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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[465]
Ein Polterabend.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung. )
Nach einer kurzen Pause fuhr der Inspector Holm in seiner Erzählung fort: „Ulrich sagte mir, daß er auf dem Wege zum Kornmarkt sei und am Montage auf seinem Rückwege wieder bei mir vorsprechen werde. Der Kornmarkt war schon am Freitag zu Ende, und ich fragte ihn, warum er da erst am Montag zurückkehre. Er wollte anfangs mit der Sprache nicht heraus. Zuletzt gestand er, er wolle – Sie müssen Alles wissen, gnädige Frau – zu der Henriette.“

„Mein Gott!“ sagte die Frau schmerzlich. „Aber erzählen Sie weiter.“

„Ich machte ihm Vorstellungen,“ erzählte Holm weiter. „Ich durfte und mußte es als Freund. Ich erinnerte ihn an seine Ehre, an seine Eltern, an seine Schwester. Es war vergeblich. Er sagte, er könne nun einmal nicht anders. Ich ließ ihn. Aber ich hatte meinen Entschluß gefaßt. Am Freitag Abend war ich in Szubin, wo die Henriette bei ihrer Mutter wohnt. So wie Ulrich kam, wollte ich ihn wieder mit mir nehmen. Ich quartierte mich in den Krug ein; auch er mußte, wenigstens zuerst, in diesem einkehren. In dem Kruge erkundigte ich mich nach der Familie des Mädchens. Sie stand nicht im besten Rufe. Die Mutter ist die Wittwe eines Grenzaufsehers, der dort stationirt gewesen war. Sie hatte schon zu Lebzeiten ihres Mannes ein leichtsinniges Leben geführt. Nach dem Tode ihres Mannes, als ihre Töchter herangewachsen und hübsch, sehr hübsch geworden waren, war ihr Haus der Sammelplatz der jungen, nichtsnutzigen Männer der Umgegend geworden, der jüngeren Grenz- und Steuerbeamten, Oekonomie- und Forsteleven, der Söhne von Gutsbesitzern etc. Die jungen Leute wurden von der verschmitzten Frau ausgeplündert; sie mußten die Familie ernähren, und die Familie lebte gut; namentlich war der Aufwand und Putz der Töchter ein großer. Die Frau hat drei Töchter. Henriette ist die jüngste und hübscheste. Ein Bekannter der Familie hatte auch einen besseren Grund in ihr zu finden gemeint. Er hatte daher die Mutter vermocht, sie aus dem Hause zu geben, und so war sie hierher, zu Ihnen, gnädige Frau, als Kammerjungfer gekommen. Aber sie war nicht besser als ihre Mutter, als ihre Schwestern. Sie suchte schon nach wenigen Monaten Ulrich in ihre Netze zu ziehen. Es gelang ihr, bei seinem eben so gutmüthigen, wie leider auch schwachen Charakter. Sie mußte fort und kehrte zu ihrer Mutter zurück. Wir hatten geglaubt, er habe sie aufgegeben, gar vergessen. Da jenes Geständniß gegen mich! Nach jenen Nachrichten, die ich im Kruge erhielt, hoffte ich, ihn um so leichter von dem Hause und der Person fernhalten zu können. Ich glaubte es um so mehr zu müssen, da ich wußte, daß er von dem Marke viel Geld mitbrachte. Aber er kam nicht, weder am Freitag Abend, noch am Sonnabend, noch am Sonntag. So lange hatte ich im Kruge gewartet. Ich ging geradezu in das Haus der Wittwe und ließ Henriette zu mir bitten. Sie kam, und ich fragte sie, ob Ulrich nicht dagewesen sei. Sie verneinte es, sie wollte nichts von ihm wissen. Ich glaubte ihr. Sie war sofort zu mir herein gekommen, sie war unbefangen, sie konnte mir klar in die Augen sehen. Auch ihre Mutter, die mich empfangen hatte, war nicht verlegen gewesen. Endlich hatte kein Mensch im Dorfe einen jungen Mann von dem Aeußeren Ulrichs gesehen. Er war also nicht da gewesen. Ich mußte jetzt um so mehr Gewißheit haben, und eilte hierher nach Kalwellen. Auch hier war er nicht gewesen und in der Marktstadt, wohin ich sofort mich fahren ließ, erfuhr ich nur, daß er seit Sonnabend, nachdem er gute Geschäfte gemacht und viel Geld eingenommen, zu Fuße weiter gereist sei. Alle meine Nachforschungen, ob er mit verdächtigen Personen verkehrt, wurden verneint. Ulrich konnte nur zwei Wege genommen haben, nach Szubin, zu Henrietten, oder nach Kalwellen, nach Hause zurück. Ich reiste zurück, frug vergebens nach ihm und folgte dem Wege nach Szubin. Man wußte hier eben so wenig von ihm. Ich ging noch einmal in die Wohnung Henriettens. Ich fragte das Mädchen wiederholt nach ihm. Es war heute Vormittag. Sie wollte ärgerlich über meine Zudringlichkeit werden. Da erzählte ich ihr, wie Ulrich zu ihr gewollt, und ich ihn nun seit sechs Tagen vergeblich suche. Auf einmal wurde sie unruhig, blaß. „Was ist Ihnen?“ fragte ich sie. „Wissen. Sie etwas?“

Der Erzähler unterbrach sich.

„Gnädige Frau, sie theilte mir eine Nachricht mit, die mich im ersten Augenblick tief erschreckte, die ich damit aber, als ich darüber nachsann, für völlig unglaublich halten mußte. Dennoch darf ich sie ihnen nicht vorenthalten.“

„Theilen Sie sie mit,“ sagte die Frau Bertossa. Die arme Frau konnte vor Angst die Worte kaum hervorpressen. Holm fuhr fort:

„Mein Gott.“ rief das Mädchen; „wenn er das wäre!“

„Wer?“ fragte ich.

„Aber es ist nicht möglich!“ sagte sie. „Wie sollte er dahin kommen?“

„Erzählen Sie, Henriette.“

„Hören Sie. Aber Ulrich kann es nicht sein. Heute war ein Grenzbeamter hier, der in der Nacht mit einem russischen [466] Grenzhusaren zusammengetroffen war. Von diesem hatte er erfahren, daß man drüben die Leiche eines ermordeten Mannes gefunden habe, der aus Preußen sein müsse. Der Beamte hatte heute Morgen mit einem bekannten Schmuggler darüber gesprochen, und dieser hatte so eigen darüber gelacht. Das war ihm hinterher aufgefallen, da schon seit länger als einer Woche das Gerede ging, die Schmuggler hätten einen Verräther unter sich, den sie noch nicht ausfindig machen könnten, den aber, wenn sie ihn ermittelten, die schwerste Rache erwarte.“

Ich war, wie gesagt, im ersten Augenblicke heftig erschrocken. Die Angst, daß Ulrich der Ermordete sei, hatte mich zwar verlassen, denn wie sollte er zu den Schmugglern und wie über die Grenze gekommen sein? Aber wo war er geblieben? Ich eilte wiederholt hierher und kam vor einer Stunde hier an. Ulrich war noch immer nicht da. Ich mußte zu Ihnen, gnädige Frau, um Ihnen zu erzählen, um weiter mit Ihnen zu berathen.“

Der Erzähler schwieg. Er war fertig, schien es wenigstens zu sein. Ich hatte seit einigen Minuten auf die Frau Bertossa nicht geachtet und blickte jetzt nach ihr hin. Ich erschrak vor ihrem Aussehen. Ihre Augen waren wie erloschen; aber durch ihr Gesicht flog eine brennende Röthe. Sie hatte sich, um nicht umzusinken, an den Baum gepreßt, neben dem wir standen. Ich sah, wie sie an dem Baume zitterte.

„Wissen Sie nichts mehr?“ fragte sie mit bebender Stimme.

Holm antwortete nicht gleich; endlich sagte er: „Gnädige Frau, wollen Sie nicht erlauben, daß der Herr Steuerrath Sie in das Haus führt? Ich habe mit dem Herrn Kreisjustizrath noch einige Worte zu sprechen, und Sie erholen sich unterdeß.“

„Also doch?“ sagte die ahnende Frau. Aber sie war einverstanden.

„Sie finden mich in meinem Zimmer“, setzte sie nur noch hinzu.

Dann ließ sie sich durch den Steuerrath in das Haus zurückführen. Holm und ich blieben allein.

„Herr Holm, Sie haben die Hauptsache noch nicht mitgetheilt!“

„Nein, Herr Kreisjustizrath. Ich konnte es der armen Mutter gegenüber nicht.“

„Aber sie ahnte.“

„Ich hatte auch noch einen andern Grund.“

„Welchen?“

„Sie werden ihn erfahren.“

„Erzählen Sie.“

„Der Baron Föhrenbach war in der Nähe von Szubin gewesen.“

Der junge Mann sprach die Worte leise, geheimnißvoll, aber gerade dadurch mit besonderem Nachdruck.

„Der Bräutigam des Fräuleins?“ fragte ich.

„Derselbe, und – Sie kennen mein Verhältniß zu diesem Hause, Herr Kreisjustizrath?“

„Der Steuerrath hat mich davon in Kenntniß gesetzt.“

„So wissen Sie auch den Grund, warum ich das Weitere der Frau Bertossa nicht mittheilen durfte. Selbst Ihnen gegenüber befinde ich mich in Verlegenheit.“

Der Steuerrath hatte mir nur Gutes von dem jungen Manne erzählt. Ich selbst kannte ihn aber nicht und mußte daher gegen ihn aus meiner Hut sein.

„Herr Holm,“ sagte ich zu ihm, „ich bitte, von diesem Augenblicke an mich nur als den Criminalrichter anzusehen, dem Sie in seiner amtlichen Eigenschaft Mittheilungen zu machen haben. – Wo war der Baron Föhrenbach gewesen?“

„In der Nähe von Szubin, unweit der russischen Grenze.“

„Wann war das gewesen?“

„Am Sonntag Abend.“

„Erzählen Sie mir das Nähere. Wer hat ihn gesehen? Hat Jemand mit ihm gesprochen?“

„Ich erzählte vorhin, daß ich Ulrich auch auf dem Wege von dem Marktorte nach Szubin nachgefolgt sei. Das war gestern. Auf dem Wege traf ich einen litthauischen Bauern, den ich kannte. Ich fragte ihn nach Ulrich und beschrieb ihm dessen Figur und Kleidung. Er hatte ihn nicht gesehen. Aber er war aufmerksam geworden.

„Dagegen habe ich einen anderen Herrn gesehen,“ sagte er, „den Du kennen wirst, Herr.“

„Und wer ist das?“

„Der fremde junge Herr auf dem Gute, auf dem Du warst.“

„Der Baron Föhrenbach?“

„So mag er bei Euch heißen.“

„Kennst Du ihn unter einem anderen Namen?“

Der Litthauer lachte leise für sich.

„Hm, Herr, ich weiß es nicht.“

„Nun, wo sahest Du ihn?“

„Am Sonntag Abend sah ich ihn. Ich kam aus dem Kruge zu Szubin. Es war schon neun Uhr; da ich mich verspätet hatte, nahm ich nicht die Landstraße, sondern einen kürzeren Weg nach Hause, näher an der Landstraße entlang. Es ist meist wüstes Haideland dort. Mitten in der Haide glaubte ich auf einmal einen Schritt zu hören. Ich blieb stehen und hatte mich nicht geirrt. Jemand schritt quer durch die Haide. Er kam von der Landstraße her und ging in gerader Richtung auf die Grenze zu. Das war mir verdächtig. Ich mußte daran denken, wie in letzter Zeit die Schmuggler so oft den Russen verrathen waren. Wer konnte am späten Abend, zwischen neun und zehn Uhr, ganz allein zu der Grenze gehen? Und was konnte der Mensch dort wollen? Ich verbarg mich hinter einigen Fichten, die neben mir standen. Der Mensch mußte dicht an mir vorüber. Es war der Herr Föhrenbach, wie er bei Euch heißt. Ich erkannte ihn deutlich. Er war ganz allein und trug nichts bei sich. Er ging schnell, immer geraden Weges nach der Grenze hin. In der Dunkelheit hatte ich ihn bald aus den Augen verloren. Auch seinen Schritt hörte ich dann nicht mehr. Ich blieb noch eine Weile stehen. Als aber Alles still blieb und ich nichts mehr sah und hörte, setzte ich meinen Weg nach Hause fort.“

Das war die Erzählung des Litthauers. Sie fiel mir erst auf, als ich heute von der Henriette über den Mord an der Grenze gehört hatte. Ich eilte darauf sofort hierher und konnte den Litthauer nicht vorher aufsuchen.“

Auch Holm endete damit seine Mittheilung. Ich hatte eine Menge von Fragen an ihn, über Allerlei.

„Sie kennen den Namen des Littauers?“

„Er heißt Joes Lubatis und wohnt jenseits Szubin. Ich kenne das Dorf, aber nicht den Namen.“

„Woher kennen Sie den Lubatis?“

„Er wohnte früher in meinem Wohnorte, ist aber schon seit mehreren Jahren näher zur Grenze gezogen.“

Ich sah dem jungen Manne an, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte.

„Warum näher zur Grenze?“ fragte ich.

Er schwankte eine Weile über seine Antwort.

„Herr Kreisjustizrath,“ sagte er dann. „Sie müssen Alles wissen. Mein Verhältniß, das ich vorhin berührte, kann mich bei Ihnen als einen Zuträger, Denuncianten erscheinen lassen. Selbst das darf mich nicht abhalten, Ihnen Alles zu sagen, sowohl was ich weiß, als was ich vermuthe. Es kann sich um die Ermittelung eines schweren Verbrechens handeln, und es kann ein großes Unglück, ein neues Verbrechen dadurch verhütet werden. Zwar auch das wieder – aber nein, ich muß sprechen.“

Der junge Mann kämpfte noch immer mit sich. Es war keine Komödie. Es war der Kampf eines wirklich edlen Herzens. Ich mußte ihm zu Hilfe kommen.

„Herr Holm,“ sagte ich ihm, „ehe Sie fortfahren, will ich Ihnen eine Mitteilung machen. Aber vorher beantworten Sie mir ein paar Fragen. Der Herr Ulrich Bertossa ist fünfundzwanzig Jahre alt, von schlanker Figur, blond, sein Gesicht etwas blaß – etwas verlebt?“

„Allerdings! Und – aber es gehört nicht hierher, und Sie haben mich noch mehr zu fragen.“

„Das habe ich. Wie war er gekleidet, als er aus dem Wege zu dem Jahrmarkte bei Ihnen war?“

„Er trug einen braunen Ueberrock und sonst schwarze Kleidung.“

„Also keinen grauen litthauischen Wandrock?“

„Nein, wie hätte er dazu kommen sollen?“

„Ich weiß es nicht. Aber ein junger Mann von dem Alter und ganz von dem Aeußeren Ihres Freundes Ulrich, nur nicht mit einem braunen Ueberrock, sondern mit einem grauen littauischen Wandrock bekleidet, ist gestern Morgen unweit der Grenze, auf russischer Seite, ermordet gefunden worden. Ich komme fast geraden Weges von der Besichtigung der Leiche. Der Mord ist in der Nacht vom Sonntag zum Montag oder vom Montag zum Dienstag [467] geschehen. Näheres über die That, den Ermordeten, den Mörder war bis jetzt völlig unbekannt. Jetzt theilen Sie mir mit, was Sie noch zu sagen hatten.“

Der junge Mann war heftig ergriffen.

„Mein Gott, mein Gott!“ rief er. „Wäre also doch mein Verdacht begründet, und keine Erfindung meiner Eifersucht? Ja, Herr Kreisjustizrath, ich hatte das befürchtet, und darum konnte ich mich so schwer überwinden, Ihnen Alles zu sagen. Jetzt darf mich nichts mehr abhalten. Der arme Ulrich! Sollte er es denn wirklich sein? – Ja, ja! Und auch der graue Wandrock paßt. O mein Gott, welch´ ein entsetzliches Verbrechen thut sich da auf! Und der Elende, der Mörder – die arme Rosalie muß an seiner Seite sitzen, soll morgen seine Frau werden –“

„Erzählen Sie,“ unterbrach ich ihn. „Wir haben nur noch Vermuthungen. Wir müssen Gewißheit, schleunige Gewißheit haben.“

„Ja, ja. Aber darf ich bitten, mir vorher eine Frage zu beantworten?“

„Fragen Sie.“

„In welcher Gegend der Grenze ist der Ermordete gefunden?“

„Starke drei Meilen von hier.“ Ich nannte ihm das nächste Dorf, in dem ich hatte übernachten wollen, in dem meine Begleiter noch waren.

„Eine Meile jenseits liegt Szubin,“ sagte er, „und etwa eine halbe Meile hinter Szubin hat der Lubatis den Baron Föhrenbach getroffen. Und nun hören Sie weiter. Sie fragten mich vorhin, warum Joes Lubatis näher zur Grenze gezogen sei. Joes Lubatis ist ein Hauptmitglied der Schmugglerbande.“

Die paar Worte machten auf einmal auch mir Alles klar, ließen auch mich auf einmal das ganze entsetzliche Verbrechen erkennen.

„Und daher kennt er den Herrn von Föhrenbach?“ fragte ich.

„Und daher kennt er ihn, und darum konnte ich nicht sogleich Ihre Frage beantworten.“

„Auch dieser Föhrenbach ist Schmuggler?“

„Er ist es. Die Anderen wissen es nicht, zeigen wenigstens nicht, daß sie es wissen. Sie dürfen es nicht zeigen. Dieser Mensch hat eine eben so unbegrenzte, wie unbegreifliche Gewalt hier im Hause –“

„Die kenne ich,“ mußte ich bemerken.

„Vor drei Vierteljahren,“ fuhr Holm fort, „kam er hier an. Auf einmal war er da. Niemand hatte ihn erwartet. Auf die ganze Familie hatte sich plötzlich eine peinliche Verlegenheit, eine schwere, drückende Angst gelagert. Das ist geblieben bis zum heutigen Tage. Von wo und wie er hergekommen war, darüber wurde niemals gesprochen. Aber ich wußte es bald. Das Auge der Eifersucht – ich darf ja offen mit Ihnen sprechen – sieht scharf. Er war als Emissair französischer und schweizerischer Uhrenfabrikanten hier, um an Ort und Stelle das Einschwärzen der Uhren nach Rußland zu bewerkstelligen. Ein Zufall hatte ihn die Familie Bertossa entdecken lassen, die er schon früher gekannt hatte. Er quartierte sich hier ein, denn er konnte von hier aus am bequemsten und am sichersten sein Geschäft leiten. Und – bedarf dieser Mord noch einer Erklärung? Die Schmuggler hatten in neuerer Zeit fortwährendes Unglück gehabt. Allgemein war der Glaube an einen Verräther verbreitet. Niemand kannte ihn; man meinte nur, er müsse entweder aus ihrer Mitte sein, oder ihnen sehr nahe stehen. Diese Umstände lieferten eine große Sicherheit für die Ausführung eines schwer zu entdeckenden Mordes. Er wurde auf ihre Rechnung geschrieben. Konnte der Leichnam gar nach drüben über die Grenze geschafft werden, so war eine Entdeckung fast gar nicht zu fürchten. Die Leiche wurde vielleicht erst nach langer Zeit gefunden. Die Russen kümmerten sich nicht viel um sie, die Behörden vielleicht gar nicht; von einem Herausgeben an die preußischen Gerichte hatte man bisher nie etwas gehört.“

Die Combinationen Holm’s lagen nahe. Ich hatte sie ebenfalls gemacht. Nur zwei Momente waren mir noch unklar.

„Welches Motiv konnte Föhrenbach zu dem Morde haben?“ mußte ich fragen.

„Er hatte ein doppeltes. Er haßte Ulrich, dieser war mein Freund und der Einzige, der sich seiner Schwester annahm, der sich bis zum letzten Augenblicke entschieden gegen ihre Verbindung mit ihm aussprach. Die Eltern mußten nachgeben, aber der Haß blieb. Das war Eins. Dann aber – nach Ulrichs Tode war Rosalie das einzige Kind, die einzige Erbin ihrer Eltern, und er war der einzige Herr hier.“

Auch diese Combinationen lagen nahe.

Aber wie sind Mörder und Ermordeter an der Mordstelle zusammengetroffen? Wie hat namentlich der Mörder sein Opfer in jene Gegend verlocken können? Denn an eine Verlockung mußte man denken. Wie hat er das zumal bei dem Hasse, der Abneigung gekonnt, die unter Beiden bestand?

Holm hatte darüber nur unbestimmte Vermuthungen.

„Ulrich war gutmüthig und leichtsinnig, und, wie alle gutmüthigen und leichtsinnigen Menschen, offenherzig und leichtgläubig. Föhrenbach kannte sein Verhältniß zu der Henriette. Er kann dieses zu einer Verlockung benutzt und zum Zwecke der Verlockung auch jene Verkleidung herbeigeführt haben, die zudem, wenn von dem Morde gesprochen wurde, dem Glauben, daß an dem Verräther der Schmuggler Rache geübt sei, um so größere Nahrung geben mußte. Es ließ sich wenigstens hören.“

Holm hatte keine weiteren Mittheilungen.

Was war jetzt weiter zu thun? Ich hatte die Frage nur als Criminalrichter. Die arme Rosalie, die unglückliche Mutter – ich durfte kaum an sie denken. Dennoch mußte etwas gethan werden, und was es auch war, es mußte sofort geschehen, eben um der Zwecke der Untersuchung willen. Vor allen Dingen war festzustellen, ob der Herr von Föhrenbach in der Nacht vom Sonntag auf Montag Kalwellen verlassen habe. Er hatte in dem Gutshause seine Wohnung. Ich mußte es im Hause erfahren. Für den Fall der Feststellung mußte ich zugleich andere Anstalten treffen.

Ich bat Holm, dem im Dorfkruge wartenden Gensd’armen den Befehl zu bringen, vor dem Eingange des Gutshofes zu halten, damit ich ihn sofort bei der Hand hätte. Er selbst möge dort bei dem Gensd’armen bleiben. Ich ging dann in das Haus zurück. in das Zimmer der Hausfrau, und traf sie dort mit ihrem Gatten und dem Steuerrath. Aus den Blicken des Steuerraths sah ich, daß sich unterdeß nichts ereignet hatte. Die Frau erwartete mich bebend. Sie hatte nicht den Muth, vielleicht nicht einmal die Kraft zu einer Frage. Der Mann saß in einem dumpfen, ängstlichen Hinbrüten auf einem Stuhle. Das Leben seines einzigen Sohnes stand in Frage; ein Verbrechen ahnte er. Mußte da nicht auch die Vergangenheit, seine Vergangenheit mit ihrer entsetzlichen Gewalt an ihn herantreten? Ja, es giebt eine Vergeltung! Er sprang auf, als ich eintrat. Aber nicht, weil er mich erkannte. Ich war und blieb ihm ein Fremder; ich sah es ihm klar an. Er hatte mich also in jenem Verhörzimmer nicht gesehen. Wie aufgeregt mußte er damals gewesen sein! Wie sehr sprach dies noch jetzt für seine damalige Schuld, wenn es nach dem Verhältnisse Föhrenbachs zu ihm noch einer Stimme für diese Schuld bedurft hätte! Die Angst um den Sohn trieb ihn empor. Ich durfte für das, was ich zunächst zu fragen hatte, keine Umwege machen. Ich wandte mich an die Frau. Sie hatte ja vorhin schon geahnt,

„Gnädige Frau, war der Herr von Föhrenbach in der Nacht vom Sonntage zum Montage zu Hause?“

Sie erschrak sichtbar bei der Frage.

„Nein,“ antwortete sie leise.

„Wissen Sie es gewiß?“

„Ganz gewiß. Er selbst wird es bestätigen. Er war zur Stadt geritten, um für mich Besorgungen zu dem heutigen Polterabend zu machen.“

„Wann war er fortgeritten?“

„Am Sonntag gleich nach Tisch.“

„Wann ist er zurückgekehrt?“

„Am Montag Mittag.“

„Wie weit ist die Stadt von hier?“

„Drei Meilen.“

„Man könnte also bequem in zwei Stunden hinreiten?“

„In anderthalb Stunden,“ sagte der Herr Bertossa.

Ich fragte die Frau weiter.

„Warum hatten Sie gerade dem Herrn Föhrenbach jene Besorgungen aufgetragen?“

„Er bat mich darum.“

„Ah –“

„Er sagte indeß, daß er selbst Geschäfte dort habe.“

„Hat er die Besorgungen ausgerichtet?“

„Vollständig. – Aber mein Sohn. mein Herr? Haben Sie weitere Nachrichten über ihn?“

Die Angst des Mutterherzens hatte ihr doch die Frage auspressen müssen. [468] „Nur Vermutungen, gnädige Frau,“ mußte ich ihr erwidern, „die ich eben darum Ihnen noch nicht mittheilen darf. Hätten Sie die Güte, mir ein Zimmer anweisen zu lassen, in dem ich ungestört verweilen kann? Ich werde Sie nachher hier wieder aufsuchen.“

Sie klingelte. Ein alter Diener erschien.

„Georg, führe Er den Herrn in das grüne Zimmer.“

Es war der alte Kutscher Georg, vor dem Holm sich hatte dürfen sehen lassen. Die andere Dienerschaft war bei dem Feste beschäftigt. Dem alten Mann durfte ich vertrauen.

„Gnädige Frau,“ bat ich die Hausfrau, „hätten Sie noch die Güte, mir den alten Georg zur Disposition zu stellen?“

„Georg, Er empfängt die Befehle des Herrn Kreisjustizraths.“

„Folgen Sie mir, Georg.“

Ich verließ mit ihm das Zimmer.

„Ist der Baron Föhrenbach noch im Garten?“

„Ja, Herr. Er war zwei Mal in das Haus gekommen, seitdem die gnädige Frau in ihrem Zimmer ist. Er fragte nach dem Herrn Holm. Als aber Niemand von dem wußte, kehrte er wieder zurück.“

Ich ging in den Garten, zu dem Festplatz. Es wurde getanzt. Der Baron Föhrenbach war da. Er tanzte nicht mit, sondern sah dem Tanze zu. Seie Braut tanzte. Die Arme! Der Herr von Föhrenbach kam mir doch verändert vor. Er sah noch finster genug aus. Aber seine Züge waren erschlafft. Er schien mehr in sich gekehrt zu sein. Ich trat zu ihm.

„Mein Herr, dürfte ich Sie bitten, mich in das Haus zu begleiten?“

Er fuhr zusammen. Aber er faßte sich eben so schnell wieder, und nun war das finstere Gesicht wieder hart und trotzig.

„Zu welchem Zweck, mein Herr?“ fragte er.

„Sie werden es erfahren.“

„Mein Herr, ich finde die Antwort eigenthümlich.“

„Sie werden auch die Gründe für diese Eigenthümlichkeit erfahren.“

„Mein Herr, Sie fordern mich in sonderbarer Weise heraus!“

„Herr von Föhrenbach, ich spreche als Beamter mit Ihnen Sie kennen mich doch?“

„Sie sind mir ja als der Herr Kreisjustizrath vorgestellt,“ sagte er vornehm.

„Ja, und als Kreisjustizrath hätte ich ein paar Fragen an Sie.“

„Sie dürfen Sie hier nicht an mich richten?“

„Ich dürfte es wohl, aber ich wünsche es nicht.“

Er hatte sich doch besonnen.

„Wohlan, so werde ich Ihren Wünschen entgegenkommen.“

Wir gingen zum Hause. Der alte Georg folgte uns. Im Hause wollte er mich zu seinem Zimmer führen.

„Darf ich bitten, mir zu folgen,“ sagte ich. „Georg, führen Sie uns in das grüne Zimmer.“

Er machte keine Einwendung weiter. Georg führte uns in das grüne Zimmer.

„Sie warten draußen,“ befahl ich ihm.

Ich war mit dem Baron Föhrenbach in dem Zimmer allein. Ich hatte noch immer nur sehr entfernte Vermutungen gegen ihn. Seine Abwesenheit zur Zeit des Verbrechens war zwar festgestellt; aber er hatte die Aufträge der Frau Bertossa besorgt, und wenn er nun jene Nacht in dem Städtchen zugebracht hätte? Wenn er gar selbst am Sonntag Abend da gewesen wäre und der Schmuggler Joes Lubatis sich in seiner Person geirrt, oder wenn dieser Holm, oder Holm mir die Unwahrheit gesagt hätte? Ich durfte ihm nichts auf den Kopf zusagen. Ich durfte ihm nicht einmal von dem Morde sprechen. Aber an etwas Anderes durfte, konnte, mußte ich am Ende anknüpfen, und riß dann der Faden nicht, so war ich gegen ihn der völlig berechtigte Inquirent auch für den Mord an der Grenze.

„Mein Herr, Ihr Name?“ fragte ich ihn.

„Sie nannten mich ja selbst schon Baron Föhrenbach,“ antwortete er.

„Haben Sie den Namen immer geführt?“

„Man hat mir nie einen andern Namen beigelegt.“

„Kennen Sie den Criminalrath Heitmann in L.?“

Ich hatte ihm den Namen meines Freundes, jenes Inquirenten genannt, der vor vier Jahren die Untersuchung wegen Ermordung des Viehhändlers gegen ihn geführt, und in dessen Gegenwart ich ihn in seinem Gefängnisse gesehen hatte. Er konnte auf die Frage vorbereitet sein; er mußte es sein, von dem Momente an, da ich das Verlangen an ihn gestellt hatte, ihn allein zu sprechen, wenngleich ich mit keiner Miene nur angedeutet hatte, daß ich ihn kenne. Die plötzliche Frage machte ihn dennoch verlegen, verwirrt. Er wechselte die Farbe, er schlug die Augen nieder.

„Den Criminalrath Heitmann?“ fragte er zögernd, wie sich besinnend.

Dies gab mir auf einmal ein Uebergewicht über ihn, das ich, diesem eben so frechen wie gewandten Menschen gegenüber, doppelt benutzen mußte.

„Mein Herr,“ sagte ich ihm auf den Kopf zu, „warum hat meine Frage Sie verwirrt gemacht?“

„Verwirrt?“ erwiderte er, indem er sich zusammenzunehmen suchte.

„Nun ja. Was anders war es, wenn Sie sich auf einen Mann und einen Namen besannen, der Ihnen seit vier Jahren keinen Augenblick aus dem Gedächtniß gekommen ist?“

Ich war in der That sein Herr geworden. Er hätte mir einfach erwidern können, er habe keine Lust gehabt und habe sie auch noch nicht, mir auf etwas zu antworten, was mich nichts angehe. Ich hatte dann, für den heutigen Abend wenigstens, ein schweres oder gar ein verlorenes Spiel gegen ihn.

„Ich konnte mich in der That nicht sogleich besinnen,“ erwiderte er.

„Sie haben sich also jetzt besonnen?“ fragte ich.

„Ja.“

Und mit dem Worte schlug ihm die helle Gluth des Zornes in das Gesicht, des Zornes gegen sich, gegen mich, daß er sich von mir hatte imponiren lassen, daß ich ihn in einer Falle gefangen hatte, die ihm eine sehr verhängnißvolle werden konnte. Das einzige Wort Ja brachte ihn zum Bewußtsein; er konnte nicht mehr zurück.

„Dann,“ fuhr ich rasch fort, „werden Sie sich auch wohl auf den Namen des Viehhändlers besinnen, wegen dessen Ermordung Sie damals in Untersuchung und Haft waren?“

„Ja,“ sagte er wieder, mit unterdrückter, aber desto mehr in ihm glühender Wut.

„Und der Mann hieß?“ fragte ich.

Ich spielte durch die Frage mit ihm. Ich mußte es, um ihm ganz mein Uebergewicht über ihn zu zeigen. Er nannte den Namen. (Schluß folgt.)

Ein Pharus der deutschen Zukunft.
Von Ludwig Storch.

Es ist ein sehr charakteristischer Zug unsres heutigen Geschlechts, und es unterscheidet sich darin scharf von seinem Vorgänger, daß es von einem mächtigen Seelendrange zu den schönsten Berghöhen unseres herrlichen Vaterlandes immer und wiederholt geführt wird und besonders in die zerfallenden, meist um so malerischeren Mauern der alten Zwingburgen des brutalen Feudalismus, damit es an der Stätte finstrer Gewalt und scheußlichen Hasses die Lichtfeste der Freiheit und der Liebe feiere und sich die Seele mit Schönheit sättige, die das Sennenlicht von allen Seiten den stattlichen Berghöhen zuführt.

Das nördliche Deutschland hat schon viele solche Leuchtthürme und Wallfahrtsberge des nach Seelenfreude hungrigen, nach Sonnenschönheit durstigen jungen Deutschthums, und es tun sich dort mit jedem Frühling neue auf; das südliche ist in diesem modernen Bergcultus noch zurück, obgleich fürstliche Hand vorleuchtend die Walhalla und den Siegestempel auf schöne Donauberge baute und manche alte Burg prächtig restaurirte, Aber Licht, Leben und Liebe glühen in den süddeutschen Herzen so mächtig und schlagen in so prächtigen Liederflammen empor, daß der Norden fast davon beschämt wird; der Triumphwagen des Geistes der Neuzeit schwingt seine mit Feuersternen gestickte Wolkenfahne (in diesem Zeichen wirst Du siegen!) immer weiter auf der Eisenstraße durch die Thäler und

[469]

Burg und Stadt Wertheim.
Nach der Natur aufgenommen von Winkler.

[470] die Ebenen und scheut selbst vor Bergen nicht zurück, und so werden die Berge bald auch hier überall die Zugspitzen für die in Gesängen jauchzende, vaterlandbegeisterte Jugend und das sich verjüngende Alter werden, und die hohen Burgtrümmer, einst die Brutstätten bluttriefenden Hasses, nun Leuchtthürme der blüthen- und fruchttreibenden Menschen- und Vaterlandsliebe.

Auch die prächtige Burg Wertheim, an der nördlichsten vom Main bespülten Grenze des Großherzogthums Baden, wird und muß einst ein Hauptpharus des strahlenden Zukunftslichtes sein, wie sie es verdient hat und wozu vor dreihundert Jahren einer ihrer fürstlichen Besitzer, ein junger lichtbegieriger Mann, ihr gleichsam die erste Weihe gab. Es war für mich von hoher symbolischer Bedeutung, daß zur Johanniszeit, dem Licht- und Feuerfeste unserer Vorfahren, in Werteim, im schönen Gegensatze zu dem Lichtfeste der alten versunkenen Zeit, ein echtes Lichtfest der aufsteigenden Neuzeit gefeiert wurde: die kleine Stadt wurde zum ersten Male mit Gas beleuchtet und die Burg von buntfarbigen bengalischen Feuergarben prächtig überstrahlt und übermalt. Nicht die gaukelnden Lichter des Märchens und der Sage waren es, die das Burggemäuer umhüpften es waren die Lichtflammen, die die Wissenschaft erzeugt hat, vor welchen der Aberglaube, die Geburt des klndlich befangnen Menschengeistes, versinkt und verschwindet. Vor dem Lichte der Wissenschaft zerfällt das Märchen wie eine schöne abgeblühte Blume, erbleicht die Sage wie der Morgenstern in der Sonne. Sie waren schön und poetisch, aber weit schöner und poesiereicher ist die Natur in ihrer wirklichen Größe und Erhabenheit, wie die Wissenschaft, der Silberblick des Menschengeistes, sie uns immer herrlicher erschließt.

Das Gaslichtfest in Wertheim war ein Abschiedsfest der alten Zeit und ein Begrüßungsfest der neuen. Es warf seine Strahlen weit im Kreise, am Mainstrom auf- und abwärts, in den Taubergrund und den Odenwald und über den Main hinüber in das „Geheimniß des Spessarts“. Der schöne, mit köstlichen Reben bekränzte Halbkreis, welchen der Main von Gemünden bis Aschaffenburg um den alten deutschen Spechtshart schlingt, gehört unbedingt zu den reizendsten Partien Deutschlands, besonders die Höhe dieses Halbkeises, das Segment von Wertheim bis Miltenberg und Heubach, wo sich Spessart und Odenwald über den Fluß die Bruderhände reichen, und doch wurde dieses kleine Paradies verhältnißmäßig blutwenig besucht. Ich kam eben aus dem Harze, wo auf dem Stufenberge, der Lauenburg, im Bodethale, auf dem Brocken etc. die Besucher sich schon drängten; hier im herrlichen Maingrunde war es leer. Das moderne Lichtfest verspricht die schönere Zukunft. Bald wird der Dampfwagen den jetzt noch so stillen Taubergrund heraufbrausen und das junge Geschlecht rechts nach Würzburg, links durch den Maingrund über Miltenberg nach Aschaffenburg führen. Mit Staunen werden dann die Reisenden einen der großartig-reizendsten Theile Deutschlands entdecken. Und die einsame Burg Wertheim wird sich in einen durchdrängten und durchjubelten Pharus der Zukunft, die sehr bescheidne Gastwirtschaft des alten originellen Burgvogts in ein mit allen Bequemlichkeiten und Bedürfnissen des modernen Reisenden ausgestattetes Hotel verwandeln, Turner und Sänger werden ihre deutschen Fahnen auf die ragenden Zinnen aufstecken, und Wertheim wird ein Wallfahrtsort aller Nationen werden.

Schöne Wandlung im Geiste deutscher Gesittung und Humanität! Denn diese Burg ist eine Stätte böser Gewaltthat, blutiger Bruderkämpfe und ein Tummelplatz des schauderhaften Nachtgeistes des Mittelalters gewesen. Die bislang nur ein kalt angestauntes Denkmal des Feudalglanzes und der Schwertmacht der Dynastengeschlechter, die sie erbauten und bewohnten, war, soll von nun an ein Zusammenkunftsplatz deutscher Bruderliebe werden; wo der dreißigjährige Krieg, dieses entsetzlichste Unglück des an Jammer und Elend so überreichen Glaubenshaders der Deutschen, so deutliche Spuren hinterlassen hat, da werden sich deutsche Brüder von allen Confessionen die Hände reichen und die Herzen austauschen.

Ob man die Burg vom Taubergrunde oder vom Maingrunde stromauf und ab, oder vom Berge jenseits der Tauber oder von dem jenseits des Mains (dem weinreichen Remberge mit Felsenaltan, der einen überraschend schönen Blick auf die Burg gegenüber gewährt) betrachtet, stets macht sie den Eindruck des Großartigen, Bewältigenden, Hochromantischen. Von zwei Punkten sah ich sie am liebsten: von der Chaussee nach Stadtprozelten auf dem rechten Mainufer, etwa eine Viertelstunde von der Stadt; hier hebt sie sich am reinsten vom Himmel ab und zeigt, von dem hinter ihr höher aufsteigenden bewaldeten Schloßberge nicht beeinträchtigt, die reinsten Contouren; und aus dem hart am rechten Mainufer gelegnen Pavillon des Gasthauses zur Sonne in dem baierischen Dörfchen Kreuzwertheim gegenüber unserem badischen Städtchen Wertheim. Hier hat man meiner Ueberzeugung nach die lieblichste Ansicht der Burgruine. Der Zeichner unseres Bildes hat aber seinen Standpunkt westlich jenseit der Tauber gewählt.

Der Besuch der Burg entspricht ihrem Anblick, oder überbietet ihn vielmehr noch durch überraschende Ein- und Aussichten. Ihre Höhe über der Stadt, resp. dem Mainspiegel, ist nur eine mäßige, etwa 300 Fuß, und beträgt die halbe Höhe des in die Gabel des Mains und der Tauber eingeschobenen nicht hohen, aber ziemlich steilen Schloßberges. Bequeme, sogar gut befahrbare Wege führen hinauf. Die Architectur der kolossalen Mauern und Gebäudereste, die amphitheatralisch am Berge emporsteigen, imponiren, soweit sie aus dem Zeitraume der edlen mittelalterlichen Baukunst stammen, durch reine Schönheit und Kühnheit der Formen. Diese alten Theile der Burg hat der noch keusche deutsche Kunstsinn gebaut und sich damit ein dauerndes Zeugniß seines Seelenadels ausgestellt. Die Burg stellt ein verschobenes Viereck dar, dessen beide Fronten nördlich dem Main, westlich der Tauber zugekehrt sind, und aus dessen Mittelpunkt die größte Zierde der Burg, der kolossale viereckige Thurm von seinem Felsenfundamente und mächtigen Unterbau hoch und kühn emporragt. Von seiner letzten Bestimmung heißt er jetzt Pulverthurm, sein alter eigentlicher Name ist „Burgfried“, und seine Entstehung fällt, wie Aschbach, der Geschichtsschreiber der Grafen von Wertheim, glaubhaft gemacht hat, in das elfte Jahrhundert. Sagenhaft ist die Behauptung, der Thurm sei ein Römerbau und aus der Form der Rotsandsteinquadern entstanden, deren Kanten abgeflacht und deren Stirnfläche leicht gewölbt und rauh ist, eine Eigentümlichkeit des römischen Baustyls, die sich an allen uns überkommenen Römerbauten zeigt und z. B. an dem kolossalen Römterthurme in Regensburg, der allen kommenden Zeiten trotzen zu wollen scheint, recht scharf in´s Auge springt. Aber die Römer kamen höchst wahrscheinlich am Main nicht über Miltenberg hinauf, wo sie eine Grenzfeste erbaut hatten, wohl aber ihre Bauart, die sich weit über Deutschland verbreitete und lange nachher noch in Anwendung kam, als sie selbst schon längst über unsere Grenzen hinausgeschlagen waren. Daher kommt es, daß fast alle Thürme von dieser Steinconstruction in Deutschland Römerbauten genannt werden, selbst in Gegenden, wohin erwiesenermaßen nie der Fuß eines römischen Legionärs gekommen ist.

Vor wenigen Wochen stand ich am weltberühmten Thurme der Burg Kyffhausen, dessen Quadern ganz dasselbe römische Gepräge haben und der deshalb gleichfalls sehr irrthümlich zu einem Römerbau gestempelt wird, obgleich Drusus gewiß nicht nach Nordthüringen kam. Aber die deutschen Kaiser und ihre Lehnsträger kamen oft und viel nach Italien und ahmten zu Hause die dauerhaften und zweckmäßigen Römerbauten nach.

Eben so sagenhaft und unerweisbar ist die Angabe, der rheinfränkische Herzog Gunibald sei Erbauer der Wertheimer Burg gewesen.

Der Burgfried diente auch zum Burgverließ, worin ritterliche Grausamkeit, die die des Tigers weit überbot, ihre Gefangenen schmachten und verschmachten ließ. Von welcher Art der „großmüthige Rittersinn“ war, überzeugte man sich, als Fürst Georg zu Löwenstein († 1855) die tiefe Sohle des Burgfrieds aufräumen ließ und eiserne Ringe an den Wänden, zerbrochenes Töpfergeschirr, einen hölzernen Becher und endlich eine steinbedeckte Grube fand, bei deren Oeffnung der gräßliche Modergestank die Arbeiter vertrieb.

Zunächst über dem Burgfried stand das weitausgedehnte, prächtige Wohnhaus der alten Grafen, von welchem noch der westliche Theil mit hochaufragendem Giebel übrig ist und dessen Erdgeschoß die dem St. Pankratius geweihte Capelle einnahm. Ihre aus dem 12. Jahrhundert stammenden Fenster von sehr geschmackvoller feiner Gliederung und zarter Ausführung sind noch vorhanden.

Die übrigen Theile der Burg sind meist Schöpfungen späterer Zeiten. Namentlich baute Graf Ludwig von Stolberg in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der durch Verzicht seiner Tochter, der Wittwe des letzten Grafen von Wertheim, jenes schon erwähnten Lichtfreundes, zu seinen Gunsten Herr der Burg geworden war, sehr viel in sie hinein; die innere Einrichtung stammt größtentheils von [471] ihm, wie die Inschrift über dem Portale des Treppenthurms mit seinem Wappen und der Jahreszahl 1562 darthun. Auch das große dreistöckige Gebäude unter dem Hauptthurme auf unserm Bilde rührt von ihm her. Doch stehen nur noch die Umfangsmauern desselben; die übrige Herrlichteit hat der dreißigjährige Krieg bis auf ein Restchen zerstört, der überhaupt dem jungfräulichen Ruhm der Veste ein Ende machte. Dieses Restchen ist ein ziemlich großes Gemach, der Rittersaal genannt, mit künstlich gewölbter, nur von einer in der Mitte stehenden Säule getragener Decke. Neben diesem Stolberg-Bau sehen wir einen älteren Eckthurm mit der Jahreszahl 1510 am Erker, welchen Fürst Adolf von Löwenstein in neuerer Zeit restauriren und mit einem Spitzdache, so wie das Erkerzimmer, in welchem er eine kleine Sammlung alter Waffen und Geräthe aufstellte, mit bunten Glasfenstern versehen ließ. Nach dem vor einigen Jahren erfolgten Tode des Fürsten wurden diese Alterthümer veräußert. Der kleine Platz vor diesen Bauten, mit Bäumen, rohen Tischen und Bänken besetzt, dient zum geselligen Vergnügen der Besucher und ist rechts von dem zur Schankwirtschaft eingerichteten Thurm des Burgwart, links vom großen Altan, eine der Hauptzierden der Burg und der bei weitem zumeist besuchte Theil derselben, begrenzt. Vom Thurme überschaut man fast die ganze Stadt; der Castellan hat deshalb die Stunden an einer freihängenden Glocke anzuschlagen und bei Bränden Feuersignale zu geben. Größer und reizender ist die Aussicht vom Altane, der, weit am steil abfallenden Berge vorspringend, auf fünf gegen siebzig Fuß hohen Bogen steht, an der innern (nördlichen) Seite von einer steinernen Brüstung von sehr geschmackvoller durchbrochener Arbeit altdeutschen Styls mit zwischenliegenden kanzelartigen Vorsprüngen, an der äußeren (südlichen) von einer mit Schießscharten für Kleingewehr versehenen Mauer, Erzeugniß des dreißigjährigen Kriegs, geschützt. Vom Altan übersieht man den südlichen Theil des Schlosses, jetzt ein Weinberg, sonst mit Thürmen und anderen Gebäuden besetzt, welche 1634 die Kaiserlichen zusammenschossen. Unterhalb dieser Stelle zieht der Hirschgarten bis zur Stadt hinab, der seinen Namen von einem dort aufgestellten steinernen Hirsche hat. Hier soll nämlich eine schöne Gräfin den weißen Hirsch geschossen haben, nach welchem derweil der Herr Gemahl den ganzen Tag vergebens gejagt hatte. So etwas verdient schon sein Denkmal. Der höchste Punkt der Burg ist die Citadelle, zu der man freilich auf steilen, nicht sonderlich geschützten Stufen emporklimmen muß, ein nicht unbedeutendes kasemattirtes Vorwerk und eine der jüngeren Bauten, vom Haupttheile der Veste durch eine gegen sechzig Fuß tiefe Felsenschlucht geschieden, die, von Bäumen und Büschen erfüllt und von einem Pfade durchschlängelt, nicht wenig zur Romantik des Schlosses beiträgt. Der Hof der Citadelle, von einer noch nicht alten Linde geschmückt, führt den Namen Philosophenruh, obgleich er gewohnt ist, Gesellschaft bei sich zu sehen, die nicht ernste Theorie, sondern heitere Praxis liebt.

Von hier gelangt man am nördlichen Abhange zum östlichen Bollwerk der Burg, dem Zehenringthurm, so genannt von den in seinen oberen Mauerkranz eingegossenen großen Eisenringen. Nur die Sage berichtet, ein Würzburger Fürstbischof habe einem Grafen von Wertheim oder Löwenstein gedroht, die Burg so zu zerstören, daß er die Trümmer mit zehn Mähren in den Main schleifen werde, darauf habe der Graf jene zehn Ringe an dem Thurme befestigen lassen, damit der Bischof seine Mähren daran anschirren könne. Der Pfaffe blitzte ab.

Der Thurm bietet den Ueberblick des anstoßenden Schloßwaldes, einer wenn auch nur kleinen Strecke des hier sehr gebogenen Mains, stromauf- und abwärts, und der innern Burg, die uns über die erwähnte baumreiche Felsenschlucht hinaus die Bauten neben dem Burgfried von der Rückseite zeigt. Auch sie hat der dreißigjährige Krieg sehr geschädigt. Die Bayern, welche in der letzten Zeit des Kriegs die Burg für den Kaiser bewachten, wichen 1645 den Schweden, ohne den Sturm abzuwarten, und diese blieben die letzten Kriegsherren der Burg, die nach ihrem Abzug lange Jahre verödet stand und in Trümmer sank. Das unterste und jüngste Gebäude ist das wohl erhaltene, stattliche, von zwei runden Thürmen mit Glockendächern flankirte Thorhaus mit dem einzigen Eingang, welches das in historischer Beziehung sehr wichtige, doch für Fremde schwer zugängliche fürstlich Löwensteinische Archiv enthält.

Vielleicht verdient ein kleiner baumbesetzter hochgelegener Grasplatz, der „Hexentanzplatz“, noch Erwähnung, auf welchem die Volkssage in manchen Nächten die Hexen zur Zeit ihrer Blüthe tanzen ließ. Das „Hexenbäumchen“, ein kleiner seltsam gestalteter Hagedornstrauch mit einer wie ein Nest gestalteten flachen Vertiefung feiner verschlungenen Zweige, worin die Hexen, die ihre Aufgabe schlecht gelöst, zur Strafe sitzen mußten, ist leider nicht mehr vorhanden.

Die Stadt Wertheim, am Fuße des Schloßberges, nimmt sich vom Maine her freundlich und einladend aus. In ihren meist engen und krummen Straßen trägt sie den ehrwürdigen Stempel des deutschen Mittelalters, der sie vielen späteren Besuchern, die der Vorzeit ihr Recht angedeihen lassen, gar sehr empfehlen wird, zumal der Geist ihrer Bewohner nichts Mittelalterliches mehr an sich hat, vielmehr mit der freisinnigen Regierung des Landes, zu der sie zu gehören so glücklich ist, die lichten Bahnen der Neuzeit wandelt.

Graf Wolfram I., der Erbauer der Burg um 1130 und von ihr „Graf von Wertheim“ genannt, Sproß eines schon alten mit dem deutschen Könige Konrad verwandten Dynastengeschlechts, das jedoch erst kurz vorher in der Geschichte deutlich auftritt, gilt als Ahn der Wertheimer Grafen, die eine glänzende Reihe tapferer Ritter bilden, zumeist den Kaisern nahe stehend, von ihnen begünstigt und mit Lehen bedacht, ebenso treu der Kirche ergeben, an den Kreuzzügen sich betheiligend, geistliche Stifter gründend und viele ihrer Söhne an die Klerisei abgebend, doch auch mit den geistlichen Fürsten in mannigfachem Hader und blutigem Streit. Unter dem Grafen Michael II., welcher 1531 80 Jahre alt starb, hatte der Wertheimer Lehnhof den größten Umfang. Ueber hundert Geschlechter in Franken und im Odenwalde waren Vasallen des Grafen. Sein Territorium erstreckte sich in der Richtung von Osten nach Westen von der Zellersteig bei Würzburg bis zur Burg Breuberg im Odenwald mit der gleichnamigen Herrschaft an der Mümmling, und von Nord nach Süd waren die Städte Rothenfels am Main und Gerlachsheim nächst der Tauber die Grenzpunkte.

Michael’s II. Sohn war Graf Georg, der sich im Bauernkriege gleich Götz von Berlichingen zu den Bauern schlug und mit ihnen die Festung Frauenberg bei Würzburg belagerte, aber bald gewitzigt sich auf sein festes Schloß zurückzog und die Bauern im Stiche ließ. Bald daraus starb er ein Jahr früher als sein Vater und hinterließ einen einjährigen Sohn, jenen schon gerühmten Grafen Michael III., welcher der ausgezeichnetste und letzte der Grafen von Wertheim war. Erst 16 Jahre alt, bezog er die Universität Wittenberg und genoß den Umgang Luther’s und Melanchthon’s, deren begeisterter Anhänger er war. Heimgekehrt reformirte er seine Grafschaft, hob die Klöster Brambach und Grünau auf, errichtete im ersteren ein Gymnasium und war für die Sache der Reformation in seinem Lande ungemein thätig. Aus Allem, was er that, erhellt, daß er ein genialer junger Mann war, der Kopf und Herz auf der rechten Stelle trug. Da strahlte von Burg Wertheim in wenigen Jahren viel junges Licht aus, und sie versprach schon damals ein Pharus des Geistes zu werden wie die Wartburg. Aber Graf Michael starb, kaum 28 Jahre alt, unter großen Entwürfen und in der herrlichsten Thätigkeit, der Letzte seines ritterlichen Geschlechts, das fast fünfhundert Jahre durch fünfzehn Generationen hindurch geblüht hatte. Mit ihm ging eine der größten Hoffnungen des Protestantismus in Franken zu Grabe. In der Kirche zu Sandbach, wo er begraben liegt, hat er ein schönes Monument; ein schöneres hat ihm J. Camerarius in seiner Lebensbeschreibung Philipp Melanchthon’s gesetzt. Mich verdroß es, daß ich in seiner Burg, wie in seiner Stadt Wertheim vergebens nach einer ihm gewidmeten Denktafel suchte. Ich meine, wenn die Burg erst zu ihrer Zukunftsbestimmung, die ich oben aussprach, gelangt ist, wird ihr auch das steinerne oder eherne Blatt nicht fehlen, welches den geistesfreien Besuchern von dem letzten und genialsten Grafen von Werthenn erzählt, der so jung dem Tode als Beute fiel.

Sein einzig Kind, ein Töchterchen, starb wenige Tage nach dem Grafen, und seine Wittwe überließ die Grafschaft ihrem Vater, dem oben schon genannten Grafen Ludwig von Stolberg-Königstein. von dem sie an seinen Schwiegersohn, den Grafen Ludwig II. von Löwenstein überging, der, ein Urenkel Friedrich des Siegreichen von der Pfalz, der Stammvater des noch blühenden Hauses Löwenstein-Wertheim wurde. Von seinen Söhnen gründete Christoph die ältere evangelische Linie, Löwenstein-Wertheim-Freudenberg; Johann Dietrich die jüngere katholische, Löwenstein-Wertheim-Rosenberg zu Heubach. Im Jahre 1712 wurde dem Gesammthause [472] Löwenstein-Wertheim vom Kaiser Karl VI. die reichsfürstliche Würde ertheilt.

Getreu ihrer vom Grafen Michael III. von Wertheim erhaltenen Bestimmung war die Burg im dreißigjährigen Kriege ein Hauptbollwerk des Protestantismus in Franken, und ihre Besitzer, die Grafen von Löwenstein, standen als die treuesten und wichtigsten Anhänger auf der Seite des siegreichen Schwedenkönigs. Nach der für die Sache der Geistesfreiheit so unglücklichen Schlacht bei Nördlingen stürzten sich die Kaiserlichen rachelechzend auf das fast ganz protestantische Franken. Piccolomini hatte den Auftrag, die Festungen Würzburg und Wertheim zu nehmen, und beorderte zur Eroberung der letzten den Feldmarschall-Lieutenant Suys, der die Burg auf ihrer schwächsten Seite, der südlichen, mit solchem Erfolge beschoß, daß die tapfere Besatzung, wozu auch eine Abtheilung schwedischer Hülfstruppen unter Hauptmann Rathgeber, einem gebornen Wertheimer, capituliren mußte. Sie erhielt freien Abzug und die wackern Bürger Belassung bei der augsburgischen Confession. Aber diese Concession mußte mit schweren Opfern erkauft werden. Zu fast unerschwinglichen Naturallieferungen kam eine Brandschatzung von 25,000 Reichsthalern für Abwendung der Plünderung, und da das Geld nicht aufzutreiben war, so gab jedes Haus, was es an Werthgegenständen besaß, und die Stadt wurde arm. Der kaiserliche Commandant der Burg, Borz, ließ die Bresche an der Südseite bestehen, oberhalb derselben aber eine Quermauer nebst Wall und Graben aufführen, wodurch die Befestigung zweckmäßiger und stärker als früher wurde. An dieser Mauer sehen wir heute noch die Jahreszahl 1634.

Nach dem Untergange des deutschen Reiches 1806 kam die Stadt Wertheitm mit ihrer Burg und ein großer Theil der nach ihr benannten Grafschaft an das Großherzogthum Baden; andere kleinere Theile gelangten an Baiern und Hessen.

In Wertheim, dicht unter der Burg, wohnt der rühmlich bekannte Lyriker und Altertumsforscher Dr. Alexander Kaufmann als fürstlicher Löwenstein’scher Archivrath mit seiner liebenswürdigen Gattin, der Dichterin Amara George. Jeder gebildete Fremde wird sich wohl in ihrem Haude fühlen.

Auch der fleißige Sagensammler Unterfrankens, Andreas Fries, lebt an der Gewerbeschule in Wertheim.



Geistesepidemien
Ein Vortrag, gehalten in der naturforschenden Gesellschaft zu Görlitz von Hermann Reimer.
Nr. 3.
Die weißen Cocarden der Bourbonen und die Adler der Napoleonisten – Die Tarantel-Epidemie – Tischrückerei – Medicinische Geistesepidemien – Humoristische Seite der Epidemien

Mehr als zwanzig Jahre waren verflossen nach dem Sturze des Königthums, kein Mensch gedachte mehr der Bourbonen, die durch ihr unseliges Regiment Frankreich in den Abgrund der Revolution gestürzt hatten, als die alliirten Fürsten an der Spitze ihrer Truppen in Paris einzogen. Da mit einem Male, es waren einige Legitimisten, von denen der Streich ersonnen war, erscholl an einzelnen Straßenecken der Ruf: „Es lebe der König!“ Dabei wurden weiße Cocarden unter das Volk ausgetheilt und mit weißen Tüchern geschwenkt. Bald vermehrte sich derselbe Ruf, bald sah man mehr und mehr die Farbe der Bourbonen, die weißen Cocarden auftauchen, und die Bewegung, so kläglich, so plump sie angelegt war, griff epidemisch um sich. Anfangs wehrten die Fürsten selbst ab, der Ruf und die ganze Demonstration erschien ihnen verfrüht und unmöglich, dann aber überzeugten sie sich, wie schnell die Massen ergriffen wurden, sie ließen gewähren, und der Thron der Bourbonen, unter den furchtbarsten Stürmen und nach unerhörten Schicksalen in Trümmer geschlagen, wurde durch einige Scheffel voll weißer Cocarden von Neuem wieder aufgerichtet.

In der napoleonischen Zeit waren es die Adler, denen man folgte, aber weit mehr noch hat der überwältigende Eindruck des großen Mannes die Menge mit fortgerissen. Ein eigentümlicher Mythus heftete sich an seine Schritte, wo er nur in seiner äußern Erscheinung sich zeigte. Seine Stellung, die Haltung der Arme, jedes seiner Kleidungsstücke wurden historische Reliquien, an denen die Einbildungskraft der großen Menge sich belebte. An diese sinnlich wahrnehmbare Erscheinung des Kaisers mußte derjenige anknüpfen, der napoleonischen Ideen in Frankreich wieder Eingang verschaffen wollte. Zweimal versuchte der Prinz Louis Napoleon, zuerst in Straßburg, später in Boulogne, in dieser Weise die Menge fortzureißen. In der äußerlichen Gestalt seines Onkels trat er unter sie. Ihm fehlten weder der Hut, noch der grüne Frack, weder der hellgraue Ueberrock, noch die classischen Stiefeln, und so mit über die Brust gekreuzten Armen hielt er in echt napoleonischem Styl seine Anrede. Bei der Landung in Boulogne hatte er außerdem ein noch feineres Spiel ersonnen. Man fand bei seiner Verhaftung auf dem Schiffe einen Adler, der gewöhnt war von seinem Hute zu fressen und der, losgelassen, in die Höhe stieg, um sich dann auf den Hut des Prinzen niederzulassen. Man hat alle diese Dinge höchst lächerlich gefunden, aber der dritte Napoleon hat gezeigt, daß vom Lächerlichen zum Erhabenen ebenfalls nur ein Schritt ist, und wenn er damals auch die Zeit nicht richtig gewählt und manche Umstände unterschätzt hatte, die Art und Weise seines Auftretens verräth den Menschenkenner, der über die Entstehung geistiger Strömungen sich ein Urtheil gebildet hatte und auf die Schwächepunkte unserer natürlichen Anlage folgerichtig zu speculiren verstand.

Die Geschichte der religiösen wie der politischen Bewegungen hat ihre Mysterien. In wahrhaft erhebender Begeisterung sehen wir Tausende, ja Millionen freudig ihr Leben opfern, heute für die Idee der Gottesbegnadigung, morgen für die der politischen Freiheit, und dann wieder sehen wir einen Zustand der Ruhe und Erschlaffung eintreten, in welchem die abgespannte Generation sich in dem Gedanken zu gefallen scheint, daß das Jagen nach idealen Gütern des Schweißes und Blutes so vieler Menschen nicht werth gewesen sei.

In solchen Zeiten tritt an die Stelle großer Affecte und Leidenschaften jene kleinliche Spielerei mit dem Geheimnißvollen, mit Giften und Arcanen, mit Elektricität und Magnetismus, und das Gefühl des unergründlichen Waltens der Naturkräfte, des unbestimmten Schauers scheint jene Lücke auszufüllen, welche der Mangel einer idealen Stimmung in der Strömung unseres geistigen Lebens erzeugte. Von den Zeiten des finstersten Aberglaubens, ich erinnere nur an die Hexenprocesse, bis auf die Helden des thierischen Magnetismus, bis auf Mesmer und Cagliostro, sind die Geister unzählige Male, von wissenschaftlichen Irrtümern befangen, epidemisch ergriffen worden. Eine große, in ihrer Art ganz eigentümliche Epidemie, die fast drei Jahrhunderte lang Italien verheerte, halte ich einer besonderen Erwähnung wert. Sie kennen die Redensart „Aufspringen wie von der Tarantel gestochen“; sie verdankt jener Epidemie ihre Entstehung. Nun ist die Tarantel eine unschuldige Erdspinne die in Apulien einheimisch ist, und der bis zum Anfange des 15. Jahrhunderts Niemand etwas Böses nachzusagen wußte. Damals aber, vielleicht auch schon etwas früher – Italien war durch mörderische Seuchen furchtbar verheert worden – damals verbreitete sich die Sage, daß der Stich der Tarantel heftige, ja höchst bedenkliche Erscheinungen im menschlichen Organismus hervorzurufen pflege.

Man nahm sich nicht die Mühe, den Feind selbst genauer in das Auge zu fassen, sondern verwechselte die hartgeschmähte Spinne bald mit einer giftigen Eidechse, bald mit anderen schädlichen Thieren. Man hielt sich nur an die muthmaßliche Wirkung, welche, phantastisch ausgeschmückt, die Köpfe erhitzte. Die Gebissenen fühlten sich beklommen, verloren den Appetit und verfielen in Trübsinn. Aber bei den ersten Tönen angenehmer Melodien sah man, die eben noch wie betäubt und ihres Verstandes kaum mächtig schienen, auf- springen aus ihrem dumpfen Hinbrüten und ihre abgespannten Körper wie von neuem Leben durchzuckt werden. Laut aufjauchzend fingen sie an in schnellen Tänzen sich zu drehen, bis sie erschöpft zu Boden sanken, oder sie verfielen in eine Art melancholischen Rausches und erfüllten mit lauten Klagen die Lüfte. Die Cither und die Flöte galten bald für Universalmittel, durch welche das Gift der Spinne im Körper zertheilt und so allmählich ausgeschieden werden könnte, und wo diese Instrumente gespielt wurden, da sah man bald von einem Ende Italiens bis zum andern große Schaaren [473] von Menschen in wilden Reigentänzen sich bewegen. Nicht etwa ein wirkliches Gift, nein, das Mitansehen der tollen Tänze, das Mitanhören der lockenden Töne, der geheime Schauer, welcher die Idee der Vergiftung, der Ausscheidung des Giftes durch die Musik, durch Tanzen und Springen begleitete – alles das zusammen wirkte ansteckend von Einem zum Andern und vermehrte die Zahl der Taranteltänzer bis in’s Unglaubliche. So erstreckte sich die Epidemie bis in das 17. Jahrhundert, wo sie ihre größte Höhe erreichte. Alljährlich im Sommer durchzogen Schaaren von Spielleuten Italien, um die Heilung der Tarantati in Dörfern und Städten vorzunehmen. Da mit einem Male im 18. Jahrhundert erlosch der gespensterhafte Spuk, wie fortgeblasen von der Erde, und die arme Tarantel erfreut sich seitdem wieder keines schlechtern Rufs, als dessen bei uns etwa Flöhe oder Wanzen genießen.

Ich würde mich einer Vernachlässigung gegen die Wissenschaft zeihen, wenn ich hier aus Zartgefühl eine Epidemie unberührt lassen würde, zu deren Opfern, wie ich mir zu vermuten erlaube, ein Theil der hochverehrten Anwesenden gerechnet werden darf. Im Jahre 1853 nämlich, zu einer Zeit, wo weder für religiöse noch für politische Dinge im Volke eine gehobene Stimmung vorhanden war, zu einer Zeit also, die ganz geeignet war mit wissenschaftlichem Humbug die matten Geister etwas anzuspornen, wurde von Amerika aus über Bremen eine Epidemie importirt, welche von dort aus bald ganz Deutschland in Bewegung setzte. Weiß der Himmel von welchem amerikanischen Spaßvogel der erste Anlaß gegeben wurde, es wurde behauptet, erst leise und ganz schüchtern, bald aber schrie man es auf allen Gassen als eine erwiesene Thatsache aus, daß man ein neues, ein kaum glaubliches Wunder entdeckt habe. Der Mensch, so hieß es, sei im Stande von der ihm innewohnenden Electricität dem todten Holze einen Theil abzulassen und es damit so weit zu beleben, daß es nicht nur selbstständige Promenaden unternehmen, nein, daß es auch zu allerhand ganz nützlichen und angenehmen Dingen, u. A. zum Wahrsagen, gebraucht werden könne. Von sämmtlichen Möbeln, die zu solchem Zwecke benutzt werden könnten, sei aber das befähigtste der ganz gemeine Tisch, dieses unentbehrliche Stück einer jeden Haushaltung. Um besagten Tisch setzten sich nun eine mehr oder weniger große Zahl von Personen, womöglich beiderlei Geschlechts, bildeten mit auf den Tisch gelegten Händen eine Kette und übten so lange einen sanften Druck auf die Hände und dadurch auf den geduldigen Tisch aus, bis dieser sich nicht mehr sicher auf seinen eigenen Beinen fühlte, bis er sich zu bewegen, zu rutschen begann.

Nun rief man Wunder über Wunder und man trennte sich voller Begeisterung, um neue Gläubige anzuwerben. Nicht lange währte es, und wohin man auch kam, in die Salons der Vornehmen, in die Stuben der Bürger, in die Hütten der Armen, überall drehten sich die Tische. Das Vergnügen war so billig, daß Jeder es mitmachen konnte. Schien es doch, als ob die alte, liebliche Fabel von dem „Tischchen, deck’ dich“ in veränderter Gestalt wieder aufgetaucht wäre, denn man konnte große Gesellschaften zu Tische einladen, ohne daß man nöthig hatte, vorher kochen und braten zu lassen. Und wie vorteilhaft unterschied sich diese Epidemie von dem wilden Drehen der Johannistänzer und Tarantati! Dieses trauliche Zusammenrücken um die häusliche Tischplatte, dieses leise Drücken, Drehen und Schieben, konnte allenfalls zarte Verbindungen stiften; das jähe Gespenst des Todes, wie es zuweilen die Tanzwuth des Mittelalters begleitete, ist den sanften Bewegungen der Tischrücker fern geblieben. Wohl suchten einige Gelehrte die wissenschaftliche Unmöglichkeit der Tischbewegung ohne mechanische Gewalt zu beweisen, aber wie einst Galilei unerschütterlich festhielt an der Bewegung der Erde, so rief man jetzt den Zunftgenossen jenes großen Physikers in Bezug auf die Tische ein allgemeines „Und sie bewegen sich doch“! entgegen. Es war ein glänzender Sieg der Majorität über die Autorität. Bald entzündete die Bewegung der Tische die Geister zu neuen Versuchen. Gab sich einmal jedes alte Stück Holz dazu her, sich elektro-menschlich begeistern zu lassen, warum, so schloß man ganz richtig, mußten es denn gerade Tische sein? Konnte man das nicht bequemer haben? So entstanden die sog. Psychographen, hölzerne Wahrsage-Instrumente, polirte Hausgötzen, die wie die Penaten bei den Griechen und Römern in schwierigen Fällen zu Rathe gezogen wurden. Sie bestimmten das Wetter, ordneten Landpartien an, schlossen sogar Ehen und kümmerten sich überhaupt um Alles, was in der Familie und in der Wirtschaft vorging. Manchmal waren sie verstimmt und antworteten

nicht; dann wurde nachgeforscht, womit man den Hausgeist beleidigt haben könnte, und man ruhte nicht eher, als bis man ihn wieder versöhnt hatte. Sie waren ein größeres Naturwunder als der Esel des Bileam, denn sie sprachen häufig mehrere Sprachen und saugten nicht selten den einfältigsten Menschen geistreiche, ja selbst poetische, wenn auch zuweilen unorthographische Gedanken aus den Fingerspitzen. Auf diesem Höhestadium brach sich indessen die Epidemie und ist gegenwärtig nur noch in leisen Nachklängen bemerkbar.

Aber ich kann mein Thema unmöglich verlassen, ohne wenigstens einen flüchtigen Seitenblick auf dasjenige Gebiet unseres Wissens zu werfen, dem ich am nächsten stehe. Die Heilkunde ist noch weit entfernt vom Wege zur Gewißheit; aber bis zu der Erkenntniß hat uns die Wissenschaft denn doch allmählich geführt, daß die Krankheiten viel eher vermieden als geheilt werden können, daß es überhaupt nur wenige Heilmittel giebt, und daß auch diese nur eine sehr beschränkte Wirksamkeit haben, im Verhältniß zu dem, was eine richtige Lebensordnung zu leisten vermag. Dem gegenüber ist aber die Lust am Leben und der Trieb nach Vollbesitz der Gesundheit unter der Menge der Menschen so unabweislich, daß zeitweise immer wieder Versuche auftauchen, die dunkle Sehnsucht nach einem Universalheilmittel zu befriedigen. Im Gegensatz zu aller wissenschaftlichen Erfahrung, zu Allem was die gesunde Vernunft einem Jeden sagen muß, wird immer von Neuem ein beliebiger indifferenter Stoff zu einem Wundermittel erhoben, und mit rasender Geschwindigkeit wächst die Menge der Gläubigen. Zeitungsannoncen verbreiten die Seuche; denn das Lesen von Heilungen giebt Vielen eine dunkle Empfindung, einen Vorgeschmack eigenen Wohlseins, und sie sind deshalb ein unentbehrliches Werkzeug in den Händen jener Gesundheits-Demagogen. Auch dadurch wird das Publicum nicht belehrt, daß diese Epidemien alle paar Jahre wechseln, daß das heute hochgepriesene Mittel nach einiger Zeit gar nicht mehr zu haben ist, und daß sich höchstens noch ein unbrauchbarer Rest davon in der Rumpelkammer irgend eines consequenten Gesundheits-Epidemikers auftreiben läßt. Einer dieser Menschheitsbeglücker schreitet immer über den Leichnam des andern, Goldberger verdrängt Morrison, Dubary wieder Goldberger, Petsch Dubary, Hoff wieder diesen, und so wird es weiter gehen. Auch die Epidemie Hoff scheint trotz aller Preismedaillen ihrem Schicksal zu verfallen. So vergeht der Ruhm der Welt, und man könnte sich kaum eines gewissen Mitleids gegen alle diese gefallenen Größen erwehren, wenn man nicht wüßte, daß sie sich vor ihrem Falle einen Nationalfonds begründet hätten, zu dem mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung die Fürsten und Völker Europas freigebig beigesteuert haben.

Die Geistesepidemien haben auch ihre humoristische Seite; sie sind unerschöpflich wie das menschliche Leben selbst, und ich bescheide mich gern in dem Mitgeteilten wenig mehr als dürftige Bruchstücke davon gegeben zu haben. Es genügt mir auf ein Feld hingewiesen zu haben, das einer weiteren Bearbeitung werth ist, und das sicherlich einen wichtigen Theil jener Zukunfts-Philosophie abgeben wird, die sich ganz allmählich unter den Händen der Naturforscher aufbaut. Auch hier wird die Naturwissenschaft ihr Loos zu erfüllen haben, indem sie einer zu idealen Auffassung unseres geistigen Lebens schonungslos entgegentritt. Sie wird zu zeigen haben, daß der Enthusiasmus ansteckend ist wie der Schnupfen, und daß, was wir Begeisterung nennen, im günstigsten Falle nichts weiter ist als eine liebenswürdige Schwäche. Und indem sie die Geschichtsforschung zu Rathe zieht, wird sie Hand in Hand mit dieser über die Bedeutung der Geistesepidemien für das Allgemeine ihr Urtheil zu sprechen haben. Irre ich nicht, so wird dieses dahin lauten, daß, wie der Sturm der Leidenschaft den Einzelnen zu einer freieren, kräftigeren Entfaltung seines Wesens anzuspornen vermag, so die Wogen der Geistesepidemie in den ruhigen Gang der Weltgeschichte das treibende Element bilden. Hier wie dort wird freilich häufig genug der Vortheil schnellerer Strömung dadurch aufgewogen, daß die Grenzen der Bewegung niemals gezogen werden können. Und wie die Leidenschaft dem Einzelnen über den Kopf zu wachsen pflegt, so haben auch jene großen geistigen Bewegungen nur zu leicht die Ziele bei weitem überschritten, die ihnen von ihren Urhebern gesteckt wurden. Diese sind vielmehr in der Regel Opfer geworden ihrer Vermessenheit, und so Mancher von ihnen hat einstimmen müssen in den Stoßseufzer jenes Zauberlehrlings:

„Herr, die Noth ist groß:
Die ich rief, die Geister
Werd´ ich nun nicht los.“

[474]
Ein Ausflug in’s Teufelsmoor.
Von J. G. Kohl.
(Schluß.)

 

Mitten in dieser Zeit der Haupternte, in welcher ich das Land besuchte, ist der Anblick ein recht unterhaltender. Da aus verschiedenen Ursachen nicht Alle mit ihren Arbeiten ganz gleichmäßig fortschreiten, so sieht man alle möglichen Zustände des Torfs und alle Verrichtungen auf einmal. Hier stehen die Leute noch in den Gräben und klauben die klebrige, schwere Masse los. Dort tanzen sie auf den hochliegenden Lagerplätzen, und kneten den Boden mit hundert beweglichen Beinen. Auf einem anderen Stücke wiederum sind sie mit großen Tranchirmessern beim Aufschneiden und Zerlegen beschäftigt, eine Operation, die sie aus freier Hand, ohne Zirkel und Meßkette sehr geschickt und mathematisch genau vollbringen. Dort wiederum bauen sie ihre Pyramiden, wie Kinder ihre Kartenhäuser, „ringeln“ die Brocken, und „ringeln sie um“.

Zu solchen lebhaften Scenen kommt man aber nur stellenweise, nämlich da, wo das Moor schon angegriffen, wo bereits ein Canal, eine Lebensader in seinen finsteren Busen eingedrungen ist. Und zwischen diesen Stellen liegen wieder ganz unberührte todte Strecken, wo noch keine Ausbeutung möglich gemacht werden konnte. Da, wo ein schiffbarer Canal bereits eingesenkt wurde, glaubt man in das Innere eines offen zu Tage gelegten Bergwerks zu blicken. Der Hauptstrom des Canals geht wie ein offener und horizontaler Schacht gerade fort in das Moor hinein. Die sogenannten „Inwieken“ (oder Seitencanäle) münden unter rechten Winkeln, wie die Stollen, in diesen Hauptschacht ein, und das ganze Wassersystem verzweigt sich durch die Umgegend, wie die Adern eines Blattes. An den Seiten der Canäle, die mit Schiffen bedeckt sind, ist die braune Waare in hohen Mauern und „Hopen“ aufgestapelt. Und rund herum ist die hohe, breite Modermasse in verschiedenen Stufen, in den mannigfaltigsten Formen, wie in einem labyrinthischen Steinbruch zerschnitten, und fällt vom Graben zerklüftet in bunt gestalteten Plateaux und Terrassen mit steilen Wänden zum Wasser ab.

Am Ausgange nach dem Flußthale und dem angrenzenden „Grünlande“ zu, wo es in die Welt hinausgeht, verbreitert sich natürlich das Loch, weil da schon länger gearbeitet wurde, während es sich nach innen hin zuspitzt und an dem Canale zusammenzieht. Die ganze breite, dreieckige Höhlung ist, wie die Kupfergrube bei Falun in Schweden, mit geschäftigen Menschen gefüllt. Ihre „Huttens“, jene rohen Torfmoor-Sennhütten stehen zuweilen gar nicht unmalerisch vertheilt auf den Kanten, aus den Spitzen und Vorgebirgen und in den Schluchten und Rissen, welche durch die Bearbeitung des Moores entstanden sind.

Ich begreife nicht, daß unsere Maler das Leben und Treiben an solchen merkwürdigen Moorhäfen und Torffabrik-Stätten, die sich überall an den zerfressenen Rändern unserer Hochmoore darbieten, noch so wenig aufgefaßt und dargestellt haben. Und doch würden solche Darstellungen nicht nur höchst eigentümliche Bilder, sondern auch Scenen geben, die tausend und tausend Mal in unserm nordwestlichen Deutschland vorkommen, den Bewohnern des Innern desselben sehr geläufig sind und daher eine vaterländische Bedeutung besitzen.

Viel Farbenpracht würde bei diesen Bildern freilich nicht entwickelt werden können. Denn Wege und Stege, Land und Wasser, die „Huttens“ und ihre berußten Bewohner, Alles ist mit der einen dunkeln Tintenfarbe des Moores überzogen.

Die Leute scheinen für die Naturfarbe ihres Landes eine patriotische Vorliebe zu gewinnen. Wenigstens ist die schwarze Farbe bei ihnen in so hohem Grade die Feiertagsfarbe, daß ihre Weiber z. B. für den Sonntag, und namentlich, wenn sie zum Abendmahle gehen, ihre ganze Kleidung, alle ihre seidenen Bänder, ihre Schürzen, auch ihre Sommerstrohhüte und die Blumen auf den Hüten kohlschwarz färben. Wenn man sie zur Kirche strömen sieht, glaubt man eine von einem allgemeinen Unglück betroffene Bevölkerung trauernder Pilger vor sich zu haben.

Auf den noch ganz wilden Partieen des Teufelsmoores findet man nicht nur eine solche ab- und zufluthende Hüttenbevölkerung, wie ich sie beschrieb, sondern auch eine permanente. Die armen Leute des Moores, die ersten noch unbemittelten Besiedler eines noch uncultivirten Strichs wohnen Winter und Sommer in eben solchen primitiven „Huttens“, die in ihrer inneren Einrichtung an die Zeiten erinnern, wo noch nicht das Fensterglas, die Ziegelsteine, auch keine Säge und Hobel erfunden waren. Denn von allen diesen Dingen und Instrumenten ist kaum etwas bei dem Bau ihrer Wohnungen verwendet.

Die Mauern oder Fundamente derselben bestehen aus in kleinen Dämmen aufgehäuften Torfsoden. Die Dächer – ich sagte schon, daß das Ganze eigentlich nichts als ein auf den Boden gesetztes Stück Dach sei, – sind aus schilfbedecken Zweigen und Sträuchern componirt. Im Inneren ist Alles ein zusammenhängender, der Wärme wegen möglichst enger Raum, in welchem durch einige unbehobelte Baumäste für die Schlafstätten der menschlichen Bewohner und für die Stallung der einen mageren Moorkuh und der drei zottigen Moorschafe, aus denen ihr Viehstand besteht, Abtheilungen zu Stande gebracht sind.

Die uralte, etwas abgetrocknete Oberfläche des Hochmoores bildet die Flur und die Tenne des Hauses. In der Mitte derselben ist statt des Heerdes ein wenig Sand aufgehäuft, das der Hütteneigenthümer sich unten am Rande des Moores, wo einmal ein Schiff mit einer Sandladung anfuhr, und wo ein wenig von diesem kostbaren Artikel liegen blieb, zusammenkarrte. Dies Häufchen Sand bildet den Heerd. Ein Paar wurzelreiche Torfsoden, die man draußen grub, glimmen und schwehlen Tag und Nacht auf diesem Sandheerde. Um ihn, der sich in der Mitte der Hütte befindet, kriechen die kleinen mageren und scrophulösen Kinder herum. Neben ihm sitzt die Mutter auf einem Klotze, wie eine Irländerin ihr kurzes Tabakspfeifchen im Munde, als wäre die Atmosphäre noch nicht räucherig und trübe genug.

Diesem Sandheerde, als erwarteten sie da alles Heil, sind die Gesichter Aller zugewandt, die der Kinder und auch die der Ziegen, Schafe, Kühe und Schweine, die, wenn Du bei den Leuten Platz genommen hast, dicht hinter Deinem Rücken grunzen und brüllen und Deinen Rockzipfel beschnüffeln. Für den Rauch und alle sonstigen Dünste giebt es nur einen einzigen Ausgang, die enge Thür, die nach Süden hin in der Torfmauer ausgeschnitten ist, und zugleich auch der Eingang für Menschen und Vieh und für die aus- und einkriechenden treuen Hunde ist. – Die Aeste und natürlichen Auswüchse, welche man an den Dachsparren und dem Gebälke des Hauses belassen hat, dienen zum Aufhängen der Kleider, der Werkzeuge und aller kleinen Habseligkeiten, die rings in dem Hüttchen herumhängen, wie in der Trödelbude eines Lumpenhändlers in dem Judenviertel von Amsterdam.

Ich hatte mir bisher gar nicht vorgestellt, daß es in unserm Deutschland noch solche Zustände gäbe. Ich denke mir aber, diese „Huttens“ der Hochmoore sind der Beachtung und der Beschreibung werth, erstlich, weil sie sich noch jetzt aus allen wilden Mooren vom Teufelsmoore bis nach Holland hin vielfach finden, und dann aus historischen Rucksichten, weil sie vermuthlich das urälteste Wohnhaus jener Gegenden sind, und uns einen Begriff davon geben können, wie die alten „Chauken“ und „Angrivarier“ hier gehaust haben mögen. Das ganze germanische Land und Volk hat hier wahrscheinlich mit selben „Huttens“ angefangen, wie noch jetzt hier im Moor fast jede Colonie zu allererst mit ihnen beginnt.

Was mit der Zeit aus den Nachkommen dieser armseligen Hüttenleute werden kann, das sah ich mir nun am folgenden Tage an, an welchem ich mich aus dem so eben geschilderten Wallhofer Moore, auf der Nordseite der Hamme-Niederung, in eine schon ganz cultivirte und mit zahlreichen „Fehncolonien“, stark bevölkerten und wohlhabenden Dörfern, besäte Partie des Teufelsmoores auf der Südseite dieser Flußmulde hinüberschiffen ließ.

Hier ist seit etwa 100 Jahren aus einem mehrere Meilen langen Striche das garstige Teufelsmoor bis auf wenige Reste weggegraben, und es leben dort nun in einer Localität, wo ehedem, wie gesagt, nicht einmal wilde Vögel oder Füchse existiren konnten, Tausende von zufriedenen Menschen. Ich spazierte einen ganzen Tag lang durch eine Reihe von freundlichen Dorfschaften, von denen die eine vor 30, die andere vor 50, noch eine andere vor 100 Jahren begründet war.

Man kann keinen stärkeren Gegensatz und keinen wohlthuenderen

[475] deren Contrast sehen, als den eines solchen Colonistendistricts mit dem zur Seite liegenden unheimlichen Hochmoore.

Eine schönere, erfreulichere und nützlichere Eroberung hat die Civilisation der Neuzeit wohl nirgends zu Stande gebracht, als in der Beseitigung der nordwestlichen deutschen Hochmoore und in ihrer zauberhaften Umwandlung von Wüsten zu lachenden Fluren. – Wie bei den vom Meere bedräuten Marschen die Deiche, so waren hierbei umgekehrt, wie gesagt, die Canäle die vornehmsten Zauberstäbe und die Seele des ganzen Unternehmens. Beide Erfindungen, die des Deiches wie die des Canales, sind von den Holländern ausgegangen und von ihnen oder von denen, welche ihnen nachahmten, durch die ganze Niederung zwischen Schelde und Elbe aus ausgebreitet worden.

Es ist bemerkenswerth, daß wir den Marschen-Deich und seine zauberischen Wirkungen in den Marschen zuerst gehabt, den Moorcanal aber erst viel später erhalten haben. Schon zur Römerzeit gab es Deiche in Batavien, und auch alle unsere deutschen Marschen waren längst eingedeicht und blühend, als in unsern Mooren, wegen der fehlenden Canäle, noch alles Leben schlummerte, stockte und faulte. Die Holländer begannen mit Entwässerung, Canalisirung und Bebauung ihrer Moore und mit Anlegung ihrer Fehncolonien erst im 16. Jahrhunderte. Im folgenden 17. Jahrhunderte rückte diese Cultur zuerst in den nordwestlichsten Zipfel von Deutschland, in Ostfriesland ein, und erst seit dem 18. Jahrhunderte fing man in Nachahmung der Ostfriesen und Holländer auch im „Teufelsmoore“ und in den anderen Morästen zwischen Weser und Elbe sich zu rühren an.

Zum Theil gingen die Impulse dazu von den Regierungen aus, – auch erwachte der Associationsgeist, und den Regierungen stellten sich Gesellschaften zur Seite, – aufopferungslustige und unermüdlich eifrige Männer traten als Reformatoren auf, wie der genannte Findorff im Teufelsmoor, – aber fast jedes Moorland hat so seinen Findorff erzeugt. Ohne die kräftig helfende Hand eminenter Geister und starker Vergesellschaftungen wäre die Sache nicht in Gang gekommen, und die Hüttenbewohner hätten, wie die Moose der Moore, in ihren elenden Zuständen noch Jahrhunderte lang, wie zu der Chaukenzeit, fortvegetirt.

Indem ich, wie gesagt, am folgenden Tage durch die Dörfer Huttenbusch, Neu St. Jürgen, Otterstein, Mooringen, Lünighausen, Westerwehe wandelte, kehrte ich zu Zeiten bei den guten Leuten ein und ließ mir von ihnen erzählen, wie ihr Vater oder Großvater als ein armer Hüttenbewohner mit einer Kuh oder mit ein paar Schafen ausgesetzt, wie weit er anfangs für diese Thiere das spärliche Gras und Heu zusammengesucht, wie mühselig er erst den Buchweizen, dann seine Kartoffeln und endlich ein kleines Getreidefeld cultivirt habe, – wie ihm dann der Canal zu Hülfe gekommen, und wie nun der Torf kräftig weggeschafft, ausgeräumt und verhandelt worden sei, wie dadurch die Capitalkräfte sich gemehrt und gestärkt hätten, und mit ihnen dann die Heerde, die Stallungen, das Wohnhaus und der Acker so erweitert und gewachsen wären, wie ich sie jetzt im Besitze des Enkels sähe.

Nach einer allgemeinen seit frühesten Zeiten hergebrachten Gewohnheit haben unsere niedersächsischen Bauern, wie in ihren alten westphälischen Dörfern, die Möser in seinen patriotischen Phantasien geschildert hat, auch in diesen neuen Colonien ihre Gehöfte in weiten und gemächlichen Abständen neben einander gelegt und haben sie mit frischen Gehölzen von Eichen und anderen Bäumen, unter denen die hellfarbigen Wohnungen hervorschimmern, umgeben. Hier im Teufelsmoore haben sie vielfach die Mode, das Balkenwerk der Häuser mit einer recht muntern blauen Farbe, und das Gemäuer dazwischen mit glühendem Roth zu überziehen, und dies giebt zwischen dem schattigen Grün der Bäume recht freundliche Contraste.

In den meisten dieser weitläufigen Gehöfte wohnen jetzt wohlhabende Bauern. Und Nothleidende, Dürftige findet man in solchen Moorcolonien – selbst in den kleineren Häusern kaum. – Das Getreide stand überall in schönster Fülle, und da, wo sonst kein Häschen hinreichende Nahrung für sich fand, waren jetzt die Halme so lang, daß, wie einer der Bauern sich ausdrückte, ein Mann sich aufrecht in’s Feld stellen und die Aehren sich über dem Kopfe zubinden könnte. – Die Wiesen, über die sonst die Irrlichter tanzten und anderer Spuk, denen das Teufelsmoor seinen Namen verdankt, sein Wesen trieb, waren jetzt mit völlig befriedigten und schmucken Wiederkäuern reichlich bedeckt.

Da man in den Mooren meistens nicht Alles ganz bis auf den tief liegenden Untergrund herabgraben darf, vielmehr noch ein wenig von dem ursprünglichen Moore liegen lassen muß, um das Land über dem Niveau der Flüsse und ihrer Ueberschwemmungen zu erhalten, so blickt überall, wo er nackt gelassen wurde, jener alte braune Untergrund noch zwischen dem auf diesen Canevas eingesticken Teppiche der Aecker, Gärten und Gehölze hervor. Das ganze heitere Bild schwimmt noch gewissermaßen in dem alten braunen Rahmen, der überall auf den Wegen, an den Gräben, in der Ackerkrume, im Staube des Landes sich zu erkennen giebt. Auch stehen noch überall neben den freundlichen Häusern, wie Trümmer oder Ruinen eines noch nicht völlig niedergerissenen Gebäudes, dicke hohe Blöcke des alten Hochmoores selbst, die zuweilen ein paar Morgen im Umfang haben.

Diese schwarzen, auf den Seiten regelrecht abgeschnittenen Torfbänke nehmen sich recht wunderlich und fremdartig in der so heiter umgestalteten Umgebung aus, zu der sie nicht mehr passen wollen. Es sind die Brennstoffmagazine der Bauern, die nun ganz sparsam damit umgehen, und sie vorsichtig beschneiden und benutzen, wie ein Stück Rindenrest, von dem man das Brod bereits verbrauchte.

Die Oberfläche dieser Bänke ist mit sorgfältig getretenen und sauber zerschnittenen Torfkuchen, wie ich sie oben beschrieb, bedeckt. Und zu den Seiten der grade abgestochenen Mauern sind, wie eine Raritätensammlung, die alten Wurzelstöcke und Baumäste, die man als Ueberreste untergegangener Wälder in den unteren Schichten des Moores fand, in Reihe und Glied aufgestellt. Die Leute ziehen sie aus dem Moorgrunde hervor, putzen sie aus, lassen sie mit ihren Torfkuchen trocknen und verbrauchen sie als Brennholz.

Alle hiesigen Bauern, die ich über dies merkwürdige Fossil sprach, waren mit dem Umstande bekannt, daß man viele der alten Stämme aus der Tiefe herauszöge, die vom Feuer angebrannt und verkohlt seien, und erwähnten mir desselben als eines Beweises, daß einst lange vor ihnen und auch noch vor der Bildung ihrer Torfmoore ein untergegangenes Geschlecht von Menschen auf dem Untergrunde existirt, gehaust, geheizt, gebraten und gekocht haben müsse. Ich brauche nicht zu sagen, daß es sehr bekannt ist, daß unsere Moräste auch noch sonst die Sammelplätze vieler anderer Antiquitäten sind, die auch auf solche alte Urbewohner hindeuten.

Im Ganzen, kann man sagen, hat der Mensch auf dreierlei Weise und in drei großen Perioden in diesen Moorgegenden gewohnt. Zuerst, ehe es Moore gab, in unvordenklichen Zeiten als Jäger in dichten Wäldern auf dem niedrigen trocknen Grunde, – darauf schon zu Zeiten der Römer, nachdem die Wälder in dem aufgestauten Wasser verschlungen und die Sumpfpflanzen vermodert und aufgeschichtet waren, auf den Hochmooren, in den „Huttens“ als armseliger Torfbauer und Haidschnuckenschäfer, – dann wieder seit 100 Jahren nach Wegräumung der Moore auf dem geputzten, gedüngten und von Neuem bewaldeten Untergrunde als wohlhäbiger Ackerbauer zwischen Kornfeldern und künstlich bewässerten Wiesen.




Zum Nationalturnfest in Leipzig.


Die Tage, da sich Deutschlands turnende Jugend auf den ewig denkwürdigen Fluren der Leipziger Völkerschlacht festlich versammeln wird, rücken immer näher heran, und das ganze Vaterland nimmt Theil an einer Feier, wie so groß und mächtig lange keine begangen worden ist von Menschenkindern. In der That, das dritte allgemeine Fest der deutschen Turner gewinnt eine Ausdehnung, die selbst die hochfahrendsten Erwartungen weit übertrifft; das gute Leipzig, das in seinen geschichtlichen Erinnerungen wohl manchen Zusammenstoß gewaltiger Kriegerschaaren aufzuzählen hat, wird diesmal wahrhaft überflutet werden von einer friedlichen Volksmenge, zu Tausenden und Abertausenden werden die deutschen Stammesgenossen einziehen in die festliche Stadt, um auf dem Schauplatze [476] der großen Erhebung unseres Volkes von Neuem das unlösliche Band ihrer Zusammengehörigkeit zu festigen.

Seit Wochen schon herrscht in der festgebenden Stadt eine Aufregung, die auf ein großes, und zwar frohes und freudiges Ereigniß vorbereitet. „Turnfest“ und „Turngäste“ sind die Worte, die Einem in der vielfältigsten Verbindung aus allen Gesprächen und Unterhaltungen, sei es in der Familie, sei es beim Glas Bier, sei es in ernsten Versammlungen oder in der Tagespresse, entgegenklingen. Da sorgt man sich um die wohnliche Unterbringung der Turner, dort wird eben etwas „Neues“ vom Turnfeste erzählt, dort endlich werden die sonderbarsten Vermuthungen, Zweifel, Bedenken, Hoffnungen und Erwartungen laut. Wer hätte aber auch nicht seinen Anteil an dem großen Feste! Die Hausfrau überlegt, wo sie wohl die lieben Gäste am bequemsten und weichsten betten könne, während der Papa mit Künstlern und Tapezierern den Schmuck des Hauses überlegt, Fahnenstoffe einkauft und Guirlanden bestellt, deren sinniges Aneinanderreihen wiederum den Töchtern des Hauses zufällt. Die Knaben brennen auf das Fest, denn sie sollen ja die fremden Turner, die sie als ältere Genossen schon im Voraus lieben und verehren, zuerst auf den Bahnhöfen empfangen und in die Stadt geleiten, dann sollen sie – und darauf sind sie nicht wenig stolz – im Zuge die ragenden Standarten vorantragen, auf denen die Namen all’ der gepriesenen deutschen Gauen und Städte verzeichnet sind. „Wir werden während des Turnfestes wohl schließen müssen,“ sagt nach reiflicher Erwägung der Geschäftsinhaber zu seinen Leuten, denen ob dieser willkommenen Freigebigkeit ihres Prinzipals das Herz freier und ruhiger schlägt, und in den Fabriken und Werkstätten sieht man alltäglich lange über Feierabend arbeiten, lediglich um des Turnfestes willen, auf dessen Mitfeier der schlichte Arbeiter einen ebenso gerechten Anspruch hat, als der reiche Kaufherr, und dem er sich ganz und ungenirt, frei von den Mühen des Alltagslebens hingeben will. Wer nun gar das Vergnügen hat, Mitglied des großen Festausschusses zu sein, dem wird es vollends turnfestlich zu Muthe; seine specielle Aufgabe – denn Arbeitstheilung macht sich hier mehr als anderswo nothwendig – verfolgt ihn unter Umständen im Traume, mahnend stellt sich ihm der Schemen eines furchtbaren bärtigen Turners vor, so daß er kaum den Morgen erwarten kann, um sich von Neuem an die vielumfassenden Festvorbereitungen zu machen. „Zum bevorstehenden großen Turnfeste“ endlich ist das Aushängeschild von Hunderten geschäftlicher Anzeigen, in denen uns echte und unechte Stoffe in schwarz-roth-gold, roth und weiß, grün und weiß und blau und gelb, Anfertigung von Guirlanden, wohl auch – Schwindel muß ja immer dabei sein! – „schwarz-roth-goldene Turnerseife mit dem Bildnisse des Vaters Jahn“ angepriesen werden.

Schließen wir uns einer der zahlreichen Schaaren Schaulustiger an, die jetzt fast zu allen Stunden des Tages auf den Festplatz hinaus pilgern. Sobald wir die letzten Häuser der Stadt hinter uns haben, zeigt sich uns schon von Weitem die Festhalle, ein Riesenbau, der nunmehr in seiner ganzen Majestät dasteht. Ihr gegenüber, auf der unteren Seite des Festplatzes, erheben sich zwei gewaltige Tribünen, bestimmt, wie es scheint, ein ganzes Volk zu tragen. Den Platz selbst betretend, auf dem es noch vor Kurzem wie vor Olims Zeiten auf der Erde wüst und leer war, gewahren wir allerlei größere und kleinere Gerüste, vor Allem jene 600 Turngeräthe, an denen sich die deutsche Turnerschaft vergnügen wird, sodann die verschiedenen Musik-, Fahnen- und Rednertribünen, die Gerüste vieler Buden, in denen die Festgenossen allerlei Kurzweil finden sollen, endlich, verschämt an die äußerste Umplankung angelehnt, verschiedene Bauten von unzweifelhaft hoher Bedeutung, auf die wir hier wohl nicht näher einzugehen brauchen.

An die Festhalle wird eben der letzte Schmuck angelegt – Fahnen in den deutschen, sächsischen und Leipziger Farben, rothe und weiße Stoffe, Guirlanden etc. Die äußere Bekleidung des Mittelbaues ist es hauptsächlich, die unsere Aufmerksamkeit erregt. Auf hohem Fußgestelle ragt eine Kolossalstatue der Germania, ein improvisirtes Werk des Bildhauers Albrecht; weiter unten, gerade über dem Haupteingang zur Halle, eine Gruppe von Sinnbildern, deren Ausführung der Festausschuß dem Maler Leutemann verdankt. Es lag die allgemeine Anordnung bereits im Entwurfe des Architekten Lipsius; an dem Maler also war es, die Gemälde mit der Erscheinung der Germania in Verbindung zu bringen, Beide zu einem geistigen Ganzen zu vereinigen. Wie dem Künstler diese Aufgabe gelungen, darüber zu urtheilen überlassen wir unseren Lesern, denen wir eine getreue Nachzeichnung vorlegen. Das Mittelbild stellt die festliche Versammlung der deutschen Stämme und Stände unter dem Banner der über ihnen thronenden Germania dar, während die Medaillons zu beiden Seiten die Lipsia und die Saxonia, gleichsam die Gastgeber, in deren Bereich das Fest gefeiert wird, vorstellen. Die verschiedenen Stände der festlich Versammelten sind durch ihre äußere Erscheinung bezeichnet: ein junger Krieger mit Schwert und Lanze, hinter ihm ein feuriger, patriotischer Schneider mit der Scheere, in der Mitte ein Gelehrter mit der Schriftrolle, als geistiger Führer die Fahne haltend, um welche sich das Volk schaart; vor ihm ein Landmann, die Sichel im Gürtel – denn das Fest fällt in die Erntezeit – hinter diesem endlich ein Künstler mit der Mappe und – der Schaumweinflasche, so daß also Ackerbau, Handwerk, Wehrstand, Kunst und Wissenschaft vertreten sind. Die verschiedenen Stämme sind bezeichnet durch Wappen der deutschen Staaten, welche von den versammelten Festgenossen mitgebracht sind und von Festknaben zu einer Gruppe um einen Marschallstab zusammengestellt werden. Die Lipsia bedarf keiner Erklärung – sie hält das Wappenschild der Stadt, trägt die Mauerkrone, und in dem hinter ihr liegenden Geldsack mag man sich jene 75,000 Thaler denken, mit denen sie das Fest ausrichtet. Die Saxonia, den Staat Sachsen darstellend, der sich ja dem Turnfeste so wohlwollend gezeigt hat, trägt Diadem, Königsmantel und Schwert, und stützt sich auf das sächsische Wappenschild, das Fest, wie es auf dem Mittelbilde dargestellt ist, scharf beobachtend – Für die Herstellung des großen Bildes, welches 11 Ellen hoch ist (die runden Seitenbilder haben einen Durchmesser von 3¾ Ellen), fand der Maler keinen Raum, der außer der Höhe zur Aufstellung auch genügendes Licht für die Höhe geboten hätte; er mußte das Bild malen, indem es am Boden lag, während er selbst auf einem darüber erbauten niedrigen Brettergerüste saß. Wollte er seine Schöpfung von Weitem übersehen, so mußte er auf einer Leiter bis dicht unter das Dach seiner „Malerhütte“ steigen. Die Bilder sind mit enkaustischen (Wachs-) Farben gemalt, da diese jeder Witterung widerstehen (was gewöhnliche Oelfarben nicht thun) und im Sonnenlichte nicht schimmern. Die größeren Figuren werden 5½ Ellen hoch, also ziemlich doppelte Lebensgröße, was aber in der Höhe (die Basis der Bilder ist ungefähr 31 Ellen vom Boden, in gleicher Höhe mit dem Dachfirst des Mittelschiffes) kaum bemerkt werden wird.

Aber auch dem Innern der Festhalle fehlt ein würdiger künstlerischer Schmuck nicht. Ein gewaltiger Fries, die Hermannschlacht darstellend, 70 Fuß lang, ein gelungenes Werk des Bildhauers Haertel aus Weimar, ziert die Rückwand der Halle, die dadurch zum hehren germanischen Parthenon wird. Eine glücklichere Idee kann es nicht geben; sie ist um so glücklicher, als das großartige plastische Bildwerk das erste ist, welches jene erste gewaltige That der Deutschen in solchem Umfange und solcher Vollendung verherrlicht. Das schöne Werk ist Eigenthum der Großherzogin von Weimar; ihr und dem wackeren, strebsamen Künstler haben die Festgenossen den Schmuck zu verdanken.

Es ist unseren Lesern bekannt, daß die Zahl der zum Feste angemeldeten auswärtigen Turner 14,000 übersteigt. Eine eigenthümliche Erscheinung ist dabei die auffallend schwache Vertretung des gesammten westlichen Deutschlands, während der ganze Osten ziemlich stark vertreten ist. Namentlich ist die Betheiligung der Oesterreicher, ebenso aber auch der Ostpreußen eine große. Am massenhaftesten aber kommen die Turnersleute aus Berlin – ca. 1200! Das Ausland wird u. a. durch Deputationen aus Amerika (1 Mann aus Hoboken im Staate Ohio), aus London (8), aus der Schweiz (5), aus Siebenbürgen (5), aus Italien (Pisa 2, Verona 1), Amsterdam (5), Rotterdam (5) etc. vertreten sein. Von den siebenbürgischen Abgeordneten führen sogar zwei ihre Frauen, der eine zwei Töchter zum deutschen Feste; die Leute sind wacker deutsch, haben aber ihr großes Vaterland noch nie gesehen.

So sehen wir froher Hoffnung der festlichen Zeit entgegen. Unter den abertausend Boten, die die Kunde von der großen Zusammenkunft des deutschen Volkes auf dem Boden der Leipziger Schlacht durch Wort und Schrift in alle Gauen des Reichs hinaustragen werden, soll auch die „Gartenlaube“ sich finden. Bis dahin aber ruft sie allen ihren lieben Lesern einen freundlichen Festesgruß zu!

Hth.
[477]

Portalbilder über dem Eingang der Festhalle.

[478]
Die Fahnenweihe von Covington.
Aus dem deutschen Turnerleben in Amerika vor Ausbruch des Kriegs.

Motto: „Rühmend darf’s der Deutsche sagen,
Höher darf das Herz ihm schlagen,
Selbst erschuf er sich den Werth.“
          Schiller.

Wir deutschen Turner in Cincinnati führten mitten im Strudel des amerikanischen Treibens ein schönes, echt deutsches Leben, worin sich Ernst und Gemüthlichkeit paarten. Unsere Turngemeinde, in der alle Gauen des deutschen Vaterlandes vertreten waren, hatte sich in der freien Sonne Amerika’s rasch zu großer Blüthe entfaltet. Eine herrliche, wohleingerichtete Turnhalle vereinigte jeden Abend die jungen strebsamen Deutschen Cincinnati’s zu gemeinsamer Ausbildung. Dort war der Mittelpunkt des deutschen Lebens dieser großen Stadt, des Turners eigentliche Heimath, wohin er beim Schlag der Feierstunde aus Werkstätten und Comptoirs eilte, um in männlichen Uebungen Geist und Körper zu erfrischen, oder in gemüthlicher Unterhaltung bei Sang und Becherklang sich in das liebe Vaterland zurück zu versetzen. Wir betrachteten das Turnen nicht blos als physische Kraftübung, sondern vielmehr als eine den ganzen Menschen umfassende Bildungsschule, wodurch alle höheren Kräfte, alles Schöne, Edle und Menschliche geweckt und entwickelt werden sollte. Daher besaß unsere Anstalt neben den gewöhnlichen Räumlichkeiten, welche den eigentlichen Turn-, Fecht- und Schießübungen gewidmet waren, auch noch andere für gesellige und geistige Bedürfnisse, namentlich ein Spiel- und Gesellschaftslocal, ein Zeitungs- und Lesezimmer, eine schöne Bibliothek und einen größeren Sprechsaal für allgemeine Versammlungen, Reden und wissenschaftliche Vorträge von allgemein bildendem Inhalt, welch letztere zwei Mal wöchentlich durch unsere gelehrteren Landsleute, deren in Cincinnati nicht wenige sind, abgehalten wurden. Alle Mitglieder – im Ganzen etwa 600 Mann – waren verbunden an jedem Abend pünktlich auf dem Platze zu sein; denn die Zeit für die verschiedenen Uebungen, für leibliches und geistiges Turnen, wie wir uns ausdrückten, war wohlgeordnet und eingetheilt, so daß eigentliches Turnen und Fechten, Unterhaltung und Belehrung, Gesang und Spiel stets in richtiger Harmonie mit einander abwechselten. Besteht doch nach den großen Meistern der Gymnastik, den alten Griechen und dem Philosophen Plato, welcher anders als unsere jetzigen Stubengelehrten selbst bei den olympischen Spielen mitkämpfte, gerade das Wesen dieser edlen Kunst in der allseitigen harmonischen Ausbildung aller Kräfte, wodurch die Schäden individueller Einseitigkeit und verrotteter Ideen und Gewohnheiten gehoben und das richtige Ebenmaß im Menschen, ein erweiterter Sinn und besonnene Kraft, Frische und Freiheit des Geistes und Körpers, Frohsinn und Frömmigkeit des Herzens nach des Turners schönem Wahlspruch zur Wahrheit werden mögen.

Dabei vergaßen wir aber nicht, daß wir in dem praktischen Amerika waren, und legten daher namentlich auch den Uebungen in den Waffen einen großen Werth bei. Unsere Turngemeinde zählte eine eigene Abtheilung Schützen, worin die gewandtesten, lebhaftesten Leute eingereiht waren, welche sich das militärische Exercitium besonders angelegen sein ließen. Diese Einrichtung war für uns Deutsche keineswegs ein so überflüssiges Spiel, wie es vielleicht scheinen möchte, wenn man sich unsere Lage mitten in fremdem Land unter einer feindlichen Bevölkerung, ohne den mindesten Schutz von Seite unserer Regierung, wie sich dessen Franzosen und Engländer erfreuen, in Erinnerung bringt. Denn gerade damals stand das Unwesen der „Knownothings“, d. h. einer allgemeinen Verschwörung gegen die Deutschen, in schönster Blüthe, und so geschah es gar leicht, daß der friedliche, fleißige deutsche Emigrant, den vielleicht nur die harte Noth auf den freien Boden Amerika’s getrieben hatte, sich hier vielfach den schreiendsten Beleidigungen, den empörendsten Mißhandlungen preisgegeben sah, wogegen ihn die Gesetze der Republik leider so wenig, als sein politisch darniederliegendes Vaterland schützen konnten oder wollten. Was Wunder, wenn uns da die Noth zuletzt auf eigene Kraft bauen lehrte, wenn wir uns in thatkräftige Vereine zusammenthaten und uns mit dem achtunggebietenden Nimbus der Waffen umgaben, deren bloßer Anblick seine abkühlende Wirkung auf wälschen Uebermuth nicht verfehlte! Wo wir Turner daher in so großer Anzahl wie in Cincinnati beisammen waren, daß wir uns stellen konnten, da lachten wir der Mißgunst der Yankees, frei und offen zeigten wir bei jeder Gelegenheit unsere Farbe und sangen unsere schönen deutschen Lieder, daß man es überall hören konnte.

Das verdroß denn die Yankees gewaltig. Sahen sie ohnehin schon mit geheimem Neid und verletztem Stolz, wie die mißachteten Fremdlinge mitten unter ihnen ein so fröhliches gemüthliches Leben führten und sich dabei so sehr wenig nach ihnen umsahen, so kam noch der verbissene Ingrimm hinzu, diese Deutschen wegen ihrer imponirenden Haltung nicht, wie sie doch sonst gewohnt waren, nach Herzenslust mit Füßen treten zu können. So wird man es erklärlich finden, daß sich gegen unsere deutschen Turngemeinden allmählich eine gereizte Stimmung entwickelt hatte, die früher oder später bei günstiger Gelegenheit einmal zum Ausbruch kommen mußte.

Diese Gelegenheit hätte denn auch in der That kaum passender eintreffen können, als am Pfingstmontag 1856 bei der Fahnenweihe der neugegründeten deutschen Turngemeinde von Covington, wobei sich die 2 Turngemeinden von Cincinnati und den beiden über dem Ohio gerade gegenüber liegenden Städten Newport und Covington zu einem großen deutschen Turnfest zusammenfanden. Geboten die obwaltenden Verhältnisse ohnedies Vorsicht, so galt es diesmal doppelt und dreifach auf der Hut zu sein, da die Stadt Covington, wo wir zusammenkommen wollten, schon zu dem Sclavenstaat Kentucky gehört, wo die Sitten wegen der Sklaverei roher und die Bewohner den Deutschen und noch dazu deutschen Turnern – diesen Antipoden der Sclaverei noch abholder sind als in den freien Staaten. Als wir deshalb mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen über den Ohio zogen, durften wir uns wohl schon auf einen Strauß mit dem Straßengesindel eines Sclavenstaates gefaßt halten.

Das Verbrüderungsfest der 3 deutschen Turngemeinden von Cincinnati, Newport und Covington verlief in schönster Harmonie. Man kann sich leichter denken, als beschreiben, wie herzlich und freudig da Gruß und Händedruck, Fragen und Antworten flogen, wie sich so manche alte Bekanntschaft aus der lieben Heimath erneuerte und neue Bande zwischen den deutschen Brüdern sich knüpften, welche ein gemeinsames Schicksal aus allen Gauen Deutschlands hierher zusammengeschneit hatte. Ganz Deutschland war hier vertreten, hier gab es keine Oesterreicher und Preußen, keinen Süden und Norden, keine Katholiken und Protestanten, und man durfte, wie neuerdings auf dem berühmten Frankfurter Schützenfest, mit Recht sagen: das stolze Wort „deutsche Einheit“ war hier wenigstens im Kleinen zur vollen Wahrheit geworden. Begeisterte Reden wurden gehalten, die Becher kreisten, und in vollen Klängen rauschte der deutsche Gesang an den fernen Ufern des Ohio so frisch und froh wie daheim an dem grünen Rheine.

Aber während wir Deutsche noch so fröhlich beisammen waren, da umdrängten uns auch schon die finsteren Gestalten der Yankees, denen der helle Neid aus den Augen schaute, daß wir ein so schönes Fest feierten, wie sie selber es nun und nimmer im Stande sind; denn solche Feste können ja doch überhaupt nur Deutschen gelingen.

Als nun endlich der Abend herniedersank und wir uns schon von den Turnern von Covington verabschiedet hatten, schlugen wir, statt direct über den Ohio zu gehen, mit den Newporter Turnern den gemeinschaftlichen Rückweg über Newport ein, welches, von Covington nur durch den Licking getrennt, noch auf derselben Seite des Ohio ebenfalls im Staat Kentucky liegt. Während wir nun in geschlossenem Zug, Fahnen und Musik voran, durch die Straßen von Covington marschirten, drängten sich plötzlich etliche Polizisten in unsere Schaar ein, welche unter dem Vorhaben, wir hätten ein Kind geschlagen, einzelne Turner, ohne Unterschied der Person, herauszugreifen suchten. Unsere Leute gaben ihnen zu verstehen, „sie seien amerikanische Bürger, die sich nicht ohne Weiteres arretiren ließen, man möchte sich, wenn man Etwas von uns wolle, wenigstens zuvörderst an den Commandanten des Zuges wenden“ u. dgl. Da aber die Polizisten dessenungeachtet sofort Gewalt anwenden wollten und sogar die Revolvers anlegten, so erhielt der Eine von Seite der Unsrigen, die schnell zuvorkamen, einen Schuß in den Arm, ein Anderer einen Hieb mit dem Faschinenmesser über den Kopf. Dies war das Signal zu allgemeinem Aufstand. In einem Augenblick [479] sahen wir uns von wüthenden Volksmassen umgeben, alle Glocken der Stadt fingen an zu stürmen, Steine hagelten von allen Seiten auf uns, und es fielen sogar einzelne Schüsse, welche indeß wegen der vorgeschrittenen Dunkelheit keinen Schaden anrichteten. Wir hatten uns indeß schnell zur Vertheidigung geordnet, die Musik in die Mitte genommen, vorn und hinten zwei größere Abtheilungen Bewaffneter postirt und auch auf die Flanken an die Enden jedes Glieds je einen Schützen vertheilt, so daß den Angreifern auf jeder Seite Flintenläufe und die als Bajonnete aufgepflanzten Faschinenmesser entgegenstarrten, und bewegten uns nun in Reih und Glied immer mit klingendem Spiel unverdrossen durch die tobende Menge gegen die Lickingbrücke.

Als die Yankees merkten, daß sie in offenem Kampf hier übel anlaufen würden, beschlossen sie mit einem ausgesuchten Bubenstück uns beizukommen. Ein Karren wurde mit Pulver und verschiedenen gefährlichen Gegenständen, welche die Explosion nach allen Seiten auseinanderschleudern sollte, beladen und in die Mitte der Straße geführt, die wir passiren mußten. Allein der Rowdy, welcher diese Höllenmaschine gegen uns loslassen sollte, ergriff bei unserem raschen Anmarsch die Flucht, ehe er noch mit dem Legen der Lunte fertig werden konnte, und wir führten den eroberten Karren als Siegestrophäe im Triumph durch die feindliche Stadt mit fort.

So erreichten wir den Licking, fanden aber die hinüberführende Brücke dicht besetzt, um uns den Uebergang zu verlegen, der nun mit dem Bajonnet durch die vordere Reihe unserer Schützen forcirt werden mußte. Auch dieses Manöver gelang vortrefflich ohne Blutvergießen, und wir waren nun glücklich wenigstens bis Newport gekommen; gelang es vollends das Ferryboot zu gewinnen, das uns in das halbdeutsche Cincinnati hinüberbringen sollte, so war wenig mehr zu fürchten; allein noch standen wir auf dem Sclavenboden Kentucky’s, noch stieg die Gefahr unserer Lage mit dem immer gewaltiger anwachsenden Tumult der feindlichen Menge, welche das Geheul der Sturmglocken nun auch aus Newport gegen uns in Bewegung setzte, während es im Rücken von Covington her über die Lickingbrücke unablässig nachwogte. Dabei mußten wir, was besonders bedenklich schien, stets sorgfältig vermeiden von den Waffen Gebrauch zu machen, wodurch die Erbitterung der Amerikaner noch mehr herausgefordert worden wäre; nur durch unerschütterliche Festigkeit und Besonnenheit konnte es der kleinen, aber wohldisciplinirten Schaar gelingen, das rettende Ferryboot zu erreichen. Allein das Glück blieb uns treu; mit drohend vorgehaltenem Bajonnet bahnten wir uns Schritt für Schritt einen Weg und langten jetzt am Ohio an – aber da war weit und breit kein Ferryboot zu schauen, man hatte schon vorgesorgt uns den Rückzug abzuschneiden, wir sollten, so schien es, wie in einer Mausfalle in den Straßen von Newport aufgehoben oder wenigstens genöthigt werden, uns der Rache der Yankees auf Gnade oder Ungnade zu ergeben. War auch der Marsch durch die feindlichen Städte ein glückliches Abenteuer zu nennen, so stellte sich nunmehr die Situation höchst ernsthaft und kritisch, und bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den heiteren, gemüthlichen Stunden des heutigen Festes. Was sollten wir tun? vor uns der breite Strom, hinter uns die zahllose Menge, die es mit aller Gewalt auf unser Verderben abgesehen hatte! Von Ergebung – darin waren wir einig – durfte keine Rede sein.

In dieser Klemme galt es einen schnellen Entschluß zu fassen.

Es geschah. Dieser bestand darin, uns rasch rückwärts wendend womöglich zur Turnhalle von Newport durchzuschlagen, die gegen die ersten Angriffe ein vorläufiges Asyl gewähren konnte, bis die Aufregung wieder einigermaßen nachgelassen haben würde, und friedlich zu unterhandeln. In völlige Schlachtordnung aufgestellt und zum Aeußersten entschlossen, sollte vorerst der Versuch gemacht werden, ob sich die dichten Massen nicht vielleicht durch eine blinde Salve zertheilen ließen, um durchzudringen, indem wir dabei auf die Feigheit der Rowdies speculirten, welche zwar, wie das Gesindel der großen Städte überhaupt, bei solchen Gelegenheiten stets vorndran sind, aber auch im Davonlaufen, wenn es Ernst wird, voranzugehen pflegen und dann natürlich auch die Muthigeren mit sich ziehen. Wir hatten richtig gerechnet. Kaum pfiffen die sicher gezielten Kugeln unserer wackeren Schützen dicht über die Köpfe der Menge hin, so gab es Luft, die wir im günstigen Moment schnell benutzten, um mit dem Bajonnet nachzudringen, ehe die Angreifer Zeit hatten sich vom ersten Schreck zu erholen und sich wieder zu stellen. Glücklicherweise gestattete die Nacht und das dichte Gedränge den Yankees nur einen sehr beschränkten Gebrauch der Revolver, auch Steinwürfe konnten uns wenig anhaben. Nur von den Fenstern herab hätte man uns schaden können, allein die anständigeren Bewohner der Stadt, die in den Hauptstraßen wohnen, waren ehrenhaft und vernünftig genug, uns unbehelligt zu lassen. So konnte daher, nachdem einmal der dichteste Knäuel durchbrochen war und wir die Menge nunmehr im Rücken hatten, der Marsch auf die Turnhalle nicht mehr ernstlich aufgehalten werden. Mit leichter Mühe wurden die Nachdrängenden durch die hintere Abtheilung unserer Schützen im Schach gehalten, und wir erreichten bald das Obdach der deutschen Turnhalle von Newport.

Jetzt kamen endlich die Behörden der Stadt zur Besinnung. Sie hatten, durch die Kugeln unserer Schützen belehrt, begreifen lernen, daß es denn doch auch für die sprüchwörtliche Geduld der Deutschen ein gewisses Maß gäbe, und taten jetzt, was sie, statt uns durch ihre Häscher wie Strauchdiebe aufgreifen lassen zu wollen, gleich von Anfang an hätten thun sollen: sie unterhandelten.

Das Ende war, daß wir gegen Ehrenwort, uns vor Gericht zu stellen, freien Abzug erhielten. Drei wackere deutsche Bürger, Bierbrauer Constantin aus Covington, ein geborner Elsässer, Eisenwerkbesitzer Wolf aus Cincinnati, ein geborner Pfälzer, und ein zweiter Elsässer, dessen Name mir entfallen ist, leisteten, indem sie selbstaufopfernd für ihre Landsleute eintraten, die ungeheure Caution von 106,000 Dollars.

Wir wählten den Richter Stallo aus Cincinnati, einen der intelligentesten Deutschen Amerikas, zu unserem Anwalt vor dem Gerichtshof von Covington. Dieser führte die Vertheidigung mit glänzender Beredsamkeit. Der Gerichtsanwalt Advocat Stevens von Cevington hatte in Ermangelung besserer Gründe u. A. gesagt: „ist es nicht empörend für uns, diese Fremdlinge gleich Cäsaren in unserer Mitte einherschreiten zu sehen?“ worauf ihm Stallo entgegnete: „er danke ihm für das Compliment und sei stolz darauf, Landsleute zu besitzen, die wie Cäsaren einherschritten.“ In dieser und ähnlicher Weise dauerte der Proceß über ein Jahr lang fort. Rechtlich konnte man uns Nichts anhaben, wir waren eine vom Congreß anerkannte Corporation und der rohe Ueberfall der Polizei von Covington eine entschieden gesetzwidrige Handlung. Ueberdies waren die beiden verwundeten Polizisten glücklicherweise mit dem Leben davongekommen.

Während der Dauer der Verhandlungen hatten sich unsere Leute theilweise wieder in andere Städte des weiten Amerika’s zerstreut; so oft aber einer vorgeladen wurde, so erschien er pünktlich an dem bestimmten Tage vor Gericht, manchmal aus einer Entfernung von 5–600 Stunden, wo er gerade jeweilig in Condition stand. Solche Festigkeit des gegebenen Ehrenworts flößte selbst den Yankees Achtung ein, so daß sie nicht umhin konnten, in ihren Blättern anzuerkennen: „das müsse man diesen Deutschen denn doch nachsagen, daß sie im Worthalten sich nicht überbieten ließen.“ So bewährte sich auch unter diesem den Deutschen sonst so mißgünstigen Volk wieder die alte deutsche Treue, welche schon vor 2000 Jahren die Römer unseren Vätern nachrühmten.

Endlich konnte die Gerechtigkeit unserer Sache unmöglich länger angefochten werden. Sämmtliche Mitglieder der Turngemeinden von Cincinnati, Newport und Covington wurden freigesprochen.

So hatte die Ehre der deutschen Turner einen glänzenden Triumph über niedrigen Haß und Neid davongetragen, wodurch natürlich die Achtung vor unseren Fahnen in den Augen der ganzen Bevölkerung der Amerikaner und Deutschen nicht wenig stieg und Niemand mehr so leicht wagen mochte, den „gleich Cäsaren einherschreitenden Dutchmen“ den Handschuh hinzuwerfen. Nur einen einzigen Verwundeten hatten wir in diesem Kampf zu beklagen, nämlich – den Klingelbaum unserer Musikbande, welcher in Folge der erhaltenen Steinwürfe seither ziemliche Scharten aufzuweisen hat und so das Wahrzeichen des Festes der Fahnenweihe von Covington geworden ist.

Bald darauf verließ ich die schöne Stadt Cincinnati, wo deutscher Fleiß und Ehrenhaftigkeit, vom Vaterland getrennt, sich ganz aus eigener Kraft eine neue Stätte schufen, und kehrte wegen Familienverhältnissen in meine schwäbische Heimath, am Fuß der Alb, zurück. Seiter hat sich drüben Vieles geändert. Beim Beginn des Kriegs mit den Sclavenstaaten stürzten sich die deutschen Turnerschaaren voll Begeisterung zuvörderst in den Kampf, worin [480] leider! leider! wie ich seither aus unserer Turnzeitung vernehmen mußte, schon die Meisten und Besten erlegen sind, oder richtiger gesagt: nicht den Waffen der Rebellen, sondern nur der Unfähigkeit ihrer eigenen Führer sind sie zum Opfer gefallen. Längst hätte man unserem deutschen General Sigel ein größeres Commando übergeben sollen. Statt dessen mußten wir uns von Yankeegeneralen zur Schlachtbank schleppen lassen, welche vielleicht den Krieg absichtlich in die Länge ziehen, weil sich so „ein gutes Geschäft“ machen läßt.




Blätter und Blüthen

Der bekannte Schriftsteller Leopold Schefer in Muskau, der Jugendfreund des Fürsten Pückler, war nicht nur ein bedeutender humoristischer Dichter, sondern auch im Leben einer der liebenswürdigsten Humoristen, wie folgende charakteristische Züge beweisen. – Eines Tages erschien Schefer schon am frühen Morgen bei dem ihm befreundeten Bürgermeister der Stadt mit sorgenvoller Miene, hinter welcher der Schalk bei ihm lauerte. Auf Befragen, was ihn herführe, antwortete er: „Mir ist da eine Geschichte passirt, weshalb ich Ihren Rath in Anspruch nehmen muß. Denken Sie sich, heute Nacht ist bei mir ein armer Teufel eingekehrt, der nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe hat und keinen Heller besitzt. Mich dauerte der arme Kerl, der vor Kälte zitterte und ganz erbärmlich heulte. Ich gab ihm ein Lager und nahm ihn bei mir auf, obgleich er ohne Paß, ohne jeden Ausweis zu mir gekommen ist. Was soll ich aber nun mit dem Vagabunden anfangen? Ich kann ihn doch nicht fortschicken, da er sonst keinen Menschen zu kennen scheint. Wenn ich ihn aber bei mir behalte, fürchte ich mit den Gesetzen oder gar mit der hochlöblichen Polizei in Kollision zu kommen und große Unannehmlichkeiten zu haben. Darum habe ich mich an Sie gewendet, damit Sie mir und dem armen Burschen helfen; denn fortschicken möchte ich ihn unter keiner Bedingung. Ich hoffe, daß Sie einmal aus alter Freundschaft für mich ein Auge zudrücken und den armen Schelm auch fernerhin dulden werden.“

Der Herr Bürgermeisier machte zu der polizeiwidrigen Rede des Dichters ein bedenkliches Gesicht und schüttelte sein wohlweises Haupt über die Zumuthung, einen notorischen Vagabunden, der eingestandenermaßen keinen Paß, keinen Ausweis, nicht einmal ein Hemde besaß, gegen die Gesetze zu dulden. Er verschwieg auch nicht seine Bedenken und wollte mit der ganzen Sache nichts zu thun haben. Indeß Schefer wußte so eindringlich zu bitten, daß der Herr Bürgermeister aus Rücksicht auf den Freund sich entschloß, diesen zu begleiten und selbst mit dem armen Burschen Rücksprache zu nehmen. Als Beide in das Haus des Dichters traten, führte dieser den Bürgermeister in das Schlafzimmer, wo seine Frau ihre Wochen abhielt, und indem er auf die Wiege zeigte, worin sein neugeborener Sohn lag, sagte er lachend: „Da, lieber Bürgermeister, ist der Vagabund, der heut direct vom Himmel in mein Haus gekommen ist!“

Schefer’s Nachbar in Muskau war der katholische Schullehrer, der eine Französin, eine fleißige und ordentliche Frau, geheirathet hatte. Ihre Freude und ihr Stolz war ein nettes Gärtchen, worin Beide fleißig arbeiteten; besonders aber bemühte sich die Frau Schullehrerin ein eigenes Spargelbeet anzulegen, was bekanntlich nicht leicht ist und wobei man lange Zeit warten muß, ehe man den Spargel stechen kann. Jahr aus Jahr ein warteten der Schullehrer und seine Frau auf ihren Spargel, aber wie sehr sie auch jeden Frühling suchten, nirgends wollte sich ein Spargelköpfchen zeigen, obgleich sie vor Sonnenaufgang schon aufstanden und mit Topf und Messer bewaffnet waren, um ihr Spargelgericht zu stechen. Endlich eines Morgens stößt die Frau Schullehrerin einen Freudenschrei aus und ruft ihren Mann herbei, um ihm das Wunder zu zeigen. Auf dem Beet steht Kopf an Kopf der schönste, weiße Spargel, den man sich nur wünschen kann. Auch die Nachbarn, welche das Ehepaar wegen ihrer vergeblichen Mühe öfters geneckt hatten, wurden herbeigeholt, darunter auch Leopold Schefer, der sein schelmisches Lächeln nicht unterdrücken konnte. Bei näherer Untersuchung ergab sich nämlich, daß ein Schalk bereits abgeschnittenen Spargel in die lockere Erde gesteckt und das schulmeisterliche Ehepaar in liebenswürdigster Weise getäuscht hatte. Der Schalk war aber kein Anderer als der bekannte Dichter des Laienbreviers.

So viele Bilder auch von Leopold Schefer existirten, so war doch keines recht getroffen, weil kein Maler den wechselvollen Ausdruck seines geistig belebten Gesichtes wieder zu geben vermochte. Auf wiederholtes Bitten seines jungen Freundes, des höchst talentvollen und leider früh verstorbenen Dichters Max Waldau (Spiller von Hauenschild), ließ sich Schefer bereden, nochmals einem Maler zu sitzen, da er versprochen hatte, der jungen Frau seines Freundes sein Bild zu schicken. Mit Ungeduld wird von dieser die Zusendung des Portraits erwartet, das auch endlich eintrifft. Schnell öffnet sie das Paket und ist nicht wenig erstaunt, zwar ein Bild, aber ohne Kopf darin zu finden. In dem beifolgenden Brief entschuldigte Schefer das seltsame Geschenk mit folgenden Worten: „Der Maler hat nicht mein Gesicht, aber um so bester meinen Pelz getroffen, ich schicke daher, um dem guten Mann nicht unrecht zu thun, den Letzteren und habe mein Gesicht ausgeschnitten und für mich behalten. Wenn ich eine bessere Visage einmal bekomme, so steht dieselbe Ihnen nachträglich zu Diensten.“



Der Höllenstein ist eine Großmacht geworden. Auf seine Anwendung stützt sich die Photographie, von deren Ausübung in Paris bereits vor zwei Jahren 20,000 Menschen lebten. Jetzt hat sich diese Zahl vielleicht verdoppelt, und eine Grenze der Steigerung ist noch gar nicht abzusehen. Wenn nun auch nicht in so großartiger Weise, so ist doch auch in Deutschland wenigstens für den dringendsten Bedarf gesorgt und die Nachfolger unsers Bock, bekanntlich Einer der Ersten, der sich um die Einführung und Verbreitung der französischen Erfindung der Lichtbildnerei bei uns verdient gemacht hat, vermehren sich von Tag zu Tag auf das Unglaublichste.

Man hat berechnet, daß ein einziges glückliches Kaninchenpaar im Stande wäre, die ganze Erde in acht Jahren zu bevölkern. Die Photographen spotten aller Anstrengungen der Arithmetiker.

Der Höllenstein ist salpetersaures Silberoxyd. Er hat wie viele Silbersalze die Eigenschaft unter der Einwirkung des Lichtes schwarz zu werden, und diese Eigenschaft bringt in der Camera obscura die Bilder auf dem Papiere hervor. Das zu photographischen Aufnahmen bestimmte Papier wird mit einer Silberlösung getränkt, in die dunkle Kammer an diejenige Stelle gebracht, wo das Bild hinfällt, und den Strahlen desselben eine gewisse Zeit ausgesetzt. Je nach dem Grade ihrer Beleuchtung werden die hellen Stellen schwarz, die dunklen (Schatten-) Partien dagegen bleiben hell. Es entsteht ein sogenanntes negatives Bild, welches gewissermaßen wie die verkehrte Schrift eines Petschaftes zur Herstellung naturgetreuer, positiver Bilder benutzt, aber auch selbst durch mancherlei chemische Proceduren in ein solches verwandelt werden kann.

Ein Pfund Silberlösung mit einem Gehalt von drei Loth salpetersaurem Silberoxyd genügt, um 800 Papierstücke von der Größe der jetzt beliebten Visitenkartenbilder zu präpariren. Mit einem Pfund Höllenstein ist also 4000 zärtlichen Paaren die Möglichkeit gegeben, sich erlaubter oder unerlaubter Weise zu besitzen.

Der Höllenstein hat eine dämonische Natur. Er ist den beziehentlichen Eltern und Vormündern gefährlicher als der Schmied von Gretna Green. Wie die Schmetterlinge beglückt er die heitere Jugend, dem humpelnden Kohlbauer legt er gotteslästerliche Reden in den Mund. Ihn aus der Liebe verbannen zu wollen, wäre so albern, als den Molkendieben das Eierlegen untersagen zu lassen.

In der Gold- und Silberscheideanstalt zu Frankfurt sind im letzten Geschäftsjahre über 5400 Pfund des feinsten Kornsilbers im Betrage von 163,428 Thaler an chemische Fabriken zur Darstellung von salpetersaurem Silber geliefert worden.

Aus diesen 54 Centner Silber können 6992 Pfund Höllenstein angefertigt werden. Jedes Pfund davon läßt eine Präparirung von 8000 Visitenkarten zu. Die freie Reichsstadt hat also allein schon das Ihrige in einem Jahre gethan, um jeden lebenden Deutschen mit all seinen Orden, Rüstungen, ledernen Fahnen, oder was er sonst zu seiner persönlichen Ausschmückung für das passendste hält, der Nachwelt zu überliefern.

Von England kommen Visitenkarten in den Handel, deren eine 500 Köpfe berühmter Persönlichkeiten enthält. Die Photographen werden dem Conversationslexikon Concurrrenz machen. Ein Pfund Höllenstein ermöglicht die Herstellung von zwei und einer halben Million berühmter Männer. So viel könnten wir ungefähr in Deutschland zusammenbringen, wenn wir die Gelehrten des kleinen Reactionair mitrechnen wollten. Im Ganzen aber hätte die Frankfurter Scheideanstalt das Material geliefert für 22,000 Millionen Portraits. Nun sage man, daß das Silber nicht das edelste Metall ist. Aus einem bleiernen Löffel macht ein Nürnberger Spielwaarenfabrikant 25 Soldaten, Officiere oder Gemeine, gleichviel, aus einem silbernen kann der König von Preußen sich jeden Soldaten seines Kriegsheeres einzeln abbilden lassen.




Berthold Auerbach’s Volkskalender für 1864 wird auch diesmal in seiner bekannten schönen Ausstattung Anfang September bei dem Verleger der „Gartenlaube“ erscheinen. Er bringt wiederum von Männern der Wissenschaft, der Kunst und des praktischen Lebens eine der Blüthe und Bildung Deutschlands würdige Nahrung. Die Illustrationen von W. v. Kaulbach und Paul Thumann gereichen demselben sehr zur Zierde und sind, wie sich das von den beiden Künstlern erwarten läßt, vortrefflich ausgeführt. Der Kalender enthält an sonstigen Beiträgen: Ein vollständiges Kalendarium. Mit Monatsbildern von W. v. Kaulbach. Wilhelm Tell. Eine Erzählung von Moritz Hartman. – Die Baumwolle und der Mensch. Ein Bild aus der Culturgeschichte von Berthold Sigismund. – Ja, Anno Dreizehn! Eine Geschichte von Edmund Höfer. – Das Huhn, geschichtlich und nationalökonomisch betrachtet von Eduard Uhlenhuth. – Böse Saatfrucht. Eine Erzählung von Berth. Auerbach. – Die Zehntablösung. Ein Capitel aus dem norddeutschen Bauernleben von M. Anton Niendorf. – Eine Winternacht auf der Locomotive. Eine Skizze von Max Maria v. Weber. – Die unsichtbare Geistermusik. Ein Graudenzer Erlebniß von Ludwig Walesrode. – Heiteres und Ernstes von Berthold Auerbach.




Kleiner Briefkasten.

Dr. in P. Ueber die Wagner-Liszt’sche Richtung sind seit einem Decennium so viele Bücher und Aufsätze erschienen, daß das Publicum, welches sich dafür interessirt, nur noch ein äußerst geringes ist. Die Mehrzahl, das wissen wir aus Erfahrung, überschlägt jetzt Artikel über diesen Gegenstand. Ihr Artikel kann daher keine Verwendung in der Gartenlaube finden.