Die Gartenlaube (1862)/Heft 4
[49]
No. 4. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Eine dunkle Geschichte.
Es war zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts, als Dänemarks König seine getreuen Unterthanen in den damals noch unzertrennlich vereinigten Herzogthümern Schleswig-Holstein mit seinem hohen Besuche beehrte und an der Grenze der Reichsgrafschaft Ranzau von dem stattlichen Geleite empfangen wurde, welches der regierende Graf, dem die hohe Auszeichnung zugedacht war, den königlichen Gast zu beherbergen, diesem entgegen gesandt hatte.
Sechs prächtige Rappen zogen die etwas schwerfällige, mit Wappen und goldenem Schnörkelwerk verzierte Staatskutsche auf den damals noch sehr holperigen, mitunter kaum fahrbaren Wegen dahin durch das reiche Gebiet der Grafschaft mit ihren saubern, wohlhabenden Ortschaften aus rothen Ziegelsteinen gebaut. Hügel, Saatfelder und Waldungen, hellglänzende Seen und weidende Heerden boten sich wechselnd dem Blick des hohen Reisenden, der allmählich in tiefes Sinnen verfiel.
„Wahrlich, ein schönes Besitzthum, dessen Revenüen fast fürstlich sein müssen,“ bemerkte der neben dem König sitzende Kammerherr von Guldberg, kein sonderlicher Freund der Ranzau’s: „Da ist es begreiflich, daß sich solch ein stolzer deutscher Reichsgraf wie ein kleiner Souverain geberdet!“ fügte er hinzu. Der König nickte schweigend und lehnte sich in die Wagenecke zurück.
Dänemarks Könige hatten lange genug einen schweren Stand mit den Anmaßungen des dortigen Adels gehabt, bis endlich durch Beihülfe der Bürgerschaft und der Geistlichkeit das 1665 erlassene sogenannte Königsgesetz ihnen die unbedingte Souverainetät verschaffte. Natürlich konnte dies nur auf Dänemark seine Anwendung finden, während die Herzogthümer ihre gemeinsame Verfassung seit 1460 ungeschmälert besaßen.
Dänemark hatte durch mehrfache ungünstige Kriege mit Schweden an Gebiet verloren; seine Finanzen und innere Verwaltung waren zerrüttet; der Besitz aber der reichen Herzogthümer war durch das seit 1660 geltende dänische Erbfolgerecht gefährdet, sobald dort die männliche Linie erlosch, denn die weibliche war in Schleswig-Holstein nicht erbberechtigt. – Sehr begreiflich erschien es daher, wenn der Wunsch, jene beiden deutschen Edelsteine der dänischen Krone dauernd einzuverleiben, mehr und mehr zu einem bestimmten Plane ward. Die langbewährte Treue und Anhänglichkeit an das Königshaus ließ dem Herrscher keine allzugroßen Schwierigkeiten bei den verschiedenen Volksclassen voraussetzen; dagegen machte ihm die sehr unabhängige Ritterschaft größere Bedenken. Indeß hatte ja der dänische, noch dazu sehr rebellische Adel sich dem Königsgesetz gebeugt, warum sollte es nicht auch gelingen, die loyalen Deutschen dazu zu bringen?
Solche und ähnliche Betrachtungen beschäftigten den hohen Reisenden. „Laßt sehen,“ sagte halblaut für sich der König, „ob diese Ranzau’s mit Güte zu gewinnen sind. Eine Gelegenheit dazu wird sich schon finden, mein’ ich.“
Umgeben von zahlreicher Dienerschaft in reichster Livree, sowie von den Beamten der Grafschaft, stand Graf Detlev entblößten Hauptes an dem Portal des Schlosses, um den König Christian V. zu empfangen und in die Prunkgemächer des Schlosses hinauf zu geleiten.
Eine lange Reihenfolge von Ahnenbildern, die bis in die Kindheit der Malerei zurückführten, schmückte die Wände des reichverzierten Empfangssaales, in welchem eine Stunde später der königliche Gast, in einem vergoldeten Lehnsessel ruhend, mit dem ehrerbietig vor ihm stehenden Hausherrn in ein lebhaftes Gespräch verwickelt schien. In des Königs Mienen sprach sich ein gewisser Unmuth aus, den er jedoch zu unterdrücken strebte, indem er leichthin zu dem Grafen sagte: „Nun, nun, mein lieber Graf, Wir wollen über Unsere Rechte und die der schleswig-holsteinischen Ritterschaft nicht streiten; es war ja nur eben eine müßige Frage, die ich aufstellte, und Ihr wißt ja, wie ganz Holstein, daß ich nie das wahre Wohl meiner getreuen deutschen Unterthanen aus den Augen lassen werde, auch ohne daß sich Kaiser und Reich hinein zu mischen haben, wie Ihr reichsunmittelbaren Herren so gern mögt! Wahrhaftig, ich fange an des Regierens müde zu werden und beneide Euch fast um Euer friedliches Leben in dieser schönen Grafschaft, in welcher Ihr als Souverain herrscht, ohne die Last, die von einer Königskrone unzertrennlich ist, zu empfinden.“
Der Graf versicherte, daß ihn seine Stellung mit großer Befriedigung erfülle.
„Doch,“ fuhr der König fort, während er die Bilder ringsum betrachtete, „ich habe ja Euren Stammhalter noch nicht gesehen, Graf Detlev! Ich hoffe, daß ein solcher vorhanden ist, um die Zahl dieser würdigen Ahnen fortzusetzen, wenn gleich in diesem Saal Euer Conterfey gerade den letzten Platz eingenommen hat.“
„Was den Stammhalter anbetrifft, Majestät, dafür ist gesorgt,“ entgegnete der Hausherr gut gelaunt, „und ist in diesem Saal kein Raum mehr für die neue Generation, ei nun, so widme ich ihr einen neuen und, bei Gott! ich glaube, auch das wird nicht der letzte für mein Geschlecht sein, das steht auf festen Füßen!“
[50] „Wirklich?“ sagte der König in demselben Tone, „ich hatte schon Lust mich von Euch adoptiren zu lassen!“
„Das würde mir freilich eine hohe Ehre gewesen sein, aber Ew. Majestät, wie die Sachen jetzt stehen, wenig Vortheil gewähren.“
„Nun, schon die Aussicht, zu Euern Erben zu gehören, wäre etwas werth,“ scherzte der König weiter.
„Damit würden sich Ew. Majestät freilich wohl begnügen müssen,“ lachte Graf Detlev. Ein Diener trat ein, um dem Grafen leise etwas zu melden, worauf dieser um Erlaubniß bat, dem hohen Gaste seine Söhne vorstellen zu dürfen. Die Flügelthüren öffneten sich, und dem künftigen Stammhalter folgten seine sechs blühenden kräftigen Brüder, sich tief vor dem Könige verneigend. Der Blick des Vaters ruhte mit sichtlichem Stolze auf seinen Kindern, während der hohe Gast nicht eben sehr angenehm überrascht aussah, obgleich er lächelnd und huldvoll sagte: „Ja freilich, zu der Erbschaft sind da keine Aussichten,“ und sich zu dem jüngsten der Kinder wendend, setzte er hinzu: „aber es ist doch im Grunde kein so übler Gedanke, und für diese kleinen Herren da wär’ so ein Adoptivbruder wie ich oder mein Sohn gar nicht zu verachten, sag’ ich Euch! Doch lassen wir jetzt diesen Scherz.“ Und ehe sich Graf Detlev, dem die Aussicht auf hohe Ehrenstellen auch für die jüngeren Söhne sehr lockend erschien, sich noch weiter äußern konnte, war eine Deputation der Ritterschaft wie der Behörden von Elmshorn, der Hauptstadt der Grafschaft, gemeldet, und die Kinder wurden entlassen.
Prächtig und dem Reichthum des Hauses entsprechend war das Mittagsmahl, zu welchem zahlreiche edle Gäste eingeladen waren; ja, das kostbare edle Silberservice, welches auf kunstvoll geschnitzten Büffets aufgeschichtet war, konnte fast mit dem königlichen in Kopenhagen wetteifern. Wald, Flur und Wasser hatten ihre besten Gaben zu dem nach Holsteiner Sitte etwas derben Mahle geliefert, und es versteht sich von selbst, daß die feurigsten Geister des Auslandes dem Ganzen die rechte Weihe ertheilten.
Graf Detlev war seinen Gästen mit bestem Beispiele vorangegangen und in fröhlichster Stimmung; der König, eben so heiter als herablassend, gewann sich alle die offenen, braven Herzen um ihn her. Beim Champagner kam er noch einmal scherzhaft auf das Adoptionsthema zurück, und Graf Detlev ging ebenso darauf ein.
„Nun, Graf, damit Ihr seht, daß ich nicht eigennützig bin,“ rief lachend der König, sein Glas erhebend, „so will ich zuerst auf das Gedeihen meiner neuen Familie trinken!“
„Majestät halten zu Gnaden, aber die Adoption ist ja noch nicht vollzogen!“ bemerkte der Kammerherr von Guldberg.
„Doch, doch, lieber Guldberg. Wir haben ja des Grafen Wort und Zeugen in Menge! Zum Ueberfluß sind jedoch hier mehrere gesetzeskundige Männer. Wie wär’s, wenn Unser getreuer Amtmann da mit dem Syndicus gleich so ein Ding, eine Adoptions-, Donations-Urkunde, oder wie Ihr’s sonst nennen wollt, aufsetzte? Wir brauchten dann nur zu unterzeichnen. Aber vergeßt mir nur die Erbschaftsclausel nicht!“
Alle lachten; dienstwillig erhob sich die oberste Gerichtsperson der Grafschaft, zögernd und fast ängstlich fragend nach dem Grafen hinüberblickend folgte der in Geschäften ergraute Syndicus.
„Macht’s kurz und gut, Ihr Herren!“ rief Graf Detlev in heiterster Weinlaune, und sich, trotz seines reichsunmittelbaren Stolzes durch die Ehre geschmeichelt fühlend, die der hohe Gast seinem Hause zu erweisen beabsichtigte.
Das Document[1] war bald entworfen, und nachdem es von dem Kammerherrn von Guldberg genau geprüft worden war, kehrten die Drei nach dem Saale zurück, wo laute, ziemlich ungebundene Lust herrschte, denn der königliche Gast war heute besonders gut gelaunt, und immer von Neuem perlte der weiße Schaum in den Gläsern.
„So gebt her, Ihr Herren!“ rief er. „Da, mein werther Adoptivvater, unterzeichnet, daß Ihr Dänemarks König zu Eurem Erben und Sohne annehmt, dann komme ich!“
In wenig Federstrichen war es geschehen; die Gläser klangen dem seltsamen Vertrage zu Ehren, und hart trafen die des Vaters und seines neuen Erben aufeinander; ein heller Klang wie von einer zerrissenen Saite durchbebte den Grafen, und aus seinem zersprungenen Glase floß der rothe Purpursaft auf den schneeigen Damast des Tisches.
Jahre waren seit jenem Ereigniß verflossen, und wie ein finsterer Geist war es durch die einst von so frischem, heiterem Leben erfüllten Räume des stolzen Stammsitzes gegangen. Tiefe Furchen hatte der Schmerz auf die Stirn des Grafen gezogen und Kummer seine stattliche Gestalt gebeugt.
Vier seiner jungen, kräftigen Söhne hatte der Tod hinweggerafft, und die ihm noch bleibenden drei älteren machten in mehr als einer Hinsicht seinem Vaterherzen schwere Sorge.
Draußen stürmte der scharfe Nordost, der über das Meer daher brauste, mit den letzten Blättern zugleich auch manchen Ast von den Bäumen; das trübe Zwielicht eines Novembertages aber erfüllte das große Gemach, in welchen, wohl in Pelz gehüllt, der kränkelnde Graf Detlev in seinem Lehnstuhl ruhte, einen eben gelesenen Brief in der Hand haltend und das ergraute Haupt kummervoll in die Rechte gestützt.
Zwei Jünglingsgestalten, kräftig und schlank wie die jungen Buchen ihrer heimathlichen Wälder, standen ehrerbietig, aber mit finstern Mienen vor ihm. Die des älteren von Beiden, des künftigen Majoratserben, verriethen seine zornige Erregung, während um den festgeschlossenen Mund des Bruders ein Zug verbissenen Grolls lagerte und sein Auge kalt und fast gehässig nach dem jungen Detlev blickte, während dieser gesprochen.
„Soll ich denn ewig nur zwischen Euch richten und schlichten?“ fragte der Vater mit schmerzlichem Vorwurf. „Ihr, die Ihr Euch in den Kinderjahren mehr liebtet als Eure übrigen Geschwister, habt jetzt nur Worte der Anklage für einander und verbittert Euch auf jede Weise das Leben und mir den Rest meines trauervollen Alters!“
„Ei, meine Schuld ist’s nicht, wenn Adolph neidisch und mißtrauisch ist!“ rief Detlev heftig. „Ich bin nun einmal zum Majoratsherrn geboren; damit muß er und sein weiser Magister Henderson sich schon zufrieden geben; aber darum bin ich weder hochmüthig, noch fällt es mir ein, meinem Bruder befehlen zu wollen. So lange aber dieser glatte, falsche Magister hier im Hause herumschleicht und bösen Samen säet, wird es nicht besser, das könnt Ihr mir glauben, Vater, und das mußte ich Euch endlich einmal sagen.“
Adolph war blaß geworden und sah, die Lippen fest zusammen gebissen, zu Boden.
„Ist es wahr, Adolph, daß sich Dein Lehrer zwischen Euch stellt und Dich aufreizt?“ frug der Graf, den Sohn scharf ansehend.
„Es ist nun einmal Detlev’s Gewohnheit, mich um Alles zu bringen, was mir lieb ist,“ entgegnete bitter der Gefragte, „darum soll nun auch Henderson, der mir ein älterer Freund ist, entfernt werden. Ihr, mein gnädiger Herr Vater, werdet ihm auch diesmal Euer Ohr leihen, das weiß ich im Voraus, und ich muß mich fügen, so nothwendig es mir auch ist, mich in der Kenntniß der nordischen Sprachen zu vervollkommnen. Entlaßt mich daher lieber zur weitern Ausbildung nach Kopenhagen, wo mich ja doch künftig mein Beruf erwartet. Curt kann vielleicht den Magister Henderson leichter entbehren, wenn er zurückkehrt.“
„Mein armer Curt!“ sagte der Graf, und seine Stimme bebte. „Ich habe eben Nachricht aus Rom, und ich kann es Euch kaum sagen! Aber nach dem, was mir Hans Björne von Curt’s Krankheit schreibt, dürfen wir wohl allein noch auf Gottes Hülfe hoffen.“
„Ich weiß nicht, Vater,“ sagte nach einer Pause düstern Schweigens der ältere Sohn kopfschüttelnd, „aber mir ist immer, als ob uns all die Fremden, die wir im Hause gehabt, keinen Segen gebracht hätten! Hans Björne ist ja wohl ein gewandter Kammerdiener, aber eine ehrliche Haut von Holsteiner wäre mir doch auf so weiter Reise lieber als er.“
„Da haben wir den Dänenfeind!“ rief Graf Adolph. „Nimm Dich in Acht, daß unser hoher Adoptivbruder diese Gesinnung nicht erfahre. König Christian ist ohnehin unserer Ritterschaft nicht eben günstig gestimmt.“
Detlev blickte ihn an, wandte sich jedoch zum Fenster und [51] murmelte einige Worte, die vielleicht noch weniger schmeichelhaft für den Adoptivbruder sein mochten.
Der treue Peter Claß, der alte Kammerdiener des Grafen, trat ein, stellte den großen silbernen Armleuchter neben seinen Gebieter, meldete den Arzt und machte sich ordnend noch allerlei im Zimmer zu thun; die Brüder aber verließen das Gemach eben so unversöhnt, wie sie gekommen.
Aufmerksam prüfte der Arzt nun den von Hans Björne eingesandten Krankenbericht. „Wie gut,“ sagte er, während er seine Brille hervorzog, „daß gräfliche Gnaden gerade diesen gewandten und zuverlässigen Menschen dem jungen Herrn mitgegeben haben! er ist wirklich der Feder sehr mächtig,“ über welches Lob Peter hinter seinem Rücken eine derbe Grimasse machte; denn freilich war weder er noch seine Cameraden auf so hoher Bildungsstufe angelangt, wie Hans Björne, der sogar Französisch parlirte und deshalb dem Peter nur um so fataler war.
Mit angstvoller Spannung betrachtete der Graf die Mienen des Lesenden und lehnte sich mit einem aus tiefstem Herzen dringenden Wehelaut zurück, als der Arzt mit leiser, stockender Stimme sagte: „Entweder ist der Zustand des Grafen Curt eine heftige Krisis, deren Ursache mir jedoch nach dem früheren Bericht nicht motivirt scheint, – oder – gräfliche Gnaden – das Menschenleben ist ja ein so schwaches Ding – müssen sich auf einen neuen harten Schlag gefaßt machen.“ – Und so war es; nach wenig Tagen traf die Todesnachricht ein: es war der fünfte Sohn! Sie wurde ein letzter Nagel zu dem Sarge des tiefgebeugten Vaters, und nach Jahresfrist stieg er in die Gruft seiner Ahnen wie die seiner hoffnungsvollen Söhne hinab.
Auf Graf Detlev aber, der seine Volljährigkeit bereits angetreten hatte, vererbten sich mit dem Majorate auch alle Ehren- und Vorrechte, zu denen er durch seine Geburt schon berufen war.
Die Trauer des Vaters um Curt, den auch beide Brüder geliebt, die Entfernung des Magisters und Detlev’s redliches Streben, ein friedlicheres Einvernehmen mit dem Bruder herzustellen, hatte einigen Erfolg gehabt; so daß jenes dem Vater in seiner Sterbestunde gegebene feierliche Versprechen, keinen Groll mehr zwischen sich zu dulden, auch von Adolph’s Seite wirklich ernst gewesen war. Aber das Feuer war seit Jahren von böswilliger Hand geschürt worden; es glimmte unter der Asche fort, um beim ersten Windhauch wieder emporzulodern, und es konnte nicht fehlen, daß mit der neuen, überlegenen Stellung des älteren Bruders sich auch tausend Gelegenheiten fanden, wo das reizbare, mißtrauische Gemüth des jüngeren sich verletzt fühlte, auch ohne irgend eine Absichtlichkeit von Seiten Detlev’s, der im unbestrittenen Genuß der Gaben, womit er an seiner Wiege schon empfangen worden war, jene finstern Geister des Argwohns oder der Mißgunst nicht kannte, mit denen Adolph’s besseres Selbst stets im Kampfe lag.
Hans Björne war im Dienste des arglosen verstorbenen Grafen geblieben, der dem Pfleger seines geliebten Sohnes ganz besondern Dank zu schulden meinte, und vergebens hatte schon damals der junge Graf Detlev gestrebt, diesen schleichenden, gewandten, ihm entschieden antipathischen Menschen aus dem Schloß zu vertreiben. Graf Adolph hatte ihn dagegen mehr und mehr in seine Nähe gezogen und streifte mit Hans Björne, der ein geschickter Jäger war, tagelang in den weitläufigen Forsten der Grafschaft umher.
Einer der ersten Acte des neuen regierenden Grafen war nun, den Hans Björne seines Dienstes entlassen zu wollen, wogegen sich Graf Adolph heftig auflehnte und ihn augenblicklich in seinen eignen persönlichen Dienst übergehn ließ. – „Ich werde in Kurzem nach Kopenhagen gehen,“ sagte er, „und da ist mir Hans Björne unentbehrlich. Du aber wirst, hoffe ich, Deine Gewalt nicht auf meine persönlichen Angelegenheiten ausdehnen wollen, indem Du aus dem Schlosse, was ja auch das Haus meiner Väter ist, vertreibst, wen ich darin um mich zu sehen für gut finde.“
Graf Detlev gab unmuthig nach; aber seit jenem Tage ruhten die kaltblauen Augen des Dänen noch öfter verstohlen auf dem jungen Manne, indem ein Zug hämischer Bosheit um seine schmalen, blassen Lippen zuckte.
Ein selten schöner Herbst hatte die stattlichen Buchenwälder Holsteins noch in all ihrem bunten Schmucke prangen lassen, obgleich der October des Jahres 1697 bereits seinem Ende nahte.
Rudelweis raschelten die Rehe in dem rothen Laub, welches den Boden bedeckte, unbekümmert um die bereits eröffnete Jagdsaison, dieses Hauptvergnügen der damaligen und auch noch der heutigen Ritterschaft.
Noch tönte das Gurren der Waldtaube in dem Forst, und selbst die vielen Störche der Gegend schienen ihre Nester auf den riesigen Strohdächern der Bauernhäuser nur ungern zu verlassen, so warm schien noch die Sonne über Flur und Wald.
Aber so friedlich still und heiter, wie die Natur um ihn her, war es nicht in dem Herzen des Grafen Adolph Ranzau, der mit finstern Mienen in Begleitung des bevorzugten Hans Björne durch den Wald ritt. Er kam von Schloß Rasdorf, wo die Familie eines der zahlreichen Vettern der Ranzau’s wohnte. Die einzige Tochter des Hauses war der eigentliche Magnet, der den jungen Mann trotz seiner gespannten häuslichen Verhältnisse noch in Holstein zurückgehalten hatte. Der alte Baron von Buch aber sah in ihm nur den Bruder des Majoratsherrn, und die beiden Väter hatten einst gemeinsam diesen Lieblingsplan für Detlev und die liebliche Isa entworfen. Daß darin etwas geändert werden könne, fiel dem Baron bei der unbedingten Autorität der Eltern über die Kinder, die damals noch galt, gar nicht ein; um so weniger, als der Majoratserbe von der Natur eben so gütig bedacht worden war, als vom Geschick, und mit seinen dunkeln lebhaften Augen und den frischen Lippen, welche so gutmüthig und heiter lachen konnten, auch bei minder reichen Glücksgütern ein Mädchenherz zu gewinnen hätte hoffen dürfen.
Aber die blonde Isa hatte sich, wie das so Frauennatur ist, mehr zu dem wenn auch nur scheinbar Zurückgesetzten, Unterdrückten hingezogen gefühlt: den verschlossenen, selten unbefangen heitern Adolph liebte sie mit all der rührenden Zärtlichkeit des Weibes, die da an die Kraft ihrer eignen reinigenden und erhebenden Liebe glaubt, wenn sie die Schwächen oder Fehler des Geliebten sich nicht mehr verbergen kann. – Und wirklich war sie stets der gute Engel, der die finstern Mächte in des jüngern Bruders Brust beschwor. Graf Adolph aber übertrug auch dafür auf sie allein alle edlen und warmen Gefühle, die seiner irre geleiteten Natur ursprünglich eigen waren. Zu einer Erklärung ihrer Gefühle war es jedoch bis dahin noch nie zwischen Beiden gekommen; sie wußten, was sie einander waren, und das genügte ihnen.
Seit dem Tode der Baronin von Buch lebte zu Isa’s Gesellschaft eine junge Anverwandte bei ihr, die durch ihre Ahnenzahl allerdings der Baronesse gleichstand, bei Mangel an Vermögen jedoch nicht selten die Dornen der Abhängigkeit von ihren reichen Verwandten empfinden mußte; darum vermied sie fast ängstlich jede Gelegenheit, die sie zum Gegenstande einer besondern Auszeichnung machte, und vor Allem die Huldigung des Majoratsherrn. Ihr nämlich gehörte in’s Geheim das Herz des jungen Detlev, und seine blonde Base war die Vertraute Beider, die zum Schein annahm, was Clara allein galt. Denn hätte der Baron von Buch in dieser ein Hemmniß seiner Pläne in Betreff des Grafen Detlev erblickt, so wäre es um Clara’s Bleiben in seinem Hause geschehen gewesen und für Isa selbst eine Erklärung unvermeidlich geworden, die sie so lange als möglich noch vermeiden wollte.
Das Trauerjahr um den verstorbenen Vater nahte seinem Ende und damit der Zeitpunkt, den sich Graf Detlev für seine offne Werbung um Clara’s Hand gesetzt hatte, und womit zugleich seinem Bruder in Betreff Isa’s freie Hand gelassen wurde.
Detlev ahnte zwar mehr dessen Absichten, als daß er darum wußte, denn bei dem Mangel an brüderlichem Einvernehmen zwischen Beiden kam eine solche Herzensangelegenheit nie zur Sprache, und ebendeshalb vermied auch Adolph sorgfältig, mit seinem Bruder gleichzeitig in Rasdorf zu sein.
Graf Detlev war über Land, man wußte nicht wohin; Graf Adolph setzte sich zu Pferde und ritt nach Rasdorf, um vor seiner Abreise nach Kopenhagen, wo er eine Hofstelle bekleiden sollte, Abschied zu nehmen.
„Wo ist der Baron von Buch?“ frug er, im Hofe des Schlosses absteigend.
„Nach dem Vorwerk geritten,“ war die Antwort.
„Und die Baronesse Isa?“
„Mit Sr. gräflichen Gnaden Ihrem Herrn Bruder in’s Holz spaziert,“ sagte der alte Kammerdiener, wobei Hans Björne boshaft lächelte.
[52] Graf Adolph trat mit finsterer Wolke auf der Stirn in das gastliche Haus und harrte lange in peinlicher Spannung, das Fenster nicht verlassend, der Rückkehr Beider.
Graf Detlev hatte diesen Spaziergang benutzt, um seiner Base die herannahende Entscheidung mitzutheilen, die ja auch für sie eine Freudenbotschaft war, indem sie dann von dem sie mehr und mehr drückenden Schein befreit wurde, den sie bisher Clara zu Liebe getragen hatte. Auch ihre Augen glänzten, und in heitern Scherzen kehrte das schöne Paar nach dem Schlosse zurück, nicht ahnend, daß Graf Adolph von oben mit verbissenem Ingrimm sie Beide so einträchtig die Allee heraufkommen sähe.
„Kommt jetzt mit mir in meinen Wintergarten, mein edler Vetter, da blüht eben eine seltne Blume, die Ihr sehen müßt,“ sagte schelmisch lachend Baroneß Isa und eilte ihm leichten Schrittes auf einer Wendeltreppe voran in das runde Erkerzimmer, welches sie sich zu einer Art Gewächshaus eingerichtet hatte, und wo Clara an dem Lieblingsplatze der jungen Mädchen saß und tief erröthend den „jungen Blumenfreund,“ wie ihn Isa nannte, empfing.
Indessen harrte Graf Adolph, der das Paar bis an die Haupttreppe hatte kommen sehen, vergebens ihres Eintritts; von dem dämonischen Instinct der Eifersucht getrieben, öffnete er die Thür zu der Bibliothek und nahte sich leise der Glasthür, die zu dem Erkerzimmer führte. Und in der That – fast verborgen von einer dichten Gruppe blühender Gewächse, saß eine Frauengestalt, den Rücken nach ihm gewendet, und ihr zur Seite stand Graf Detlev. Den Arm um sie gelegt, beugte er sich in vertraulichem Gespräch zu ihr hinab. Nahe der Thür aber lag Isa’s warmer Ueberwurf und Schleier nachlässig abgeworfen; konnte er da noch zweifeln?
Also auch sie, das einzige Kleinod seines Lebens, sollte er ihm entreißen? Und Isa, deren Neigung er so sicher gewesen war, daß er nie ein bindendes Ja von ihr begehrt hatte, auch sie konnte im entscheidenden Momente den Majoratsherrn seinem weniger bevorzugten Bruder vorziehen? – Schon wollte er die Hand auf die Thürklinke legen, um dem gewaltsam in ihm tobenden Sturme freien Lauf zu lassen; doch die Gewohnheit, rasch seine Empfindungen zu bemeistern und in finsterm Groll zu verschließen, ließ ihn ebenso rasch sein Vorhaben aufgeben. Erdfahlen Angesichts und finsterer als je, schlich er leise hinaus und befahl dem erstaunten Hans Björne, die Pferde unverzüglich zu satteln; er selbst aber ging voraus, den Weg, den er vor kaum einer Stunde gekommen.
Während Graf Detlev mit Clara allein war, hatte sich Isa mit ihren Lieblingsblumen beschäftigt, die an dem Fenster neben der Glasthür so aufgestellt waren, daß Adolph’s Blick nicht dahin fallen konnte. Sie war so glücklich, daß Alles sich so günstig zu gestalten schien, und Graf Detlev, der seinen Bruder noch am Abend über seine Absichten auf Clara unterrichten wollte, sich auch für diesen so freundlich gesinnt gezeigt hatte. Adolph’s plötzliches Verschwinden aber legte sich wie ein kalter Nebel über die eben noch so heiter in die Zukunft blickenden Gemüther; sie wußten nicht genau warum, denn daß er seinen Brnder oft wochenlang mied, war ihnen ja eigentlich nichts Neues.
Auf diesem Ritt war es, wo wir ihm mit Hans Björne in dem herbstlich bunten Walde begegneten. Dem schlauen beobachtenden Diener war Alles, was seinen Herrn betraf, kein Geheimniß, und so hatte er denn auch bald die Ursache entdeckt, die den jungen Grafen Anfangs in so wildem Galopp davon gejagt, als wolle er den Dämonen seiner eignen Brust entfliehn, und ihn dann wieder so düster und in sich versunken kaum den Gang seines Pferdes beachten ließ. Ein Lächeln boshafter Befriedigung verzog den Mund des hinter ihm reitenden Dänen.
„Björne,“ wandte sich Graf Adolph zu ihm, „wir reisen mit dem nächsten Schiffe nach Kopenhagen, mach’ die nöthigen Vorbereitungen dazu.“
„Gräfliche Gnaden wollen noch vor der Hochzeit Ranzau verlassen?“ fragte der Diener, der das Vertrauen seines Herrn genoß, anscheinend gleichgültig.
„Welcher Hochzeit?“ fuhr der junge Mann auf.
„Nun, die Sr. Erlaucht des regierenden Grafen mit der gnädigen Baronesse Isa, wie Jedermann auf Rasdorf meint,“ lautete die Antwort.
„So meint denn Jedermann, daß mein gnädiger Herr Bruder nur die Hand auszustrecken brauche, um zu erhalten, was ihm beliebt?“ lachte bitter Graf Adolph.
„Hm! gnädiger Herr – ich denke, dem Reichsgrafen und Erbherrn von Ranzau wird weder ein Vater die Hand seiner Tochter versagen, noch diese ihn ausschlagen,“ sagte Hans Björne sehr überzeugt.
Ein scharfer Sporenstich traf die Weichen des hochaufbäumenden Pferdes, welches in wildem Laufe mit dem leidenschaftlich erregten Reiter davon stürmte.
„Jetzt hab’ ich Dich auf gutem Wege,“ murmelte triumphirend sein Begleiter, indem er ihm gelassenen Trabes folgte. Geschickt und unmerklich fuhr er fort, das Gift in die Seele des jüngeren Bruders zu träufeln: durch ihn erfuhr dieser, daß in der letzten Zeit häufig Briefe des Grafen Detlev an Baronesse Isa abgeschickt worden seien, die freilich nur durch ihre Hand an Clara gegangen waren; ja Hans Björne hatte sich sogar ein leeres Briefcouvert zu verschaffen gewußt, welches die Adresse des älteren Grafen von Isa’s Hand trug.
In finsterem Groll verweigerte Adolph, seinen Bruder zu sehen, und rüstete sich zur Abreise; als sich endlich Beide doch einmal begegneten, sprach Haß aus seinen Blicken, und gleich seine ersten Worte waren so bitter und verletzend, daß die Zornesader auf Graf Detlev’s Stirn mächtig schwoll; war er sich doch keiner Schuld bewußt.
„Ich will Dir nicht antworten, wie Du es verdienst, weil ich nicht vergessen will, daß Du mein Bruder bist!“ sagte Detlev, sich wegen der anwesenden Diener gewaltsam zusammennehmend, und ihm dann stolz den Rücken wendend, verließ er die Halle.
„Bei Gott! aber ich hätte Lust, es zu vergessen – und zu Ende kommen muß es zwischen uns!“ rief ihm, die Hand an den Degen legend, in gewaltsam hervorbrechendem Groll der durch Eifersucht Verblendete nach, indem auch er der Thüre zuschritt.
Die anwesenden Diener wagten nicht aufzusehen, aber der alte Peter Claß, der die beiden Brüder noch als Kinder auf seinen Armen getragen, trat ihm rasch in den Weg und sagte leise mit bebender Stimme: „Gräfliche Gnaden – auch ich war an dem Sterbebette Ihres hochseligen Vaters und hörte Ihren Eid.“
Heftig wandte sich Graf Adolph, aber als er die gebückte Gestalt des eisgrauen Dieners sah, der ihm trotz seiner demüthigen Haltung so fest und durchdringend in’s Auge blickte, da trat auch jene ergreifende Abschiedsscene plötzlich wieder vor seinen Geist, und in fast mildem Tone sagte er: „Ich danke Dir, Du treue Seele!“ Dann stieg er zu Pferde, um nach dem benachbarten Städtchen Pinneberg zu reiten und dort den neuen Amtmann, d. h. die höchste Gerichtsperson zu besuchen, mit welchem er sehr befreundet war. Hans Björne, voll innern Grimmes über den alten Peter, folgte wie gewöhnlich; aber er sollte dessen versöhnenden Einfluß bald noch mehr empfinden, als ihm sein Herr bei einigen gegen Graf Detlev gezielten Worten gebieterisch zu schweigen befahl.
„Ich fange an zu glauben, daß ich Dich schon viel zu sehr angehört habe,“ fügte er hinzu.
„Steht es so? –Dann darf ich nicht länger zögern,“ murmelte darauf der Diener und verfiel in tiefes Sinnen.
Hätte Graf Adolph nur seinem ersten bessern Gefühle Raum gegeben und nicht falschem Stolz, er wäre nicht nach Pinneberg geritten, ohne sich vorher mit seinem Bruder zu versöhnen, und damit wäre der ungerechte Argwohn und Groll, der ihn neuerlich wieder so gegen ihn aufgereizt hatte, in Nichts zerflossen. – „Nach meiner Rückkehr!“ dachte er.
Was lange stille Absicht gewesen, war mittlerweile als offner Plan an das Licht getreten, und die Vereinigung der beiden Herzogthümer mit Dänemark war von Christian V. mit großem Eifer betrieben worden, bis ihr endlich der Vertrag von Altona 1689 ein Ziel gesetzt hatte. Aber dies Bestreben hatte den ersten Grund zu der Entfremdung der Gemüther und zu nationaler Spaltung gelegt, die jetzt in so trauriger Progression fortgewuchert hat.
Damals schon, wie jetzt, gab es deutsch und dänisch Gesinnte; zu Ersteren gehörte der Reichsgraf von Ranzau, der deshalb bei dem königl. Amtmann von Pinneberg nicht sonderlich beliebt war, wogegen Graf Adolph dessen Gesammtstaatsideen theilte und ein häufiger, gern gesehener Gast seines Hauses war.
Was Wunder, wenn unter solchen Einflüssen die versöhnlichere Stimmung des jüngeren Bruders allmählich wieder in den Hintergrund trat!
[53]
„Einen Zweiunddreißig-Ender?“ frug zweifelnd, aber doch mit all dem bereits angeregten Interesse eines leidenschaftlichen Jägers Graf Detlev den vor ihm stehenden Hans Björne.
„Gewiß, gräfliche Gnaden,“ entgegnete dieser zuversichtlich. „Als ich mit dem Herrn Grafen von Pinneberg zurückritt, spürte Hector’s feine Nase das Wild auf; ich drang ihm nach durch das Dickicht, und als das aufgescheuchte Thier über die Lichtung im Forst setzte, konnte ich deutlich sein herrliches Geweih sehen. Das prächtigste, was mir noch vorgekommen! Euer Gnaden besitzen noch kein solches!“
Es war die erste Jagd, die Graf Detlev seit dem Antritt seiner Regierung abhielt, und Boten flogen nach allen Richtungen, um die edlen Gäste dazu einzuladen; im Schlosse wurden die nöthigen Vorbereitungen gemacht, und heiteres Leben erfüllte nach langer Zeit wieder Hof und Hallen.
Graf Adolph hatte seinen Bruder um die Erlaubniß bitten lassen, von der Partie zu sein, das war sein ganzer Versöhnungsschritt gewesen.
Mit dem ersten Tagesgrauen des 10. Novembers stand der stattliche Jagdzug gerüstet vor den Stufen der Haupttreppe, auf welcher nach jener heftigen Scene, wo sich Graf Adolph vergessen hatte, die Hand an den Degen zu legen, die beiden Bruder sich zum ersten Male wieder begegneten. Graf Detlev war in bester Stimmung, voll frischer Lebenslust und Kraft; er ertheilte dem treuen Peter eben noch einige Anweisungen.
War es der Anblick des alten Dieners, der ihn mahnte, aber getrieben von einem plötzlichen Gefühl trat er zu dem Bruder: „Guten Morgen, Detlev!“ sagte er, „es thut mir leid, daß ich mich letzthin von meiner Heftigkeit habe hinreißen lassen. Hier ist meine Hand – wir wollen Friede machen!“
Detlev schlug ein in die dargebotene Rechte und schüttelte sie mit den Worten: „Von Herzen gern! Komm heute Abend zu mir, ich habe gute Botschaft für Dich von Rasdorf,“ sagte er lächelnd. Damit schwang er sich auf das ungeduldig scharrende Roß, und als die Morgensonne kaum die Wipfel des bunten Buchenwaldes vergoldete, vertheilten sich die Jäger in demselben, Hans Björne’s Anordnungen folgend, der allein den Lagerplatz des Thieres kannte. Einen weiten Kreis mußten sie um denselben bilden, so daß Keiner den Andern sehen konnte. Den beiden Brüdern wies er einen Kreuzweg an, der durch den dichten Forst und nach einem kleinen See zuführte, er selbst aber verschwand mit dem ungeduldig an der Leine zerrenden Hector in das dichte Unterholz. Das Signal ertönte und bald zeigte sich, ruhig und stolz nach den unberufenen Störern umherschauend, das schöne Thier am Rande des Waldes, um ebenso rasch vor den nun losgelassenen Hunden zu verschwinden.
„Wenn Du ein armes Menschenkind –“
Wenn Du ein armes Menschenkind
In bangem Schmerz siehst weinen,
So kannst Du Deine Thränen lind
Vereinen mit den seinen.
Du kannst mit mildem Trosteswort
Ihm vor die Augen treten:
Getheilter Schmerz ist halber Schmerz,
Ihr könnt zusammen beten.
Doch siehst Du wo ein helles Aug’
In Liebeszähren blinken,
So lenke Deinen Schritt zurück
Und laß’ sich’s einsam dünken!
Die Liebe ist sich selbst genug,
Darfst ihr nicht nahe treten –
Getheilte Lieb’ ist keine Lieb’,
Da muß man einsam beten.
Th. Schuckhart.
Erinnerungen aus dem Schleswig-Holsteinschen Kriege.
Der alte Torfbauer.
Es war Jahrmarkt in Segeberg, und mit dem Jahrmarkt war kaltes, unfreundliches Wetter mit Schnee und Wind eingezogen in das friedliche Städtchen. Ich stand am Fenster meines Gasthofes und bewunderte bald einen Orgeldreher, welcher trotz des kalten Windes und trotz der Schneeflocken, die letzterer ihm in die hohlen Zähne trieb, das Mantellied absang, bald eine Schaar halberfrorener böhmischer Musikanten, die vor Kälte schaudernd den warmen Odem in die alten Trompeten hauchten, als meine Aufmerksamkeit auf einen alten Bauer gelenkt wurde, der langsam, Schritt vor Schritt ein krankes Pferd am Zügel führte. Der Bauer machte Halt vor dem Gasthofe und richtete Fragen an den Hausknecht, welche dieser entschieden abzulehnen schien. Das Aeußere[WS 1] [54] des Bauern, seine Haltung, sein leidendes, bekümmertes Aussehen erregten meine Neugierde, so daß ich trotz des schlechten Wetters das Zimmer verließ, um mich nach seinem Anliegen zu erkundigen.
Seine Geschichte war einfach genug, wurde aber von dem armen Menschen so rührend erzählt, daß ich nicht unterlassen konnte, mich seiner anzunehmen. –
„Sehen Sie, Herr Officier,“ sagte der Bauer, als ich sein Pferd in den Stall hatte führen lassen, „sehen Sie, der alte Braune ist krank. Du lieber Gott, ja, er ist recht krank. Na, nun habe ich den Braunen aber schon siebenzehn Jahre gehabt, zu Martini waren es gerade siebenzehn Jahre – ich habe ihn hier in Segeberg von Heinrich Ohlsen gekauft – aber den kennen Sie wohl nicht, Herr Lieutenant, denn er ist schon lange gestorben. Ostern werden es fünf Jahre, daß er starb. Na, nun habe ihn denn die siebenzehn Jahre gehabt, und er ist nie krank gewesen, es hat ihm nie ein Glied wehe gethan, und als ich gestern Abend in den Stall kam und er nicht wieherte, wie sonst – denn er wiehert immer, wenn ich komme, da denke ich: „Na, was fehlt dem Braunen, daß er nicht wiehert?“ Gut, ich hole ja die Laterne, und mein Hannes geht mit in den Stall, und da liegt der Braune und bläst und stöhnt, daß ich denke, er wird gleich sterben. Na, nun bin ich die ganze Nacht bei ihm geblieben und habe ihn gerieben und zugedeckt, und wie es Morgen geworden ist, da bin ich denn losgezogen mit dem alten Braunen. Du lieber Gott, ja! Neun Stunden haben wir gebraucht, um die zwei Meilen zu gehen, der Braune und ich, das Brod ist mir in der Tasche gefroren.“
„Was soll denn nun mit dem alten Braunen geschehen?“ fragte ich.
„Ja, sehen Sie, Herr Officier, wenn ich nur hier bleiben könnte und selbst aufpassen, dann wäre es schon recht; aber meine Frau liegt im Nervenfieber, und der Hannes, na, das wissen Sie ja, so ein Kind weiß dann auch nicht recht Bescheid, du lieber Gott, ja! Wenn der Curschmied denkt, daß er den Braunen für ein Fuder Torf curiren kann, und wenn der Wirth ihn hier behalten will im Stalle, na, dann will ich nur in Gottes Namen wieder nach Hause zu meiner kranken Frau und heute Nacht wiederkommen, wenn es Gottes allmächtiger Wille ist!“
„Wißt Ihr was?“ sagte ich, „der Curschmied soll den alten Braunen curiren, mein Bursche und ich wollen aufpassen, daß er seine Medicin regelmäßig einnimmt, und Ihr geht jetzt nach Hause und pflegt Eure Frau. In drei Tagen kommt Ihr wieder; der Braune wird dann ja wohl entweder gesund oder todt sein.“
„Ja, wenn es nur nicht zu viel kostet,“ erwiderte der Bauer; „die Kriegslasten sind so schwer, die Krankheit von meiner Frau hat mir auch schon viel gekostet; – aber mag es kommen, wie es will, der Braune soll sein Recht haben; er hat siebenzehn Jahre für mich gearbeitet und immer wieder frisch angezogen, wenn ich und der Hannes den Torf zusammen gefahren haben; der Braune soll curirt werden, das sagen Sie nur dem Curschmied, und wenn es auch zwei Fuder Torf kostet.“
Der alte Mann näherte sich dem stöhnenden Thiere, klopfte es auf den Hals, fuhr sich selbst über die Augen und wandte sich der Heimath zu.
Der inzwischen herbeigerufene Curschmied erklärte den Zustand des Braunen für ganz ungefährlich und verordnete einige einfache Mittel, die auch die gewünschte Wirkung hatten, so daß der alte Braune schon am folgenden Morgen etwas Weizenkleie mit Hafer vermischt aus der Krippe fraß, als ich ihm meine Visite machte.
Am dritten Tage kam der Bauer wieder. Ich begegnete ihm auf der Straße und wurde schon von weitem von ihm erkannt. „Herr Lieutenant!“ rief er, „wat maakt de ohle Bruune?“
„Der Braune ist munter und gesund,“ erwiderte ich, „kommt nur mit.“
„Ganz gesund?“ fragte der Bauer mit dem seligsten Lächeln.
„Ja, kerngesund! Ist ein hübscher, alter Gaul, der Braune.“
„Du lieber Gott, ja, ist ein rechtschaffenes Pferd, Herr Lieutenant, thut seine Arbeit und kennt die Gelegenheit beim Hause! Können’s mir glauben, er hat oft den Kopf durch’s“ Fenster gesteckt, wenn wir beim Essen waren, gerade als wenn er „gesegnete Mahlzeit“ sagen wollte. Du lieber Gott, ja! Sehen Sie, ich könnte ja leicht ein besseres und jüngeres Pferd bekommen, wenn ich das Geld dazu hätte, aber wollen Sie mir’s glauben, daß ich mich doch besinnen würde, ehe ich den alten Braunen vertauschte?“
Wir standen vor der Stallthür. Der alte Braune wieherte, als er den Tritt seines Herrn und Freundes erkannte; der Bauer verbiß sich die Thränen, als er die Stimme seines Lieblings hörte.
Ich hatte meinen Cameraden von dem braven, alten Bauer erzählt und war vom Commandeur des dritten Jägercorps, dem Major von Eickstädt, beauftragt worden, meinen Freund zum Mittagsessen einzuladen. Am obern Ende des Tisches, neben dem Major wurde ihm Platz gemacht; die Officiere tranken seine und seiner Familie Gesundheit; ich stieß ganz heimlich mit ihm an und wisperte ihm zu: „De ohle Bruune schall leewen.“
Lange hatte der Bauer gegen seine Verlegenheit angekämpft; endlich erhob er sich und sagte: „Ja, Kinners, danken kann ik nich; wüllt Se mi ober besöken und förleev nehmen mit Melk und Bookweten Grüt, denn so schüllt Se von Harten willkummen sin.“ (Danken kann ich nicht, Kinder; wollt Ihr mich aber besuchen und fürlieb nehmen mit Milch und Buchweizengrütze, so sollt Ihr von Herzen willkommen sein.)
Monate waren vergangen; wir standen im Herzogthum Schleswig auf der Idstedter Heide und erwarteten mit pochendem Herzen den Angriff des Feindes. Uns fehlten alle Bedingungen des Sieges, indem unser General dem weit überlegenen Feinde den Vortheil der Stellung eingeräumt,[2] den Bataillonen fremde, zum Theil unerfahrene und unfähige Offiziere gegeben hatte. Preußen hatte seine Commandeurs aus der schleswig-holsteinischen Armee abberufen; mit Thränen waren sie von den Soldaten geschieden, die sie zwei Jahre lang zu manchem Siege geführt hatten; die innere Organisation fehlte unserer Armee; wir waren nichts als eine Schaar von bewaffneten Männern, die bereit standen, für deutsche Ehre und deutsches Recht zu kämpfen. Zehn Tage lang hatten wir müßig auf der Haide geruht; nichts war geschehen, um unsere Stellung zu befestigen, nirgends war für die Batterien ein Aufwurf gemacht, nirgends eine Schanze errichtet. Nur ein einziger Befehl des General-Commando’s ging uns zu, aus dem wir entnehmen konnten, daß es sich ernstlich mit dem Wohle der Armee befasse: es wurde uns am 23. Juli 1850 befohlen – „die Haare kurz zu schneiden“!
Am 23. meldeten unsere Patrouillen den Anmarsch des Feindes, und am 24. Morgens begann der Kampf von fünfundzwanzigtausend Deutschen gegen fünfunddreißigtausend Dänen. Der Feind besetzte ohne Schwertstreich Punkte, die wir leicht uneinnehmbar hätten machen können, und jetzt, wo er sich festgesetzt hatte in Sümpfen und Wäldern, mußten wir ihn mit dem Bajonnete hinauswerfen. Ich stand während der Schlacht bei der zweiten Compagnie des dritten Jägercorps; meine Compagnie hielt vereint mit der dritten Compagnie des ersten Jägercorps die Ziegelei bei Engbrügg besetzt. Unsere Abtheilung kam am 24. wenig in’s Gefecht. Dafür hatten wir am folgenden Tage einen um so heißeren Kampf zu bestehen.
Wir lagen mit der Büchse im Arme auf dem Hofe der Ziegelei; eine Feldwache, unter dem Commando des tapfern, jugendlichen Lieutenant Bergin, eines Schweden, sollte uns gegen einen Ueberfall schützen; Patrouillen gingen unaufhörlich vor unserer Vorpostenkette auf und ab. Mit dem ersten Grauen des Morgens weckten uns die lang gezogenen Töne der dänischen Signalhörner; im Nu waren wir auf den Füßen, doch bevor wir uns rangiren konnten, überschüttete uns der Feind mit einer Saat von Kugeln. Drei dänische Bataillone – das dritte und fünfte Verstärkungsbataillon und das dritte Linien-Infanterie-Bataillon – waren zum Angriff auf unsere Stellung vorgegangen. Unsere kleine Feldwache war fast bis auf den letzten Mann zu Boden gestreckt; Lieutenant Bergin hatte einen Schuß in den rechten Arm bekommen; „das ist für Deutschland!“ rief der heldenmüthige Jüngling, – „vorwärts, Cameraden!“ Er stürzt mit seinen Jägern dem Feinde entgegen, wird mit ihm handgemein und stirbt mit fast allen seinen tapfern Burschen den Heldentod.
Der Widerstand der Feldwache hatte die Dänen nicht aufhalten können. Sie warfen sich mit lautem Hurrah auf die Ziegelei und gaben auf die zwei Compagnien Jäger Bataillonsfeuer.
Wir wichen dem überlegenen Feinde und suchten hinter den Hecken [55] und Knicken, hinter der Ziegelei Schutz. Dem tapfern Hauptmann von Hennings und dem braven Hauptmann von Binzer schuldet die Nachwelt volle Bewunderung; denn mit zwei furchtbar decimirten Compagnien stürmten sie zweimal die von drei dänischen Bataillonen vertheidigte Ziegelei! Zweimal warfen vierhundert Deutsche dreitausend Dänen mit dem Bajonnete zurück!
Der Kampf war zu ungleich, als daß wir ihn hätten fortführen können. Unsere Compagnie allein hatte ein volles Dritttheil ihrer Leute verloren; es fehlte uns nicht an Muth, wohl aber an Kraft, den Feind zu besiegen. In unserer höchsten Noth erschien das zweite Bataillon unter Hauptmann von Jeß; rasch wurden drei Compagnien als Tirailleure den Jägern zu Hülfe geschickt; die vierte Compagnie ging mit Trommelschlag auf die Ziegelei und das Buchholz vor. Mit lautem Hurrah sprangen die Tirailleure über Knicke und Zäune, und in einem einzigen Anlaufe hatten wir den Feind geworfen. Ein furchtbarer Kampf entspann sich. Mit Kolben und Bajonnet schlugen die Deutschen auf die dichten Massen der Dänen ein; hinter der dänischen Front spielte ihre Brigademusik den „tappern Landsoldat“, aber zum Takte des tappern Landsoldaten zerschmetterten deutsche Hiebe manch dänisches Hirn. Wir verloren in dem ungleichen Kampfe entsetzlich. Bergin, Waltersdorf, Arnstedt waren todt; Hauptmann Jeß fiel schwer verwundet vom Pferde; unser Feldwebel, Vicefeldwebel und neun Unterofficiere lagen entweder todt oder schwer verwundet auf dem Schlachtfelde, fast die Hälfte unserer Jäger war kampfunfähig. Aber auch die Dänen hatten Verluste erlitten! Bei der Ziegelei und im Buchholze war die Erde an einzelnen Stellen mit Todten und Verwundeten bedeckt. Es war nicht möglich, die Verwundeten fortzuschaffen, und wenn auch mancher brave Camerad flehend die Hände erhob und um einen Trunk, eine Aenderung seiner Lage bat, – wir konnten nicht helfen, denn mit neuen Bataillonen drangen die Dänen auf uns ein. Vier Stunden hatte der furchtbare Kampf gedauert, umsonst hatten wir um Hülfe gebeten – endlich kam der General-Major Graf Otto von Baudissin, der bravste und tapferste Mann der ganzen Armee, mit einer Abtheilung des vierten Bataillons zu unserer Unterstützung herbei.
Seine laute, sonore Stimme flößte den erschöpften Streitern neuen Muth ein.
„Uns Grof is do,“ riefen die Leute sich frohlockend zu, „nun man wedder förwarts!“ Ich höre ihn noch, wie er, als ginge es zum Festgelage, inmitten des furchtbarsten Gewehrfeuers seinen Leuten zuredete; ich sehe ihn noch, wie er kühn wie ein Löwe mit seinem Häuflein gegen den Feind stürmte und ihn zum Wanken brachte; ich sehe ihn noch, wie er schwer verwundet zu Boden stürzte und im Fallen seinen Leuten zurief: „Schlagt mit dem Kolben drein, Kinder.“ Ja, und sie schlugen mit dem Kolben drein, die braven, ehrlichen deutschen Jungen! Eine wahre Wuth war über uns gekommen; wir wollten siegen, und wir siegten. Die Dänen wichen unserm Angriff; wir hatten die Ziegelei und das dahinter liegende Gehölz mit Kolben und Bajonnet genommen! Eine Weile ruhte der Kampf – die Verwundeten wurden weggeschafft. Bauerwagen fuhren, von Dragonern mit dem Säbel vorwärts getrieben, in sausender Carriere über das Schlachtfeld und luden die verwundeten Krieger auf, um sie auf den Verbandplatz zu bringen.
Der Zug mit den ächzenden Cameraden kam dicht bei mir vorbei. Da plötzlich redete mich eine bekannte Stimme an; ich schlage die Augen auf und erblicke den ehrlichen Torfbauer, der mit seinem alten Braunen herbeigeeilt ist, um dem bedrängten Vaterland seine schwachen Kräfte zu widmen. „Herr Officier!“ rief er. „Heute danken wir Ihnen, was Sie an uns gethan – de ohle Bruune un ick.“ – Ich drückte dem ehrlichen Manne die Hand und klopfte den alten Braunen auf den Rücken. – Der Ausgang der Schlacht ist bekannt. Wir verließen das Schlachtfeld, als die dänische Armee ihr letztes, aus sechshundert Mann bestehendes Bataillon vorschickte, um ihren Rückzug zu decken.
Ich habe Segeberg wieder gesehen, den Freund auf der Haide aufgesucht und mit ihm Milch und Buchweizengrütze gegessen. Er und seine Frau haben mir die Hand darauf gegeben, daß Hannes ein Jäger werden und für das Vaterland kämpfen soll, wenn er ein Mann ist. Der alte Braune ist todt und wird tief betrauert von seinem Freunde und Herrn.
Auch ein Hausmittel, das man aber nicht im Hause haben kann.
Etwa vor 20 Jahren war ich einmal recht ernstlich erkrankt. Monatelang vorher unterleibskrank, vergällt und hypochondrisch, wurde ich im November von einem hitzigen Gelenkrheumatismus (sogenannter goutte volante) befallen, welcher mich bis zum Frühjahr an das Zimmer fesselte und bis in den Sommer hinken machte. Ich war so lahm, daß ich nicht den kleinsten Hügel ersteigen konnte.
Es wurde beschlossen, daß ich „etwas Ordentliches thun“, d. h. nach Karlsbad zur Cur gehen sollte. Es geschah. Damals fuhr man noch mit der Eilpost durch’s Gebirge, Tag und Nacht; letztere war bitterkalt. Mit Vergnügen ergriffen die Passagiere jede Gelegenheit, wenn es bergauf ging, auszusteigen und sich die erstarrenden Füße zu „vertreten“. Auch ich versuchte dies. Und siehe da, es ging! Selbst größere Berge hinauf gelang es. Ja, am folgenden Tage bestieg ich schon mit einem jugendlichen Reisegefährten die Felsenruine Neudeck und führte Nachmittags denselben auf den „Hirschensprung“ hinauf und dann auf die jenseitige Höhe des „Kreuzberges“ von Karlsbad. Ich war mobil geworden und ward es in den ersten Wochen immer mehr. Aber in den letzten wurde ich so elend und so hypochondrisch, daß ich rasch abreisen mußte. Zu Hause stellte sich dann nach und nach wieder Ordnung in meinem Organismus her. Aber eine Lehre entnahm ich mir aus diesem Erlebniß: daß ich eigentlich den Hauptschritt zur Genesung gethan hatte, bevor ich einen Becher Brunnen trank; – daß die Reise, die Körperbewegung, die Geistesanregung, die Nöthigung mir selbst zu helfen, mich schon vor der Cur auf die Beine gebracht hatten, – ohne damit zu leugnen, daß die Karlsbader Diät und Mineralquelle für Unterleib und Stoffwechsel manche nützliche Wirkung gehabt haben mögen.
Diesem Wink folgend, machte ich im nächstfolgenden Sommer eine kleine Bergreise, im zweitfolgenden eine größere, im dritten eine weite Reise nach Skandinavien, in späteren Sommern immer anderswohin alljährlich. – Und in gleicher Weise habe ich hundert Andere auf Reisen geschickt, Hunderte unterwegs kennen gelernt, welche dieselbe „peripatetische Cur“ (Wandercur) mit gleichem Nutzen als Schutz- und Heilmittel gegen allerlei Krankheiten gebrauchten. Ich bin daher wohl im Stande, über den Werth und richtigen Gebrauch dieses „meines liebsten Hausmittels“ (um mit College Bock zu reden) – welches freilich nicht zu Hause zu haben ist – ein paar Worte mitzutheilen.
Wir sprechen zuerst von den gewöhnlichen kürzeren Wandercuren, besonders in den Bergen des lieben Vaterlandes ausgeführt; dann wollen wir über die größern des Klimawechsels wegen nach Süd oder Nord oder über Meer gerichteten Gesundheitsreisen ein paar Worte hinzufügen.
Der geplagte Schüler und sein noch viel geplagterer Lehrer, der Student und seine Professoren, der Rechtsanwalt und der Richter, – sie alle haben ihre jährlich zum bestimmten Tag wiederkehrenden Ferienwochen, die sie zum Wandern verwenden können. Andere Staats- und Privat-Diener nehmen sich Urlaub. Der Kaufmann, der Gewerbtreibende, der Arzt etc. machen sich selbst jährlich auf ein paar Wochen geschäftsfrei, um zu reisen, NB. wenn Letzterer so gescheidt ist, eine gefestigte Gesundheit, dem Gelderwerb vorzuziehen, und wenn er so glücklich situirt ist, daß er einige kleinere Geschäfts-Einbußen (die jeden Abwesenden betreffen) leicht verschmerzen kann.
So ein paar Wochen Freiheit, welche man, in Land und Flur herumstreifend, am besten in den Bergen umherkletternd, zubringt, – das ist eine Medicin, köstlicher und heilsamer als irgend eine aus der Apotheke!
Zunächst unterliegt dabei Geist und Körper einer allgemeinen Umwandlung, welche man mit dem sogenannten Fruchtwechsel beim Feldbau vergleichen kann. Man genießt eine andere Kost, als die [56] zu Hause gewohnte, und ein täglich anderes Getränk. Man athmet eine andere Luft. Man hat tagtäglich neue Sinnes- und Seeleneindrücke, nimmt eine ganz andere geistige Nahrung zu sich. Der Geist erhebt sich aus den kleinen und engherzigen Kreisen des bisherigen Alltagslebens zu freieren und weiteren Anschauungen über Natur und Menschenleben. Auch die Geschäfte und Sorgen, bis auf die unvermeidlichen Reisegezänke und Abenteuerchen, sind ganz andere als zu Hause. Es kommen, so zu sagen, ganz andere Gehirn- und Organtheile in Function, und die bisher zu Hause eintönig thätig gewesenen ruhen mittlerweile aus. – Namentlich kommt fast das gesammte Muskelsystem, das der willkürlichen sowohl wie das der unwillkürlichen Bewegungen, in neue, zu Hause ungewohnte Thätigkeiten, bei dem Herumklettern, Wandern, Fahren zu Wasser und zu Lande (Ausgleiten, Bergabkollern und ähnliche Extratouren ungezählt); man athmet auf ganz andere Weise und tiefer als zu Hause ein; das Herz schlägt rascher; die Darmmuskulatur vollzieht ihre wurmförmigen Windungen anders. Kurz, das Reisen ist an sich eine Art von Heilgymnastik des ganzen Menschen, und äußert auch die Wirkung einer solchen (präciser und rascher als die selbstlobige sogenannte schwedische gewisser speculativer Heilkünstler!). Das überflüssige Fett des Körpers (was die Reitlehrer „das faule Fett“ nennen) schwindet in wenig Tagen; die Muskeln werden straffer und zeichnen sich schärfer unter der Haut ab; das Körpergewicht wird geringer; damit werden die Körperbewegungen leichter (was man besonders in den Füßen fühlt); man schwitzt weniger bei Anstrengungen, als zu Anfang der Reise; alle Körperfunctionen, besonders die Ausleerungen, gehen geregelter vor sich; – und mit dem allen geht Hand in Hand eine Umwandlung des geistigen Wesens. Man wird thatkräftiger und minder empfindlich. Man erkältet sich weniger leicht, trotzdem, daß man auf die Hitze kalt trinkt, daß man stundenlang in nassen Strümpfen wandelt, daß man in Hemdenärmeln schwitzend in der eiskalten Bergluft herumklettert, – Alles Frevel, welche Einem zu Hause sehr übel bekommen würden. Ja, dieses letztgenannte Klettern in der dünnen, kalten Bergluft scheint eine ganz besondere, den ärztlichen Schwitzmethoden (Hydropathie, Dampfbad etc.) weit überlegene Curmethode zu sein, wobei die kräftigere Oxygenation des Blutes durch den eingeathmeten Bergsauerstoff, die reichliche Ausscheidung durch die Hautporen und die gleichzeitige Abkühlung der Haut und der Lungen zu einer rascheren Bethätigung des gesammten Stoffwechsels zusammenwirken. – Aber auch an andern Organen bemerkt der Reisende bald diese Abhärtung und erhöhte Thatkräftigkeit. Der Magen verträgt die harte und nicht immer schmackhaft bereitete Kost besser; das Auge wird von Schnee und Sonne weniger geblendet, die Fußsohle von den Steinen weniger gedrückt; Hunger, Durst, schlechtes Lager, Hitze und Kälte afficiren den Körper und Geist weniger. Alles das trägt dann mächtig bei zu einer Reform des Charakters, welcher den „gereiften Mann“ immer sehr vortheilhaft vor jedem Stubenhocker auszeichnet.
Wie muß man aber reisen, um für Gesundheit und Vernichtung von Krankheitsanlagen auch wirklich Nutzen zu ziehen ? – Denn man kann leider auch das Gegentheil davon tragen, sich durch eine falsche Reiseart krank, ja zeitlebens untüchtig machen. – Zuvörderst soll der Gesundheits-Reisende (denn nur von diesem ist in allem Folgenden die Rede!) zwar nicht ganz planlos in die Welt hinausfahren, vielmehr möglichst über die Natur und Eigenthümlichkeiten der zu bereisenden Gegenden durch mündliche Erkundigungen, durch Kartenstudium und durch das Lesen von Reisebüchern sich im Voraus unterrichten. Aber die Ausführung der Reise hängt bei dem Gesundheits-Reisenden von so vielerlei Umständen, von Wetter, Stimmung, Gesellschaft, Gelegenheit u. s. w. ab, daß es fast unthunlich ist, auf Tage, viel weniger auf Wochen hinaus einen bestimmten Plan festzuhalten. Ich habe solche Unglückliche getroffen, welche sich für ihre paar Ferienwochen solche Reisepläne Tag für Tag und Etappe für Etappe hatten aufschreiben lassen und sie mit aller Strenge durchführten. Bei Nebel auf den Rigi hinauf, bei Regen und beziehentlich Schnee durch’s Berner Oberland, bei schönem Wetter städtische Merkwürdigkeiten und Kirchen besehen, in der Mittagsgluth anstrengende Märsche gemacht etc. – und solche Leute glauben eine Ferienreise gemacht zu haben und beschweren sich, wenn sie im nächsten Herbst verstimmter und kränklicher sind, als vorher! – Der Gesundheits-Reisende muß seinen Plan so zuschneiden, daß er immer über mehrere, den gegebenen Umständen entsprechende Möglichkeiten gebieten kann; er muß z. B. bei heißem trockenem Wetter in die Nebenthäler und an die Flußquellen hinauf oder über die Wasserscheiden hinweg, bei trübem Himmel in den belebten waldigen Hauptthälern dahin reisen, bei klaren Tagen auf die Höhen und Aussichtspunkte hinauf steigen, bei entschieden regnerischem Wetter aber in irgend eine größere Stadt oder einen Badeort flüchten, wo man gute Gesellschaft, merkwürdige Persönlichkeiten, Lectüre, vielleicht sogar Theater, Kunst- und wissenschaftliche Sammlungen finden kann. Bei Alpenreisen kann man sich aus andauerndem Regenwetter dadurch retten, daß man geschwind mit der Post hinüber nach Italien fährt, wo in der Regel die entgegengesetzte Witterung herrscht oder wenigstens nur kleine Bruchstücke der an den Alpen sich niederschlagenden Wolken hinübergelangen. Sehr zweckmäßig ist es, irgend einen an oder in dem Gebirge gelegenen größeren Ort oder guten Gasthof zum Ausgangspunkte zu wählen, dort die Bagage zu lassen und von da aus Tagesausflüge nach den benachbarten Seitenthälern oder Höhen zu unternehmen; dann weiter nach einer zweiten Station, wo man es ebenso macht. – Ueberhaupt darf eine Gesundheitsreise niemals in eine Hetzerei ausarten. Man nehme sich nicht zuviel vor und sei immer bereit, das Vorgenommene bei Gelegenheit fallen zu lassen. Wo man ein gemüthliches Unterkommen, hübsche Wirthsleute, ein freundlich gelegenes Zimmer, eine nette Gesellschaft findet: da bleibe man tagelang, wenn man gleich bei der Herreise gemeint hatte, nur ein paar Stunden daselbst zu weilen. Ubi bene, ibi mane!
Was auch vorfällt, immer bewahre man seine Gemüthsruhe beim Erdulden wie beim Ausführen. Man verliere nicht den Gleichmuth, wenn nicht Alles so klappt oder stimmt, wie man es vielleicht im Voraus berechnet oder gewünscht hatte, oder wie man es zu Hause gewohnt war. Man bleibe bei guter Laune, wenn Wetter und Wind, Menschen und Thiere, Wege und Flüsse etc. unseren Plänen nicht entsprechen. Man lerne warten. Aber wo gehandelt werden muß, da sei man auch rasch bereit und entschlossen, ohne Nörgelei und ohne durch Hindernisse sich zu ereifern. Man reise früh zeitig aus und komme Abends bei Zeiten in’s Quartier. Wer spät ankommt, hat sich’s selber zuzuschreiben, wenn er im Gasthof von verschlafenen oder dünkelhaften Kellnern albern empfangen und schließlich in eine Dachstube oder ein ungesundes Hofquartier logirt wird. Insbesondere auf den Eisenbahnlinien hüte man sich, spät Abends mit dem letzten Zuge in einer größeren Stadt anzukommen, wenn man nicht im Voraus um Logis geschrieben oder telegraphirt hat. Ich ziehe meist vor, auf der letzten oder vorletzten Station zu bleiben oder seitabwärts nach irgend einem Städtchen oder Badeörtchen abzubiegen, das nicht unmittelbar an der Bahn liegt; weil ich dort den Vortheil habe, freundlich empfangen und zuvorkommend bedient zu werden. Der frühmorgens Eintreffende wird dann auch in größeren Städten und vornehmen Hotels rücksichtsvoll empfangen und hat oft die Auswahl unter den besten Zimmern. – Die Effecten mit Post vorauszuschicken, hat oft sein Bedenken. Aber auch wenn man sein Gepäck bei sich führt, muß man unaufhörlich darauf achten, besonders auf den von Sommertouristen überschwemmten Eisenbahn- und Dampfschifflinien, z. B. in der Schweiz oder am Rheine. Wo nicht, so läuft man Gefahr, daß dasselbe plötzlich nach einer ganz anderen Richtung hinwandert, um erst nach Tagen, Wochen oder gar nicht wiederzukommen. Ich könnte schauerliche Vorfälle dieser Art erzählen!
Das Fußwandern gehört mit zum Wesen der Gesundheitsreisen, darf aber bei diesen nie übertrieben werden. Am besten wandert man in der Morgenkühle drei bis vier Stunden lang, und benutzt dann in den Mittags- oder Nachmittagsstunden irgend eine Fahrgelegenheit, um der Hitze zu entgehen und – besser zu verdauen (zu welchem Zwecke eine im Wagen nach rechts rückwärtslehnende Sitzweise mit von sich gestreckten Beinen besonders empfehlenswerth ist). – Man wandere ruhig, hetze nie, man setze gleichmäßig einen Fuß um den andern in der (zuerst von dem Physiologen Weber nachgewiesenen) Pendelschwingung der Ober- und Unterschenkel, der einzigen Gehweise, welche ohne Anstrengung viele Stunden lang fortgesetzt werden kann, und mittels deren sich auch die erfahrenen Reiseführer trotz scheinbarer Langsamkeit so sicher und ausgiebig „vorwärtsschrauben“. Besonders bergauf gehe man langsam; wer leicht in Kurzathmigkeit und Herzklopfen verfällt, wird sogar gut thun, auf größere Berge hinauf zu reiten [57] und nur bergab oder im Ebenen zu wandern. Alle Jahre erleben wir in unsern vielbesuchten Felsengegenden, daß Leute aus der Ebene von dem ungewohnten steilen Klettern Bluthusten und üble Nachkrankheiten davon tragen.
In Alpengegenden ist dem nicht Einheimischen doppelte und dreifache Vorsicht nöthig. Man wage sich in die Alpengebirge nicht ohne Führer oder Träger, nicht ohne das Wetter vorher richtig abzupassen und Sachkundige vorher darüber zu befragen; denn Regen, Schnee, Nebel, Sturm bringen dort dem Ungeübten die schwersten Gefährdungen für Gesundheit und Leben. Man entschlage sich als Gesundheitsreisender völlig der den Kraftmenschen so anlockenden Liebhaberei, hohe vergletscherte und in den ewigen Schnee reichende Alpenpässe zu überklettern, um auf ungewöhnlichen Wegen in neue Thäler zu gelangen; man kehre lieber am Ende des Thales, wo das Schöne aufhört und die kahle, steinige Wildniß beginnt, wieder um und genieße das Thal abwärts noch einmal. Gletscherbesteigungen gehören kaum in das Gebiet der Gesundheitsreisen.
Die Kleidung muß bei Bergreisen auf eine möglicherweise sehr empfindliche Kälte berechnet sein. (Am Gurgl-Gletscher im Oelzthal hatten wir Mitte August nach anhaltend drückender Hitze plötzlich einen Tag lang + 4 Grad R. und am andern Morgen beim Ausmarsch + 2 Grad R.) Man führe also außer dem leichten Sommerüberzieher (Twine) einen dickeren Plaid oder Paletot und ein Paar Wollstrümpfe bei sich. Sehr empfehlenswerth ist die Mitnahme eines feinen (Mailänder) seidenen, gewirkten Unterziehjäckchens, welches zusammengerollt in einer Rocktasche getragen werden kann. Die Wanderschuhe müssen doppelsohlig und die Sohlen mit Leinölfirniß getränkt sein, vor Allem aber gut sitzen; man muß sie längst vor der Reise probirt und ausgetreten haben. Ein übelsitzender oder enger Schuh kann eine ganze Reise verderben! – Ein seidener Regenschirm mit festem, aber zähem Stab (aus starkem Washington-Rohr) dient gegen Regen und Sonne und ersetzt jeden Wander- und Alpenstock. (Mit letzterem namentlich gerathen Ungeübte nur in Gefahr, weil sie ihn gewiß im Augenblick der Noth gerade verkehrt gebrauchen!) – An der Uhrkette trage man einen kleinen Reise-Compaß (überall für ein paar Groschen zu haben), mit dessen Hülfe man sich in der Gegend, wie im Reisehandbuch und auf den Specialkarten zurecht findet. Von letzteren sollte der Fußwanderer immer die besten und neuesten bei sich führen!
Von ärztlichen Hülfsmitteln muß der Gesundheitsreisende etwa Folgendes bei sich führen: Ein kleines chirurgisches Besteck, in jeder Brieftasche anzubringen, enthaltend Scheere, Federmesser, Aderlaßlanzette, Pincette (Zängelchen, z. B. um Splitter auszuziehen), Heftpflaster (möglichst dünngestrichen, zwischen Wachspapier verwahrt), englisches Pflaster, Nähnadeln und Zwirn (ohnehin wegen etwaiger Kleidungsbeschädigungen unentbehrlich), krumme Wundnadeln. In einem kleinen (vielleicht Unzen-) Fläschchen trage man ein geistiges Getränk, wie Rum, Boonekamp, Kirschwasser etc. bei sich; theils gegen anwandelnde Schwäche, theils um damit das Trinkwasser zu verbessern. Wenn man in die Berge hineinwandert, muß man außerdem noch etwas Eßwaare: Semmel, ein Würstchen, eine Tafel Chocolade etc. bei sich führen; denn man kann plötzlich von Nebel, Regen und Schnee an Stellen befallen und stundenlang festgebannt werden, wo man nichts zu essen findet und doch nicht wagen darf, weiter zu gehen. – Gegen Durchfall und Kolik, als die zwei häufigsten Reisekrankheiten, führe man nicht bloß eine Bauchbinde bei sich, sondern auch ein paar Opiumpulver (aus einem halben Gran Opium und sechs bis acht Gran Zucker, auch wohl mit einem halben Gran Ipecacuanha gemischt als sogenannte Dover’sche Pulver). Ein ganz kleines Fläschchen mit Chamillen-Tinctur dient bei gleichen Zufällen, sowie bei frischen Erkältungen überhaupt; ferner zur Theebereitung, indem man ein paar Tropfen in eine Tasse träufelt und dann heißes Wasser darauf gießt. Wer nach Bädeker’s Rath Arnicatinctur bei sich führt (welche ich nicht für Laien empfehlen möchte), kann aus dieser auf ähnliche Weise schweißtreibenden Thee bereiten.
Bei Blasen an den Füßen schneide ich am liebsten die ganze losgelöste Oberhaut ringsum ab und lege auf die rothe Wundfläche das dünngestrichene Heftpflaster. Wenn diese Procedur auch im ersten Augenblick schmerzhaftes Brennen macht, so bewirkt sie doch hinterher um so mehr Schutz, Ruhe und Heilung. Wenn das Heftpflaster zu sehr reizen sollte, so nehme man statt dessen Bleiweißpflaster, ebenfalls ganz dünn auf Leinwand gestrichen. Ueber dieses Letztere kann man alsdann noch Heftpflaster kleben. – Man verhütet dieses Wundgehen dadurch, daß man richtig gebaute Schuhe trägt (s. u.), in den Strümpfen keine Falten duldet, die glatte Seite derselben nach inwendig kehrt (auch wohl durch Abreiben mittels trockner Seife noch glatter macht), und daß man allabendlich die Füße mit Branntwein abwäscht.
Gegen wundmachende Fußschweiße (besonders zwischen den Zehen bei vielen Leuten entstehend) ist das beste Mittel, vorher sämmtliche Strümpfe an der entsprechenden Stelle (also gewöhnlich an der die Zehen aufnehmenden Spitze) in eine Lösung von Weinsteinsäure (etwa 4 Loth auf eine Kannenflasche Wasser) einzutauchen und dann wieder trocknen und plätten zu lassen. Der Schweiß nämlich, besonders wo er stockt (z. B. in den Schuhen und Achseln) erleidet eine rasche, faulige Zersetzung, welche das so übelriechende und die Haut anätzende Ammoniak erzeugt. Dieses aber wird von der trockenen Weinsteinsäure sofort angezogen und zu einem milden, geruchlosen Salze gebunden.
Gegen das Einwachsen der Nägel muß man schon vor der Reise sorgen, indem man dieselben (gewöhnlich die der großen Zehe) in der Mitte längshin (bei a a) mittels eines Glasbruchstückchens dünn schabt und die Ecken am freien Rande des Nagels (b b) so verschneidet, daß sie vor der etwas ausgebogten Mitte desselben hervorstehen. Durch diese beiden Proceduren legt sich der Nagel bei jedem Auftreten der Fußspitze ganz flach und kann also gar nicht einwachsen. Hingegen durch das übliche Hinwegschneiden seiner Kante drückt er sich immer tiefer in das Fleisch der Zehe hinein.
Hühneraugen (Leichdornen) umwickele ich gewöhnlich mit einem Streifen des oben erwähnten dünngestrichenen Heftpflasters, nachdem ich vorher das Horn mittels des Federmessers flach abgeschnitten habe. Schützt dies noch nicht genug, so lege ich ein Stückchen Handschuhleder mit dem gewöhnlichen grünen Cerat oder dem officinellen schwarzen Leichdornpflaster auf den Leichdorn und wickele einen dünnen Heftpflasterstreifen darüber. Ich habe seit vielen Jahren alle angepriesenen geheimen Hühneraugenpflaster probirt und keines besser befunden als jene beiden, längst in allen Apotheken vorkommenden. – Uebrigens merke man sich ein für allemal: Der Urheber der Hühneraugen ist allemal der Schuhmacher, wenn er die Schuhe nicht für den Fuß, wie er ist, (und zwar für jeden von beiden besonders) gefertigt hat, sondern nach einem Ideale, wie der Fuß sein sollte. Der Himmel behüte eines Jeden Beine vor den Idealen der Schuster! Wie aber der Wirklichkeit entsprechend die Schuhe gestaltet werden müssen, das lehrt am besten der Züricher Professor der Anatomie, Dr. Herm. Meyer, in seiner Broschüre „über die richtige Gestalt der Schuhe“ (Zürich 1858, 8. und vorher in der Gartenlaube 1857, Nr. 27, S. 373.)
Die unterseeischen Kameele.
Von Wilhelm Bauer, dem Submarine-Ingenieur, dessen unterseeischem Schicksale im Kieler Hafen wir in Nr. 41 des vorigen Jahrgangs der Gartenlaube den Artikel „Ein deutscher Erfinder“ gewidmet haben, legen wir heute unseren Lesern eine seiner wichtigsten Erfindungen selbst vor. Es ist das von ihm erdachte, ausgebildete und erprobte System zur Hebung der in Meeren, Seen und großen Strömen untergegangenen rettungswerthen Schiffe und Güter, und zwar nicht durch die Anwendung mechanischer Mittel vom Niveau des Wassers aus, sondern durch weise Benutzung der Kräfte der Natur.
[58] Ehe wir jedoch auf eine Beschreibung der Operation selbst eingehen, wird es für unsere Leser von Interesse sein, Einiges über den Werth und das Bedürfniß dieser Hebemanier im Vergleich zu den sonst üblichen Hebeweisen zu erfahren und zugleich die wesentlichsten Schwierigkeiten kennen zu lernen, welche bis heute auf diesem Arbeitsfelde zu überwinden waren. Daß es der Mühe lohnt, diesen Zweig der Industrie einer möglichsten Ausbildung zuzuführen, darüber belehren uns die jährlichen Berichte über die Hunderte von Schiffbrüchen, die Tausende von verlorenen Menschenleben und die Millionen von Werthverlusten.[3] Nur ein Blick auf jene Zahlen, und Jedermann muß das Bestreben, von dem Rettbaren möglichst viel wiederzugewinnen, im höchsten Grade gerechtfertigt finden.
In dem Wort „dem Rettbaren“ ruht der Schwerpunkt der Aufgabe. Wir können hier nicht die Tausende von Arten der Verunglückung anführen, wie die Fahrzeuge vom größten Linienschiff bis zu den Nußschalen des Küstenverkehrs von Wellen verschlungen, an Klippen zerschellt, in Nacht und Nebel auf einander geschleudert, von Feuer verzehrt werden etc. Genug, wir wissen: die gesunkenen Schiffe sollen gehoben werden, wir nehmen an, wir kennen die Lagestelle und Tiefe des Schiffes in der See, wir halten darnach und nach dem erforschten Zustande desselben es für „rettbar“, und die Hebung und Bergung soll nun beginnen.
Mancher Leser mag sich denken: „Nun, da geht der Taucher in die Tiefe, befestiget Taue oder Ketten nacheinander an dem Schiff in der Tiefe, und wenn deren genug daran sind, zieht man oben an, bis es oben ankömmt, pumpt es dann aus und fährt nach Hause.“ So geschwind und leicht geht es leider nicht. Man beachte nur die folgenden hauptsächlichsten Schwierigkeiten für die Hebungs-Arbeiten.
Erstens. Das Fahrzeug, welches die Arbeiter und ihre Hülfs-Instrumente an die Lagestelle des versunkenen Schiffes bringt, muß die Kämpfe mit den Stürmen vielleicht ganz nahe an den verhängnißvollen Klippen bestehen, und die nach der bis jetzt üblichen Hebemanier nöthigen Hebeschiffe, welche vertical über dem gesunkenen Schiffe vor Anker gelegt sind, um die Verbandtaue und Ketten zu handhaben, dürfen von Stürmen nicht überrascht werden, wenn nicht alle Verbände gleich beim Beginn heftiger Seebewegung gekappt oder gelöst werden sollen. Erschwert doch schon das regelmäßige Steigen und Fallen der See bei Ebbe und Fluth die Arbeit sehr, weil alle Verbände mit der Zu- oder Abnahme des Wasserstandes angezogen oder nachgelassen werden müssen, um Verwickelungen und Verschlingungen in dem Tau- und Kettenwerke zu vermeiden.
Zweitens. Der Taucher in seinem wasserdichten Anzug und unter einem Helm, der bis auf die Schultern herabreicht, durch dessen Verbindung mit dem überseeischen Schiff und der Luftpumpe er in die Tiefe gelassen wird, wo er durch einen Schlauch die ihm nöthige Luft zugepumpt erhält; ein solcher Taucher ist an sich ein sehr beeinträchtigter kleiner Motor gegenüber einem so massenhaften Körper wie ein Schiff, und ebenso verschwindet seine einzelne Menschenkraft gegenüber dem Gewicht und der Steifigkeit der oft drei- und vierfachen Flaschenzüge, die mit Ketten oder Tauen durchzogen sind; und wenn auch der Taucher einen geeigneten Angriffspunkt für den jeweiligen Verband gefunden hat, so kann er doch erst nach unsäglichen Mühen die Befestigung bewerkstelligen. Der Zeitverlust ist oft so groß, daß er Tage und Wochen der ruhigen See überdauert, bis plötzlich ein einziger Windstoß alle Mühe und Hoffnung vereitelt.
Drittens. Obige Mißstände erkennend, begann man, die Schiffe mittelst Taucherarbeit auf dem Grunde der See möglichst dicht abzuschließen, durch eingesetzte mächtige Centrifugalpumpen das Wasser herauszupumpen und dann Luft von oben durch Schläuche in den Schiffsraum eintreten zu lassen. Diese Hebemanier bewährte sich in Häfen und Flüssen und überhaupt nur bei geringen Tiefen; dagegen drückt bei bedeutenden Tiefen die auf das flache Verdeck wirkende Wassersäule die Tragbalken durch und macht somit auch diese Hebeweise unmöglich. Auch mittelst eiserner Hebekasten, welche an das Schiff befestigt und dann ausgepumpt wurden, versuchte man Schiffe zu heben, und die „hydrostatische Gesellschaft“ in St. Petersburg opferte viel Geld, ehe sie sich überzeugte, daß die See diese eisernen Hebekasten schon vor deren Befestigung gegenseitig zerschelle und daß die Pumpen ein reines Vacuum nicht ermöglichen.
Bis hieher erwähnten wir nur die Schwierigkeiten in dem Wasserbereiche, in welchem Taucher verwendbar sind, d. h. bis etwa 100 Fuß äußerster Tiefe. Was tiefer liegt, war bis jetzt in der See als unrettbar erklärt und aufgegeben, und Tausende von gesunkenen Schiffen mußten selbst in geringeren Tiefen wegen der Mangelhaftigkeit der Operationen in Stücke zerrissen werden, um nur das Material und die Ladung zu retten. Aber es ist bekannt, daß im englischen Canal, in der Ost- und Nordsee, sowie im adriatischen Meer Linienschiffe und Fregatten, sowie eine bedeutende Anzahl von großen Handelsschiffen in Tiefen von 100–300 Fuß liegen und viele Millionen Werth bergen. Auch diese sollen nun gehoben werden.
Bei der seit Jahrhunderten vergeblich angestrebten Lösung der Aufgabe: „Schiffe ohne Zertrümmerung und ohne Erledigung ihrer Fracht aus allen Tiefen bis zu 500 Fuß und mehr zu heben“ – begegnen wir wieder dem deutschen Forschergeist, der, über die vorhandenen Mittel hinweggehend, erkennt, daß submarine Körper auch submarin behandelt werden müssen, d. h. unabhängig von Wind und Wellen, von Ebbe und Fluth und von irgend welcher Verbindung mit überseeischen Schiffen als Lastträgern. So kühn die Aufgabe auch scheint – sie ist gelöst durch Wilhelm Bauer, durch seine „unterseeischen Kameele“ und seine „Taucherkammer“.
Die von dem Erfinder uns zur Weiterverbreitung mitgetheilte, seinem englischen Patente auf diese Erfindung entnommene Illustration (Nr. 1) zeigt uns die Hauptmomente der Anwendung seines Apparats zur unterseeischen Lasthebung. Sie veranschaulicht ein gesunkenes Dampfschiff, welches vom Grunde der See gehoben werden soll. Dies geschieht mittelst großer Ballons von starkem Wasser- und luftdichtem Stoffe, welche an das Schiff befestigt und dann von dem auf der Oberfläche schwimmenden Boote aus mit Luft gefüllt werden. Diese Ballons nennt Bauer seine „unterseeischen Kameele“.
Als Glanzpunkt der Lösung erscheint in Bauer’s Patent seine Taucherkammer. Durch dieselbe wird es möglich, daß vier Mann in derselben ohne Rücksicht auf Tiefe bis 500 Fuß, völlig unabhängig vor- und rückwärts, auf- und abwärts, so wie seitwärts fahren und daher den Gegenstand in der Tiefe genau ausmitteln können, denn das Sonnenlicht oder die Tageshelle wird im Wasser ebenso fortgepflanzt, wie in der Luft, daher nur Flüsse und Brandungswasser eine Trübe zeigen, wie Staubmassen in der Luft. Diese Taucherkammer erhält die Bewohner nicht allein in einfach atmosphärischer Luft für mehrere Stunden, sondern sie bietet ihnen auch eine technische Ausrüstung, mittelst welcher z. B. Bolzen in die Schiffswände eingetrieben, Haken, Querarme, Schließen u. s. w. an den gewählten oder erzeugten Angriffspunkten angebracht und daran die Hebekameele befestigt werden, und dies Alles, ohne daß eine Hand von innen nach außen in die See greift. Wir sehen in der Zeichnung die Taucherkammer rechts am gesunkenen Schiffe einen Querarm zum Schiff herunter bringen und seine leichtläufige telegraphische Communication mit dem Schiff auf dem Niveau.
In Berücksichtigung, daß die Gartenlaube kein polytechnisches Journal ist, müssen wir von den technischen inneren Einrichtungen der Taucherkammer hier absehen. In der ganzen Taucherkammer aber finden wir die glückliche Ausbeute der mannigfachen Erfahrungen, welche Bauer mit seinem in Kiel zuerst versuchten und in Rußland praktisch erprobten Brandtaucher machte; wir finden dasselbe Princip in allen Bewegungen, und nur die Form ist, dem Bedürfniß der raschen Wendbarkeit und größern Widerstandsfähigkeit gegen Druck entsprechend, verändert.
Endlich können wir an unsere oben verlassene Arbeit gehen und das Rettbare bergen. Wir fahren mit Bauer in der Taucherkammer nieder zum Wrak, schlagen die Fenster desselben ein oder die Verschlußdeckel durch, machen uns Angriffspunkte, wo wir solche bedürfen, und bringen nun einen (zusammengelegten) Ballon nach dem andern an dem Schiff an, telegraphiren nach dessen Befestigung „Pumpen“, und der von der Luftpumpe ausgehende Schlauch von entsprechender Festigkeit führt die Luft in den Ballon, welcher unten eine große Oeffnung hat. Der erst leere Sack füllt sich allmählich und bläht sich auf, bis endlich die Luft bei der unteren Oeffnung austritt. Hierauf wird der Schlauch ausgezogen, um beim nächsten [59] Ballon verwendet zu werden u. s. w. Nehmen wir an, daß jeder Ballon 400 Kubikfuß Wasser verdränge, so trägt jeder eine Last von circa 200 Centner, und vertheilen wir auf ein Schiff von 200 Fuß Länge links und rechts je 20 Kameele, so heben diese 40 Stück eine Last von circa 8000 Centner.
Von dem Moment, wo die Last des Schiffes sammt Ladung, so weit es überspecifisch schwer wurde, von den Hebekameelen übernommen ist, beginnt das Hinter- oder Vordertheil sich vom Grund abzuheben, die Adhäsion ist aufgehoben, und endlich steigt das ganze Schiff sammt den Kameelen langsam gegen die Oberfläche der See empor. Weil aber die Luft in den Kameelen zusammengepreßt eingeschlossen ist, die Wassersäulenschwere aber während des Aussteigens fortwährend abnimmt, so dient die untere Oeffnung in den Ballons zum Abfluß der überflüssigen Masse Luft; – diese steigt nun unbelastet voraus und bildet eine sprudelnde Stelle. Da jedes Kameel Gleiches wirkt, so gelangt das Schiff nach wenigen Minuten an das Niveau, wie Fig. 1 (Mitte) zeigt. Ist das Schiff so weit gehoben, so werden die Reserve-Ballons, je zwei verbunden, unter dem nun hohlliegenden Kiel des Schiffs durchgeführt und aufgepumpt. Dies geht jetzt sehr rasch vor sich, weil kein Druck mehr entgegen steht, und so wird denn nach wenigen Stunden Arbeit das Schiff auch horizontal und hoch über das Niveau gehoben. Hier wird es endlich ausgepumpt und sammt Ladung geborgen, d. h. entweder von einem Dampfer in das Schlepp genommen oder nach Umständen reparirt und unter eigenem Segel an den Bestimmungsort gebracht.
Ein wesentlicher Vortheil dieser Bauer’schen selbstregulirenden Hebekameele ist, daß sie gleich Säcken leicht verpackt in einem Schiff transportirt werden können, daß sie im Gebrauch von Wind und Wellen keinen Schaden nehmen, als leicht handlicher Körper vom Taucher an jede Stelle zu führen sind und sich an die Form jedes zu hebenden Körpers anschmiegen.
Dies dürfte genügen, um auch dem Laien einen klaren Einblick in Bauer’s Hebemanier zu eröffnen.
Unser zweites Bild zeigt die Erfindung in ihrer ersten, gerade wegen der hier zu überwindenden Schwierigkeiten für die Richtigkeit der Lösung der großen Aufgabe glänzend zeugenden Anwendung.
Am 11. März 1861 war auf dem Bodensee, auf der Schweizer Seite, der baierische Postdampfer „Ludwig“ durch den Dampfer „Zürich“ in der Dunkelheit und bei starkem Nebel in den Grund gebohrt worden. Bauer übernahm den Auftrag, das 120 Fuß lange Schiff aus einer Tiefe von 65 Fuß zu heben, und zwar unter für ihn sehr ungünstigen Bedingungen. Er hatte nämlich vergeblich gehofft, daß der baierische Staat sich seiner Erfindung annehme, daß er ihm die Mittel zur Herstellung des Apparats biete. Wie warm im baierischen Landtage auch der Abgeordnete Dr. Krumbach dafür gesprochen, wie angelegentlich die Akademie der Wissenschaften in München[4] die Erfindung empfohlen, – es fehlten die Fonds für sie. Die ganze Summe, welche Herrn Bauer, gegen Hinterlegung einer Caution von 1000 Gulden, für die Hebung des Schiffs geboten war, reichte jedoch nicht einmal hin zur Herstellung der Hebekameele, geschweige zur Erbauung seiner Taucherkammer. Statt dieser mußte er den Helmtaucher anwenden, der ihn von Wind und Wetter abhängig machte. An die Stelle seiner Ballons setzte er große Fässer. Diese mußten mit Wasser gefüllt in die Tiefe gezogen und an das Schiff befestigt werden. Um 2500 Centner Tragkraft zu gewinnen, bedurfte es natürlich vieler Fässer, und von den vielen herbeigeschafften zeigten sich nur wenige, trotz der mächtigen Beschläge von Eisen, stark genug für seinen Zweck. Endlich stand ihm, nachdem die nöthige Zahl von Fässern durch die Taucher an das Schiff befestigt war, nicht eine Luftpumpe zu Gebote, sondern mit gewöhnlichen Feuerlöschschlauchspritzen mußte er das Wasser aus den Fässern in der Tiefe heraustreiben, um so mühevoll und mit großem Zeitverlust die einfache Hebekraft zu gewinnen, welche mit seinem Apparate so leicht und rasch herzustellen gewesen wäre.
Die erste Arbeit Bauer’s bestand in der Einübung von Tauchern, für die er einen besondern Anzug erfunden hat, sowie in der Untersuchung des Schiffs. Von acht Tauchern stellten sich, nach langem, mühevollem Unterrichten und Prüfen, nur drei als tauglich und später als sehr tüchtig heraus. – Zur ersten Untersuchung des gesunkenen Schiffes folgen uns unsere Leser einen Augenblick in das nasse Grab so vieler Unglücklichen. In unheimlicher Dämmerung lag das Schiff mit gebrochenem Schlot und mit dem Hintertheil tief eingesunken. Auf dem Verdeck stand ruhig die Ladung, angebundene Thiere, Pferde und Ochsen, schwammen auf dem Schiff und an den Seiten desselben; endlich drang man zu den Cajütenfenstern hinan; ein Blick hinein erfüllte Alle mit Grauen. Da lagen die Armen, die ein schrecklicher Augenblick vom Leben getrennt, auf dem Boden umher, Männer und Frauen, starr und unbewegt, wie in einem großen geschlossenen Sarge. Als aber die Taucher zur andern Seite des Schiffs kamen, erschütterte sie ein entsetzlicher Anblick: ein Frauenantlitz sah mit weitoffenen Augen zum aufgerissenen Cajütensenster heraus, wie noch jetzt nach Hülfe flehend; so war die Unglückliche im Tode erstarrt. – Wie viel solcher Bilder mag das Meer verhüllen, und was werden unsere Taucher noch in der Tiefe entdecken!
Trotz all der kläglichen Aushülfsmittel für seinen Apparat ging Bauer mit seinen Tauchern rüstig an die Arbeit, und bald gelang es ihm, mit 27 Fässern das Schiff aus dem Lehmgrund, in den es tief eingesunken war, heraus zu fördern, die Adhäsion vollständig zu brechen, mit weiteren 10 Fässern hob er das Hintertheil 5 Fuß vom Grunde empor, und am 29. Mai (1861) stand das Schiff bereits so hoch, daß fünf große Tragfässer auf dem Niveau schwammen und der gehobene Dampfer in allen Theilen sichtbar war. Da kam, statt des erwarteten und verheißenen Schleppdampfers, der den so nahe an der Oberfläche schwebenden „Ludwig“ in einen sichern Hafen führen sollte – ein furchtbares Gewitter mit hochbewegter See, die Wellen schlugen die tragenden Fässer an einander, zertrümmerten sie, und der „Ludwig“ sank nach denselben Gesetzen, die ihn gehoben hatten, wieder in die alte Tiefe hinab. Noch zweimal, am 7. und 23. Juni, erfolgte die Hebung, und auch diese beiden Male mißglückte die Bergung des gehobenen Schiffs durch die Verwahrlosung der Schleppfahrzeuge. – Wir bekräftigen dies durch folgendes von dreißig der angesehensten Männer aus den Hunderten von Zuschauern des Hebeactes unterschriebene Zeugniß:
„Dem Wunsche des Herrn Submarine-Ingenieur Wilh. Bauer entsprechend, bestätigen die Unterzeichneten wahrheitsgemäß, daß sie Augenzeugen waren, als Herr W. Bauer aus München das in Folge Zusammenstoßes auf dem Bodensee mit dem Dampfboet „Zürich“ in die Tiefe von 65 Fuß gesunkene Postdampfschiff „Ludwig“ mittelst Fässern, welche an dem gesunkenen Schiffskörper durch Taucher direct befestiget und mittelst Feuerspritzen (an Stelle von Luftpumpen) vom Niveau aus mit Luft gefüllt werden, am 7. Juni 1861 in horizontale Lage bis nahe an die Oberfläche des Wassers hob, sodaß circa 12 Fässer an der Oberfläche des Sees schwammen und die Ladung des Schiffes, sowie einzelne Theile des Schiffskörpers gesehen und behandelt werden konnten.
Sie bestätigen ferner, daß der „Ludwig“ mit den an dem Schiffskörper befestigten circa 50 Tragfässern durch das Dampfschiff „Stadt Lindau“ von der Hebungsstelle circa 800 Schritte gegen das Land bugsirt wurde, somit die Hebung und Transportabilität in anschaulichster Weise sich praktisch bewährte, und nehmen deshalb keinen Anstand zu bezeugen, daß Herr Bauer eine Hebemanier durchführte, welche keinen Zweifel darüber läßt, daß Schiffe jeder Größe ohne Schadennahme durch diesen Hebeproceß sammt Ladung gehoben und geborgen werden können.
Rorschach, 22. August 1861.
(Folgen die Unterschriften.)
Die Echtheit der vorstehenden Unterschriften beurkundet Rorschach, den 30. August 1861.
So steht es in diesem Augenblick noch um diese deutsche Erfindung. Sie muß sich von braven Schweizerbürgern gegen einen deutschen Dampfschifffahrts-Verwaltungsrath bezeugen lassen, daß sie der höchsten Beachtung werth ist. Soll sie wirklich erst in fremde, in die Hände des Auslandes übergehen, um von dorther, z. B. als etwas Englisches und nur darum Gutes, nach Deutschland zurückzukehren? Ist es nothwendig, unsere Landsleute erst an König und Bauer und das Schicksal ihrer Erfindung der Schnellpresse zu erinnern, um ihnen mehr Gerechtigkeit gegen deutsche Erfinder einzuflößen? –
[60]
[62] Und wie gering sind die Ansprüche, welche Wilhelm Bauer an das Vertrauen seiner Landsleute macht! Die Summe von 12,000 Thalern, sage zwölftausend Thalern, würde genügen, um wenigstens die Hebekameele, Luftpumpen, Schläuche, Haken etc. sammt den nöthigen Taucheranzügen zur Hebung von kleineren Seeschiffen aus einer Tiefe bis zu 100 Fuß zu beschaffen. Die Sammlung einer verhältnißmäßig so unbedeutenden Summe sollte in einem Lande, das sich der zweiten Handelsmarine Europa’s rühmt, doch wahrlich keine Schwierigkeit machen. Sie dürfte sogar durch freiwillige Gaben zu ermöglichen sein, denn wenn z. B. nur jeder Leser unserer Gartenlaube sich zur Beisteuer von drei Silbergroschen entschlösse, so wäre diese Summe gedeckt. Sollte sich denn nicht an jedem Orte, wo dieses gelesen wird, ein bereitwilliger Mann finden, der die kleinen Gaben für ein deutsches Ehrenwerk sammelte? Zu diesem Behufe wird sich sofort ein Hauptcomité mit den nöthigen Zweigcomité’s zu bilden haben, bei welchen vor Allem unsere großen Seestädte sich betheiligen werden. Denn ihrem Interesse und namentlich dem der Versicherungs-Gesellschaften gegen Seegefahr dient ja diese Erfindung zunächst; – die unberechenbare Nützlichkeit derselben, und namentlich der Taucherkammer und des Taucherschiffs, für unterseeische Unternehmungen aller Art, Kabellegen, Korallen- und Perlenfischerei, Wasserbauten bis hinauf zur Naturforschung in den bis heute dem Menschenauge noch verborgen gewesenen Tiefen der Meere, dies Alles wird erst aus der praktischen Verwerthung der Erfindung im Dienste der Schifffahrt hervorgehen.
Eine zweite Unterstützung würde ihr von den deutschen Schiffs-Versicherungs-Gesellschaften und Rhedern dadurch gegeben, daß sie Verzeichnisse einsendeten von den in den jüngsten fünf Jahren verlorenen Schiffen und Waaren, von denen ihnen die Lagestelle und die ungefähre Tiefe derselben bekannt ist, mit der Bemerkung, ob das Schiff von Eisen oder Holz, bekupfert oder verzinkt, ob Dampfer oder Segelschiff; ferner ob sie diese Schiffe und Waaren Herrn Bauer für die Dauer von drei Jahren zum Heben überlassen, und zwar gegen die Verpflichtung, daß derselbe von den gehobenen Schiffen eine Abgabe von 20 Procent aus dem Reinerlös des geborgenen Gutswerths nach Abzug der Hebekosten an die betreffenden Eigenthümer entrichte, oder ob sie dieselben ganz frei geben, oder gegen welchen Betrag sie dieselben im unterseeischen Zustande berechnen. Aus einem solchen Verzeichnisse würde die Auswahl für die ersten Hebungsarbeiten zu machen sein, und diese würden dann von selbst das Capital schaffen, das zur Herstellung der Taucherkammer und der stärkeren Kameele und Luftpumpen für die Hebungen der größten Schiffe bis zur Tiefe von 500 Fuß erforderlich ist.
Dieser Apparat würde die Summe von 120,000 Thalern in Anspruch nehmen. Wer aber bedenkt, wie viele Millionen aufgegebenen Guts damit zu retten sind, der wird nicht daran zweifeln, daß schon die erste gelungene Hebung mittels Tauchern und Ballons dieser Erfindung hinlängliches Vertrauen erwerben würde, um in unsern Seestädten die Summe für den vollständigen Apparat flüssig zu machen.
Möge dieser Artikel nicht bloß gelesen werden! Der Erfinder ist jeden Augenblick bereit, in die Tiefe des Meeres zu gehen, in welche ihm seine tüchtigen, von ihm eingeschulten Taucher so kühn und treu folgen werden, wie einst Witt und Thomson in den „Teufel der See“.
Der Letzte seines Stammes.
(Fortsetzung.)
Die Erde lag noch im Schatten, der Nebel erfüllte noch die Thäler, als Graf Joseph, von seinem Diener gefolgt, langsam die Höhe emporritt. Je höher er stieg, um so tiefer sank der Nebel. Durch Wälder von Wallnußbäumen, an Weingärten vorbei, deren große Blätter thautriefend der Sonne warteten, ging es hinauf, und ein leises kühles Wehen erfrischte ihm die Brust. Er athmete leichter und voller als je zuvor, und das Emporsteigen, das Vorwärtskommen erfreuten ihn, denn in Beidem liegt ein Gelingen. Er sah hinab, ein Meer von Nebel schwamm zu seinen Füßen, bewegte sich langsam hin und her, ließ hie und da eine Stätte in unklaren Umrissen erkennen, und zog sich dann wieder wirbelnd und schwebend zusammen. Er sah empor, und es traf ihn wie eine Verklärung. In einem Schimmer, für dessen Farbe und Pracht es keinen Namen gab, leuchteten die schneeigen Grate des Gebirges auf dem unsäglich klaren Himmelsblau, und als habe das Licht noch die Gewalt, welche es in den Tagen besessen, da die Wasser des Himmels sich von den Wassern auf der Erde schieden, so zerriß vor der Sonne ersten Strahlen das schwebende Gewölk zu seinen Füßen, und tief geborgen unten im Thale, wo die schäumende Plessur aus ihrer engen Felsenwiege hervorbrach, lag die Stadt noch schlummernd da.
Er hielt sein Pferd an, um hinabzuschauen. Da lagen sie wieder, der Dom, der Bischofssitz, die Wege, welche von demselben nach der Stadt hinunterleiteten! Er sah die Bäume, welche sein Haus umgaben, sah das Haus mit seinen geschlossenen grünen Fensterladen, und auch das Zimmer, dessen Fenster offen waren, sein Zimmer, in dem er die Nacht geschlafen. Es heimelte ihn Alles an. Die Stadt, so klein sie war, erschien ihm schön und war ihm plötzlich lieb. Er wußte sich die Empfindung nicht zu deuten. Er hatte oft genug von den Höhen des Montmartre auf Paris hinabgesehen, ohne ein Gefühl der Liebe für den Ort zu haben, obschon er sein ganzes Leben dort gelebt, obschon er durch alle seine Erinnerungen mit demselben verwachsen war, und doch war es eine natürliche Erfahrung, die er an sich zu machen hatte.
Große Städte, unübersehbare Häusermassen erregen nur Erstaunen, erregen höchstens Verwunderung, und sprechen durch die historischen Thatsachen, welche sich an ihre Mauern knüpfen, zu unserm Geiste; lieb gewinnen, lieben kann man nur Städte, die man in ihren Einzelnheiten erkennen, die man als ein Einiges, als ein Individuum mit einem Blicke übersehen kann; und wenn der Großstädter ein Weltbürger wird und der Kleinstädter mit unwandelbarer Neigung an seiner Heimath hängt, so ist das, wo es geschieht, nicht nur Folge der geistigen Atmosphäre, welche sie in ihren Aufenthaltsorten athmen, sondern es beruht auf einem physischen Gesetz, das auf bestimmte Naturen seinen unabweislichen Einfluß ausübt.
Steigend und steigend ritt er in den Tag hinein. Hier rauschte die Rabiosa durch das Thal, dort rieselten kleine Bäche aus dem Gestein hervor oder fielen schäumende Fluthen von Absatz zu Absatz an den Felsen hernieder, um sich mit den wilden Gletscherwassern der Rabiosa zu mischen und ihre gemeinsame Fülle in den Rhein zu ergießen, der sich fern ab von den Schweizerbergen in das Meer ergießt. Dann wieder sah er auf den grünen Matten die Hütten der Senner, wie sie vom Thal bis zum Bergesgipfel, sich in Entfernungen an einander reihend, eine Kette bilden durch das ganze Land, und worauf er seinen Sinn auch richtete, die Natur und das Leben des Menschen in ihr, Alles war auf Gliederung und Zusammenwirkung begründet. Die Flüsse und die Menschengeschlechter, sie hatten dieselbe Bestimmung und dasselbe Schicksal: zusammenwirken für die größtmögliche Kraftentfaltung und sich auflösen in das Allgemeine.
Er war sich neu in diesen Betrachtungen, denn in dem wechselnden und vielbewegten Leben von Paris, das in jenen Tagen nicht nur die Hauptstadt Frankreichs war, hatte er in den letzten Jahren mehr mit Andern als mit sich selbst verkehrt, und wenn manch Einer in der Zurückgezogenheit an sich die unangenehme Erfahrung machen muß, daß er nur den Geist seiner Umgebung gehabt habe, so wurde Graf Joseph es nun gewahr, wie viel von seinem Geiste er Andern geliehen, wie viel Empfindung er in Andere hineingelegt, und wie er allermeist der Schöpfer der Gedanken und der Gefühle gewesen sei, die er durch Andere zu empfangen geglaubt hatte. Er begegnete auf seinem einsamen Wege keinem fröhlichen Genossen, keinem Reisegefährten, aber er fand sich selbst in dieser Stille, in dieser erhabenen Natur, und wo man sich [63] selber findet, da ist man in seiner wahren Heimath, in seinem eigentlichen Vaterlande. Noch am vorigen Abende waren alle seine Gedanken an Paris, an Versailles, an Franziska gebannt gewesen; heute däuchte es ihn, als lägen eine unermeßbare Ferne und eine unübersehbare Zeit zwischen ihm und jener Frau.
Man war über die Mittagshöhe hinaus, als er den Rottenbuel, sein Stammschloß, zuerst erblickte. Auf einem steilen Felskegel lag es da, weit in die Ferne sichtbar, wie ein Adlernest sicher durch seine Einsamkeit. Das Schloß stützte sich in seiner ganzen Mächtigkeit auf den Steinblock, der es trug, es hatte kein Fundament als das naturerschaffene, ja es sah aus, als sei es die Blüthe dieses Steines, als habe der Stein es mit diesen festen trotzigen Mauern und Thürmen aus sich selbst erzeugt. Kein Reitweg führte zu der Burg hinauf. Die Stallungen waren am Fuße des Felsens gelegen, die Pferde mußten dort zurückbleiben, und feierlich und in sich gekehrt ging der Graf die Windungen des Schloßpfades hinauf, trat er, ein einsamer Wanderer, der Einzige seines Namens, unter das Portal seines Stammschlosses ein.
Altersgraue Diener (Männer sowie Frauen) umgaben ihn unten in der Halle, und segneten ihn und schauten voll freudiger Ergebenheit zu ihm empor, der jetzt ihr Herr war; altersgraue Bilder, so Männer wie Frauen, umgaben ihn oben in dem Saale und schauten mit ihren ernsten Mienen zu ihm herab und schienen ihn zu segnen, der ihr Sohn, der jetzt ihr einziger Erbe war.
Da hing das Bild des Grafen Ruprecht von Rottenbuel, des Ersten seines Stammes, da hing Graf Ubald’s Bild, von dem sein Vater ihm erzählt. Die großen schwarzen Augen unter den ergrauenden Brauen, die weit zurückspringende Stirne und die gewaltige Adlernase hatten etwas Finsteres und Wildes. Finster sah auch die schwarze, eiserne Rüstung aus und die blutrothe Schärpe, die er trug, und finster klang auch die Devise des Geschlechtes: „Einer muß der Letzte sein!“ – Graf Ruprecht hatte diese Worte gerufen, als er in dem Kreuzzuge des Jahres 1228 bei einem Ausfall aus der Festung Jaffa der Letzte gewesen war, welcher, den Rückzug deckend, außerhalb der Thore Stand hielt, und als Kaiser Friedrich II. den Tapferen in den Grafenstand erhoben, hatte er ihm jene Worte als Devise in sein neues Wappenschild zu setzen geboten.
Graf Joseph wiederholte die Devise unwillkürlich, und wie er sie laut vor sich hin sprach, daß sie durch den Saal tönte, dünkte es ihn, als höre er dabei einen Seufzer, und sie klang ihm unheimlich, wie eine böse Vorbedeutung. Aber er war jung und in einer Welt erwachsen, die dem Aberglauben und den Ahnungen nicht viel Raum gab; und von den Männern seines Geschlechtes sich zu den Bildern der Frauen wendend, erheiterte sich sein Sinn, blieb sein Auge endlich an den sanften Zügen seiner Mutter hängen, deren gütevoller Blick, deren mild lächelnde Lippen ihn willkommen zu heißen schienen. Auch das Bild seines Vaters sprach freundlich zu ihm. Er trug in demselben nicht wie in Frankreich die Uniform, nicht den Rock und die Farben des Königs, aber er sah nur noch vornehmer aus in dem reichgestickten bürgerlichen Kleide, wie er dastand, die Rechte auf den Tisch gestützt, auf welchem neben verschiedenen alten Pergamenten die Grafenkrone lag. Er hatte sich darstellen lassen wie ein regierender Herr, und regierende Herren waren die Grafen von Rottenbuel hier auf ihrem Grund und Boden, hier im Bündner Lande, welches das Veltlin beherrschte und seiner Macht bis jenseits der Berge Geltung zu verschaffen wußte.
Die Brust des Grafen hob sich bei dieser Vorstellung, denn Herrschaft, auch die kleinste, ist etwas Verlockendes. Er hatte in seiner Dienstbarkeit unter dem Könige von Frankreich es fast vergessen, daß er Herr auf seinem Grund und Boden sei, und die Grafenkrone, welche er von seiner frühsten Jugend auf in seinem Wappen betrachtet und geführt, sah ihm ganz anders aus, wie sie da auf dem Bilde neben den alten Pergamenten an seines Vaters Seite lag.
In Chur hatte er sich zwischen den andern Häusern, deren Bewohner er nicht kannte, in seinem Hause einsam gefühlt. Hier auf dem Rottenbuel fand er sich frei und gehoben durch sein Alleinsein. Er schaute von der Höhe hinab, und das Land, auf das er blickte, war sein eigen. Er öffnete die Thüren des Saales und trat auf die Altane hinaus. Die Wohnungen der Dienstleute, die Scheuern mit ihren großen Bogenfenstern, der Garten mit seinen weithin schattenden Bäumen, der geräumige Hof, die großen Stallungen machten ihm Freude. Er ließ sich den Castellan kommen, um die Grenze seines Besitzes kennen zu lernen, um mit dem erfahrenen Diener die Documente durchzugehen und Einsicht in seine eigenen Verhältnisse zu gewinnen.
Der Abend, der nächste Tag vergingen ihm bei der ungewohnten Beschäftigung in der angenehmsten Weise. Je mehr er sich in die alten Chroniken versenkte, um so heimischer begann er sich auf seinem Erbe zu fühlen, und je weiter er mit seinen Gedanken in die Vergangenheit seines Geschlechts zurückging, um so ferner trat ihm, was er selbst, was er eben erst erlebt. Es ging in seinem Innern eine Wandlung vor, die er sich nicht zu erklären wußte. Er fand sich plötzlich jener Vergangenheit auf das Festeste verknüpft und angehörend, und von ihr in die Zukunft gewiesen. Ein Geschlecht, das auf seine Ahnenreihe zurücksehen konnte bis in das zwölfte Jahrhundert, durfte nicht untergehen, so lange ein Mann da war, es fortzupflanzen; das alte Schloß durfte nicht einsam, nicht verlassen dastehen und in keine fremden Hände fallen. Er hatte Augenblicke, in welchen er seinen Eltern zürnte, daß sie ihn von dieser Heimath fern gehalten, daß sie selbst nicht hier gelebt hatten, und der vielfach ausgesprochene Wunsch seiner Schwester, daß er heimkehren, sich beweiben und seinen Stamm nicht aussterben lassen solle, däuchte ihm jetzt so sehr berechtigt, daß er ihn in einzelnen Stunden auch zu dem seinen machte.
Aber er konnte für sich nicht an die Ehe denken, ohne daß die Frau ihm wieder einfiel, deren Bild er aus seinem Herzen zu reißen beschlossen hatte; mit dem Gedanken an Franziska, mit dem einen Namen klaffte die alte Wunde, klaffte der alte Zwiespalt in seinem Herzen wieder auf.
Graf Joseph hatte vorgehabt, am nächsten Tage seine Schwester aufzusuchen, aber es war noch früh am Morgen, als man ihm meldete, daß die Freifrau von Thuris nach dem Schlosse komme.
Der Graf trat an das Fenster, und der Anblick, welcher sich ihm darbot, überraschte ihn. Hinter einem vorreitenden Diener ritt die Freifrau, stolz und ruhig auf ihrem Sessel sitzend, auf einem starken Pferde den Fuß des Berges hinauf. Ihre Kammerfrau und noch zwei andere Diener folgten ihr ebenfalls zu Pferde.
Konradine von Thuris war sechszehn Jahre älter als ihr Bruder, und jetzt in der Mitte der vierziger Jahre noch eine Achtung gebietende Schönheit. Sie war groß und stark wie das ganze Rottenbuel’sche Geschlecht, dessen Züge sie vollständig trug. Die starke Nase und die dunkeln Augen, die frische Farbe der Bergbewohnerin und der feste feurige Blick nahmen sich seltsam aus gegen ihr früh ergrautes, fast weißes Haar, das unter der schwarzen Schneppe der Wittwenhaube, über welcher sie den schwarzen breitkrämpigen Reithut aufgesetzt hatte, nach der Mode der Zeit in langen Locken zu beiden Seiten ihres Kopfes herabfiel.
Der Graf eilte hinunter, die Schwester, die ihm fast eine Fremde war, zu empfangen, und Freude und Rührung in den ernsten Zügen, stieg sie an seiner Seite den letzten Theil des Berges und die Treppe des Schlosses hinauf. Als sie mit ihm in den großen Saal des oberen Stockwerks eintrat, blieb sie unwillkürlich stehen, schaute umher und blickte den Bruder an, als wolle sie den Bildern ihrer Ahnen sagen, daß der Erbe und Herr des Hauses da sei.
Dann, als der Diener, welcher ihnen vorangegangen war und ihnen die Thüren geöffnet, sich entfernt hatte, trat sie dem Bruder gegenüber, dessen volle Größe sie hatte, nahm seine Hände in die ihren und sagte mit fester Stimme, während sie ihm, wie Mann dem Manne, die Hände schüttelte: „Willkommen, mein Bruder, willkommen in Deiner Heimath! Ich bin früh ausgeritten, um, wie es sich gebührt, das Oberhaupt meines väterlichen Stammes in seinem Schlosse begrüßen zu kommen. Es hat lange genug leer gestanden, dieses gute Haus, denn Du hattest es fast vergessen, daß die Grafen von Rottenbuel hieher gehören. Laß mich denn gleich in der Stunde des Wiedersehens die Hoffnung aussprechen, daß es Dir gefallen möge, bei uns zu bleiben, auf Deinem Grund und Boden, und als ein guter Bündner und Nachbar unter uns leben.“
Wer sich selbst beherrscht und, wie er sich zu gebieten versteht, auch seiner Umgebung zu gebieten gelernt hat, dessen Ausdruck gewinnt allmählich einen Ton, welcher auf Andere unwillkürlich bestimmend einwirkt, und als die schöne, stolze, hochaufgerichtete Frau jetzt mit ihrem ernsten Worte vor dem Bruder dastand, schloß sich [64] ihre Erscheinung so ebenbürtig an die Reihen ihrer weiblichen Ahnen an, daß er sich davon ergriffen fühlte. Sie erschien ihm wie die Verkörperung seines Familiengeistes, und eingenommen von dem Zauber, welchen die ganze Umgebung auf ihn ausübte, fühlte er neben der Neigung, welche sich bei dem Aublick der Schwester für dieselbe in seinem Innern regte, eine scheue Ehrfurcht vor ihr, gegen welche sich ein Etwas in ihm sträubte, so sehr er wünschte, ihr wohlzugefallen und ihr lieb zu werden.
Man blieb die ersten Stunden ungestört beisammen, denn man hatte sich einander anzueignen. Graf Joseph wußte nur wenig von den Tagen, in welchen Conradine das einzige Kind der Eltern, und der Stamm der Grafen von Rottenbuel seinem Erlöschen nahe gewesen war. Sie erzählte ihm von der Freude, mit welcher der Vater die Geburt seines Sohnes begrüßt, von dem holden Lächeln, mit welchem der Blick der Mutter an ihm gehangen, und von der Rührung, mit welcher sie selbst ihn über die Taufe gehalten hatte. Von ihrem Leben redete sie zu ihm, das hieß für sie, von dem Gatten, welchen sie verloren, und von dem Sohne, den sie in seinem Andenken erzogen hatte. Sie rühmte es mit freudiger Erhebung, daß kein Thuris jemals einem fremden Herrn gedient, und lobte es, daß auch ihr Ulrich dem Zureden widerstanden, in Paris in die Schweizerregimenter einzutreten; „denn,“ sagte sie, „es ist das Einzige, was ich unserm Vater nicht vergeben kann, daß er Dienste nahm. Und auch von Dir, mein Bruder, war es nicht wohlgethan: Man soll nicht dienen, wenn man frei sein kann!“
„Schau um Dich!“ rief sie aus, indem sie ihres Bruders Hand ergriff und mit ihm in das Freie hinaustrat. „Soweit Dein Auge dieses Thal umfaßt, giebt’s keinen Herrn außer Dir. Droben in dem Dorfe, dessen schlanker Kirchthurm jetzt so hell im Sonnenlichte wiederleuchtet, betet der Pfarrer, den Du eingesetzt, in der Kirche Sonntags für Dein Wohl. Drüben in der Mühle, deren Räder das weiße Wasser der Albula in raschen Schwingungen dreht, arbeitet der Müller für Dich; auf den Matten und Triften, welche hinaufsteigen bis an die Regionen, in denen das Leben nicht mehr gedeiht, wohnen in zahlreichen Dörfern Deine Leute, weilen in noch zahlreichern Scharmen die Sennen, welche Deine Heerden bewachen. Unten tief im Thale liegt der Niederstein, die Burg, welche Graf Emanuel dem Geschlecht erbaut; hoch über dem Arvenwald zu Deiner Rechten hebt sich Schloß Felseck hervor, in dessen Mauern die flügelschnellen Falken nisten, über dessen Thürmen der helläugige Adler seine mächtigen Kreise zieht. Das Alles ist Dein! Dein ist dies Herrenhaus, Dein ist ein Name, dem sich an Alter und Adel nur wenige vergleichen können, die auf Europas Thronen sitzen; Dein ist die ganze lange Reihe des Geschlechtes, das in diesem Augenblicke auf Dich und Deine Heimkehr niederschaut, das seine Fortdauer von Dir verlangt, das Dir gebieterisch zuruft: Du darfst nicht der Letzte, Du sollst nicht der Letzte sein!“
Sie hielt inne, der Ton der Begeisterung, der Beschwörung, in welchem sie unwillkürlich gesprochen, hatte auf sie selbst zurückgewirkt, die Augen glänzten ihr feucht, sie mußte sich sammeln, und schweigend umherblickend lehnte sie endlich ihren Arm auf ihres Bruders Schulter und sagte mit mütterlich vorwurfsvollem Tone: „Und Du konntest so lange fern von Deinem Vaterlande bleiben, konntest vergessen, daß hier Dein Name eine Macht ist, der den Bund verstärken hilft? Du konntest vergessen, daß Du hier Pflichten gegen das Volk zu erfüllen hast, welches gewohnt ist, von Deinem Stamme zusammengehalten und geleitet, von Deinem Stamme geführt zu werden, wenn der Feind uns naht? Mögen diejenigen in’s Ausland gehen, die Haß gesäet in unserm Volke und Fluch geerntet. Den Grafen von Rottenbuel blüht hier Liebe, wohnt hier Verehrung und Treue. Wie konntest Du anstehen, sie zu pflegen und zu nähren, wie konntest Du, da ich Dich mahnend rief, solange in Paris in Dienstbarkeit verweilen?“
Der Graf war bis in das tiefste Herz ergriffen. Die einfache und aus starker Ueberzeugung erwachsende Ausdrucksweise seiner Schwester erhöhte den Eindruck, welchen ihr erster Anblick auf ihn hervorgebracht. Ihre Worte prägten sich ihm ein, setzten sich in ihm fort und klangen weiter wirkend nach. Er fühlte sich schuldig und doch hoch hinausgehoben über sich selbst, er war sich wie entfremdet und es dünkte ihn doch, als werde er jetzt erst sich selber zurückgegeben; und von dem Vertrauen zu der Schwester hingerissen, von seinen widersprechenden Empfindungen bedrängt, sagte er seufzend, als müsse er sich selber rechtfertigen: „Du weißt nicht, Schwester, was mich hielt!“
Er hatte sich bei den Worten von ihr abgewendet und die Hand über seine Augen gedeckt. Sie trat an ihn heran, erfaßte diese Hand und sagte leise und fest: „Ich weiß es!“
Ihre Blicke begegneten sich, und sich auflehnend gegen die Macht, welche seine Schwester über ihn gewann, versetzte er kurz und mit kaltem Tone: „Ich kam nicht hierher, ein Weib zu suchen; ich kam, um zu vergessen, daß ich vor wenig Tagen einer Frau, die mich verrathen, ein Menschenleben hingeopfert!“
Die Augenbrauen der Freifrau zogen sich kaum sichtbar zusammen, ihre Stimme aber und ihre Mienen blieben unverändert.
„Du wirst’s vergessen!“ erwiderte sie ruhig.
„Und was dann?“ fragte er, indem er sein Haupt erhob.
Sie antwortete ihm nicht, und er wiederholte die Worte: „Und was dann?“
„Dann wirst Du sehen, mein Bruder,“ sagte sie in mildem Tone, „wie gering das kurze, vergängliche Menschenleben uns erscheint, wenn wir die Natur mit ihren nach Jahrhunderten zählenden Wandlungen uns gegenüber haben; dann wirst Du sehen, mein Bruder, wie der Einzelne, sich seiner Vergänglichkeit bewußt, das Verlangen trägt, fortzuleben in der Kette und in der Reihenfolge eines Geschlechts, das vor ihm war und nach ihm sein wird, und in der Erinnerung eines Volksstammes, der seine Segnungen an den Namen dieses Geschlechtes knüpft.“
Kleiner Briefkasten.
An Fr. F. C. H. Ueber Ursprung und Bedeutung des Beinamens Plon-plon für den „Cousin“ des zweiten Kaiserreichs unter Napoleon dem Dritten sind die Gelehrten und Zeitungsschreiber noch nicht ganz einig. Sicher ist nur, daß diese Bezeichnung für den Sohn Jerôme’s aus dem Krimkriege mit in das Abendland gebracht wurde. Den Wortlaut eines sogenannten Spitznamens fügt der Volkswitz oft so wunderlich zusammen, daß Glück dazu gehört, einen etymologischen Halt für einen solchen zu gewinnen. Diejenigen, welche ihn der französischen Zunge vindiciren, wollen in ihm entweder eine Abkürzung des Namens Napoleon in der Kindersprache erkennen, oder sie schreiben das Wort plomb-plomb und deuten damit auf die Gefährlichkeit derjenigen Bleikugeln hin, welche im Krimkriege eine höchst armeewidrige Diarrhöe verursachten. Weniger rücksichtslos erscheint es, wenn der Franzose sich für seinen Nasenlaut das englische plump-plump zurecht gerichtet hätte, das offenbar den Söhnen Albions entfahren konnte, wenn sie in der Prinzlichen Generalsuniform die dicke Fleischmasse (plump – fleischig, dick, aufgeblasen) vor sich sahen, deren Besitzer jetzt zugleich Inhaber des Namens Plon-plon ist. Am wahrscheinlichsten erscheint die Herleitung dieser Wortbildung aus der Kindersprache, der das Lon-lon für Napoleon nahe liegt, das dann in Plon-plon ausgebildet und zu Gunsten der Lauteinheit seine vorzügliche Nebenbedeutung hinsichtlich der Bleischeu erhielt. – Dagegen ist der Plonplonismus eine politische Macht geworden, indem derselbe das Nationalitätengeschäft begreift, welches die Napoleoniden etablirt haben und mit welchem sie den großen Plonplonismus wird in Europa schlafen gehen, sobald die Völker erwacht sind und ihren sogenannten Befreiern in die Augen und auf die Finger zu sehen vermögen.
Ro. in Aa. Wir haben nur nach den vorliegenden Thatsachen eine an uns gerichtete Anfrage beantwortet – sind Sie selbst so gut unterrichtet, so hätten Sie sich die Anfrage und uns die Mühe der Antwort sparen können. Interessante Artikel aus den La Plata-Staaten können uns nur willkommen sein, sobald dieselben frisch und prägnant gehalten sind, doch ist der Raum der Gartenlaube nicht dafür da, um für irgend eine Weltgegend als Paradies für Auswanderer Propaganda zu machen. Senden Sie Ihre Artikel, und wir werden Ihnen mittheilen können, ob sich dieselben für uns eignen oder nicht. Aufgenommene Arbeiten werden stets anständig honorirt.
Herrn Rittergutsbesitzer v. Schütz in Z. Wir hatten Ihnen auf Ihr Schreiben vom 2. Jannar direct geantwortet, erhielten aber unsern Brief Mangels der nähern Adresse zurück. Wir bitten um Angabe der letztern, um Ihnen die gewünschten Mittheilungen zugehen lassen zu können.
W – s in M – g. Nein. Das Manuscript, welches wir bereits an Sie zurückschickten, als unbestellbar aber wiedererhalten haben, steht gegen Portoersatz zu Ihrer Verfügung.
- ↑ Die Donationsurkunde existirt noch heut zu Tage.
- ↑ General von Willisen schrieb dem dänischen General vor der Schlacht bei Idstedt: „Ich habe Ihnen den Vortheil der Stellung eingeräumt, um Sie von meinen friedlichen Absichten zu überzeugen.“ (!!!)
- ↑ Wir weisen in dieser Hinsicht aus die Zahlenangaben in dem Artikel über die Anlegung von Rettungsstationen an den deutschen Seeküsten, Gartenl. Nr. 51, Jahrg. 1861, hin.
- ↑ Das Gutachten der Akademie, sowie mehrere andere, namentlich vom Wiener Ingenieurvereine, über die vorliegende Erfindung, sammt Bauer’s englischem Patente können denjenigen, welche für die Sache wirken wollen, in Redaction der Gartenl. vorgelegt oder sollen später, im Fall es für zweckmäßig erachtet wird, durch den Druck veröffentlicht werden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Aeu-/sere