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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]

No. 3.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.

Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Kaum aber hatte sich die Thüre hinter dem Grafen geschlossen, als die Marquise den Kopf empor hob, wie Einer, der eine mühevolle Arbeit abgethan, und mit erleichtertem Herzen Athem schöpfend, sagte sie: „Wohl mir, er geht!“

Im Schloßhof schlug es die neunte Stunde. Die Marquise nahm den Leuchter vom Tische und trat an einen der Spiegel heran, ihre Frisur, ihren Anzug zu mustern. Mit eiliger Hand rückte sie das Brillantschloß an ihrem Perlenhalsbande zurecht und bog den Esprit von Diamanten, der die dunkelrothen Federn auf ihrem Toupet zusammenhielt, ein wenig tiefer nach der Stirne nieder. Ihr Gesicht strahlte ihr in aller seiner klaren, gebieterischen Schönheit aus dem Spiegel wieder. Und als das Rauschen ihres Schleppkleides nicht mehr in dem Pavillon zu hören war, als das Licht ihn nicht mehr erleuchtete, da schwebten nur die Geister des Schmerzes darin umher, den ein edles Männerherz jetzt eben in dem einsamen Raume erduldet hatte.

Als der Graf seine Wohnung erreichte, fand er in derselben seinen Neffen, den Junker Ulrich von Thuris, der ihn erwartete. Er fragte, ob der Onkel reisen werde; der Graf bejahte es. „Ich werde auf diese Weise endlich einmal in meine Heimath kommen!“ sagte er, gleichsam um sich eine angenehme Aussicht aus der Verdüsterung zu eröffnen, die ihn umfangen hielt, aber diese Aussicht hatte bis jetzt wenig Verlockendes für ihn, denn er kannte seine Heimath nicht.

Schon sein Vater hatte in Diensten der französischen Königsdynastie gestanden, war zum Range eines Generals emporgestiegen und hatte sich mit einer Deutschen verheirathet, deren Vater von einem der kleinen deutschen Höfe als Gesandter in Paris accreditirt war. Graf Joseph und dessen einzige bedeutend ältere Schwester waren Beide in Frankreich geboren und erzogen worden, und als der General mit Frau und Sohn einmal die Reise nach der Schweiz gemacht, um die eben vermählte Tochter auf ihrem Schlosse unfern der italienischen Grenze zu besuchen, war Graf Joseph noch ein Knabe gewesen. Dunkle Bilder von hohen, schneebedeckten Bergen, von rauschenden Wasserstürzen, von engen, schwindelnden Alpenpässen, von kleinen, freundlichen Städten, von lachenden Dörfern und von stolzen Burgen auf einsamen Höhen tauchten hie und da in seiner Erinnerung auf, aber er hatte bisher keine Sehnsucht danach getragen, diese bleichen Erinnerungen neu zu beleben.

Bald nach jener Schweizerreise war sein Vater gestorben, und da die Wohlgeneigtheit des Königs der Gräfin mannigfache Vortheile für die Zukunft ihres Sohnes versprach, so hatte die an das Hofleben gewöhnte Frau ohne Noth Paris nicht verlassen und noch weniger an einen dauernden Aufenthalt in den stillen Gebirgen von Graubünden denken mögen. Paris war für sie allmählich der Mittelpunkt der Welt geworden, und der Hof die Sonne, von welcher Licht und Leben für sie ausging.

In diesen Ueberzeugungen hatte sie ihren einzigen Sohn erzogen, aber mit ihrer Vorliebe für Frankreich, mit ihrer Hingebung für die herrschende Dynastie hatte sie ihm auch ihre feste Anhänglichkeit an den Protestantismus und den Ernst und die Sittenstrenge eingeflößt, welche seit den Tagen der Reformation das schöne Erbtheil ihrer im wahren Sinne adligen Familie gewesen waren.

Auch die Gräfin war nicht alt geworden, und mit achtzehn Jahren hatte Graf Joseph sich verwaist, im Besitze einer Officiersstelle in den Schweizergarden und als Herr eines bedeutenden Grundbesitzes sich selber überlassen gefunden. Der Name seines Vaters hatte ihm früh eine Geltung in dem Regimente verschafft, welches derselbe befehligt, seine Geburt verband ihn mit den ältesten Geschlechtern, und die Gunst, welcher seine Eltern sich von dem Königspaare zu erfreuen gehabt, hatte auch ihm einen gnädigen Empfang bei seiner ersten Erscheinung am Hofe gesichert. Seine Wohlgestalt und ein gewisser Zug von schwärmerischer Ritterlichkeit nahmen die Frauen für ihn ein, die Männer nannten ihn einen Mann von Muth und Ehre, einen vollkommenen Cavalier und gestanden ihm alle Vorzüge einer sorgfältig geleiteten Erziehung zu. Das Glück hatte Alles für ihn gethan, nur Eines hatte es ihm versagt: die Fähigkeit dasselbe zu genießen, oder vielmehr die innere Einheit des Wesens, ohne welche es dem Menschen nie gelingt, seines Lebens dauernd froh zu werden.

Der Graf wußte die Vorzüge, welche ihm zu Theil geworden waren, wohl zu schätzen, aber er hatte einen Ehrgeiz, der nach Befriedigung verlangte, und es eröffnete sich für denselben nicht das Feld. Er fühlte in sich Kräfte, die er auszubilden, die er zu gebrauchen wünschte, indeß die glorreichen Tage Frankreichs schienen damals vorüber zu sein. Die Regierung des sechzehnten Ludwig war keine kriegerische, es gab keine Lorbeeren mehr auf dem Schlachtfelde zu pflücken, die große Epoche der Literatur lag ebenfalls schon weit zurück, ja sogar die alte französische Fröhlichkeit belebte die Geister nicht mehr. Die besondere Gemüthsart des Königs, die Zerwürfnisse zwischen dem Volke und der Regierung, welche immer unverkennbarer hervortraten, übten, ohne daß man es sich eingestehen mochte, einen bedrückenden Einfluß auf die Stimmung des Hofes aus, und man hätte wohl sagen können, man amüsire sich aus Unbehagen, man sei so heiter, weil man anfange Sorgen zu haben. Das leichtsinnig verwegene Wort: nach

[34] uns die Sündfluth! war in der Erinnerung der Menschen unvergessen, wenn schon man es nicht mehr nachzusprechen wagte; denn selbst am Hofe gab es Personen genug, welche die Wetterwolken deutlich genug emporsteigen sahen, aus denen der vernichtende Blitz auf die Dynastie und ihre Anhänger hernieder fahren sollte.

Zu diesen Fernsehenden, Scharfblickenden hatte der jugendliche Graf allerdings nicht gehört, aber man hatte ihn zu jenen edlen Unzufriedenen rechnen können, die von dem Tage mehr verlangten, als daß er vorübergehe, und von dem Leben mehr als flüchtigen Genuß. Unruhig umhergetrieben von einer lebhaften und doch eigentlich unbestimmten Sehnsucht, Ideale im Herzen, wie der Dichter der Heloise sie in den Menschen wach gerufen, von der Herzensschwärmerei berührt, welche in der Gestalt des Goetheschen Werther ihren höchsten Ausdruck gefunden, so hatte Graf Joseph seit ein paar Jahren in der Gesellschaft des Hofes gelebt, als die siebzehnjährige Tochter der Familie de la Roche, zu einer der Hoffräulein der Königin ernannt, am Hofe erschien.

Franziska de la Roche war eine blendende Schönheit und ebenso klug als schön, ebenso kalt und berechnend als klug. Da sie die jüngste Tochter einer zahlreichen Familie war, hatte man sie von Jugend auf angehalten, ihre eigene Zukunft und die Förderung ihrer Familie im Auge zu haben. Ihre Schönheit war nach der Ansicht ihrer Eltern ein Theil des Familiencapitales, und früh gewiegt in Träumen von Reichthum und Pracht, die nur um so verlockender wirkten, je mehr sie von der ländlichen Zurückgezogenheit abstachen, in welcher die junge Franziska erwuchs, war sie bei dem Eintritt in ihren Hofdienst fest entschlossen gewesen, ihre persönlichen Vorzüge zu nutzen und den größtmöglichen Gewinn von ihnen zu ziehen. Heiter, zuversichtlich, beobachtend und achtsam wie ein junger Jäger auf dem Anstand, lebhaft genug, um schnell erregt zu werden, und doch nicht so phantasievoll und sinnlich, daß es leicht gewesen wäre, sie wider ihren Willen zu beschäftigen und hinzureißen, ohne Gemüth und ohne Grundsätze, welche ihrer Selbstsucht und ihrem Ehrgeize hätten Schranken setzen können, würde sie unschwer zu beurtheilen und nicht eben einnehmend gewesen sein, wenn nicht die ihr anerzogene äußere Zurückhaltung ihr den Anstrich von Jungfräulichkeit verliehen hätte, von der man sich keines Bösen und keiner Täuschung versah. Sie galt nach ihrer strengen häuslichen Erziehung für sittsam und religiös, und sie bewies gleich anfangs, wie klug sie sei, indem sie sich den Beichtvater der Herzogin zu ihrem Seelsorger erwählte. Der Beichtvater empfahl sie der Herzogin, und diese, welcher es wichtig war, in der Nähe der Königin nur Personen zu haben, auf welche die herrschsüchtige Familie der Polignac’s einen bestimmenden Einfluß ausübte, nahm das junge Hoffräulein in ihren besonderen Schutz.

Fräulein de la Roche war das sehr wohl zufrieden. Sie fand es bequem, eine Weile am Fuße der Leiter zu sitzen, auf welcher sie empor zu steigen dachte. Sie war ganz Ergebenheit, ganz kindliche Fügsamkeit gegen ihre Beschützerin, was sie jedoch gar nicht hinderte, ihr Auge offen zu behalten und sich nach einer guten Heirath für sich selber umzusehen.

Der schöne Graf von Rottenbuel dünkte sie dazu der rechte Mann. Sie sah, daß die Mütter heirathbarer Töchter ihn auszeichneten und daß er am Hofe wohl gelitten war. Das genügte ihr, ihn anzuziehen, und ihre Schönheit, ihre Jugend erleichterten ihr die Aufgabe um so mehr, als dem Grafen jener berechnende und selbstische Sinn, welcher Franziska eigen war, völlig fehlte. Er hatte sich, seinen Neigungen, seinen Träumen gelebt, er war ein glaubensvoller Schwärmer inmitten einer Gesellschaft, die nicht glaubte und schwärmte. Er hatte nur eine Befriedigung für sein Herz, nicht wie Fräulein de la Roche eine Stellung und eine gesicherte Zukunft für sich zu suchen. Er war Majoratsherr, sie die jüngste Tochter einer adelstolzen Familie, deren Grundbesitz gleichfalls ein Majorat war, und deren übriges Vermögen eben nur hinreichte, den jüngeren Söhnen ein standesgemäßes Auftreten und für die Töchter eine anständige Mitgift zu ermöglichen. Graf Joseph gab sich Franziska’s Bewerbung arglos hin, er fühlte sich von ihr gefesselt, und bald liebte er sie mit der vollen Hingebung, mit dem schrankenlosen Vertrauen der ersten Liebe. Aber gerade das idyllische, das romantische Element in seinem Herzen, die Pläne, welche er für seine Zukunft an der Seite eines geliebten Weibes entworfen hatten, trennten Franziska von ihm. Sie fand sich zu jung und zu schön, um ihr Leben in dem einsamen Schlosse eines unwirthlichen Gebirgslandes hinzubringen, und kaum eröffnete die Galanterie des Marquis von Vieillemarin ihr die Aussicht, als Cousine der Herzogin in ihrer eben angetretenen Stellung neben der Königin bleiben zu können, als sie ihre Absicht auf den Grafen aufgab und sich nur noch demüthiger und fester an die Herzogin anschloß.

Franziska de la Roche wurde Marquise von Vieillemarin. Sie hatte den Grafen getäuscht und ihn ihrem Ehrgeiz geopfert, sie täuschte auch ihren Gatten und die Herzogin, und wußte es doch allen Dreien unmöglich zu machen, daß man sie aufgeben, sich von ihr frei machen und sie bloßstellen konnte. Sie nannte sich gegen den Grafen ein Werkzeug in den Händen ihrer Familie, sie betheuerte ihm, daß seine Liebe ihr Glück gewesen wäre, daß seine Freundschaft ihr einziger Trost in dem Unglück ihrer Ehe, daß er ihr unentbehrlich sei. Sie reizte heute seine Liebe und morgen seine Eifersucht auf, sie nahm sein Mitleid, seine Großmuth, seinen männlichen Freundesschutz in Anspruch; sie wußte, um es mit einem Worte zu bezeichnen, Herr über seine Gedanken und Empfindungen zu bleiben, sie nahm ihm Ruhe, Frieden und Zukunft, sie gönnte ihm die Freiheit nicht, nach welcher sie ihn oft verlangen sah. Die Liebe, die ausdauernde Treue und Freundschaft eines Mannes von fleckenloser Ehre waren schon nach wenig Jahren für die Marquise ein fester Anhalt und ein schützendes Panier, die sie nicht entbehren wollte und nicht wohl entbehren konnte, da ihre Stellung am Hofe allmählich eine bedenkliche geworden war.

Die Herzogin haßte Franziska, denn sie hatte sich in allen den Voraussetzungen betrogen, unter denen sie dieselbe zur Gattin für ihren Vetter ausersehen. Sie war der Zuversicht gewesen, das kluge, einfach erzogene Fräulein werde den leichtsinnigen Marquis an Ordnung gewöhnen und ihn von seinen verschwenderischen Neigungen zurückzubringen verstehen. Sie hatte darauf gerechnet, in ihrer jungen Verwandten auch künftig die fügsame Ergebenheit wieder zu finden und von ihrer feinen Beobachtung nach wie vor Vortheil zu ziehen. Indeß die Marquise hatte nur eben erst den Boden unter ihren Füßen gewonnen, auf welchem sie stehen konnte, als sie auch bereits für eigene Rechnung zu arbeiten begann. Sie ließ ihren Gatten ruhig gewähren, denn die Freiheit, welche sie ihm zugestand, wünschte sie auch für sich selber in Anspruch zu nehmen, und statt ein Werkzeug der Herzogin zu werden, ward sie bald dreist genug, an eine Nebenbuhlerschaft mit ihrer hoch in Gunsten stehenden Verwandten zu denken.

Auf diese Weise war zwischen den beiden Frauen ein heimlicher Kampf entbrannt, dessen Erfolg nicht lange zweifelhaft geblieben sein würde, hätte die Herzogin nicht bei Allem, was sie gegen die Marquise unternahm, die Rücksicht auf ihres Neffen Ehre, auf die Ehre ihres eigenen Hauses zu nehmen gehabt. Indeß Franziska mißbrauchte mit der ihr eigenen Keckheit die Schonung, welche die Herzogin ihr angedeihen ließ, bis diese endlich, mehr und mehr gereizt, ein Ende zu machen beschloß, bei welchem Franziska eben der Familienehre geopfert werden sollte.

Wen man in eine Falle zu verlocken wünscht, den muß man vor allen Dingen den Weg verfolgen lassen, welcher ihn zu derselben führt, und die Schranken und Stützen forträumen, die ihn zurückhalten und an welche er sich lehnen könnte. So hatte denn auch die Herzogin bald leichthin ermahnend, bald entschuldigend der Verschwendung und den galanten Abenteuern ihrer jungen Cousine zugesehen, ja sie hatte derselben stets das Wort geredet, wenn hier und da eine mißbilligende Bemerkung gegen die schöne Marquise laut geworden war; denn wer konnte an Franziska glauben, wer konnte nach dieser von der Herzogin befolgten Vorsicht Franziska in Schutz zu nehmen denken, wenn die Frau, welche sich stets als ihre Freundin und Gönnerin gezeigt hatte, sich einst gegen sie erhob? Wer konnte sich der Marquise annehmen, als der Graf von Rottenbuel in seiner schwärmerischen Ritterlichkeit – und eben diese beschloß die Herzogin jetzt zu gebrauchen, um Franziska zu verderben, denn die verwegene Eitelkeit der jungen Frau war bereits zu einer für die Herzogin bedrohlichen Höhe emporgewachsen.

Die Herzogin genoß außer dem vollen Vertrauen der Königin auch die Freundschaft des Grafen von Artois. Sie hatte ihren Vetter, den Marquis von Vieillemarin, durch die Heirath mit Franziska an den Hofstaat der Königin attachirt, und ihren Neffen, den Chevalier von Lagnac, früh in die unmittelbare Nähe des Grafen von Artois gebracht, um ihres Einflusses und ihrer Herrschaft an beiden Hofstaaten sicher zu bleiben. Aber Franziska’s [35] Ehrgeiz verfolgte ein gleiches Ziel, und die Hoffnung, durch ihre Jugend und Schönheit die Herzogin überflügeln und sie in der Freundschaft des Grafen von Artois ersetzen zu können, hatten Franziska bewogen, einen Liebeshandel mit dem Chevalier von Lagnac anzuknüpfen, den sie aufzugeben fest entschlossen war, sobald sich ihr die Möglichkeit eröffnen würde, den Gebieter statt des Dieners an sich zu fesseln. Aus dem Punkte, dieses Ziel zu erreichen, nöthigte das Duell zwischen dem Grafen von Rottenbuel und dem Chevalier sie, wider ihr Erwarten stille zu stehen; denn was die beiden Männer zu demselben veranlaßt hatte, darüber war man eben nicht zweifelhaft, und die Herzogin beschloß, die Gelegenheit zu einer Demüthigung ihrer hochfahrenden Verwandten zu benutzen.

Der Marquis von Vieillemarin war von jeher ein biegsames Wachs in den Händen seiner vielvermögenden Cousine gewesen. Er hatte geliebt und geheirathet, geschwiegen und verziehen, wie die Herzogin es für gut befunden, und es bedurfte nur ihrer Anmahnung, daß es ihm nicht gezieme, den Galanterien der Marquise länger zuzusehen, um seinen Zorn gegen dieselbe zu entflammen und ihn die Rolle des beleidigten Gatten übernehmen zu lassen. Aber auch jetzt wieder war es die Herzogin, die dem Ausbruche seines Zornes Schranken setzte. Eine Verwandte ihres Hauses sollte nicht vom Hofe entfernt, nicht etwa in Ungnaden entlassen werden. Sie sollte nur wissen, welche Gefahr ihr drohte und wessen Willen ihr Schicksal lenkte; sie sollte wo möglich von einer Nebenbuhlerin wieder zu einer willfährigen Gehülfin herabgedrückt werden und einen neuen Beweis davon erhalten, daß die Herzogin das Ruder noch in festen Händen führe, daß die strenge Hand derselben noch über ihrem Haupte schwebe.

Gegen den Bruder des Königs, gegen den Grafen von Artois, vermochte die Herzogin nichts zu unternehmen, und der Günstling desselben, ihr eigner Neffe, lag auf den Tod verwundet. Sollte Franziska also die Macht der Herzogin empfinden, so mußte derjenige büßen, auf den die Marquise am sichersten vertraute, und den die Herzogin eben deshalb mit Uebelwollen ansah.

Es war kein Zweifel, Graf Joseph mußte geopfert, mußte verhaftet und womöglich gänzlich entfernt werden. Der König handelte dann nach seiner Ansicht über das Duell, der Graf von Artois empfing eine Genugthuung für die Verwundung seines Günstlings, der Marquis genoß eine Befriedigung gegenüber seiner Frau, diese selbst mußte, während sie in der Gunst der Königin verlor, ihre eigene Ohnmacht erkennen, und die Herzogin zweifelte nicht daran, daß die Marquise auch in den Augen des Grafen von Artois verloren sein werde, wenn sie demselben die Beweise für Franziska’s Liebeshandel mit dem Chevalier zu bieten im Stande sei, in deren Besitz sie sich befand.

Der Plan war gut überlegt und konnte nicht leicht fehlschlagen, nur einen Umstand hatte die Herzogin nicht erwogen, nur Eines hatte sie nicht in Betracht gezogen – die Scharfsicht und schnelle und kluge Berechnung, deren auch Franziska fähig war.

Wie schnell die Herzogin auch handelte, so hatte sie doch Rücksichten zu nehmen und ihre äußere Stellung würdig zu bewahren, wo für Franziska wenig zu verlieren und Alles zu gewinnen stand; und noch war der Verhaftbefehl gegen den Grafen von Rottenbuel nicht unterzeichnet, als der Graf von Artois schon das folgende Billet Franziska’s in seinen Händen hielt:

„Eure Königliche Hoheit! An wen sollte eine Frau sich wenden, welche das hohe Glück hat, Sie zu kennen und Ihre ritterlichen Eigenschaften zu verehren, sich in ihrer Verwirrung um Hülfe und um Beistand wenden, als an Sie, der Sie der ganzen Jugend Frankreichs das hochherzige Beispiel jener großmüthigen Galanterie geben, welche so vorzugsweise das Eigenthum unseres Vaterlandes ist? – Die eifersüchtige Freundschaft des unglücklichen Chevalier von Lagnac, dessen leidenschaftliche Ergebenheit für Ihre Königliche Hoheit sich schon durch die Zeichen des huldvollen Antheils beunruhigt fühlte, mit dem Ihre Königliche Hoheit mich zu begnadigen geruhten, hat sich in einer Aeußerung Luft gemacht, welche das Uebelwollen zu mißdeuten im Stande gewesen wäre, hätte nicht ein Freund, ein Freund, den ich wie einen Bruder liebe, seit der Wille meiner Familie und das unumschränkte Machtgebot der Frau Herzogin mich hinderten, ihm einen zärtlicheren Namen zu geben, sich meiner angenommen. Sie wissen, Königliche Hoheit, was geschehen ist. Man glaubt sich Ihnen wohlgefällig zu machen in Ihrem Sinne zu handeln, wenn man den Grafen von Rottenbuel seiner Freiheit beraubt. Erklären Sie, mein gnädigster Herr, ich beschwöre Sie darum, daß Sie seine Bestrafung nicht begehren; oder besser noch, lassen Sie ihn wissen, daß Sie ihm die Verwundung des Chevaliers verzeihen, und befehlen Sie ihm, Königliche Hoheit, daß er den Urlaub, den er bereits gestern gefordert, zu seiner Sicherung durch die Flucht benutze. Freilich werde ich dann ganz einsam, ohne Stütze, ohne den Beistand eines Freundes mich dem Uebelwollen meiner Familie preisgegeben finden; aber ist mein Vertrauen zu kühn, ist meine Hoffnung auf die Gnade Ihrer Königlichen Hoheit trügerisch, wenn ich mir damit schmeichle, Sie würden es nicht verschmähen, einer Frau Ihre Theilnahme und Ihren Schutz angedeihen zu lassen, die kein heißeres Verlangen hat, als Ihnen zu beweisen, Monseigneur, wie sehr sie Ihnen ergeben und in Bewunderung zu eigen ist?“


Als Graf Joseph nach seiner Unterredung mit Franziska in seine Wohnung zurückkehrte, fand er in derselben ein Schreiben vor, welches von einem königlichen Läufer eben erst für den Grafen abgegeben worden war. Es trug nur einen Buchstaben, nur ein C. als Namensunterschrift, aber Graf Joseph kannte diesen Buchstaben mit dem kühnen Zuge, und seine Wange erbleichte, während er die Zeilen las:

„Man meldet mir soeben den Tod meines Kammerherrn, des armen Chevalier von Lagnac, und das Herz noch blutend von dem Kummer über diesen Verlust, will ich mich überwindend in dem großmüthigen Sinne des jungen Freundes handeln, den ich verloren habe. Ich gehöre nicht zu Ihren Gegnern, ich verlange nicht, Sie bestraft zu sehen. Verlassen Sie Frankreich, Herr Graf! – Ihre Anwesenheit würde Ihre Freunde verhindern, für Sie eintreten zu können, wie das liebenswürdige Herz Ihrer Freundin es für Sie wünscht. Reisen Sie, Herr Graf, und überlassen Sie uns die Sorge für Ihre Sicherheit.“

Ein bitteres Lachen, ein Lachen, das ihm wehe that, tönte von Graf Joseph’s Munde an das Ohr seines Neffen, der gekommen war, die Befehle seines Onkels zu vernehmen. Er fragte nicht, was der Brief enthalten habe, der Graf erwähnte desselben mit keinem Worte.

Der Wagen des Grafen stand vor seiner Thüre, und als in dem Concertsaal des Königsschlosses zu Versailles die mächtigen Klänge der Gluck’schen Iphigenia ertönten, als der galante Graf von Artois die schöne Marquise von Vieillemarin seines Schutzes und seiner guten Dienste auf das Feurigste versicherte, rollte der Wagen des Grafen von Rottenbuel zu dem Thore der Stadt hinaus in das Dunkel der schwülen Sommernacht, die kein Stern erhellte.


Es war seit Jahren zwischen dem Grafen und seiner Schwester, der Freifrau von Thuris, die Rede davon gewesen, daß der Graf die Schweiz besuchen, seine Heimath, seine Besitzungen, seine Familie kennen lernen sollte; aber eben der Grund, welcher die Freifrau die Entfernung ihres Bruders von dem Hofe so lebhaft hatte wünschen lassen, hatte diesen dort gefesselt; und nun, da ein Zusammentreffen von Ereignissen ihn nach der Schweiz zu gehen bewogen, war es so plötzlich geschehen, daß Niemand von des Grafen Familie davon Kunde erhalten konnte und Niemand von den Seinen ihn erwartete. Nicht einmal in seinem eigenen Hause wußte man, daß der Herr es zu besuchen denke, und er selber erinnerte sich dieses Hauses eben nur wie eines Gebildes aus irgend einem Traume.

Die Sonne war im Sinken, als ihm plötzlich bei dem Blick auf die Ruinen der Burg Liechtenstein das Bewußtsein kam, daß er diese Ruine schon gesehen, und an dem einen Anhaltepunkte stieg die ganze Gegend in seinem Gedächtniß als eine bekannte und ihm vertraute empor. Hier war er als Kind in dem großen Reisewagen seiner Eltern gefahren, aus dem er hinabgesehen auf die grünen, weißschäumenden Fluthen des Rheines. Das war der Sessaplana, das der Callanda, auf dessen scharfgezeichnetem Gipfel der Schnee erglänzte, obschon das Land zu seinen Füßen sich in die volle Pracht des Sommers gekleidet hatte; und dort, wo das Thal sich verengte, dort ragten sie empor aus der Höhe, der mächtige Dom und der breit hingelagerte Bischofsitz der alten rhätischen [36] Stadt, dort erhob sich noch immer der viereckige, uralte Thurm der einstigen Römerfeste, der Curia Rhaetorum, die, wie ihm sein Vater damals erklärt hatte, mit weiser Berechnung auf diesem Flecke angelegt, die drei Thäler zu gleicher Zeit beherrscht und so dem Angriff von allen Seiten zu trotzen vermocht hatte.

Die fernste Vergangenheit, der Gedanke an seine Jugend, an seine Eltern und an das Jüngsterlebte schmolzen in der Seele des Grafen in eine wehmüthige Empfindung zusammen. Er fühlte es, welch ein Atom der Mensch sei, und sehnte sich doch mehr als je zuvor nach einem festen Anhalt für sein flüchtig hinschwindendes Dasein. Es schmerzte ihn, daß er den Weg nach seiner Heimath, nach seinem Hause gar nicht kannte, und es war eine schmerzliche Neugier, mit welcher er aus seiner Reisekalesche in die Gegend hinaussah, die Straße verfolgend, welche man ihn führte, und nach dem kleinen Thurme an seinem Hause spähend, dessen er sich wie eines Wahrzeichens zu entsinnen meinte. Der Bursche, der ihn mit fröhlichem Peitschenknalle die lange Pappelallee von dem Flecken Malsanz nach der Stadt hinauffuhr, der so sicher seine Pferde durch das mit Thürmen flankirte alte Stadtthor und durch die engen, gewundenen Straßen leitete, der kannte das gräflich Rottenbuel’sche Haus, der wußte es zu finden. Der Besitzer des Hauses hätte das kaum vermocht.

In der Stadt war Lebens genug. Die Bürger standen vor ihren Thüren, die letzte Abendstunde mit einander zu verplaudern, an den Brunnen tränkten italienische und romanische Kärrner ihre müden Thiere, welche morgen den Weg über das Gebirge wieder zurücklegen sollten, und schäkernde Burschen mit dunkel glänzenden Augen, die bräunliche Sammetjacke auf gut Italienisch über die Schulter geworfen, hielten sich zu den Mägden und Weibern, die ebenfalls an den Brunnen beschäftigt waren oder mit den vollen Körben auf dem Kopfe von den Wiesen und Gärten in die Stadt zurückkehrten.

Nun bog der Wagen um eine Ecke, nun fuhr man über die Brücke, und nun erblickte Graf Joseph auch das wilde Bergwasser, das lärmend und brausend seine weißen Gischtmassen zwischen den schmalen Ufern herniederrauschen ließ zum nahen Rhein. Das war die Plessur, die von den Bergen herabkam, und dort am andern Ufer, das war es, das war sein Vaterhaus, seiner Väter Haus zu Chur.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, sie waren ihm feucht geworden. Er hatte sich das Haus größer, höher, den Thurm so mächtig gedacht. Er seufzte unwillkürlich. Auch das Haus war zusammengeschrumpft wie alle seine Ideale, es war nicht das, was er davon erwartet hatte.

Je mehr sie sich aber dem Hause nahten, je deutlicher er es unterscheiden konnte, um so besser fing es ihm zu gefallen an. Die grünen Läden an den hohen Fenstern der sauber gehaltenen weißen Wände, die schönen Pappeln am Eingange des Gartens, die wohlgeschorene Hecke und die zugespitzten Buchsbaum-Pyramiden verriethen, daß hier treulich Sorge für ihn getragen worden sei, und da er fühlte, wie Liebe hier für ihn gewaltet, spann sich leise ein Faden von seinem Herzen zu seiner Heimath hinüber.

Der überraschte Hauswart hatte Thor und Thüren seinem fremden Gebieter geöffnet, und Graf Joseph fand sich am Abende einsam in dem Hause, das er zum ersten Male als das seine betrat. Er hatte sich das Zimmer seines Vaters zum Aufenthalte ausgewählt, sein Kammerdiener sorgte für seines Herrn Bedürfnisse und Bequemlichkeit; indeß die leeren Räume ließen sich nicht beleben, und der Graf kannte Niemand in Chur, den er hätte auffordern mögen, ihn zu besuchen. Seine Blutsverwandten waren in dieser Zeit schon lange auf ihren Besitzungen in den Bergen und in den hochgelegenen Thälern; und die einzelnen Personen aus seiner Vaterstadt, mit welchen er bei ihren gelegentlichen Besuchen in Frankreich in flüchtige Berührung gekommen war, fühlte er sich nicht gestimmt zu sehen.

Als es Nacht geworden war, brachte sein Kammerdiener ihm das Licht in’s Zimmer. Er setzte den schweren Armleuchter auf den Tisch, daneben eine Flasche des alten Weines, der seit fast einem Menschenalter ungenutzt in dem gräflichen Keller gelagert hatte, und verließ dann das Gemach.

Der Graf warf einen flüchtigen Blick nach dem Tische, und der alte Leuchter hellte die ganze Vergangenheit für ihn auf. Er hatte ihn als Kind oftmals betrachtet, den emporschwebenden Genius, der, aus schwerem Silber gearbeitet, die Fackel mit den drei Lichtern emporhielt. Sein Vater hatte dem Grafen erzählt, daß dieser Leuchter ein altes Besitzstück seines Hauses sei, ein Werk von Benvenuto Cellini’s kunstgeübter Hand. Einer seiner Ahnen, Graf Ubald von Rottenbuel, der lange in päpstlichen Diensten gestanden, hatte es aus Italien mitgebracht, als er sich in die Heimath zurückgezogen und sich ein Weib genommen hatte. Er hob den Leuchter empor, er besah prüfend die schöne Arbeit, aber es war nicht das Kunstwerk, das ihn beschäftigte. Er hätte Jemand haben mögen, dem er die Geschichte dieses Leuchters, die Geschichte des Grafen Ubald und die ganze Herkunft und Abstammung seines Hauses hätte erzählen können, wie sein Vater sie ihm hier in diesem Zimmer einst vorerzählt. Das alte Erbstück der Familie, der alte Besitz machten ihn sehnsüchtig, denselben weiter fortzuvererben, gaben ihm ein Verlangen nach Weib und Kind.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn, über die Augen. Er wollte die Gedanken bannen, er wollte vielleicht auch ein Bild verscheuchen, das sich ihm vor die Augen drängte; aber was er auch beginnen mochte, er wurde seiner Stimmung nicht Meister, er konnte in dem einsamen Hause kein Behagen finden, und die Sehnsucht nach einem Menschen, dem er sein Herz erschließen, an den er sich lehnen könne, brachte ihn zu dem Entschlusse, sich schon am folgenden Morgen in aller Frühe auf den Weg zu machen, um sein Stammschloß in den Bergen noch am Abende zu erreichen, seiner Schwester von dort einen Boten zu senden und sie von seiner Ankunft zu benachrichtigen.

Am Abende war er als ein Fremder in sein Haus gekommen, am Morgen erwachte er in demselben mit der Empfindung des Besitzers. Er glaubte hier eine Vernachlässigung, dort die Möglichkeit zu einer Verbesserung zu bemerken. Obschon er sich gleich auf den Weg zu machen beabsichtigte, ließ er den Hauswart kommen und gab die Anweisung zu einigen Veränderungen, die er sogleich ausgeführt zu haben wünschte. Als er seine Befehle aussprach, dünkte es ihn nicht, als habe er damit etwas Besonderes gethan; da aber der Hauswart in die Details des zu Beschaffenden einging, fiel es dem Grafen auf, daß er sich darum gekümmert habe, und obschon diese Art der Vorsorge ihm in dem Augenblicke als etwas Lästiges erschien, knüpfte es ihn bereits, ohne daß er es gewahrte, an die Reihen seiner Vorfahren an, daß er für die Stätte Sorge trug, welche sie begründet hatten.

Damals war der Weg, der von Chur aus über den Paß des Julier nach den Quellen des Inn in das Engadin führte, noch ein sehr beschwerlicher. Schmale, steile Pfade, nur dem sicheren Schritte des vorsichtigen Bergpferdes und dem festen Fuß des rüstigen Wanderers zugänglich, stiegen über die Felsen hinauf, leiteten an tiefen Abhängen vorüber, in die Thäler hinunter und verloren sich bisweilen ganz, so daß der Wanderer selbst die Stelle zu suchen hatte, von der aus er weiter vorwärts kommen konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Die falschen Spieler, von Knaus.


Gute Kunstwerke bedürfen, um recht genossen zu werden, selten einer erläuternden Beschreibung, und schwer ist es, wo das Bedürfniß einer solchen vorliegt, sich nicht den Vorwurf zuzuziehen, den Goethe so treffend den Auslegern macht:

Im Auslegen seid frisch und munter,
Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!

Den nachstehenden Andeutungen über das Knaus’sche Bild möge deshalb die Verwahrung vorausgeschickt werden, daß sie nur eine aus öfterer Betrachtung des Originals hervorgegangene Schilderung persönlicher Eindrücke zur Ergänzung der leider nur unvollkommenen Holzschnittnachbildung sein sollen.

Knaus hat in seinen „falschen Spielern“ den glücklichen Griff gethan, einen Gegenstand so aufzufassen, daß die Handlung wie die Charakteristik der Personen auf den ersten Blick deutlich hervorspringt und durch die feine malerische Durchbildung der eingehenden Beachtung ergiebigen Stoff, zum Genuß der Einzelheiten,

[37]

Die falschen Spieler.
Gemälde von Knaus.

[38] wie der Phantasie Raum zur Ausbildung des im Bilde Angedeuteten übrig läßt.

Es ist eine dumpfe Wirthsstube – wie es scheint im Schwarzwalde – wo ein sauberes Kleeblatt von Spielgaunern einen ehrlichen Landmann sich zur Beute ausersehen hat; ein trübes Tageslicht giebt der Farbenstimmung des Bildes den eigenthümlichen Reiz vielfach gebrochener Töne und läßt die Köpfe der Spieler in wirksamer Helligkeit von dem dunkeln Hintergrunde vortreten. Der zahnlose Alte links ist das meisterlich aus dem Leben gegriffene Bild einer in Laster ergrauten Natur; die kurze Gestalt mit den aufgedunsenen Gesichtszügen, die lahm und verbittert, nur immer nach unten gebückt, keinen andern Genuß kennt, als erfüllte Gier, sie erscheint wie ein Schreckbild geistiger Verkommenheit, und die Andeutung der abgetragenen kleinbürgerlichen Kleidung zeichnet die ganze Geschichte des heruntergekommenen Spielers. Sein Partner, der ihm unter dem Tische verstohlen ein Kartenblatt zuschiebt, scheint mit spitzbübischer Freude dem guten Erfolg seines Treibens entgegenzusehen; mit dem kurzgeschorenen Haar, wie vor kurzem aus dem Zuchthaus losgekommen, hat er ganz den Ausdruck einer „confiscirten“ Verbrecherphysiognomie. Der mehr im Halbdunkel gehaltene dritte Gehülfe verräth hinter dem Rücken des Betrogenen durch ein Zeichen mit der Hand dessen Karten, in seiner scheuen Haltung ist er der charakterisirte Spion. Ein interessanter Kopf ist der des betrogenen Bauers. Die blassen Züge des nicht gewöhnlichen Gesichtes lassen in ihm eine Natur vermuthen, die aus ihrer Umgebung heraus Entwürfe und Pläne hegt und, weil sie ein Besseres in sich fühlt, leicht verleitet die Grenze ihrer Kräfte nicht bemißt. Das Gepräge einer grundehrlichen Seele spricht aus dem sorglichen Ernst, mit dem er seine Karten berechnet, ohne zu ahnen, wie ungleich die Waffen vertheilt sind, und hoffnungslos unbefriedigend wäre der Eindruck der ganzen Gruppe, träte nicht der Sonnenschein des Lebens in der Kindergestalt herein, die den Vater mit rührender stiller Bitte anrührt, er solle „heim“ kommen. Wie das barfüßige kleine Mädel dasteht in ihrer kindlichen Frische, giebt sie dem Beschauer eine stille Zuversicht, daß das müde Auge des Vaters auf ihr unschuldiges Gesichtchen fallen, und daß er wieder Heimkommen werde, woher sie von der sorgenden Mutter geschickt ist, und den falschen Spielern diese Beute wenigstens nicht für immer zufalle. –

Knaus hat dieses Bild 1851 gemalt, und es ward vom Leipziger Kunstverein für das städtische Museum erworben, das sich seines Besitzes als einer Zierde der gewählten Sammlung erfreut. Der Maler hat denselben Gegenstand noch einmal in einem Gemälde, das jetzt die städtische Gallerie in Düsseldorf besitzt, behandelt; dort ist die Wirthsstube größer und noch ein Tisch mit Spielern im Hintergrund sichtbar. Der reiche malerische Eindruck des größeren Bildes wiegt jedoch den unheimlichen Eindruck, den die Spieler allein in der düstern Stube hervorrufen, nicht auf.

Der schon in jungen Jahren berühmt gewordene Meister (Ludwig Knaus ist 1829 in Wiesbaden geboren) gehörte der Düsseldorfer Schule an und erregte dort 1850 durch seinen „Bauerntanz unter der Linde“ große Erwartungen, die sich im Laufe der Jahre vollständig erfüllten. In den letzten Jahren lebte er in Paris, und es wurde befürchtet, er möge auch in seiner Kunstweise dem französischen Einfluß, den man in seinem Bilde „eine Grisette mit ihrer Katze“ wahrnehmen wollte, zu sehr anheimfallen; allein sein neuestes Bild „die goldene Hochzeit“, welches auf der großen historischen allgemeinen deutschen Kunstausstellung des vergangenen Sommers zu Köln fast allgemein als das bedeutendste aller neueren Kunstwerke betrachtet wurde, ist voll des erquicklichsten deutschen Kunstgemüthes, und da der Meister in diesem Winter nach Berlin übergesiedelt ist, dürfen wir ihn mit doppelter Freude wieder zu unsern deutschen Künstlern zählen.

A. Z.     




Ein Nichtamnestirter.

(Schluß.)

Lassen wir über dieses Wiedersehen Kinkel’s und seiner Lieben in Köln Adolf Stahr reden, der ein Augenzeuge desselben war:

„Erhebend ist die Standhaftigkeit, mit welcher das greise Elternpaar das Geschick erträgt, welches ihr hohes Alter in dem geliebten Tochtermanne getroffen. Wie ich sie vor mir sah, aufrechten Hauptes, ungebeugten Sinnes, voll ruhiger Ergebung alle Liebe den unmündigen Kindern ihres Gottfried zuwendend, welche heiter und harmlos ihre Kniee umspielten, da fühlte ich mich selbst erhoben und gestärkt durch solchen Lebensmuth, der alte Herzen jung macht und die zitternde Hand der Greise kräftigt, daß sie der Jugend zur Stütze dienen kann. Das erste Wiedersehen Johanna’s und ihres Gatten ist erschütternd gewesen. Sie hatte die Erlaubniß erhalten, ihn zu besuchen, und nahm ihren ältesten (sechsjährigen) Sohn und die kleine Johanna mit. Man hatte ihm die Reisekleider wieder abgenommen und den unglücklichen Mann auf’s Neue wieder in die Züchtlingsjacke gesteckt. Die lange Kerkerhaft, die schlechte Nahrung und die Entwürdigung hatte ihn welk, stumpf und schlaff gemacht. Er besaß nicht einmal mehr Kraft, die Wohlthat eines vollkräftigen Schmerzes zu empfinden. Nur ein paar Thränen drängten sich ihm in die Augen, als er zum ersten Male sein Weib und Kind wiedersah. Das Kind erkannte den Vater erst, als es seine Stimme hörte. So hatte ihn die Züchtlingstracht, das rasirte Gesicht, das kurzgeschorene Haar entstellt. Es starrte verwundert seine kurzen Hosen und seine groben Strümpfe an, und wollte nicht glauben, daß der Papa dieses tragen müsse. „Mir hat der Papa eine Puppe versprochen,“ sagte die kleine vierjährige Johanna, „so groß wie ich selbst, wenn es auch lange dauert.“ Die Thränen kamen mir bei diesen Worten in die Augen. Kann ein Mensch, der dieses hört, sein Herz versteinern? O, ich fühlte es, und hätte der Vater dieser Kinder mir den eigenen Bruder erschlagen, ich könnte nicht Rache nehmen an dem Ueberwundenen, Wehr- und Waffenlosen, den das Schicksal in meine Hand gegeben. Ich könnte ihn nicht seinem Weibe und seinen Kindern rauben. Nein, und für ewig!! Nie! Thut, was ihr wollt und könnt! Ihr habt die Macht und darum das Recht. Standrechtet und erschießt eure Gegner, die für ihr Recht und für ihre Ueberzeugung gegen euch aufgestanden! Laßt dem Rechte seinen Lauf, laßt die Welt zu Grunde gehen und waltet auf ihren Trümmern mit dem Schwert. Thut das Alles, aber fälscht den höchsten Abglanz der Gottheit nicht, sprecht nicht von Gnade, wo ihr den Menschen vom Tode durch den Strang erlöst, um sein Gehirn mit euern Kugeln zu verspritzen, wo ihr an die Stelle des befreienden Todes ewiges Gefängniß setzt. Bedenkt, daß nur für gemeine Seelen das Leben aller Güter höchstes ist, und daß ihr euch selbst durch solche Schätzung entwürdigt. Alle Strafe ist zuletzt Nothwehr. Wohlan denn, entledigt euch eures Feindes, aber entwürdigt ihn nicht. Nehmt ihm nicht sein menschliches Gefühl durch unwürdige gemeine Behandlung, stumpft nicht seinen Geist, zerbrecht nicht seinen Mannessinn, macht nicht aus einem Gefangenen einen matten Blödsinnigen, indem ihr den Geistesadligen wie einen ergrauten Dieb oder einen bestialischen Mörder behandelt. Gottfried Kinkel, der besiegte politische Gegner, der Rebell gegen Preußens König, aber der gehorsame Unterthan der deutschen Nationalität, der Mann von fleckenlos reinem Leben, von kindlichem Herzen, der Idealist, der, hingerissen vom Drange eines großen welthistorischen Moments, Weib und Kind verließ, der Alles opferte und der Freiheit nachfolgte – mögt ihr es Irrthum, Sünde, Verbrechen nennen – aber den Mann zu dem Geschicke eines Mörders zu begnadigen, wenn ihr dazu ein göttliches Recht zu besitzen meint, dann wendet sich jedes Herz grausend ab von solchem Rechte und von solcher Gnade. Ihr nennt euch Christen, wohlan denn! Nie gab es eine Zeit, wo die Worte mehr Wahrheit hatten, welche da sagen: „Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhms!“ Und wo sind die „Christen“, die sich an Ihn erinnern, der da beten lehrte:

Und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“

Kinkel ist, in aller Form angeklagt, im vollgedrängten Assisensaale zu Köln. Er erhebt sich und spricht zu seiner Vertheidigung. Diese Rede ist mitten in seiner tiefsten officiellen Entwürdigung [39] seine höchste, einzige Ehre. Die gewaltigsten Dramatiker und die genialsten Dichter werden kaum so erschütternde Wirkungen im Bereiche des Idealen ermöglichen, als wie sie damals von einer thatsächlichen preußischen Gerichtsscene her durch Freund und Feind und das ganze deutsche Volk zuckten.

Hier ist die Hauptstelle seiner Rede und die Schilderung desselben Augenzeugen:

„„Mit voller Schärfe steht jener zehnte Mai noch vor mir, denn dieser Tag, an dem ich, bis dahin ein hochbeglückter Mann, von all’ meinem Lebensglück schied, er ist mit den glühenden Nadeln des Schmerzes in meine Seele geschrieben. Der Sturm jener drangvollen Zeit riß mir Stück für Stück vom Herzen weg. Um 5 Uhr stand in mir noch kein Einschluß fest. Ich ging in die Universität. Ich hielt ruhig und gelassen, wie immer, meine Vorlesung. Es war meine letzte. Um sechs Uhr trafen die Nachrichten ein aus Elberfeld und Düsseldorf. Sie schlugen zündend in meine Seele. Ich fühlte, daß für mich die Stunde da sei, wo die Ehre gebot, zu handeln. Aus der Versammlung ging ich in meine Wohnung zurück, um Abschied zu nehmen. Ich nahm Abschied von dem Frieden meines Hauses. Ich nahm Abschied von dem Amte, das mich zwölf Jahre beglückt, das ich zwölf Jahre, wie ich glaube, treu verwaltet hatte; von dem Weibe, an dessen Besitz ich schon einmal meine Existenz gesetzt, Abschied von meinen schlafenden Kindern, die nicht träumten, daß sie in dieser Minute einen Vater verloren. Aber als ich nun über die Schwelle trat in die dunkle Straße, da sprach ich zu mir: „Du durftest diesen Entschluß fassen, denn welches auch seine Folgen sein mögen, du weißt es, daß der Trost der Idee und die Ueberzeugung dich niemals verlassen kann. Aber einen andern Vater hast du kein Recht mit fortzureißen in denselben furchtbaren Entschluß!“ In dieser Stimmung betrat ich die Rednerbühne, in dieser Stimmung mahnte ich Jeden ab, dessen Herz nicht fest sei wie das meinige. – Und aus dieser Rede macht die Anklage eine unmittelbare Aufregung! Glauben Sie nicht, meine Herren, als wollte ich durch Rührung Sie überraschen und Ihr Mitleiden erwecken. Ja, meine Herren, ich weiß es, und die Begnadigungen des Jahres 1849 haben mich darüber belehrt, daß Ihr Schuldig ein gewisses Todesurtheil in sich schließt; aber trotzdem begehre ich Ihr Mitleid nicht. Nicht für meine Mitbeschuldigten, denn diesen sind Sie nicht Mitleid, sondern Genugthuung für eine lange unverdiente Haft schuldig; nicht für mich, denn so unschätzbar mir Ihre Theilnahme als Bürger und Männer ist, so wenig hat Mitleiden für mich Werth. Die Leiden, die ich trage, sind so furchtbar, daß Ihr Spruch mich nicht schrecken kann. Man hat über das Maß der mir zuerkannten Strafe meine Haft verlängert und gesteigert durch die grauenvolle Einsamkeit der Isolirzelle, in deren öde Stille kein Trompetenton der kämpfenden Welt draußen, kein Liebesblick treuer Freunde dringt. Man hat einen deutschen Schriftsteller und Lehrer, der in mehr als einer Brust die Flamme des Geistes und der Schönheit entzündete, man hat ein mittheilsames Herz dazu verdammt, in seelenloser Zwangsarbeit, in Versagung aller geistigen Hülfsmittel langsam hinzusterben. Der Giftmischerin, dem Raubmörder, dem entsetzlichen gräulichen Verbrecher, sobald einmal über seinem Haupte das Wort der Begnadigung erscholl, wird es vergönnt, die Luft seines Rheinlandes zu athmen, das Wasser seines grünen Stromes zu trinken. O, diese vierzehn Tage haben mich gelehrt, welche Seligkeit schon Luft und Wasser der Heimath sind! Mich aber hielt der ferne trübe Nord, und nicht einmal hinter dem Gitter ist es mir vergönnt, die Thränen meines Weibes zu sehen und in die Aurikelaugen meiner Kinder zu blicken! Ich begehre Ihr Mitleiden nicht, denn wie scharf Ihr Spruch, wie blutig dieses Gesetzbuch sei, Sie können mein Loos nicht gräßlicher machen, als es ist. Der Mann, den man vor diesen Schranken der Feigheit zu zeihen wagte, hat in den letzten Jahren dem Tode so oft, so nah, so kaltblütig in die Augen gesehen, daß selbst die Guillotine ihn nicht besonders mehr erschüttert. Ich will Ihr Mitleiden nicht, aber mein Recht verlange ich von Ihnen; mein Recht wälze ich auf Ihr Gewissen, und weil ich weiß, daß Sie, Bürger, Geschworene, Ihrem rheinischen Mitbürger sein Recht nicht versagen können, darum erwarte ich mit der ruhigsten Zuversicht aus Ihrem Munde das Nichtschuldig.

Ich habe gesprochen, nun richten Sie!““ –

Es war ein tieferschütternder, seelenzerreißender Moment, als sich die Schranken öffneten und drei der Gefangenen frei daraus hervortraten, indeß der Eine darin zurückblieb. Das Herz wendete sich Einem vor Schmerz und Zorn, wenn man diese edle Gestalt mit den vergeistigten Zügen der Willkür eines Schwarmes von Gensd’armen preisgegeben sah. – Kinkel’s Frau hatte sich, um eines Platzes sicher zu sein, stets Morgens in aller Frühe im Assisensaale einschließen lassen. Als Kinkel während einer Pause sie zu sich winkte, trat sie auf die Stufen und wollte mit ihm reden. Kinkel bog sich über die Schranken; aber die Gensd’armen traten augenblicklich vor und erklärten, daß sie einen Kuß nicht gestatten dürften. Nach einigen Unterhandlungen mit einem anwesenden höheren Polizei-Beamten wurde eine „Hand“ gestattet. Am letzten Tage nach Beendigung der Verhandlung, ehe Kinkel in’s Gefängniß abgeführt wurde, eilte Johanna rasch hinauf, um ihren Mann zum Abschiede zu umarmen. Der kleine Oberprocurator John trat ihr in den Weg und beorderte die Gensd’armerie, eine letzte Umarmung der Beiden zu verhindern. Kinkel jedoch erhob sich stolz und rief mit gebietender Stimme: „Komm, Johanna, gieb Du Deinem Manne einen Kuß! Es soll Dir das Niemand wehren!“ Und auf den Ton dieser Stimme hin traten die Gensd’armen auseinander und gehorchten ihrem Gefangenen.

Ja, man darf behaupten: wäre Kinkel nach dem frischen Eindruck seiner Rede vorgetreten und hatte gesagt: Ich gehe jetzt hinaus und Niemand halte mich auf! – er wäre unangefochten aus dem Saale gelangt. Man hatte die Vorsicht gebraucht, als der Saal geräumt werden sollte, neue Truppen herbeizuordern, welche den Debatten nicht beigewohnt hatten.

Als Kinkel zum Gefängnisse zurückgebracht wurde, begleitete ihn das Lebehochrufen des Volkes. Tausende standen in den Straßen zusammengedrängt, durch die der Wagen Kinkel’s inmitten einer Schwadron Cuirassiere geführt wurde. Jedes Haupt entblößte sich, aus jeder Brust preßte sich ein tiefgefühlter Gruß für den Gefangenen. Tags vorher noch hatten die Officiere und Polizei-Agenten solche Aeußerungen mit Gewalt zu unterdrücken gesucht. Heute wagte Niemand, dieselben zu verhindern. Das Gefühl, das Alle im Assisensaale ergriffen, hatte sich auch auswärts und selbst bis in die Reihen der Soldaten fortgepflanzt. Es giebt Triumphzüge aller Art, – aber die Zukunft wird Kinkel um den beneiden, den er am 4. Mai 1850 zwischen seinen geharnischten Wächtern feierte!“ –

Bald nach der Rückkehr von jenen großen Tagen am Rhein finden wir Kinkel im Zuchthause zu Spandau, da man das Verbrechen zu großer Menschlichkeit gegen ihn in Naugardt entdeckt hatte. Director Jeserich in Spandau war ausgerüstet, ihn religiös zu zermalmen. Indeß wurde, trotz des zu Hülfe gezogenen Mangels an freier Luft und Bewegung und der sonst nicht gesetzlichen Einzelhaft, die religiöse Zermalmung schon nach der zweiten Unterredung aufgegeben, da Jeserich – auch Jeserich, diesem Gefangenen gegenüber sich mehr Mensch als Director fühlen lernte. Oeftere Durchsuchungen über Bücher, wie Gervinus, Humboldt’s Kosmos, Schubert etc., mußte sich Kinkel gefallen lassen, doch gestattete man ihm schriftliche Arbeiten und einen Briefwechsel mit seiner Frau, wenn auch unter strengster Censur, da jeden ankommenden und abzusendenden Brief der Director erst selbst genau durchlas. Nichts desto weniger ward in diesen Briefen mit deutlichen Worten, nicht zwischen den Zeilen oder mit Zeichen, genau Art, Ort und Zeit der beplanten Befreiung verabredet. Es war eine Geheimschrift, die der Liebe, Intelligenz, Genialität und Ausdauer beider Märtyrer gleiche Ehre macht. Doch dürfen wir dabei seinen Schüler und Freund Schurz nicht vergessen, den jetzigen amerikanischen Gesandten und Sieger für die Wahl Lincoln’s. Schurz bricht Bahn, gewinnt den Kerkerschließer, Menschen und Relaispferde von Spandau bis zum Meere. So ist Alles bereit. Kinkel fragt durch die Hände des Directors mit der Geheimschrift:

Wer befreit? Schurz?

Antwort: Ja!

Schurz: Muth über’s Dach?

Kinkel: Jeder Weg!

Die Nacht vom 4. zum 5. November wird bezeichnet. Er wacht und wartet licht- und lautlos mit allen Nerven angespannt. Augenblicke, Minuten, Stunden brausen vor den summenden Ohren vorüber, langsam und doch wie angstgehetzt, gestaltenlos und tonlos mit wolkigen Truggebilden, die, in einander verschwimmend, zwischen den Ufern lebenslänglichen Todes und neuen Lebens in [40] der Freiheit abfließen und sich in dem Meere des neuen Tageslichtes verlieren. O solche durchwachte Nacht! – Aber der Tag bringt die Weisung: „Nicht auskleiden!“ Um 9 Uhr wird ihm, wie gewöhnlich, das Licht genommen und er hinter das Holzgitter innerhalb seiner Zelle, dann noch hinter die eiserne Eingangsthür schwer und sicher eingeschlossen. Gegen Mitternacht öffnet sich das Eisenschloß draußen für ihn kaum hörbar, das Holzgitter wird beseitigt, und eine stumme, warme Menschenhand geleitet ihn durch die Corridors des ganzen Bauwerks nach der Vorderseite, hinauf an ein Fenster, aus welchem er sich hinaufschwingt auf’s Dach. Kinkel, zeitlebens der beste Turner, Schwimmer, Schlittschuhläufer und Meister auch einer körperlich ausgebildeten Riesenkraft, ist noch Herr über so viel Stärke und Gewandtheit, daß er sich sicher vom Dache an einem angebrachten Seile hinunter läßt und in die Arme des Freundes Schurz sinkt. Der bereit stehende Wagen ist bald bestiegen, und auf und davon geht es durch den märkischen Sand dem Norden zu.

In derselben Nacht war der Ministerpräsident von Brandenburg, der mit Herrn von Manteuffel die Leitung des gegen März- und Paulskirchen-Errungenschaften kriegerischen Preußens übernommen hatte, in Berlin gestorben.

Mit Sonnenaufgang erreichen die glücklichen Flüchtlinge das Städtchen Gransee an der mecklenburgischen Grenze und dann sicherer Rostock. Ein Weizenschiff bringt ihn nach Leith und Edinburg, die Eisenbahn nach London. England, längst entrüstet über die Behandlung eines deutschen Dichters, besonders ganz frisch durch einen Dickens’schen Artikel in den Household-Words vom 2. November, begrüßte den Befreiten mit ehrlicher Wärme und Freundschaft. Voll Selbstvertrauen und stolz auf seine eigene Kraft und nie befleckte persönliche und bürgerliche Ehre, verschmähte es Kinkel, diese ihm entgegenkommende Gunst je anders anzunehmen, als für den Preis harter, ehrlicher, werthvollster Arbeit. Frau und Kinder sah er zuerst in Paris wieder. Im Januar 1851 siedelte er sich mit der Familie in London an, zuerst im nordwestlichen St. John’s Wood, dann im westendlichen Norden des Hyde-Parks in einem großen Hause für seine umfangreichere Lehrthätigkeit und den berühmten musikalischen Unterricht der Frau, zuletzt in noch reicherer Umgebung, in einer gartenumgebenen, schönen Villa.

Die elf Jahre, welche Kinkel bis jetzt in London verlebt hat, sind viel über funfzigtausend Stunden des Lehrens, Redens und Erklärens deutscher Wissenschaft und geistiger Herrlichkeit vergangener Zeiten. Seine Lehrgegenstände waren und sind die von der Universität Bonn: deutsche Sprache, Literatur und Kunstgeschichte, wozu er einen neuen fügte, die Geographie. Letztere hat er in England, besonders in den höheren Damenschulen, als Wissenschaft erst geschaffen und sich damit weitverbreiteten Ruhm erworben. Omnibusse, Cabs, Dampfschiffe und Eisenbahnen müssen ihm täglich mehrmals ihre eilenden Flügel leihen, um ihn in allen möglichen Gegenden Londons und Entfernungen Englands zu rechter Stunde und Minute abzuliefern. Um sieben Uhr früh nimmt ihn ein zweiräderiges Flug-Cab auf, vielleicht um ihn zunächst einer Eisenbahn zu übergeben, die ihn und seine meisterhaften, großen Illustrationen der Kunstgeschichte in den Lehrsaal einer fernen Provinzialstadt bringt. Eisenbahn und er müssen auf die Minute pünktlich sein, damit er weit draußen im Westen von London zu rechter Zeit als Examinator der Navigationsschule oder als Professor in der South-Kensington-Akademie beginne. Unterdessen füllt sich sein größter Saal zu Hause mit Damen, die einen mehrjährigen Cursus in deutscher Sprache und Literatur durchmachen. Gegen Ende dieser zwei Stunden muß er wieder einen Wagen bestellen, damit er mit flüchtigem Kusse für Frau und Kinder und ungefesselt von dem Sirenen-Geruch aus dem Speisezimmer sofort hineinspringe, um zu rechter Zeit in Craydon, Epsom oder noch weiter für die Abendclasse einzutreffen. Um 11 bis 12 Uhr des Nachts sinkt er ermüdet auf sein Lager, schläft den gesundesten Schlaf und steht um 6 Uhr wieder bereit für zwölf- bis achtzehnstündige Arbeit, frisch und jugendlich wie seit Jahren, mit weißem Haar und Bart, aber noch rothwangig und mit heiterstem Glanze des Auges. Kein fehlender oder falscher Zahn in seinem Munde, nie ein falsches Wort von seinen Lippen, sondern immer klangvoll warm aus dem Herzen oder anmuthig, manchmal heiter und herzlich lachend, belehrend aus einem reichen Schatze des Wissens und lebhafter Intelligenz. Die hohe Stirn leuchtet noch ungefurcht, und der massenhafte, edle Kopf bewegt sich frei, aufrecht, leicht über einer stolz und athletisch hervortretenden Brust.[1]

Nicht alle Tage sind so überfüllt mit Arbeit, wie der angedeutete. Dann kann er um 5 Uhr mit der Familie und oft einigen Freunden heiter und mit herzhaftem Appetit essen, trinken und plaudern und später zum Thee oder dem „Schlummerpunsch“ die beste, echte Havannah reichen und selber rauchen. Solche Stunden sind für ihn, die Familie und Alle, die an dem Glück seines Hauses und Herzens theilnehmen, wahre Feier-Abende. Das Haus verbindet mit den besten Bestandtheilen englischen Geschmacks und Comforts unenglische, echt deutsche Frische und Freiheit und einen gastlichen, heimischen, aus allen Gebieten lieber Herzen, des Wissens und des Schönen immer inhaltvoll regen und doch heiter spielenden Geist. Es wirkt hier immer so viel Günstiges und Glückliches zusammen, wie es wohl kaum in der besten Familie je wieder so reich und heiter, so sicher und harmonisch sich vereinigen mag.

Die Geschichte und die Geschicke seines Lebens, die gegenwärtige Stellung und Thätigkeit mit deren Spuren, Proben und Früchten um sich her, seine gastliche Aufmerksamkeit nach allen Seiten, die anmnthigste Redner- und Unterhaltungsgabe, das edle, schöne, warme Ineinanderklingen der Beziehungen zwischen Vater, Gatte, Gattin und Kindern, die still glückliche, zarte Frau so mütterlich und schwesterlich zugleich, die älteste Tochter Johanna, zarte, erblühende Jungfrau und Malerin, Adele, schalkische, tief brünette, überglückliche Humoristin des Familien-Journals und kleine Meisterin der Töne, Gottfried, der blasse Gelehrte mit einer ganzen Bibliothek von ersten Preisen (an denen es den Geschwistern auch nicht fehlt), und Hermann, der jüngste, der kleine Indianer und graziöse Wildfang – diese Fülle von Familienglück, von Herzlichkeit, Wissen, Streben, Arbeit, Intelligenz, Kunst und Schönheit ist wohl nur Wenigen der Besten und Glücklichsten in diesem Grade noch einmal beschienen.

Ich sage dies gern und glücklich öffentlich vor dem deutschen Volke, das einmal eben so parteilos und tief über ihn trauerte, wie es über seine Befreiung – im Gefühle einer Selbstbefreiung von einer nationalen Schmach – wahrhaft begeistert aufjauchzte. Der Vorwurf der Indiscretion kann mich hier nicht treffen; ich hielt es für eine Pflicht gegen das deutsche Volk, anzudeuten, daß sich Kinkel auch in seiner Häuslichkeit ein herrliches Lebensglück erwarb. Was ihm noch fehlt, kann nur der feste Wille der deutschen Nation ihm verschaffen.

Biographisch aus seiner Londoner Zeit bleibt noch Einiges zu erwähnen. Seine Reise durch Amerika im Sommer und Herbst 1851 war vom Anfang bis Ende ein Triumphzug, obwohl politisch ein Fehler. Desto anerkennenswerther ist seine politische Einwirkung auf seine deutschen Landsleute in England. Durch seine Vorträge über deutsche Geschichte und Literatur, bald vor Handwerker-, bald vor kaufmännischen Kreisen, weckte er die ersten Keime deutschen Selbstgefühls und deutscher Zusammengehörigkeit in London. Hätten Viele gleiche Kraft dafür geopfert, besonders nach dem Schillerfeste, als Kinkel durch seine ergreifende, nationales Selbstgefühl entflammende Rede und Freiligrath und Pauer durch die Cantate geradezu das höchste Bedürfniß dafür wach und warm gerufen, so hätte sich noch viel mehr durchführen lassen.

Mit Anfang des Jahres 1859 gründete Kinkel ein deutsches Wochenblatt in London, den „Hermann“, gab jedoch das Blatt nach einem halben Jahre in die Hände des bisherigen Mitarbeiters Dr. Juch, der es seitdem trotzig und tapfer nicht nur fortführte, sondern auch vergrößerte. Auch die Tragödie „Nimrod“ gehört in die Londoner Zeit Kinkel’s, eine „lyrische Philosophie der Geschichte, ein menschheitliches Culturgemälde“ des Uebergangs von patriarchalischen Zuständen des Nomadenthums zum Königthum, zum Assarek, der 20,000 Menschen mit Feuer und Schwert würgte, um sich als Alleinherrscher einen hohen Thron auf diesem Leichenhaufen zu bauen. Wir können’s hier nicht beurtheilen, aber es ist ein glänzendes Bühnenstück. Nur wenn Kinkel die jetzigen deutschen Theaterverhältnisse kennte, würde er begreifen, warum es bis jetzt von keinem Director oder Intendanten entdeckt ward.

Kinkel’s übrige literarische und dichterische Werke liegen der Welt in mancherlei Auflagen vor und sind allgemein zugänglich. Sie sind größtentheils im Laufe dieser biographischen Skizze erwähnt worden und mögen zur Ergänzung derselben empfohlen sein.

[41] Das tragisch-erschütternde Ende seiner Johanna am 15. November 1858 ist in der Gartenlaube geschildert worden. Wir erinnern nur noch einmal an die Feierlichkeit ihrer Beerdigung. Die irdische Hülle und die Leidtragenden fuhren am 20., einem sonnigen, klaren Herbsttage, mit dem großen Eisenbahn-Leichenzuge hinaus auf den 30 Meilen südlich gelegenen neuen Kirchhof bei Woking unter den Hügeln von Guilford. Neben dem Sarge steht mit den Kindern G. Kinkel, die rechte Hand auf dem Sarge. Er redet. „In den Boden der Verbannung muß ich Dich betten, aber unter Hügeln, die an unsern Rhein erinnern, Gesicht ostwärts nach Deutschland. Und im Sommer kommt auch die Biene, surrend zwischen Heidekraut. In leichtem Boden zur Ruhe gesenkt, um am Tage der Erlösung mit mir und den Kindern heimzukehren in die Heimath, die Du so sehr liebtest, die Du mit Augen nicht wieder sehen solltest.“

Freiligrath schmückte die von ihm besungene „stolze Rebellenleiche“ mit einem Lorbeerkranze, die Kinder mit Blumen und Thränen. Und so senkten sie den Sarg einer deutschen Frau in fremde Erde.

Wir haben seinen Schmerz mit erlebt und gesehen, wie er denselben mit dem Talisman seines Lebens, harter, entschlossener, ausdauernder Arbeit, bewältigte. Endlich galt es, an die gegeweihte Stelle der „auf dem Kampfplatze des Exils Gefallenen“ eine würdige Nachfolgerin einzuführen. Diese Stelle durfte sein Herz als Gatte und Vater nicht leerlassen. Das Haus verlangte einen weiblichen, leitenden Genius, die Kinder eine mütterliche Freundin. Die Fama brachte „reiche Erbinnen“ Englands zum Vorschein. Er wählte ein deutsches Mädchen aus Königsberg, Fräulein Minna Werner, die als deutsche Lehrerin in London weder geerbtes, noch geschenktes Brod aß. Wir waren oft Zeugen seines neuen Lebensglückes, das zu unserem eigenen ward, und durften mit dem Gefühle von ihm scheiden, daß er glücklich sei. Zwei große Völker ehren und lieben ihn. Er gehört uns und der Geschichte als eigenste Persönlichkeit und Poesie einer unsterblichen Zeit. Schön umgeben von den Früchten heroischer Arbeit, einer liebevollen Gattin und reizenden, hoffnungsvollsten Kindern, voller Gesundheit, Manneskraft und Liebe zum Vaterlande, für dessen Einheit und Ehre er gekämpft und gelitten, wie Wenige, würde er sich dennoch erst ganz glücklich fühlen, wenn ihm mit Ehren der vaterländische Boden wiedergegeben würde. H. Beta.     




Drei Tage aus dem patriarchalischen Staat.

Von Fr. Hofmann.

Im Jahre 1821 ist in Coburg ein Almanach erschienen, auf dessen Titelbilde man neben der Statue des Herzogs Johann Casimir, wie sie am Gymnasium daselbst zu sehen ist, die ritterliche Gestalt des damaligen Herzogs Ernst, Vater des jetzigen vielbesprochenen, ebenfalls als Statue dargestellt hatte. Diese Zusammenstellung sollte zu jener Zeit eine Schmeichelei sein; Johann Casimir ist in der Reihe der Coburger Fürsten der im Andenken des Volkes gefeierteste, und als seinen Ebenbürtigen feierte man den Lebenden. Niemand konnte damals ahnen, daß das Schicksal diese Schmeichelei in Wahrheit verwandeln würde, und nicht bloß in glänzende, sondern auch in bittere.

Der Herzog von Sachsen-Coburg-Saalfeld gehörte zu den ersten deutschen Fürsten, welche ihrem Lande die von der Bundesacte verheißene Verfassung wirklich gaben; aber trotzdem blieb das Verhältniß zwischen Fürst und Volk das gewohnte patriarchalische, wenigstens war in der Zeit, von der hier erzählt werden soll, die Verfassung noch nicht das Blatt Papier geworden, das sich zwischen beide hätte drängen können.

Es wird schwer werden, späteren Generationen die volle Anschaulichkeit vom eigentlichen Wesen jenes patriarchalischen Kleinstaats zu bieten, wie er in Deutschland seit der Reformation und durch dieselbe sich ausgebildet hatte. Man wird, wie man bereits begonnen, bei der Darstellung desselben nur zu oft die Caricatur vorherrschen lassen und die gesunde Natur übersehen, die in gewissen Kreisen und Beziehungen in ihm waltete. Es ist daher nothwendig, besonders hervortretende Züge aus den letzten Tagen des patriarchalischen Staats, welche zu einer wahrhaften Charakteristik desselben beitragen, schon jetzt zu sammeln, wo noch Männer leben, die bei der Schilderung jener Zustände mit der Pietät verfahren, mit der wir so gern auf Selbstmiterlebtes zurückblicken.

In dem Folgenden erwarte man also nichts weniger, als eine pikante Enthüllung von Hofgeheimnissen; dazu giebt die Gartenlaube ihren Raum nicht her; ich habe nur zu erzählen, wie bei einem trüben Schicksal im Fürstenhause das Volk sich benahm. Ich werde den Hof und noch Lebende berühren müssen, es wird dies jedoch mit der Achtung oder mit der Schonung geschehen, die sie verdienen.

Als am Abend des 7. August 1817 eine gewaltige Bewegung die Bevölkerung der Stadt Coburg ergriffen hatte, die selbst auf das Land hinauswirkte, so daß die Bauern vom Itzgrund herauf, wie von den „langen Bergen“ herunter und aus dem Neustädter Amt herbei kamen, vor den drei Ehrenpforten der Stadt, am Markte, am Spittelthor und am Heiligkreuzthore, beredte Gruppen bildeten und auf dem langen Wege dazwischen auf und abwogten, hatten Alle einen gerechten Grund dazu. Selbst ein Uneingeweihter mußte den Gegenstand der harrenden Theilnahme errathen, wenn er die Bemerkungen verstand, die am häufigsten in der Menge der Land- und Bürgersleute wechselten. „Es soll haltig gar a ewig Hüsche sei!“[2] versicherten die Weiber, und „Ar is ah der Mah dernoch!“[3] blieb die stolze Entgegnung aller Mannsbilder. Endlich donnerten die Kanonen von der Veste, ein Läuten aller Glocken begann, vom Hauptthurme der Stadt erschallten Trompeten und Pauken, und aus der Ferne schmetterten die Hörnchen der Postillone in die plötzlich feierlich gewordene Stille, über welche jedoch, je näher der lange glänzende Zug kam, desto lauter und mächtiger das „Vivathoch!“ der mit ihm vorwärtsdrängenden Menge Herr ward. Alle Häuser bis zum Dach mit grünen Kränzen und bunten Tüchern, alle Fenster mit freudestrahlenden Gesichtern geschmückt, überall Tücherwehen und Hochruf, – und da, endlich, nach den vielen Reitern und der langen Schaar prächtiger Jungfrauen in weißen Kleidern und mit Blumen und Kränzen im Haar und in den Händen, da kam endlich der Wagen hinter den sechs Rossen, und darin saßen sie und nickten und winkten nach allen Seiten mit der vornehmen Freude in dem einen, mit der herzlichen Heiterkeit in dem andern Antlitz, der Herzog Ernst und seine junge Gemahlin, die Herzogin Louise, Tochter des Herzogs August von Gotha.

Der Tag dieses Einzugs, auf dessen Rosen schon nach sieben Jahren ein so schwarzer Schleier sinken sollte, machte auf das gestimmte Volk nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Schaufestes, sondern einen tiefern. Man sah es der aufrichtigen Freude desselben an, daß ihm eine Last vom Herzen genommen war. Man hat ehedem etwas auf zeitige Ehen der regierenden Herren gehalten, und zwar sowohl auf Seiten der fürstlichen Häuser, wie auf Seiten der betreffenden „Unterthanen“; die Erfahrung hatte besonders letztere belehrt, daß aus den vielen fürstlichen Erbtheilungen von Land und Leuten den geerbten Völkern selten Heil erwachsen war. Wie beschränkt auch der öffentliche Blick der Masse in der kleinstaatlichen Schrankenherrlichkeit geworden, wie wenig Pflege einem politischen Ehrgefühl im Volke zugewandt war, so sträubte sich doch sein Herz gegen das Geerbtwerden.

Den Herzog von Coburg hatte bis 1815 der Krieg in Anspruch genommen; er stand jetzt im dreiunddreißigsten Jahre. Bedenkt man nun, daß es für die Stadt und das Land Coburg keine drückendere Sorge gab, als die „die Residenz zu verlieren“ und „zu verwaisen“, so wird man den einen Grund zur großen Freude über diese Vermählung gefunden haben. Nichts kennzeichnet den patriarchalischen Staat besser, als der Begriff: „ein verwaistes Land“. Ist durch denselben nicht mit der Todtenklage zugleich die Befürchtung ausgedrückt, daß auf den dahin geschiedenen „Landesvater“ nun nichts Anderes als ein „Landesstiefvater“ folgen könne? Arme „Landeskinder“! – Es wird hoffentlich eine Zeit kommen, [42] wo der Mann des Volkes nach der Bedeutung solcher Ausdrücke im Wörterbuche suchen muß. Ein Staatsbürger darf kein Kind sein, und eine „verwaiste Nation“ ist ein Unding. –

Neben jenen selbstsüchtigen Motiven wandte aber ein wirklicher Herzenszug das Volk dem Fürstenhause zu: es war stolz auf dasselbe. Wie es dem Einzelnen nicht gleichgültig ist, ob der, von dem er in seinem Lebensberufe abhängt, als eine ansprechende und ehrenwerthe Persönlichkeit dasteht, oder ein mißrathenes Wesen ist, so geht es den Völkern mit ihren Herrschergeschlechtern. „Des Volkes Freude ist – ein Mann.“ Die Prinzen des Hauses Coburg. hatten sich in den Kämpfen gegen Frankreich als Männer bewährt, alle hatten persönliche Tapferkeit bewiesen, dazu zeigten sie sich dem Volke mit aufrichtiger Leutseligkeit, von gutem Gemüthe und waren leiblich gelungene prächtige Menschenbilder, deren Anblick dem Auge wohl that. – Je weniger Großartiges, durch geschichtliches Ansehen Erhebendes einem Völkchen sein Staatswesen bietet, um so mehr schrumpft der Ehrgeiz, der eine Nation für die Sache des Vaterlandes erfüllt, bei ihm zur Eitelkeit auf die Person des Fürsten zusammen. Das gehört auch zum patriarchalischen Staat des kleinen Formates.

Das an sich der Fröhlichkeit wohlgeneigte Coburger Völkchen war schon durch des Herzogs Vermählung selbst in eine Festtagstimmung versetzt, aber erst der Anblick der Jugend und Schönheit der Herzogin vollendete die allgemeine Glückseligkeit des Tags. Sie war mit ihrem ersten Gruß ein Liebling des Volks geworden.

Es ist bei dem engen Zusammenleben von Fürst und Volk im Kleinstaate eine fernere patriarchalische Eigenthümlichkeit, daß die fürstliche Familie gleichsam zu jeder einzelnen im ganzen Lande gehört, so genau kennt man sie, so viel und angelegentlich beschäftigt sich die öffentliche und häusliche Unterhaltung mit ihr. Je kleiner der Ort, desto mehr nennt man sich nur beim Vornamen. Beide Erscheinungen sind verwandt. Ebenso steht aber auch mit dieser Theilnahme des Volkes für den Hof der Einfluß des Hofes auf das Volk in Wechselwirkung. Ein edles Beispiel im Fürstenschlosse wirkt veredelnd auf das ganze Land, aber um so verderblicher kann sein Gegentheil wirken. Ist nun die Freude des Volkes am guten Beispiele gerechtfertigt, wer will ihm seinen Zorn über ein schlimmes als Schuld anrechnen?

Ein schöneres Bild von Familienglück, als von jenem 7. August an auf dem bekannten Lustschlosse Rosenau erblühte, ist kaum zu ersinnen. Da jagte eine Freude, eine Herrlichkeit die andere, nie und nirgends zeigte sich ein höfisches Absperren vom Volke. Wer’s kann, denkt heute noch gern zurück an den Landesjubel bei der Geburt des Erbprinzen Ernst und des Prinzen Albert; da brauchte nicht erst amtlich eine freiwillige Festbegehung angeordnet zu werden. Die harmlose Fröhlichkeit des Hofes theilte sich dem ganzen Lande mit. Wo etwas „los“ war, dahin kam man vom ganzen Lande, und man hatte nirgends sehr weit zu laufen, um hübsch beisammen zu sein. Wer denkt nicht noch an das glänzende Turnier auf dem grünen Plane vor der Rosenau, an die großen Jagden, maskirten Schlittenfahrten und gar die Rosenauer Kirmsen zur Heuernte, zu welchen aus allen Dörfern des Landes die schmucksten Paare von Burschen und Mädeln geladen waren? Da eröffnete den Tanz auf der Wiese die Herzogin mit einem Dorfburschen und der Herzog mit einem Bauermädel, und wer verargt’s den Alten, wenn sie seelenvergnügt zusahen, wie das junge Volk des Hofes und des Landes in herzhafter Lust durcheinander schwärmte? Es war, als hätten die jahrelangen Rosenauer Flitterwochen sich über das ganze Ländchen hingezogen.

Da kam der Frost in die Rosenblüthe. Zwischen die bis jetzt so einigen Herzen des jungen glücklichen Paares war ein Schatten gefallen, unter dem das schöne Bild des Rosenauer Glücks verkümmerte und endlich versank.

Es ist nicht immer gut, sich der Oeffentlichkeit gegenüber über gewisse Dinge unwissender zu stellen, als man ist, aber eben so wenig ist es nöthig, der Oeffentlichkeit noch einmal zu sagen, was sie schon weiß. – Der Wandel der Dinge war plötzlich und durchgreifend. War bisher, so lange die Eintracht waltete, das Leben am Hofe und im Volk und das Verhältniß zwischen beiden ehrlich und offen erschienen: so begann nun, unter dem Schatten, am Hof die Intrigue und im Volk das Gemunkel; es trafen sich gegenseitig scheue Blicke. Man flüsterte sich zu, daß die Herzogin am Gram über die Untreue ihres Gemahls leide, man sah sie oft einsam und weinend. Bald wurden Namen genannt, und das Volk vertheilte seinen Haß und seine Gunst. Ein Duell zwischen einem Oberst von Szymborsky und einem Kammerherrn von Thümmel (einem Sohn des einst berühmten Dichters, an dessen Grabsäule zu Neuseß bei Coburg schon Tausende vorübergefahren sind, ohne zu wissen, wer darunter liegt), den man als einen Anhänger der Herzogin schätzte, wurde mit diesem Zwiespalt in Verbindung gebracht. Endlich verlautete, daß die Herzogin unter Aufsicht stehe, weil ihr Gemahl sie in derselben Weise beargwohne, wie einst sein Vorfahr Johann Casimir seine unglückliche Gemahlin, die Herzogin Anna, deren tragisches Schicksal wir später erzählen. Im Herzen des Volkes war die Parallele fertig, und der Vergleich zwischen den Schicksalen der beiden Fürsten vergrößerte die Befürchtungen für den Ausgang des Unheils. Ein gesundes Volk wird nie die Schuld solcher Zwietracht auf das schwache Weib werfen; desto entschiedener warf es seinen Haß auf die Umgebung des Herzogs. Wie aber ehedem die Freude des Hofs über das ganze Land gegangen war, so war jetzt auch der Druck auf den Herzen ein allgemeiner.

Da traten plötzlich, am 28. August 1824, einem Sonnabend und Wochenmarkttag, verschiedene Gerüchte lauter hervor. Das eine lautete, die Herzogin solle nach Saalfeld gebracht und ihr das dortige Schloß zum Aufenthalt angewiesen werden, das andere, sie werde nach Gotha (zu ihren Eltern) gehen, weil man von einer zeitweiligen Trennung der Ehegatten das Beste für ihre Wiederversöhnung hoffe, ein drittes erklärte das Alles für erlogen und behauptete, es seien für die Herzogin Zimmer auf der Festung (Veste Coburg) hergerichtet, auf welcher auch die unglückliche Anna den größten Theil ihres Lebens in harter Gefangenschaft vertrauert hatte.

Der Sonnabend verging gleichwohl ruhig, das Landvolk zog am Nachmittag zu allen Thoren hinaus wieder heim. Desto lebendiger wurde es nun in der Stadt. Man hatte gegen Abend wirklich die Herzogin im Reisewagen und mit Gefolge aus dem Schlosse zu Coburg nach der Rosenau fahren sehen. Von Wirthshaus zu Wirthshaus, wo am Abend nach Landessitte jeder Mann zu finden ist, ging wie ein Flugfeuer diese Nachricht, von allen Gerüchten behauptete sich nun das Saalfelder am festesten, und zugleich wurde der Ruf laut: daß die Bürger es nicht so weit kommen lassen dürften, daß es ihre Pflicht sei, die Herzogin selbst in das Residenzschloß zurück zu bringen, und daß man damit am sichersten den Frieden im Fürstenhause wieder herbeiführe. Die Aufregung war groß, die Nacht dennoch ruhig.

Anders am Morgen des 29. August. Sicherlich trug die Macht des Sonntags auf die Gemüther dazu bei, daß der Tag so schön endete. – In aller Frühe traten in den Straßen erst einzelne, dann immer dichtere Gruppen zusammen und schlugen den Weg nach der Rosenau (eine Stunde von Coburg) ein, bis gegen Mittag der Bach zum Strome ward. Während es auch in den Hauptstraßen der Stadt unruhig auf und ab wogte, waren auf der Rosenau angesehene Bürger indeß zum Werke geschritten. Eine Deputation hatte, vom unablässigen Hochrufen der Menge vor dem Schlosse unterstützt, der Herzogin die Bitte um Rückkehr in die Stadt vorgetragen. Die tiefbewegte Fürstin konnte dem betäubenden Andrang der alten Herzlichkeit des Volks nicht widerstehen, sie ergab sich dem allgemeinen Willen, der Speisewagen fuhr vor, und begleitet vom Jubel der Bürger und der Bauern, die von den umliegenden Dörfern herbeigeeilt waren, begann die Heimkehr. Zwischen der Rosenau und Coburg liegt ein Dörfchen, Dörfles. Dort mußte die Herzogin es dulden, daß die Pferde abgespannt und große Seile an den Wagen befestigt wurden, nach welchen rasch Hunderte von Händen langten, um die Fürstin selbst in die Stadt zurückzuziehen.

Kaum war die Nachricht von diesen Vorgängen nach Coburg gelangt, so ging der Ruf: „Die Herzogin kommt!“ durch alle Straßen, und wer noch mit gesunden Beinen gezögert hatte, der eilte jetzt dem Zuge entgegen. Und nun erzähle ich aus eigener Erinnerung. Ich war damals ein elfjähriger Junge, also alt genug, um „auch dabei“ zu sein.

Ich erreichte den Zug auf der Straße beim „Neuen Bau“ (die jetzige Caserne), drängte mich durch die Menge und erhaschte das Seil; es überkam mich ein großes unbekanntes Gefühl, als ich daran fest hielt und zwischen den erwachsenen Leuten mit fort trollte. Noch mächtiger regte sich dies, als wir die Stadt erreichten und ich sah, was da in wenigen Augenblicken geschehen war. Alle Häuser der Straßen, durch die wir nun zogen, im Heiligkreuz, auf dem Steinweg, in der Spittelgasse, auf dem Markt, in der [43] Herrengasse, waren prächtig mit bunten Tüchern geschmückt, und aus allen Fenstern wollte das Winken und Nicken und Vivatrufen kein Ende nehmen. Aber es war nicht bloß Freude, was die Fürstin, wie vor sieben Jahren in denselben Straßen, willkommen hieß, sondern alle Frauen weinten dazu und manche Männer auch. Endlich gelangten wir vor das Schloß, die Herzogin stieg aus und betrat bald darauf den Altan desselben. Und wie sie von da aus die ungeheuere Menschenmenge überschaute, die den ganzen Raum vor dem Schlosse bis zu den Berggärten hinan erfüllte, schwenkte sie weinend ihr weißes Tuch zum Gruß und Dank, aus der ganzen Volksmasse aber erschallte plötzlich wie aus einem Munde das Lied: „Nun danket alle Gott!

Wie erhoben das Volk auch in diesem Augenblick war, so hatte es dennoch für seine tiefe Erregtheit die volle Beruhigung noch nicht gefunden. „Wir wollen sie Beide beisammen sehen! Laßt uns auch den Herzog herbeiholen! Sie müssen sich versöhnen! Wir wollen wieder Einigkeit und Frieden im Fürstenhause haben!“ So ging der Ruf auf allen Seiten, und man schritt. auch hier von Worten gleich zur That.

Der Herzog verweilte während dieser Vorgänge in dem Schlößchen zu Ketschendorf (eine halbe Stunde von Coburg, nach Süden) bei seiner Mutter; dort befanden sich auch die beiden Prinzen, Ernst und Albert, damals Knaben von sechs und fünf Jahren. Auch vor ihm erschien eine Deputation, stieß aber auf mehr Widerstreben, als bei der Herzogin. Endlich gab auch er den Bitten der Bürger nach, deren gute Absicht, auch hinsichtlich der Beruhigung der Stadt, er nicht verkennen mochte. Doch gestattete er nicht, daß man ihm den Wagen ziehe, sondern fuhr selbst mit den Prinzen in das Schloß zurück. Es war zwischen sieben und acht Uhr des Abends, als endlich des Volkes Wunsch sich erfüllte und beide fürstliche Gatten auf dem Altan des Schlosses erschienen. Es wiederholten sich die Lebehochs, und mit der erhebenden Zuversicht, „daß nun gewiß Alles wieder in’s Gleiche komme und gut werde“, zerstreute sich die Volksmasse, und Nichts störte weiter die Ruhe des Schloßhofs und der Stadt.

Wie in allen anderen Vorstädten saßen und standen die Leute auch aus dem Stetzenbach noch spät in die Nacht hinein vor den Hausthüren, wie es dort in meiner Kindheit Sitte war, und die Nachbarn erzählten sich wieder einmal alle alten schönen Geschichten von der Rosenau, die sie früher so oft erzählt hatten. Wie ich nie vorher gesehen, so freudig reichten sie sich zur guten Nacht die Hände, noch ganz begeistert über den vergangenen Tag. Ich aber ging sehr stolz zu Bette, denn auch ich hatte „sie“ mit hereingefahren.

So war in Deutschland auch einmal durch das Volk „Ruhe und Ordnung“ im Fürstenhause scheinbar wieder hergestellt worden.

Leider kann diese Erzählung nicht hier enden; die aufgeregten Wogen sollten nicht so rein verlaufen, sie erforderten noch einen Tag, an welchem, nachdem man die Eintracht wieder gewonnen glaubte, gegen den angeblichen Urheber der Zwietracht der öffentliche Zorn losbrach.

Lange vor der Erfindung der Ministerverantwortlichkeit bestand schon etwas Aehnliches im patriarchalischen Staate. Das Volk wälzte alle Schuld fürstlicher Mißregierungen und Missethaten, auch wenn sie unmittelbar von Fürstenhand begangen waren, auf die Umgebung, auf die Günstlinge des Hofs, die der Fürst allerdings auch meistentheils mit den höchsten Staatsämtern zu betrauen pflegte. Auf sie warf sich der Haß des Volks; galt es aber gute Thaten der Regierung mit Liebe zu lohnen, so fiel diese ausschließlich der Person des Fürsten zu.

In Stadt und Land Coburg traf dieser Haß der Verantwortlichkeit für den gestörten Frieden im Fürstenhause den bereits genannten Oberst von Szymborsky, der zugleich Geheimrath war. Mit wie viel Recht dies geschah, ist hier nicht zu erörtern. Thatsache ist’s, daß die allgemeine Stimme jetzt seine Entfernung nicht bloß vom Hofe, sondern aus dem Lande verlangte. Diese Stimme machte sich nicht durch Zeitungen laut, derlei besaß das Ländchen nicht, sondern sie schrie durch die Straßen und drang bis zu der Wohnung des Gehaßten und bis zum Schlosse des Fürsten vor.

Die Nachricht von dem, was am Sonntag in der „Stadt“ vorgefallen war, hatte sich während der Nacht über das ganze Land bis zum letzten Dorf hinaus verbreitet. Kein Wunder, daß am Montag Morgen das Landvolk zu allen Thoren der Stadt hereinkam, um mit eigenen Augen zu sehen, was geschehen war oder noch werden sollte. Es mochte Zufall sein, daß viele der Bauern ihre Dreschflegel auf der Achsel trugen. Beruhigend war der Anblick nicht, besonders bei den Aeußerungen, welche aus einzelnen Haufen gehört wurden, daß man es „dem Stadtvolk“ schon weisen werde, wenn es dem Herzog nicht folgen wolle.

„Wos? Dös führnahma Zeug will unnern Herzog net folg? Mr wöll’n s’na ahstreich!“[4]

„Ha, der Schimborschky soll dra schuld sei!“[5]

„So wird er ah gehiehm!“[6]

Trotz solcher gefährlichen Reden und der sonstigen Schlagfertigkeit dieses Geschlechts geschah von Seite der Bauern nichts Derartiges, sie betheiligten sich später auch nicht an den Excessen des Tages und bildeten mehr den malerischen Hintergrund der Bewegung.

Diese Bewegung ging wohl nicht von den untern Classen allein aus, nur hatten diese mehr Gelegenheit, sich hervorzuthun, als am vergangenen Tage. Als der Tumult begann, floh v. Szymborsky in das Residenzschloß, wohin sich auch die Mutter des Herzogs, eine hochgeachtete Matrone, begeben hatte. Während sich nun im Schloßhofe Bürger und Bauern in immer gedrängteren Massen versammelten, begann eine wilde Schaar die Zertrümmerung des Eigenthums des Verfolgten, schlug die Fenster seiner Wohnung ein, zerstörte ein Gartenhaus, einen Blumengarten und eine Baumanlage desselben und gesellte sich dann zu den Volkshaufen vor dem Schlosse. Hier wurde das Schreien der Menge gegen „den Szymborsky, den Landverderber“ immer heftiger.

„Naus mit dan fremma Karl! Naus muß er!“

„Vitvathoch, die Fra Herzogin soll lab! Hoch!“

„Naus mit ’n Leutsploger! Mit dan Landverdarber!“

„Vitvathoch, der Herr Herzog soll lab! hoch!“

„Schlat’n todt, dan Bauernschinder! Naus mit dan fremma Karl!“

So tobten Loyalität und Bestialität durcheinander, aber bedeutend ward stets „der Fremde“ betont, der den heimischen Frieden störe. Kein Zureden der vielen friedlicheren Bürger, kein Bitten der sonst angesehensten Beamten half, und eben wagten sogar Einige, in das Schloß einzudringen, als der Herzog auf der Treppe erschien. Wie man ihn immer, bis in sein Alter zu sehen gewöhnt war, im grünen bis oben zugeknöpften Jagdrock, mit den langen braunen Kamaschen und dem weißen Cylinderhute, trat er vor den herandrängenden Strom, ja, er brauchte sogar gegen Einige, die an ihm vorüber in das Schloß zu kommen suchten, nachdrücklich sein Hausrecht und setzte die Nahestehenden streng zur Rede. Dem Toben gegenüber verhallte jedoch auch seine Stimme, und er kehrte in das Schloß zurück. Bald darauf sah man den Major des herzoglichen Bataillons, v. Wangenheim, in die Residenz eilen; es soll einen harten Auftritt zwischen dem Herzog und ihm gegeben haben; er soll sich geweigert haben, das Militär gegen das Volk zur Herstellung der Ruhe zu verwenden. Man sah ihn später mit großen Schritten im innern Schloßhof auf und abgehen; kein Soldat zeigte sich. Dagegen erschien die bürgerliche Schützencompagnie und die städtische Spritzenmannschaft, um alle Eingänge des Schlosses zu besetzen. Hohn empfing sie, und der Tumult ward immer drohender, der Ruf nach Szymborsky immer wilder. Da traten aus dem mittleren Portale des Schlosses sämmtliche Geistliche der Stadt im Ornate hervor und zerstreuten sich vor der Fronte der Masse, um mit dem Wort Gottes zur Ruhe zu mahnen. Aber auch ihre Reden verhallten ohne Erfolg, sie mußten manchen frechen und beleidigenden Zuruf hören, und noch war das Aergste zu befürchten, als es der List eines Kammerdieners gelang, den Sturm durch die glückliche Entfernung seines Urhebers zu beschwören. Eine vierspännige geschlossene Chaise fuhr an dem dem Schauplatz des Tumultes entgegengesetzten Thore des Schlosses vor. Sogleich stürzte die wildeste Masse der Schreier dorthin. Da bedeutete sie der kluge Kammerdiener, daß hier jetzt die durchlauchtigste Frau Herzogin Mutter einsteige und daß man doch die hochgeehrte Dame nicht beunruhigen möge. Das half. Gläubig kehrte der Schwarm zurück, Szymborsky sprang in den Wagen, der nun mit rasender [44] Eile davon fuhr und so den Gegenstand der Rache der empörten Menge entzog. Das geschah gegen 4 Uhr des Nachmittags.

Mit der Entfernung des Obersten von Szymborsky endete diese Bewegung in der Stadt und im Lande Coburg. Es wäre kaum nöthig gewesen, die üblichen Maßregeln für unruhige Zeiten noch nachträglich anzuwenden, die Landleute verliefen sich gegen Abend nach allen Richtungen, und die Stadt bot schon am nächsten Tage keinen andern Anblick, als den gewöhnlichen ihres bürgerlichen Verkehrs. Die Ruhe ward auch nicht gestört, als einige Tage später, am 2. September, die Herzogin Louise die Stadt und das Land wirklich und für immer verließ. Und es ist wiederum ein echt patriarchalisches Zeichen des damaligen coburgischen Staatslebens, daß über diese drei Tage, deren Denkwürdigkeit für das Land insbesondere wie für das deutsche Kleinstaatsleben im Allgemeinen Niemand anzweifeln kann, keine Zeile Gedrucktes zu finden ist; keine der Chroniken berührt diese Begebenheit mit einem Worte. Nur in einer derselben stehen die zwei unschuldigen Zeilen: „Den 2. September ging Frau Herzogin Louise nach St. Wendel im Fürstenthume Lichtenberg ab,“ deren Bedeutung der auswärtige und in wenigen Jahren selbst der inländische Leser jener Chronik erst durch diese Mittheilung verstehen wird.

Die Herzogin Louise nahm ihren Wohnsitz in St. Wendel, dem Hauptorte des damals zu Coburg-Saalfeld gehörigen Fürstenthums Lichtenberg. Im Jahr 1826 erfolgte die Scheidung der fürstlichen Ehegatten. Die Herzogin vermählte sich hierauf mit einem Grafen Pölzig und starb auf einer Reise zu Paris am 30. August 1831. Der Herr von Szymborsky starb in dem Dörfchen Eckersdorf bei Baireuth, Moritz von Thümmel im Irrenhause zu Gotha. Das im Leben getrennte fürstliche Ehepaar ruht nun in der gemeinsamen Gruft, deren goldenes Kreuz in den Itzgrund leuchtet, und selbst von dem Knabenpaar, dem der bittere Harm jener Tage unvertilgbar in das Kindesherz fallen mußte, ist Prinz Albert bereits heimgegangen. So lebt als einzige öffentliche Person jener Begebenheit nur noch Herzog Ernst II. von Coburg, der deutsche Fürst, welcher Mann genug ist, um nicht dadurch verletzt zu sein, daß das patriarchalische Schweigen über diesen Theil der Vergangenheit seines Hauses hiermit gebrochen ist.

Inwiefern aber die Zusammenstellung des Herzogs Ernst I. mit dem Herzog Johann Casimir aus einer Schmeichelei zur glänzenden und zur bittern Wahrheit geworden, das soll ein zweiter Artikel darthun.




Das ungarische „Waisenmädchenhaar“.

Von Dr. A. Kerner.


Mit großem Eifer hat man in neuerer Zeit der culturhistorischen Bedeutung mancher Pflanzenarten nachgespürt und insbesondere die Beziehungen verfolgt, in welchen die künstlerischen Erzeugnisse bei verschiedenen Racen und Stämmen zur Vegetation des heimischen Bodens stehen. Die diesfälligen Untersuchungen sind auch nicht ohne Erfolg geblieben und es zeigte sich, daß durch den Einfluß localer Pflanzenformen die Werke künstlerischen Schaffens bei den in verschiedenen Himmelsstrichen, lebenden Menschen allerdings eigenthümliche locale Färbungen erhielten, und daß die Anklänge an die Pflanzenwelt, welche wir in den Kunstschöpfungen der verschiedenen Stämme wahrnehmen, fast eben so mannigfaltig sind, wie die unzähligen bunten Pflanzenarten, welche die Vegetationsdecke von der reich gegliederten tropischen Zone bis hinauf zum kalten Himmel des Nordens zusammensetzen.

Es ist wohl leicht erklärlich, daß sich die Gebilde der Phantasie ganz anders bei dem gestalten mußten, der in seinem Mutterlande fortwährend das Bild der schlanken Palme vor Augen halte, als bei jenem, dein ein mit düsteren Nadelwäldern erfülltes Land zur Heimath ward, und daß sich bei dem in jeder Menschenbrust liegenden Drange, das Empfundene auch wieder nach außen darzustellen, das Gepräge der heimischen Natur auch in die Poesien und Lieder, ebenso wie in die Bilder und Bauwerke aller Völker, aller Zonen und Zeiten fast unbewußt hineindrängte. – Zunächst waren es natürlich die durch ihre imposante Erscheinung mehr anregenden Baumformen, welche auf die schöpferische Thätigkeit des Menschen Einfluß gewannen, und unter ihnen unstreitig die edle Form der Palme, die am häufigsten als Motiv benutzt wurde. Allüberall, wo diese Baumform auf schlanken Stammessäulen ihre immergrünen riesigen Blätterkronen entfaltet, tritt sie uns in den Kunstschöpfungen der Menschen entgegen, und wir finden sie ebensowohl in die wunderbaren architektonischen Werke, wie in die bilderreichen Poesien längst verschollener und noch lebender Völkerschaften innigst verflochten. – Neben der Palme erkennen wir aber auch noch zahlreiche andere Baumformen, die zu verschiedenen Racen in unzweifelhafter. Beziehung stehen. Der Schauplatz der Sagen und Märchen ist bei den im östlichen Karpathenzuge lebenden Romanen gewöhnlich der schattige Grund unter dem Laubdache eines alten Ahornbaumes; der wandernde Zigeuner schlägt sein Zelt wenn möglich unter einem Weidenbaume auf; der Deutsche nennt mit Stolz die Eiche den deutschen Baum und verherrlicht ihn in seinen Liedern und Gesängen; der Slave hat sich die Linde zu seinem Liebling auserwählt, – und so hat fast jeder Stamm und jede Race einen Lieblingsbaum, den sie mit Vorliebe behandelt und welchem sie eine gewisse Verehrung zollt, die sie aus alter grauer Zeit von den Voreltern überkommen und die unstreitig mit den einstigen religiösen Anschauungen und dem Cultus des Volkes im innigsten Zusammenhange steht.

Auch aus der Reihe der niederen Gewächse sind seit uralter Zeit gewisse Formen zu Lieblingen der Menschen geworden und haben sich in die Werke der schaffenden Kunst hineingedrängt. So finden wir als Ornament an den Bauwerken der alten Aegypter die reizende Lotosblume, eine in den Gewässern des Nils heimische und unseren Seerosen ähnliche Wasserpflanze, in Anwendung gebracht, während der von angebornem Schönheitsgefühl durchdrungene Grieche das elegante Blatt des in seinem Vaterlande häufigen distelähnlichen Akanthus zu gleichem Zwecke sich auserwählte, – und so ändern sich die Motive je nach den verschiedenen Ländern und Völkern und je nach den auffallenden Pflanzenformen, welche die wechselnden Himmelsstriche erzeugen.

Bemerkenswerth ist, daß insbesondere in der gemäßigten Zone die immergrünen Gewächse sich als die verbreitetsten und häufigsten Motive in die Producte des dichterischen Schaffens hineinflechten. In dem Wechsel der Jahreszeiten liegt dort eben ein eigenthümlicher Reiz, und das Erwachen der Natur im Lenze, sowie das allmähliche Einwintern und scheinbare Absterben im Herbste sind Erscheinungen, welche die Gemüthsseite des Menschen auf das Gewaltigste zu bewegen und zu ergreifen im Stande sind. Nichts lag daher dort näher, als immergrüne Gewächse und Immortellen, welche dem langen, alles pflanzliche Leben erstarrenden Winter zu trotzen scheinen, als Symbol der Unvergänglichkeit und Beständigkeit zu benutzen und die düstere Herbststimmung durch das Bild unvergänglichen Hoffnungsgrüns zu beschwichtigen. Die mit immergrünen Blättern bekleideten Ranken des Epheus und Sinngrüns, mit denen wir die Gräber unserer Lieben schmücken, sowie die wintergrünen dunklen Cypressen, welche von den Griechen an die letzte Ruhestätte gepflanzt wurden, sind darum auch ebenso wie der ewig frische Lorbeer und Myrtenstrauch mit den Poesien aller jener Völker, deren Land dem Wechsel der Jahreszeiten unterliegt, auf das Innigste verwebt.

Welche Motive mochte aber die Pflanzenwelt in den ebenen östlichen Pußten und Steppen darbieten, denen immergrüne Gewächse eben so fremd sind wie stolz ragende Baumformen, in welchen uns nirgends das Bild eines wintergünen Nadelwaldes erfrischend entgegentritt, in welchen kein Haidekraut, keine Stechpalme, kein Ephen, kein Rhododendron unter der weißen Schneedecke sein grünes Laubwerk hervordrängt und wo selbst unser immergrünes Sinngrün nur durch ein sommergrünes Gewächs vertreten ist, dessen Blätter und Blüthen schon unter den Strahlen der Junisonne vergilben und verdorren? An welche Pflanzenformen mochte sich dort in den weiten ungarischen Pußten die Phantasie anklammern, wo nicht nur der Winter des frischen lebendigen Grüns [45] entbehrt, sondern auch im Hochsommer fast alles pflanzliche Leben stille steht und die ganze Vegetation eine Art Sommerschlaf durchmachen muß?

Es ist wohl nicht ohne Interesse, in einem solchen Gebiete, wie etwa in der ungarischen Pußtenwelt, in welcher der von der umgebenden Natur ausgehenden Eindrücke so wenige sind, jenen Pflanzenformen nachzuspüren, welche im Stande waren, auch dort noch die Phantasie anzuregen und sich in die künstlerischen Schöpfungen des Volkes zu verweben. – Daß sich in dem aus tiefgründigem Alluvialboden bestehenden Gelände der ungarischen Tiefebene, wo auf viele, viele Meilen weit kein Stein unter dem Hufe des Pferdes erklingt, wo, so weit das Auge blickt, kein Fels aus dem weißen lockeren Sand oder dem dunklen fruchtbaren Humusboden aufragt und wo daher alles Material für die bildende Kunst fehlte, diese selbst nicht zu entwickeln vermochte, darf uns wohl nicht Wunder nehmen, und wenn wir daher dort den Einfluß der localen Natur auf die Kunstschöpfungen ermitteln wollen, so werden wir dabei fast einzig und allein auf die Musik und Poesie des ungarischen Volkes hingewiesen.

Pflanzengruppe aus einer ungarischen Pußta, „Waisenmädchenhaar“, fruchttragende Anemonen, krautige Astragalusarten und distelähnliche Jurinea mollis.

„Die Natur ist wie ein großes elegisches Gedicht. Ihr ganz hingegeben, versinkt auch der Mensch in eine elegische Stimmung,“ und es ist wohl nichts natürlicher, als daß der Bewohner der Pußta, der sein ganzes Leben lang in der freien Natur zu Hause ist, die elegische Stimmung, welche er von der ihn umgebenden Welt empfängt, auch in alle seine Lieder hineinlegt. So wie die Stimmen des Waldes in einem Waldgebiete, ebenso mußten auch die Stimmen der Pußta zur Nachbildung anregen, und das Lied des ungarischen Fischers, der tagelang vom schilfbewachsenen Ufer der Theiß träumend auf den Wasserspiegel hinausblickt und dort allein das melancholische Rauschen des Röhrichts und den klagenden traurigen Gesang der im Schilf hausenden Wasservögel an sein Ohr schlagen hört, harmonirt gerade so mit der umgebenden Natur, wie das in rhythmischen, heiteren Klängen sich bewegende Volkslied des Bergbewohners mit jenen Tönen im Einklang steht, die aus dem von plaudernden und murmelnden Bächen durchrieselten und von lustigen befiederten Sängern bevölkerten grünen Wäldern herausklingen. – Durch alle Volkslieder der Ungarn zieht sich wie ein rother Faden ein ganz eigenthümlicher schwermüthiger Anklang von Anfang bis zum Ende, und aus ihren nationalen Weisen klingt uns überall unverkennbar jene schwermüthige Musik entgegen, welche die Natur auf der Pußta aufspielt. Bald klagt die Fiedel gleich dem Liede des im Schilfe hausenden Rohrsängers, während das Cymbal gleichzeitig das Flüstern und Lispeln des im Herbstwind bewegten Röhrichts nachahmt; dann wieder glauben wir den Sturmwind zu hören, wie er in langen gezogenen Tönen bald schwellend, bald fallend über die Steppe dahinbraust; und aus den hinschwirrenden Klängen tönt dann plötzlich gleich dem aneifernden Rufe eines auf flinkem Rosse durch die Pußta jagenden Csikos oder gleich dem durch Nacht und Sturm hörbaren Wiehern seines Pferdes ein plötzlicher gellender Aufschrei heraus. – So malen uns die ungarischen Nationallieder mit Tönen die Scenen der Pußtenwelt; – aber bei weitem schärfer noch als in der Musik spiegelt sich die umgebende Natur in den Texten ab, welche den ungarischen Volksliedern zu Grunde liegen. Der Bewohner des Alfölds[7], der seine Heimath geradeso liebt, wie der Schweizer seine Alpen, weiß dem Flachlande eine Menge Reize abzugewinnen, die er in seinen Poesien verherrlicht und zu Bildern und Vergleichen verwendet, und während der Sohn eines Bergrevieres, wenn er zum ersten Male in die trostlose monotone Ebene tritt, von dem Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit erfaßt wird, fühlt sich der Mann der Pußta von ihrem Anblicke gehoben und begeistert, und mit schwungvoller Rede bricht der magyarische Dichter Petöfi, der das Pußtenland zwischen Theiß und Donau seine Heimath nannte, in einem Liede, in welchem er die Schönheit der ungarischen Niederung preist, in die Worte aus:

„Nieder-Ungarns meeresebne Gegend
Nenn’ ich meine Heimath, meine Welt. Befreit
Fühlt die Seele sich aus Kerkermauern,
Sah ich dort der Ebene Unendlichkeit.“

Und wie aus dem Bisherigen deutlich erhellt, daß der Totaleindruck der Pußtenwelt die künstlerischen Erzeugnisse der Bewohner wesentlich zu influenziren vermochte, ebenso spricht sich auch aus zahlreichen Zügen der ungarischen Poesien unverkennbar die Thatsache aus, daß auch concrete Erscheinungen, welche dem ungarischen Tieflande eigen sind, die Phantasie anzuregen und auf die poetischen Erzeugnisse des magyarischen Volkes Einfluß zu gewinnen im Stande waren.

Bei dem Bilderreichthum der ungarischen Poesie darf es uns nicht Wunder nehmen, daß sich ein reicher Kranz von Blüthen in die Dichtungen hineingewebt findet. – Zunächst waren es wohl Gewächse der Gärten: Rosen, Tulpen, Lilien und andere Zierpflanzen, welche als Motive Verwendung fanden, aber auch die heimischen der Pußta ursprünglich eigenthümlichen Pflanzen finden wir in jenen Kranz verflochten, und die üppig aufschießende blauköpfige Distel, die schlanke, in den ungarischen Pußten ungemein kräftig wuchernde Nachtkerze, die azurne Kornblume, das Veilchen, die Espe und Weide, das Schilfrohr und der für die öden Felder [46] höchst charakteristische Burzeldorn, dessen lange, peitschenförmige Triebe in den öden weißen Sand sich hinstrecken und dort ihre zierlichen ordensternförmigen Früchte, die der Magyare mit dem sonderbaren Namen „Königs-Melone“ (kiraly dinnye) belegt, zur Reife bringen – sind häufig genannte und zu sprachlichen Bildern oftmals benutzte Gewächse. Die populärste Pflanze in den ungarischen Poesien ist aber eine Grasart mit wehenden weißen, federigen Grannen, welche von den Ungarn sinnig „Waisenmädchenhaar“ (Arvaleányhaj) bezeichnet wird.

Der wissenschaftliche Name dieser Pflanze ist Stipa pennata L. Die Gattung, welcher sie angehört, umschließt durchgängig Arten, welche durch die Wachsthumsverhältnisse ebenso wie durch den physiognomischen Ausdruck übereinstimmen und auch darin mit einander übereinkommen, daß sie fast alle in den Steppengegenden und an sterilen sonnigen Plätzen ihre Heimath haben. Sie sind für das sandige Terrain der trocknen kontinentalen Bezirke in der alten Welt ebenso bezeichnend, wie die immergrünen Haidekräuter für die dem feuchteren Küstenklima ausgesetzten Heideländer, und sind daher als rechte Steppengewächse aufzufassen. Unter ihnen allen ist wohl das „Waisenmädchenhaar“ die verbreitetste Art. Es findet sich sporadisch im ganzen, südlichen Europa und dehnt seinen Verbreitungsbezirk sogar noch bis an den Mittelrhein, bis nach Südschweden und Kurland und bis an den Oberlauf der Wolga aus. Recht eigentlich es sie aber in den Steppenländern des südlichen europäischen Rußlands und in den Pußten Ungarns zu Hause; seine Rasen sind dort durch massenhaftes Auftreten sogar für die Physiognomie der Landschaft von Wichtigkeit, und es ist dort für die hügeligen, wolligen Grassteppen eine wahre Charakterpflanze.

Das ganze Gewächs ist 1 bis 3 Schuh hoch und treibt jährlich je nach dem Alter des Exemplares 1 bis 15 Halme aus dem an der Basis holzigen, dicht geschlossenen Rasen hervor. Das Halm- und Blattwerk sieht starr und spröde aus, die Blätter sind steif und fast borstenförmig und vermögen mit ihrer matten graugrünen Farbe der Fläche, die sie berasen, niemals ein frisches, lebendiges Ansehen zu geben. Die Entwicklung neuer Blätter und Halme beginnt erst im vorgerückten Frühling, gewöhnlich in der ersten Hälfte des Monats Mai, zu einer Zeit, wo die ersten Blüthen der Pußta, die kleinen zierlichen Gelbsterne und die krautige Vinca längst schon verblüht sind und wo auch die Frühlingsanemonen schon mit kugelförmigen haarigen Fruchtballen emporstarren. So wie aber im kontinentalen Osten alle von den Pflanzen durchzumachende Phasen der Entwicklung ungemein rasch auf einander folgen, so verdrängen sich auch bei diesem Steppengras die Stadien der Entfaltung des Blühens und Verwelkens in außerordentlich kurzen Zeiträumen, und wenige Tage, nachdem man aus dem alten, scheinbar abgedorrten Rasen die jungen Blätter und Halme sich hervorschieben sah, entfalten sich auf den letzteren auch schon die Blüthenrispen. Aus der obersten, etwas breiteren, rinnenförmig zusammengefalteten Blattscheide drängt sich jetzt ein Bündel schmiegsamer, haarförmiger Grannen hervor, das anfänglich wie ein silberglänzender Reiherbusch anzusehen ist, sich aber allmählich verlängert und in weiße im Winde wehende Fäden auflöst, deren jeder einer schlanken, zarten Feder vergleichbar ist. – Zu dieser Zeit hat die ganze Pflanzenformation, als deren tonangebende Pflanze eben das „Waisenmädchenhaar“ erscheint, den Culminationspunkt der Entwicklung erreicht. Ranunkeln, Nelken, Orchideen, eine zwerghafte, kaum spannhohe gelbe Schwertlilie, ein dem Boden sich anschmiegende, zottiger, gelbblühender Astragalus und vor allem die moschusduftende Jurinea, die mit distelähnlichen, purpurrothen Köpfen über die weißen Fäden der Stipa aufragt, stehen jetzt in voller Blüthe, und die Mehrzahl der für die Pußta so charakteristischen fiederblättrigen Schmetterlingsblüthler drängen gleichzeitig ihre Blüthenstände hervor.

Das Bild, welches diese Pflanzengruppe zu Ende des Monats Mai darbietet, ist unstreitig eines der reizendsten, welches die Vegetation der Pußtenwelt überhaupt aufzuweisen hat. Namentlich Abends, wenn die letzten Strahlen der Sonne, über die Steppe herüberspinnen, bietet dasselbe einen ganz einzigen Anblick dar. Wie Silberfäden schimmern dann die im Abendhauche wallenden federigen Grannen in dem magischen Lichte, mit dem die weite Fläche übergossen ist – aber nur noch einige aufblitzende Funken, und die Sonne ist hinabgesunken; die Flamme der Abendröthe lodert jetzt im Westen empor, und mit scharfer Linie grenzt sich dort die Erde von dem brennenden Himmel ab, die Grassteppe aber ist plötzlich eintönig und farblos geworden; im Vordergrunde wehen noch wie weiße Nebel die Fäden des „Waisenmädchenhaares“, aber in der Tiefe, wo sich die Fläche wie das Meer scheinbar ansteigend ausdehnt, ist das Land in unbestimmtes Zwielicht gehüllt. Endlich ist auch die flammende Abendröthe erblaßt, und Himmel und Erde fließen undeutlich in einander zu einer dunklen Masse, aus der nur hie und da ein aufblitzendes Hirtenfeuer herüberleuchtet.

Nur zu rasch aber ziehen diese Bilder vorüber, und schon im Juni vergilbt und vertrocknet unter dem sengenden Strahle der glühenden Sonne Alles, was da grünt und blüht, und wenn dann auch die milden Tage des Herbstes noch einige Blüthen auf der Pußta hervorlocken, so vermögen diese doch die Landschaft nicht mehr zu beleben, und zu einer Zeit, wo auf dem norddeutschen Haidelande das immergrüne Buschwerk des Haidekrautes in vollem Flor steht und sich ein von Millionen Blüthen erzeugter röthlich schimmernder Farbenton über die weite Fläche hinspinnt, ist die Pußta ein ödes, fast blüthenloses Land, das auf weithin nur mit abgedorrten Stauden und fahlgelben, im Herbstwinde schwankenden Halmen bewachsen ist.

Daß die graziösen und schmiegsamen Grannen des für die Vegetation des ungarischen Tieflandes so bezeichnenden „Waisenmädchenhaares“ dem Bewohner der Pußta besonders in die Augen fielen und bei ihm eine bevorzugte Berücksichtigung fanden, wird nach dem Mitgetheilten nicht überraschen, und wir finden es um so mehr begreiflich, daß gerade diese Pflanze von den Magyaren zum Range eines nationalen Schmuckes erhoben wurde, als sie eines der wenigen Pußtengewächse ist, das auch nach dem Abdorren Form und Farbe nicht verändert und daher gewissermaßen als Immortelle benutzt werden kann. – So wie die Immortelle der Alpen, das weißzottige „Edelweiß“, bei dem Gebirgsbewohner nebst dem Gemsbart allgemein als Schmuck des Hutes erscheint, ebenso figurirt bei dem Bewohner der Pußta neben den schmucken Federn des Silberreihers allgemein ein Bündel aus den Grannen des „Waisenmädchenhaares“ als Zierde der Kopfbedeckung. In den Volksliedern spielt dieses Federgras dieselbe Rolle wie etwa die Alpenrose in den Poesien des Aelplers, und wir schließen diese Zeilen, indem wir die ersten Verse eines magyarischen Volksliedes in deutscher Uebersetzung wiedergeben, welche speciell dieser Pflanze gewidmet sind und die folgendermaßen lauten:

Mit Waisenmädchenhaar hab’ meine Mütze ich geschmückt,
Ein Waisenmädchen hab’ ich mir zum Liebchen auserwählt.
Das erste hab’ ich aus der weiten Pußta mir gepflückt,
Im Dorfe fand das Mädchen ich, das mir so wohl gefällt.




Kleine amerikanische Sittenbilder.

3.0 Ein Bier-Musikant.

In einem der bessern deutschen Bierlocale von Douanestreet in New-York konnte man im Winter 1858 Abend für Abend eine Gestalt am Piano sitzen sehen, welche unwillkürlich die Aufmerksamkeit eines Jeden fesselte, dessen Blick auf sie fiel. Ein bleiches, in seltener Regelmäßigkeit geschnittenes, von einem dunkeln vollen Barte eingerahmtes Gesicht blickte völlig bewegungslos auf das leere Pult vor sich oder die darauf niedergelegten Noten, während die halberloschenen Augen todt für die Vorgänge in ihrem Gesichtskreise schienen; die hochgewachsene, gut bekleidete Gestalt saß steif und regungslos, die Hände auf den Knieen, und nur wenn der Violinspieler zur Seite des seltsamen Menschen die Hand auf dessen Schulter legte und ein paar leise Worte in sein Ohr sagte, hob dieser die Hände nach den Tasten und wandte das Auge dem Anfange der ihm vorgelegten Musikpièce zu; beide Bewegungen aber geschahen in so völlig automatenähnlicher Weise, daß den Zuschauer dabei ein noch unheimlicheres Gefühl als während der

[47] früher beobachteten Unbeweglichkeit überschlich. Die Musik begann, und mit der Genauigkeit einer Maschine arbeiteten die Finger des Dasitzenden in den Tasten, nicht die kleinste ausgelassene Note wäre zu entdecken gewesen, aber eben so peinlich ausdruckslos, so maschinenmäßig gleich folgte ein Ton dem andern, während der Charakter dieser leblosen Züge und dieses halb erstorbenen Auges sich während des Spiels auch nicht um einen Schatten änderte. Und war das Stück geendigt, so glitten die Hände von den Tasten wieder auf die Kniee zurück und der Blick starrte auf’s Neue in’s Leere. So oft auch schon einzelne Gäste versucht hatten, durch ein begonnenes Gespräch seine Aufmerksamkeit zu erregen, so hatte es doch stets geschienen, als gelange nicht eins der neben ihm gesprochenen Worte zu seinem Bewußtsein, und jeder Versuch, ihn aus seinem Hinstarren zu wecken, war endlich aufgegeben worden.

Wer nach eigenthümlichen Schicksalswendungen sucht, findet allerdings eine reiche Auswahl davon unter den jungen und älteren Deutschen, die als Piano- und Violinspieler ihr tägliches Brod in den Bierhallen erwerben, und schon so manche Vergangenheit, die seltsam mit der gegenwärtigen Beschäftigung contrastirte, war unter dieser Art von Leuten zu meiner Kenntniß gekommen; demohngeachtet war die eben gezeichnete Erscheinung eine so von allen meinen bisherigen Erfahrungen abweichende, daß mich ein reges Interesse für den Zustand dieses Mannes, auf dessen breiter, schöner Stirn sicher einst die Intelligenz gethront und dessen ganzes Aeußere auf eine frühere glückliche Stellung in der Gesellschaft hinwies, zu einer Erforschung der Umstände antrieb, welche seinen jetzigen Zustand hervorgerufen. Meine Bemühungen blieben indessen so lange ohne Erfolg, bis ich mit dem Wirth, welcher sich auch in Deutschland nicht hatte träumen lassen, daß er einmal als „Kneipier“ seinen Lebensunterhalt verdienen sollte, näher bekannt ward. Bei ihm hatte der Pianospieler seine Wohnung und Kost. Gegen Mittag ward dieser in der Regel erst geweckt, dann kleidete er sich, wie nur mechanisch einer Gewohnheit folgend, an, ohne den Theilen seines Anzugs einen Blick zu schenken, und der Zustand seiner Kleidung würde wohl bald ein völlig verkommener geworden sein, wenn ihm nicht stets am Morgen das Nöthige dafür zurecht gelegt worden wäre. Dann setzte er sich nieder und begann sein Hinstarren und hätte wohl verhungern können, ohne sich der Nothwendigkeit des Essens zu erinnern, wenn nicht immer zur rechten Zeit für ihn gesorgt und er durch den Geruch der Speisen angelockt worden wäre – er war anscheinend völlig stumpfsinnig. Und doch war es kaum sechs Monate her, daß derselbe Mann zu den aufgewecktesten, vielversprechendsten jungen Deutschen von New-York gehörte, der, keiner Ausschweifung ergeben, das volle Vertrauen seines Handlungs-Principals besaß und der Liebling Aller war, die zu seinem Kreise gehörten.

Als ich eines Nachmittags, an welchem das Local gewöhnlich unbesucht stand, die Geschichte des Unglücklichen hören sollte, machte sich meine Phantasie schon im Voraus Bilder von irgend einer Liebe, einer unglücklichen Leidenschaft, welche ein reichgeschmücktes Leben ruinirt, und es war wirklich eine Liebesgeschichte, die ich zu hören bekam – aber eine echte New-Yorker.

Vor ungefähr einem halben Jahre hatte der junge Mann an einem der mannigfachen Sommervergnügungsplätze, wie sie die Umgegend von New-York bezeichnen, ein Mädchen getroffen, welches, in Gesellschaft einer älteren Frau allein an einem Tische sitzend, beim ersten Anblicke einen wunderbaren Reiz auf ihn ausgeübt. Dem Aeußeren nach mußte es zu der besten Classe der Gesellschaft gehören; freudig überrascht aber fing er nach mehrmaligem Vorbeipassiren einige deutsche Worte auf, die ihm alsbald den Muth gaben, sich eines der noch leeren Plätze an dem Tische zu bemächtigen und den Versuch zur Einleitung eines Gesprächs zu machen. Nach einem prüfenden Blicke über sein Aeußeres schien dies Gnade vor den Augen der Schönen gefunden zu haben, er ward angenommen, und als nach einer Stunde, die dem jungen Manne im Fluge verschwunden, die ältere Dame sich für einige Minuten entfernte, waren Beide mit einander bereits so weit gelangt, daß er fragen konnte, wann und wo er sie wohl wiedersehen dürfe. Hier schien aber das Ende seines Glücks zu sein. Wie zu einer plötzlichen Erkenntniß kommend, daß sie in ihrer Vertraulichkeit zu weit gegangen, erklärte sie, er möge ihr die Antwort erlassen, sie müsse wünschen, daß Beide nie wieder zusammenträfen, und erst nach langem Drängen seinerseits versprach sie, wie halb gezwungen, sich nach einigen Tagen wieder an demselben Orte einzufinden. Die ältere Dame kehrte zurück; wenige Minuten nachher aber erschien auf dem Fahrwege unweit von ihnen eine reiche Equipage. Der Kutscher stieg ab und öffnete den Schlag, und zu des jungen Mannes Erstaunen erhoben sich seine Nachbarinnen mit leichtem Gruße, um von dem Wagen Besitz zu nehmen. Sein Glück erschien ihm in diesem Augenblicke so groß, wie er es nie zu hoffen gewagt.

Das Wiedersehen kam; die ältere Dame schien dem ganzen Wesen der jüngeren nach nur eine Duenna vorzustellen und ließ die jungen Leute viel allein; ein drittes, ein viertes Rendezvous an andern Orten, die Gelegenheit zu einsamen Spaziergängen gaben, folgte; er hatte seine Liebe erklärt, aber, obgleich er in ihrem Wesen dasselbe Gefühl zu lesen meinte, noch kein deutliches Gegenwort erhalten; er hatte nach ihrem Namen und Stand geforscht, aber nur die Erklärung war ihm geworden, daß von dem Augenblicke an, wo er sie zwinge, sich ihm zu entschleiern, auch jeder weitere Verkehr zwischen ihnen zu einer Unmöglichkeit werde; und diese Zurückhaltung in Verbindung mit dem Geheimniß, in welches sie sich hüllte, dazu ein sonderbarer Reiz, der in ihrem Lächeln, in der Art, sich ihm hinzugeben und doch zu entziehen lag, fachte seine Liebe zu einer völligen Leidenschaft an.

Er wohnte in einem Hause mit einem jungen Italiener, der nur nothdürftig sein Brod mit Violinspiel und Violinunterricht erwarb, so weit er sich auch über die handwerksmäßigen Siedler der großen Stadt erhob; mit diesem hatte ihn früher schon die Musikliebe zu einer Art Freundschaft verbunden, denn er selbst, wenn auch kein Virtuos auf dem Piano, hatte doch die Gabe, Musik ohne besondere Schwierigkeiten rasch vom Blatte zu spielen; diesem Freunde hatte er sein Glück, das bald für ihn allein zu viel geworden, vertraut und dort auf rege Theilnahme – indessen auch auf eine Anspornung, das Geheimniß zu durchdringen und das Beste für sich selbst daraus zu machen, getroffen; seine eigene Leidenschaft stimmte nur zu sehr mit dem letzteren überein, und vielleicht zwei Monate nach dem ersten Zusammentreffen mit dem Mädchen, das für ihn der Inbegriff all seines irdischen Strebens geworden, errang er von dieser das Versprechen, den Schleier, der über ihren Verhältnissen lag, zu lüften. „Wir werden uns dann aber wohl nie wiedersehen!“ hatte sie ihm gesagt; er aber hatte ihr betheuert, daß, wenn sie ihn nur liebe, er sie selbst allen Mächten der Hölle abtrotzen werde. Als wolle sie das Geheimniß noch bis zur letzten Secunde festhalten, bestimmte sie, daß er für den nächsten Abend zu einem letzten Rendezvous aus seiner Wohnung abgeholt werden solle; und kaum hatte er sich auch dort zur bestimmten Stunde fertig gemacht, als ein Mann, dem Anscheine nach ein Diener aus einer der reichen, aristokratischen Familien, sich einstellte, ihn nach einem harrenden Wagen mit hinabnahm und nach kurzer Fahrt den Schlag vor einem der massiven, stolzen Gebäude, wie sie die Nähe des obern Broadways bezeichnen, öffnete. Der junge Mann stieg in einer kaum zu ertragenden Spannung aus; er sah die Thür sich aufthun, einen reichgekleideten Portier sich entgegen treten, aber beim Erkennen seines Begleiters sich rasch wieder zurückziehen; er hörte Pianotöne und sah die Thür zu einem glänzenden, feenhaft erleuchteten Gesellschaftszimmer vor sich aufgerissen – er blickte um sich – auf den Divans saßen und lehnten vertrauliche Paare, während in einer Gruppe am Ende des Zimmers soeben ein tolles Lachen losbrach; nach den Tönen des Piano tanzte eine hochaufgeschürzte Schöne eine Redowa, einem ihr gegenübersitzenden Elegant Kußfinger zuwerfend; von einer Gruppe Mädchen in freier Toilette im Hintergründe des Zimmers aber sah er sie, die er gesucht, sich loslösen und mit einem eigenthümlich traurigen Blicke auf ihn zuschreiten – wie ein Blitz, ihn blendend und betäubend, trat plötzlich die Wahrheit vor ihn: er befand sich in einem Hause der Schande, wie sie New-York mitten unter den Palästen seiner reichen Familien zählt.

Erst spät in der Nacht kam er nach Hause zurück, und der Italiener, der, selbst, neugierig, ihn erwartet, meinte beim ersten Empfange ihn betrunken zu sehen, bis in den wirren Erzählungen des Deutschen ihm die Wahrheit offenkundig ward. In Sorge um den sonderbaren Zustand des Heimgekehrten brachte er diesen zur Ruhe und bewachte ihn, bis er ihn entschlafen sah.

Am andern Morgen zehn Uhr sandte der Principal des Deutschen, um anfragen zu lassen, warum der junge Mann nicht nach dem Geschäft gekommen; der Violinspieler machte sich auf, um nach dem Freunde zu sehen, fand aber dessen Zimmer und [48] Bett leer und den größten Theil seiner Garderobe verschwunden. Von einer bestimmten Ahnung getrieben, wandte er sich nach dem ihm von dem Freunde bezeichneten Hause und ließ sich bei der Besitzerin desselben melden. Alles indessen, was dort zu erfahren war, lautete, daß der junge Mann von dem Mädchen nicht lassen könne und sich in dem Etablissement als Pianospieler habe engagiren lassen. – Der Italiener nahm vorläufig die zurückgelassenen Effecten des Freundes an sich, sicher, daß dieser früher oder später noch einmal danach fragen würde.

Sechs Wochen später kam an ihn die Nachricht, daß der junge Deutsche am Nervenfieber darniederliege. Was in dieser Zeit mit ihm vorgegangen, ist nie bekannt geworden. Der Violinspieler vermittelte für ihn die Aufnahme in ein Hospital; als aber der Kranke körperlich wieder genesen, war er genau in demselben Zustande, in welchem ihn später die Gäste des Bierlocals gewohnt waren zu sehen. Nur zwei Einflüsse, die ihn mit der übrigen Welt in Verbindung setzten, gab es noch für ihn: die Stimme seines Freundes und das Piano. Er ward auf das Ansuchen des Italieners diesem überantwortet, und es gelang dem treuen Cameraden, in dem Bierwirthe in Douanestreet einen Beschützer für den Unglücklichen zu gewinnen. –

Ich verließ bald darauf New-York, und als ich es, manches Jahr später, wiedersah, war weder von dem unheimlichen Pianospieler noch von dem Bierlocale selbst mehr eine Spur zu entdecken.

O. R.     




Blätter und Blüthen.


„Vom verlassenen Bruderstamm. Das dänische Regiment in Schleswig-Holstein.“ Unter diesem Titel ist im Verlag von A. Vogel in Berlin vor Kurzem von dem Mitarbeiter der Gartenl., Hr. Dr. jur. Gustav Rasch, der erste Theil eines Werkes erschienen, in dem die traurigen Zustände in Schleswig geschildert werden. Ueber den Inhalt und die Tendenz des Werks entnehmen wir aus der Vorrede zu demselben folgende Stelle:

Ich schildere in diesen Blättern die gegenwärtigen Zustände in Schleswig auf Grund eigener Anschauung und gestützt auf den Wortlaut diplomatischer, officieller und gerichtlicher Actenstücke. Sie sind unerhört. Die dänische Regierung wendet, um zu ihrem Ziele, der heimlichen und schleunigen Danisirung eines deutschen Landes, zu gelangen, Mittel und Maßregeln an, welche die österreichische Regierung in Venetien und die Priester-Regierung in Rom niemals anzuwenden gewagt haben. Holstein ist um Vieles glücklicher als Schleswig; die Verbindung mit dem deutschen Bunde macht in Holstein die Danisirungs-Versuche und die Anstellung dänischer Beamten, Pastoren und Schullehrer schwieriger. Aber beide Herzogthümer sind baar aller politischen Rechte: die Presse überall in den Händen der dänischen Polizei, selbst das Petitionsrecht bis zur Lächerlichkeit einer Unterschrift herabgesunken; Strafen an Leib und Vermögen, wenn die Bürger bei dem Könige petitioniren; kein Vereins- und Versammlungsrecht; die Communal-Verwaltung überall auf dem Wege, den Dänen und ihren Creaturen in die Hände zu gerathen, oder bereits in ihren Händen; die Wirksamkeit der Stände-Versammlungen auf Null reducirt. In Schleswig Erbitterung, Schmerz und Haß überall; die rechtloseste Willkür Seitens der dänischen Administrativbeamten und Polizisten, wozu der berüchtigte § 9. der Schleswig-Holstein octroyirten Verfassung, indem er den deutschen Bürgern in den beiden Herzogthümern jeden Rechtsweg abschneidet, sie vollkommen autorisirt; eine unerhörte Knechtschaft der Geister in Sprache, Kirche und Schule; vollkommene Unsicherheit der Person und des Eigenthums vor den unaufhörlichen Angriffen der dänischen Beamten; ein über das ganze Land ausgebreitetes Netz von Spionage und Denunciation; zunehmende Armuth in den Städten bei den kleinen Bürgern und Handwerkern und ein schnell fortschreitendes Sinken des Realcredits in den nördlichen und mittleren Districten des unglücklichen Landes. Man erwidere mir nicht, daß diese traurigen Resultate meiner Anschauungen zu grelle Farben zu haben scheinen. Ich habe nur die eigenen Worte der Actenstücke, mit denen ich in der zweiten Hälfte meines Buches die in der ersten enthaltenen Schilderungen belegt habe, wiederholt. Sie bestehen aus einer dänischen Denkschrift, aus einer preußisch-ministeriellen Denkschrift, welche die preußische Regierung bis jetzt nicht gewagt hat, in Deutschland der Öffentlichkeit zu übergeben – sie ist nur bruchstückweise in englischer Sprache erschienen – aus dem Ausschuß-Berichte der schleswig’schen Ständeversammlung, aus Urtheilen und Aussprüchen hochgestellter dänischer Geistlichen und Beamten, welche den Muth gehabt haben, der Partei, welche im Kopenhagener Ministerium ein deutsches Land terrorisirt, die Wahrheit in’s Gesicht zu sagen. Man wird in diesen Documenten, welche selbst die eiderdänische Presse nicht wird antasten können, jedes Wort, welches ich angewandt habe, um die heutigen Zustände in Schleswig-Holstein zu schildern, wiederfinden.

Trotz alledem wird mein Buch der Gegenstand maßloser und heftiger Angriffe Seitens der eiderdänischen Presse werden. Ich wende mich deshalb hier an die gesammte deutsche Presse mit der ernsten Bitte, mich in meinen Anstrengungen thatkräftig zu unterstützen. Ich habe ein Recht zu dieser Bitte, und die Erfüllung derselben ist eine Pflicht der deutschen Presse; denn es handelt sich um die mit Füßen getretenen heiligsten Menschenrechte eines von Deutschland verlassenen Bruderstammes, gegen den Deutschland immer noch seine verpfändete Ehre einzulösen hat. Auch an die conservative deutsche Presse richte ich dieselbe Bitte. Ich hoffe, sie wird nicht vergessen, daß ich dieses Mal keine „aufrührerische oder republikanische Tendenzen“ vertheidige, sondern die Leiden eines deutschen Landes schildere, welches ihre Partei vor zehn Jahren wehrlos den Dänen überliefert hat.


Meine Fledermaus. Während meiner Universitätsjahre hielt ich mir häufig zum Behufe anatomischer und physiologischer Studien Thiere der mannigfaltigsten Arten, deren Lebensweise ich auch wohl längere Zeit beobachtete. – Eines Abends verirrte sich eine Zwergfledermaus (Vespertilio pipistrellus) in mein Zimmer und wurde wohlbehalten eingefangen. In der irrigen Meinung, daß die Fledermäuse Speck fressen, gab ich ihr dieses Futter, aber sie rührte es nicht an und war nach zwei Tagen dem Hungertode nahe. Eine Fliege, die ich dem zum Sterben schwachen Thierchen hinhielt, wurde mir begierig aus der Hand genommen und verschluckt. Von nun an fütterte ich die Fledermaus mit Fliegen, die ich sie, auf meiner Hand sitzend, theils an den Fensterscheiben selbst fangen ließ, meist aber ihr lebend hinreichte. Sie fraß am Tage nichts, sondern schlief sehr fest in einem dunkelen Winkel meines Büchergestelles, wo sie sich auf die bekannte Weise, den Kopf nach unten, mit den Hinterfüßen an ein Buch aufhängte und so von Mitternacht bis zum nächsten Abende der Ruhe pflegte. Erst bei anbrechender Abenddämmerung kam sie hervor, um Insecten zu fangen. Schon nach wenigen Tagen war sie so an mich gewöhnt, daß sie bei meinem Herankommen ihr Verlangen nach Futter durch pfeifende Töne und Flattern kund gab, wie ein junger Vogel, welcher von den Alten gefüttert wird. Nach einigen Wochen hatte sie sich gewöhnt, nach dem Erwachen von ihrer Schlafstelle aus auf dem Boden zu mir an meinen Arbeitstisch zu kriechen, sie kletterte dann an mir empor, fraß aus meiner Hand eine Anzahl Fliegen und begann von meiner Schulter aus ihren Flug durch die Stube, um dort selbst der Jagd obzuliegen. – An einem jungen Sperlinge, der frei durch das offene Fenster aus- und einflog, hatte sie, wenn sich dieser am Abend noch nicht zur Ruhe begeben hatte, einen Rivalen, welcher mit der diesem Vogel eigenen Dreistigkeit mir immer die für die Fledermaus bestimmten Fliegen mit Gewalt wegzunehmen suchte. Es entspann sich aus dieser Rivalität bald eine tödtliche Feindschaft, in Folge welcher der Sperling einst die kleine Fledermaus durch einen Biß auf den Kopf tödtete, nachdem sie über zwei Monate bei mir gelebt hatte. Eigenthümlich war die Art, wie die Fledermaus mit besonders lebhaften Fliegen verfuhr. Durch einen Schlag mit dem Flügel warf sie die Fliege gegen ihren Bauch, bildete in demselben Momente aus der Flughaut ihres Schwanzes eine Tasche, in welcher nun die Fliege sich abzappelte, und holte aus dieser Falle die Fliege mit ihrem Maule heraus. Die ganze Procedur war das Werk eines Augenblickes, ich habe häufig Gelegenheit gehabt, sie zu beobachten.

Es spricht sehr für die Intelligenz dieses kleinen Thierchens, daß es schon nach wenigen Tagen in mir seinen Wohlthäter erkannte und in so kurzer Zeit bis zu dem beschriebenen Grade gezähmt werden konnte. – Masius in seiner „Thierwelt“ behauptet zwar, die Zähmung von Fledermäusen sei bis jetzt nur bei einigen ausländischen Arten gelungen, aus vorstehender Beobachtung geht aber das Irrige dieser Behauptung hervor; vielleicht hatte man den eingefangenen Fledermäusen nicht das richtige Futter gegeben, und der Hungertod ereilte sie, ehe an Zähmung zu denken war. Ich habe seitdem mehrere Arten von Fledermäusen, die zum Theil in Rauchkammern gefangen worden waren, mit Speck eingesperrt, keine einzige war, selbst nicht durch den äußersten Hunger, dazu zu bewegen, daß sie Speck gefressen hätte. (Die Spuren von Zähnen an angenagtem Speck beweisen immer, daß ein Nagethier, eine Maus oder Ratte, dort genascht hat.) Um so lächerlicher ist es, daß man in Lebensmittelmagazinen die Fenster sorgfältig mit Drahtgittern verwahrt, die den schädlichen Insecten, den Speckkäfern, schwarzen Kornwürmern, Mehlkäfern, Motten etc. den ungehinderten Zutritt gestatten, deren Hauptfeind aber, die Fledermaus, abhalten.

G.     


Michael Bakunin, schreibt man aus London, ist nicht nur aus Sibirien entflohen, sondern auch zum Christfest hier in London angelangt. Gewiß wird es Viele in Deutschland interessiren zu hören, daß der Mann, dem man in Oesterreich Ketten an die Füße legte, und den man mit einer Kette um den Leib an die Wand schmiedete, den man an Rußland auslieferte, wo er in den feuchten Gefängnissen von Schlüsselburg am Scorbut alle Zähne verlor, der dann endlich seit 1857 in Sibirien als Verbannter lebte – daß er all diese Qual überstanden hat und noch kräftig an Körper, besonders aber unverwüstlich frisch und energisch an Geist und Herz, sich endlich wieder in Freiheit auf englischem Boden befindet. Von seiner interessanten Flucht, den Amur hinunter, über Japan, den stillen Ocean, Californien, Panama, New-York und das atlantische Meer bis hierher, hoffen wir aus seiner eigenen Feder bald Mehreres zu hören. Für Sibirien ist er sehr eingenommen, er sagt, es sei ein Land, das eine gute Zukunft habe und in welchem herrliche Menschen wohnen, zum Theil die Nachkommen der politischen Verbrecher, meist freier, edler Menschen. Ganz besonders haben, wie er sagt, die Polen dort ungemein viel für die Civilisation gethan.

Dem Vielgeprüften begegnete überall, schon in Amerika und so auch hier, die freudigste Theilnahme. Schon vor seiner Ankunft erhielt sein Freund, A. Herzen, eine Adresse englischer Arbeiter, die ihre Freude über seine Befreiung aussprachen. In Amerika weigerte man sich in den Läden, Geld von ihm zu nehmen, als man seinen Namen hörte, da man wohl denken konnte, daß des Flüchtlings Casse nicht übervoll ist, und man es sich zur Ehre rechnete, ihn mit dem Nöthigen zu versehen. In London kömmt ihm die allgemeinste Theilnahme entgegen.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sein Portrait nach einer meisterhaften Photographie Ph. Fink’s in London stellt den jetzigen Kinkel mit dem ihm eigensten Ausdrucke dar.
  2. Es soll halt gar eine ewig Hübsche (=eine sehr schöne Frau) sein.
  3. Er ist auch der Mann darnach.
  4. „Was? Das vernehme Zeug will unserem Herzog nicht folgen? Wir wollen es ihnen anstreichen.“
  5. „Ja, der Szymborsky soll daran schuld sein.“
  6. „So wird er auch gehauen!“
  7. Alföld wörtlich so viel als Niederland.