diesen Tag ein.

Der 1. Juli erfreute uns mit gutem Wetter. Die Arbeit beginnt, alle Pumpen spielen, und um 2 Uhr steigt der Ludwig nun zum dritten Male, aber prachtvoll und ruhig herauf. Da – ein Schlag – ein großer Ballon bricht seine sieben Zoll dicke Boye von Eschenholz entzwei und fährt mit solcher Gewalt an’s Tageslicht, daß er noch 12-15 Fuß hoch frei über das Wasser emporspringt. Mit diesem Ballon sind 240 Centner Tragkraft verloren, und dieser Verlust genügt, um das Schiff zum dritten Male zur Niederfahrt zu zwingen. Um den Schaden wieder gut zu machen, wurden am 2. Juli außer dem zuletzt entwichenen noch zwei Ballons an den Ludwig befestigt – natürlich war jede neue Erfahrung eine Lehre für eine sicherere Befestigungsweise – und so konnte denn endlich am 3. Juli die Hebung so weit vollzogen werden, als das Telegramm sie

[464] ankündigte. Nachdem der würtembergische Dampfer „Wilhelm“ um 11 Uhr angekommen war, begann um 11 Uhr 15 Minuten das Pumpen, und um 12 Uhr 10 Minuten steigt der Ludwig zur Höhe, wird sofort mit dem Dampfer Wilhelm verbunden, und vorwärts geht es, bis ein unterseeischer Bergrücken erreicht ist, ungefähr 2000 Fuß weit. Ohne den geringsten Unfall, ohne Riß und Bruch, langen wir an der Stelle an, wo jener Bergrücken sich bis zu 18 Fuß Tiefe erhebt. Hier lasse ich den Ludwig auf sichern Grund nieder, um ihn nun auf Kameele zu setzen, an’s Niveau zu heben und so mit ihm im neuen Hafen von Rorschach einzulaufen.

Der Jubel ist groß und herzlich, Ständchen, Kanonen und Böller, Hurrahs und Händedrücken. Nur meine baierische Heimath zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Dampfer, deren einen ich gehoben habe, weder Flagge noch Salut als Zeichen der Freude kennen.“

Diese kurze Mittheilung muß unreren Lesern vor der Hand genügen; für Das, was die Tagesblätter rascher und deshalb uns voraus bringen können, entschädigen wir die Freunde der Gartenlaube durch einen um so ausführlicheren Gesammtbericht über das Unternehmen. Hier darf jedoch die dringende Bitte nicht fehlen, daß die Sammler und Beisteurer für das „Deutsche Taucherwerk“ in ihrem Eifer nicht erkalten mögen, bis die Summe von 12,000 Thalern, die das Central-Comité für W. Bauer von der Nation erbeten hat, und die Bauer später zur Begründung seiner „Nationalstiftung für deutsche Erfinder“ verwenden will, vollständig zusammengebracht sind. In runder Summe sind bis jetzt bei dem Central-Comité und direct an Herrn Bauer eingegangen 11,200 Thaler, wovon jedoch 375 Thaler als unverzinsliche Darlehen zurückgezahlt werden müssen.

Ganz Deutschland freut sich jetzt über das endliche Gelingen dieser Erprobung einer Erfindung, welche nun einer Reihe anderer gleich wichtiger Erfindungen Bauers die erste Bedingung der Lebensfähigkeit, das öffentliche Vertrauen, erworben hat. Unsere Sammlungen allein hätten uns nicht zu diesem glänzenden Ziele geführt, Deutschland verdankt diese Ehre zum großen Theile der hochherzigen Theilnahme des deutschen Herzogs Ernst an diesem nationalen Unternehmen, der unserem Bauer die Sorge vor dem Mangel der rechten Mittel im rechten Augenblick abnahm, und dadurch ihm das Herz befreite und die Seele erhob; und zugleich freut es uns, einen neuen Beweis anzeigen zu können, wie treu Schweizer und Deutsche schon jetzt im Erstreben tüchtiger Ziele zusammen wirken, indem wir den Namen eines großen Schweizer Industriellen, des Herrn Moser in Schaffhausen, als den eines der eifrigsten Förderer dieser Hebung nennen.

F. Hofmann.



Berliner Plaudereien. Die Stadt der Intelligenz besitzt natürlich ein Heer von berühmten und unberühmten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Wie billig gebührt den Damen bei der literarischen Musterung der Vortritt, den sie in der That nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern wegen ihrer Talente und ihrer großen Fruchtbarkeit verdienen. In dieser Beziehung nimmt unstreitig Frau Professor Mundt, welche unter dem Namen Luise Mühlbach ein Liebling der deutschen Lesewelt war und wohl noch ist, die erste Stelle ein. Die bekannte Schriftstellerin ist am 2. Jan. 1816 in Neu-Brandenburg geboren, wo ihr Vater, der Hofrath Müller, die Stelle eines Oberbürgermeisters bekleidete. Der geistreiche Mann, welcher mit Hegel, Gans, Schleiermacher und Nicolovius vielfach verkehrte, mußte im Jahre 1830 längere Zeit wegen einer schweren Krankheit in Berlin verweilen. Hier empfing die damals vierzehnjährige Tochter, die ihn begleitete, in solcher Umgebung und im Umgang mit diesen Freunden ihres Vaters eine Fülle von geistigen Eindrücken und Anregungen. Noch mehr trug zu ihrer Entwickelung ihre nahe Beziehung zu einem der genialsten Aerzte der Residenz bei, ein Jugendroman, der Herz und Geist des begabten Mädchens in wunderbarer Weise reifte und wie alle Jugendromane endete. ihre Erlebnisse gaben ihr hinlänglichen Stoff zu ihrem ersten literarischen Werke, das im Jahre 1837 erschien. Andere Schöpfungen folgten nach, und zugleich trat sie in brieflichen Verkehr mit ihrem späteren Gatten, dem geistreichen Schriftsteller Dr. Mundt, der durch seine „Madonna“ und seine literarhistorischen Arbeiten das größte Aufsehen erregte. Nachdem Beide längere Zeit sich schriftlich unterhalten und geistig für einander interessirt hatten, entstand in ihnen der naheliegende Wunsch, sich auch persönlich kennen zu lernen. Dies geschah auch in Potsdam, und hier verliebten und verlobten sich die bereits im Geist Verbundenen.

Bald bildete das junge Ehepaar einen literarischen und geselligen Mittelpunkt für die sonst zerstreute Schriftstellerwelt Berlins. Vorzugsweise waren es die jungen Kräfte und die liberalen Elemente der dreißiger Jahre, welche sich um Mundt und seine Gattin sammelten. In ihrem Hause fand man eine Art von Salon und ein frisches Leben und Treiben, das einigermaßen an die Pariser Gesellschaft erinnerte. Hier wurde mit Geist politisirt, die wichtigsten Ereignisse des Tages und der Literatur besprochen, manche witzige und bedeutende Unterhaltung geführt. Zu den einheimischen Freunden kamen interessante Gäste aus allen Weltgegenden: bekannte Männer und liebenswürdige Frauen wie Varnhagen, Gutzkow, Holtei, der damals jugendlich frische Feodor Wehl, die reizende Therese von Bacheracht[WS 2] und manche weltberühmte Künstlerin bildeten einen auserwählten Kreis. Ernst und Scherz wechselten mit einander ab, und nach den tiefsten politischen Gesprächen wurden kleine Lustspiele und Sprüchwörter mit heiterster Laune und Unbefangenheit ausgeführt. Einen Glanzpunkt dieser Soiréen bildete die Darstellung von Tieck’s gestiefeltem Kater und ähnlichen dramatistrten Märchen der romantischen Schule, wobei ein wahrhaft übermüthiger Humor, stets durch weibliche Grazie beherrscht, entwickelt wurde.

Das Jahr 1848 mit seinen welterschütternden Begebenheiten sprengte auch diesen Kreis aus einander; Mundt vertauschte mit seiner Gattin, wenn auch nur auf kurze Zeit, Berlin mit Breslau, wohin er als Professor der Literatur an die dortige Universität berufen wurde. Bald jedoch kehrten Beide nach Berlin und zu ihren alten Freunden zurück, obgleich die politischen und socialen Verhältnisse die Physiognomie der Gesellschaft überhaupt und auch des Mundt’schen Kreises wesentlich verändert und umgestaltet hatten. Beide suchten und fanden jedoch hinlängliche Entschädigung in ihrer sich gegenseitig anregenden und unterstützenden literarischen Thätigkeit und in der Anerkennung, die sie in immer weiterem Umfange fanden. Mit glücklichem Griff bemächtigte sich die phantasievolle Frau der preußischen Geschichte und vor Allem der interessanten Erscheinung des großen Friedrich, wobei sie ihrem Vorbild Alexander Dumas in Benutzung historischer Thatsachen zu romantischen Zwecken mit eben so großem Geschick als Erfolg nacheiferte. Freilich oft auch mit den Fehlern des französischen Schriftstellers, mit seiner Willkür in Bezug auf geschichtliche Wahrheit, mit seiner Leichtfertigkeit und mit seiner Oberflächlichkeit.

Im täglichen Leben macht die berühmte Schriftstellerin den Eindruck einer geistreichen, liebenswürdigen Frau, welcher das Bewußtsein ihrer Stellung eine gewisse Sicherheit giebt. Ihre Unterhaltung ist immer lebhaft und anregend, zuweilen brillant und witzig; ihr Charakter vorherrschend gutmüthig, doch heftig leidenschaftlich und nicht ohne Anwandlung weiblicher Launenhaftigkeit, leicht der Rührung und Erschütterung zugänglich. Ihre Pflichten erfüllt sie nach allen Seiten mit bewunderungswürdiger Ausdauer und Energie; sie besitzt einen seltenen Fleiß, eine staunenswerthe Arbeitskraft, so daß sie täglich, wenn sie nicht durch Krankheit gehindert wird, im Durchschnitt einen Druckbogen schreibt und jährlich 8 bis 12 Romanbände liefert. Dabei vernachlässigt sie keineswegs ihre Familie und ihr Hauswesen; so lange ihr Gatte lebte, war sie ihm eine treue liebevolle Gattin, in seinen Leiden eine hingebende Krankenpflegerin, wie sie ihren Kindern, zwei heranwachsenden Töchtern, stets eine liebevolle Mutter ist. Sie versteht die Wirthschaft und die Küche gründlich, ist geübt in allen weiblichen Künsten und Handarbeiten und malt ganz reizende Blumenstücke auf Porzellan. – In ihrer äußeren Erscheinung entwickelt sie eine gewisse behagliche Fülle, eine epische Breite der untersetzten, kräftigen Gestalt. Ihr Gesicht und besonders Stirn und Auge verrathen Geist und Phantasie, während um die Lippen ein Zug von gewinnender Freundlichkeit und humoristischer Heiterkeit schwebt.




Die Illustrirte Zeitung J. J. Weber’s weiß den Ruf, den sie sich durch die Tüchtigkeit ihrer Leistungen erworben, nun seit zwanzig Jahren aufrecht zu erhalten; wie bisher bekundet sie auch in ihrem Programm für ihren 41. Band den erfahrenen Geist und die geschickte Hand ihrer obersten Leitung. Wem die Geschichte unserer illustrirten Literatur bekannt ist und wer an ihr das Interesse nimmt, das sie verdient, wird immer mit Anerkennung des Mannes gedenken, dem wir in Deutschland einen besseren Geschmack in der Behandlung der Illustration verdanken, der weder Mühe noch Kosten scheute, um die deutsche illustrirte Literatur durch deutsche Originalwerke der englischen und französischen an Eleganz und künstlerischem Werthe gleich zu stellen. Dieses nationale Streben zeichnet J. J. Weber’s „Illustrirte Zeitung“ noch heute aus und verdient ihm das Lob, daß er nicht, wie manche seiner Rivalen, mit Hülfe wohlfeiler Clichés, zum Nachtheil deutscher Künstler, das Publicum durch billigeren Preis an sich zu locken sucht. Auch das neueste Programm hat einen reichen Schatz von Kunstblättern aufzuführen, die hauptsächlich dem nationalen Aufschwunge der deutschen Gegenwart gewidmet sind. Neben dem Allgem. deutschen Turnfeste in Leipzig nennt es Bilder aus dem Befreiungskriege von 1813, zur Jubelfeier des 18. Octobers, zur National-Körner-Feier, zur landwirthschaftlichen Weltausstellung in Hamburg (wobei auch eine Hundeschau, als eine Neuheit in Deutschland, vorkommt), zum Künstlerfest in Weimar etc. Ein großes Historienbild von Prof. H. Rustige wird die Ueberführung der Leiche Kaiser Otto’s III. von Italien nach Deutschland darstellen; auch wird ein großes Gedenkblatt zur 50jährigen Jubelfeier der Völkerschlacht bei Leipzig verdeutlicht werden. Mögen diese Hinweisungen beitragen, dem bewährtesten der großen Blätter deutscher Illustration die wohlverdiente Theilnahme zu erhalten und zu mehren.



Kleiner Briefkasten.


Ein alter Abonnent in Preßburg. Sie finden von der Erzählung: „Eine Nacht in Missouri“, die Fortsetzung in Nr. 12, Seite 190, den Schluß in Nr. 13, Seite 204. Beide Nummern befinden sich noch im 8. Hefte.


  1. WS: Im Original Seidelmann
  2. Das Wort „Klik“, Plur. „Klikken“, heißt so viel, als kleine Massen, Portionen. Es hängt wohl mit unserm hochdeutschen „Kleks“ zusammen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die operative Entfernung des Wurmfortsatzes wurde erstmals 1885 durchgeführt.
  2. Vorlage: Therese von Bacherach