Die Gartenlaube (1862)/Heft 2
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No. 2. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Der Letzte seines Stammes.
Es war im Sommer des Jahres 1787 und die Sonne hatte sich noch nicht aus dem Frühnebel eines heißen Julitages emporgerungen, als zwei Reiter in einem der entlegensten Theile des Bois de Boulogne Halt machten.
„Es ist noch Niemand hier!“ sagte Deutsch sprechend der Jüngere von ihnen, indem er vom Pferde stieg und dieses dem Reitknecht übergab, welcher ihnen auf dem Fuße gefolgt war.
„Um so besser,“ entgegnete der andere Herr, „so hat man Zeit sich abzukühlen, und die Hand wird ruhig.“ Er knöpfte dabei den Reitrock von dunkelm Tuche auf, den er über der rothen Uniform der königlichen Schweizergarden trug, nahm den kleinen dreieckigen Hut vom Kopfe und trocknete sich mit dem seinen, von Spitzen geränderten Taschentuche leicht die Stirne. Dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen und fing an, langsam einen kleinen Raum in regelmäßigen Wendungen auf und nieder zu schreiten, als wenn ihn keine Sorge drückte und keine Gefahr ihm drohte.
Er war ein großer, breitbrustiger und auffallend schöner Mann von gerade dreißig Jahren; weil er aber schlank war und leichte Bewegungen hatte, sah er noch jünger aus. Sein schwarzes Haar, welches in natürlichen Locken seine Schläfen umgab, und die großen, dunkelblauen Augen machten ihn sehr anziehend. Seine äußerst sorgfältige Kleidung verrieth, daß er sich seiner Vorzüge wohl bewußt war und ihnen durch keine Vernachlässigung Abbruch thun mochte. Seine Uniform zeigte, wie gut er gewachsen sei, und sein Jabot und seine Manschetten machten durch die Sorgfalt, welche offenbar auf dieselben verwendet worden war, seinem Geschmacke Ehre.
„Ich habe Noth gehabt, gestern in den wenigen Stunden noch meinen Urlaub zu erhalten!“ sagte er nach einer Weile. „Man schien Etwas zu vermuthen, man meinte, es wären eben jetzt schon so Viele beurlaubt, ich solle warten.“
„Und wie erlangten Sie ihn endlich?“ fragte der Jüngere.
„Ich sagte die einfache Wahrheit, die aber für mich freilich keine Wahrheit in sich schloß. Ich gab Familienangelegenheiten vor und sprach von der Heirath, zu welcher Deine Mutter mich zu überreden wünscht. Das zerstreute die Muthmaßungen und Zweifel in doppeltem Betrachte, und der Urlaub ward mir dann sogar, wie ich es wünschte, auf unbestimmte Zeit bewilligt.“
Inzwischen hatte er seinen Degen losgemacht und ihn seinem Gefährten übergeben. Dieser zog ihn aus der Scheide, prüfte seine Schärfe, stemmte die Spitze gegen den Boden und freute sich der Biegsamkeit der feinen, unterhalb des Griffes reich mit Gold ausgelegten Klinge.
Trotzdem war eine gewisse Unruhe an ihm zu erkennen. Er sah öfters auf den Weg zurück, von welchem sie gekommen waren, blickte darauf in das stolze Antlitz seines Gefährten und die Allee hinabschauend, an deren Ende ein Wagen sichtbar wurde, sagte er: „Ich wollte, Onkel, Sie hätten auch für einen Wagen und für einen Arzt gesorgt!“
Der Angeredete lächelte, und seinem jungen Gefährten auf die Schulter klopfend, entgegnete er: „Sei unbesorgt, Ulrich! wenn ich des Wagens oder des Doctors bedürfen sollte, wird der Chevalier sich ohne Frage ein besonderes Vergnügen daraus machen, mir den seinigen zu überlassen.“ Er zog dabei die Uhr heraus und bemerkte mit einem Anfluge von Spott: „Er hat’s nicht eilig, wie Du siehst!“
Während dessen war der Wagen aber näher gekommen, und man konnte dem jüngern der beiden Männer ansehen, daß er mit sich kämpfte, daß er eine Frage thun wollte und sie unterdrückte. Endlich sagte er: „Haben Sie mir Etwas aufzutragen? Habe ich Etwas zu besorgen, Onkel?“
Der Andere lächelte. „Man ruft dem Jäger, wenn er auf die Jagd geht, dem Bergmann, wenn er in den Schacht fährt, ein Glück auf! zu, und Du krächzest Unglücksahnungen, wie ein Rabe! Das ist nicht Manier, mein Junge!“ Und mit einem Ausdruck von selbstgefälligem Stolze, der ihm aber ganz vortrefflich anstand, sagte er: „Als ich Dir die Ehre anthat, Dich in dem Duell zwischen mir, dem Grafen Joseph von Rottenbuel, und dem Chevalier von Lagnac zu meinem Secundanten zu machen, dachte ich, daß es an der Zeit sei, Dir durch diese meine Wahl einen bemerkenswerthen Eintritt in die große Welt zu sichern. Auf Deine Rührung war es dabei nicht abgesehen, mein lieber Freund!“
Der junge Mann wurde roth, seine hellen Augen glänzten, man hätte nicht sagen können, ob vor Wehmuth oder vor Zorn. „Sie wissen es, mein Onkel,“ sprach er im Tone der Erklärung, „wie sehr meine Mutter Sie liebt! wie sehr –“
„Ich weiß,“ fiel Graf Joseph ihm in die Rede, „ich weiß! Und ich denke sie ja auch wieder zu sehen, vielleicht in wenigen Tagen sie wieder zu sehen!“ fügte er begütigend hinzu. „Im Uebrigen sei ohne Sorge! Das Fleuret eines Chevalier von Lagnac tödtet keinen Mann wie mich! Er hatte eine Lection nöthig, die soll er bekommen und damit basta!“
Der Graf hatte diese letzten Worte noch nicht vollendet, als der Wagen des Chevalier auf dem Platze hielt. Der Diener öffnete den Schlag, und dem aussteigenden Arzt und Secundanten folgte der Chevalier. Er konnte etwa zweiundzwanzig Jahre zählen, [18] und auch er sah auf den ersten Blick noch jünger aus, denn er war klein, von feinem Gliederbau, und die kecken, schwarzen Augen und das kleine Schnurrbärtchen auf der Oberlippe ließen seine helle und frische Gesichtsfarbe fast weiblich erscheinen. Trotz des warmen Wetters hatte er einen weiten weißen Tuchmantel übergeworfen, und die weißen Casimirbeinkleider, die weißseidenen Strümpfe und der braunrothe, mit Schnurenwerk reich besetzte Rock, den er über der weißen Weste trug, stachen in ihrer Hellfarbigkeit und Leichtigkeit gegen den dunkeln Reitrock des Grafen ebenso wie das Aeußere der beiden Gegner von einander ab.
Man begrüßte sich in aller Form, die männliche Haltung des Grafen, die leichte Grazie des Chevaliers verleugneten sich dabei nicht, und nachdem die üblichen Verständigungsversuche von den beiden Secundanten gemacht, von den beiden Kämpfern zurückgewiesen, das Terrain gewählt, die Waffen ausgeglichen, Licht und Sonne Beiden gleich zugemessen worden waren, legten der Graf und der Chevalier die Röcke ab, und das Duell begann.
Es war ein Vergnügen, diese Männer einander gegenüber zu sehen, zu sehen, mit welch ruhigem Lächeln der Graf sich auslegte, mit welch strahlender Heiterkeit der Chevalier ihm entgegentrat. Wie spielend that der Graf die ersten Stöße, aber die sichere Gewandtheit, mit welcher der Chevalier sie parirte und erwiderte, belehrte den Grafen bald, daß er keinen ihm unangemessenen Gegner vor sich habe, und daß die kleine zarte Hand des jungen Mannes eben so sicher die Klinge zu führen wußte, als sie geschickt eine Schleife zu entwenden, einer Dame ein Billet zuzustecken und eine Rose zu überreichen verstand.
Schon nach wenig Augenblicken hatte der Kampf eine andere Gestalt gewonnen. Graf Joseph warf sich fester in seine Stellung zurück, sein Gesicht war ernsthafter geworden, und je unverkennbarer die helle Zuversicht in dem schönen Antlitz seines Gegners hervortrat, je schneller Stoß auf Stoß einander folgten, je mehr verdüsterten sich des Grafen Züge. Die Lection, auf die er es für den Chevalier abgesehen hatte, war nicht so leicht zu geben, als Jener erwartet. Aus der Rolle eines spielenden Angreifers sah er sich, da er anfangs offenbar seinen jugendlichen Gegner zu schonen gedacht, in die Lage eines Angegriffenen versetzt, und plötzlich von seiner Lebhaftigkeit übermannt, that er einen Stoß, der bestimmt war, den Arm des Chevalier zu treffen und ihn kampfunfähig zu machen; indeß eine zu heftige Wendung desselben machte es seinem Secundanten unmöglich, ihn in der rechten Weise zu decken, der Degen entfiel der Hand des Fechtenden, und krampfhaft nach der Brust greifend, sank der junge Mann lautlos zu Boden.
Eine halbe Stunde später fuhr der Wagen des Chevalier langsamen Schrittes über die weichen Sandwege des Boulogner Gehölzes dem Faubourg Saint-Germain zu, während die beiden Schweizer auf raschen Pferden die entgegengesetzte Straße einschlugen, um ihre Garnison in Versailles zu erreichen, wo der Hof sich aufhielt.
In dem Boudoir der Königin waren die Portièren herabgelassen, welche es von dem Nebenzimmer trennten. Zwei Hofdamen saßen in dem letzteren. Die Eine derselben hatte ein Billet in den Händen, das sie eben gelesen und dessen Inhalt auf beide Damen eine erschreckende Wirkung ausgeübt hatte. Sie sprachen leise mit einander, und ihre Unterhaltung mußte irgend einen Bezug auf ihre Herrin haben, denn sie blickten während derselben bisweilen unwillkürlich nach dem Cabinete, als ob von dorther irgend ein Aufschluß oder eine Entscheidung zu erwarten stände.
Es verging aber eine geraume Zeit, ohne daß ein Laut sich aus dem Cabinete hören ließ. Draußen in den langen Taxushecken, zwischen den geschorenen Bosquets von Buchsbaum und Erlen sangen die Vögel. Die Wasser rauschten an allen Ecken und Enden aus den Fontainen hernieder, die Sonne schien hell und warm durch die bis zum Boden herabgehenden Fenster herein und leuchtete bis auf die violetten Vorhänge des Boudoirs, deren goldene Quasten sich in ihrem Lichte prächtig von dem dunkeln Hintergrunde abhoben.
Die Stille fing offenbar an, auf die diensthabenden Damen ihren Einfluß auszuüben, denn sie verstummten allmählich, und die Eine und die Andere hatten sich müde in die hohen Lehnen der niedrigen Sessel zurückgelegt, als die Portière des Boudoirs plötzlich zurückgeschlagen wurde und die damals zweiunddreißigjährige Königin Marie Antoinette in der Thüre sichtbar wurde. Sie war noch im Morgenkleide, aber ihrer zugleich frischen und gebietenden Schönheit stand eine leichtere und zwanglose Kleidung so wohl an, daß die Königin sie vorzugsweise liebte. Ihr Gewand von weißem Mousselin war mit rosa Bändern à la Watteau aufgeschürzt, so daß man ihr Unterkleid von weißem Gros de Tours, die mit rosa Pompons aufgenommenen Falbalas desselben und die weißseidenen Absatzschuhe mit den großen blaßrothen Schleifen sehen konnte. Ein Kantentuch à la paysanne mit rosa Bändern durchzogen umgab ihren Nacken und ihren Busen, und ein ähnliches Spitzentuch mit rothen Rosen verziert, wie die Königin es auch in einem der letzten Schäferspiele in Trianon getragen, war über ihrer hohen, aber bereits durch die Mode gelockerten Frisur befestigt, so daß die Rosen gerade über ihrer Stirne zu liegen kamen und die langen, durchsichtig gepuderten Locken hinter den Ohren der Königin bis tief auf ihre Schulter hernieder fielen.
Die Damen erhoben sich bei ihrem Anblick, und im Zimmer umherschauend fragte die Königin: „Ist die Herzogin noch nicht hier? Ein Uhr ist vorüber.“
Da trat eine der Damen an einen Seitentisch heran, auf welchem sich auf silbernem Teller ein versiegeltes Billet befand, und indem sie es der Königin überreichte, berichtete sie, daß der Läufer der Herzogin vor einer halben Stunde dieses Schreiben überbracht habe.
„Und weshalb erhielt ich es nicht gleich?“ rief die Königin, indem sie das Billet in Empfang nahm.
„Majestät hatten den Befehl gegeben, Sie unter keiner Bedingung zu unterbrechen!“ entschuldigte die Hofdame.
Die Königin hatte währenddem das Blatt eröffnet. Es enthielt nur die wenigen Worte: „Von der Gnade Ihrer Königlichen Majestät, auf die zu bauen Ihre huldvolle Güte mich bereits gewöhnt hat, erbitte ich mir die Erlaubniß, mich eine halbe Stunde später bei Ihrer Majestät einfinden zu dürfen, da ein Unglücksfall in meiner Familie mich schwer getroffen hat und ich, nicht fassungslos vor den Augen meiner allergnädigsten Königin zu erscheinen wage.“
Die Königin war betroffen, sie liebte die Herzogin, und obschon Königin, war sie eine Frau und der Neugier nicht unzugänglich. Sie wendete sich daher an die ältere ihrer Damen und sagte: „Die Herzogin schreibt mir von einem Unglücksfall, welcher sich in ihrer Familie zugetragen und sie schwer getroffen habe. Wissen Sie, Marquise, was Ihrer Cousine begegnet ist?“
Die Hofdame verneinte es, indessen ein flüchtiger Wechsel ihrer Farbe strafte ihre Worte Lüge, und der Königin, früh gewöhnt, die Menschen zu beobachten, und scharfsinnig, wenn sie sich nicht absichtlich verblenden wollte, entging die Bewegung der stolzen Schönheit nicht. Ihr großes, hellblaues Auge fest auf sie heftend, wollte sie daher eben eine zweite Frage an Frau von Vieillemarin richten, als zu deren Glücke die Ankunft der Herzogin von Polignac gemeldet wurde und diese, nach erhaltener Erlaubniß, vor der Königin erschien.
Mit jener persönlichen Ungezwungenheit, welche auch bei Hochgeborenen das sicherste Zeichen ihres Selbstgefühls und ihrer Selbstherrlichkeit ist, ging Marie Antoinette der Herzogin entgegen, und ohne ihr Zeit zu dem ceremoniellen, vorschriftsmäßigen Eintritt zu lassen, sagte sie mit gütiger Lebhaftigkeit: „Sie haben mich mit Ihrem Brief erschreckt! was hat sich in Ihrem Hause Unglückliches ereignet, meine theuere Herzogin?“
Die Königin reichte dabei derselben ihre Hand, welche die Herzogin sich tief niederbeugend küßte, dann richtete diese sich auf, und weil sie wohl wußte, daß fürstliche Herrschaften selbst von liebsten Freunden Auseinandersetzungen ihrer Leiden nicht zu hören lieben, antwortete sie: „Mein Neffe, der Chevalier von Lagnac, ist diesen Morgen tödtlich im Duell verwundet.“
„O, hoffen Sie, er wird genesen!“ rief die Königin, welcher schon die traurige Miene ihrer Freundin peinlich und beschwerlich war.
„Der Ausspruch der Aerzte giebt dieser Hoffnung wenig Raum,“ wendete die Herzogin ein, welche Gründe hatte, die Unterhaltung nicht so kurz abbrechen zu lassen.
„Und wer war sein Gegner?“ forschte die Königin weiter, um nur zunächst von dem Verwundeten nicht mehr zu hören und des Beklagens ledig zu werden.
„Graf Joseph von Rottenbuel, Ew. Majestät!“
„Graf Rottenbuel?“ wiederholte die Königin, „der Major [19] Rottenbuel? Wie hängt das zusammen? Kennt man die Veranlassung des Zwistes?“
„Ich wenigstens kenne sie, Majestät!“ antwortete die Herzogin, indem ein flüchtiger, aber finsterer Blick an Frau von Vieillemarin vorüberstreifte.
„So lassen Sie mich hören,“ gebot die Königin, indem sie in ihr Cabinet zurücktrat und der Herzogin ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Dann wurden von innen die Flügelthüren des Cabinetes zugemacht, und die beiden Hofdamen blieben wieder allein in dem Empfangssaale zurück.
Am Abende war ein Gewitter aufgezogen und es regnete stark. Die Nacht brach früh herein, weil die Sonne hinter schweren Wolken versteckt war, und da man des üblen Wetters wegen die Lustpartie hatte aufgeben müssen, welche man am Hofe für diesen Tag festgesetzt, war ein Concert in den Gemächern der Königin angeordnet worden. Der Anfang desselben war nicht mehr fern, als ein Mann, tief in seinen Regenmantel eingehüllt, über einen der Seitenhöfe des Schlosses schritt und seinen Weg nach dem Flügel einschlug, den die dienstthuenden Hofdamen in Versailles bewohnten. Als er sich dem Portale näherte, rief die schweizer Schildwache ihn an. Er gab die Parole als Antwort, und die Schildwache schien ihn auch zu erkennen, sobald der Strahl der Laterne ihn beleuchtete. Sie präsentirte, als er vorüberging.
Auf den Gallerien und Gängen im Schlosse war es still und leer. Männer und Frauen waren in den Toilettenzimmern beschäftigt, die Kammerdiener und Kammerfrauen hatten alle Hände voll zu thun, die Lakaien besorgten die Ordnung und Beleuchtung in den Sälen. Der Mann im dunklen Mantel mußte aber bekannt im Schlosse sein, denn er gelangte, ohne darum fragen zu müssen, an ein Zimmer in dem letzten Pavillon, und nachdem er, die Hände zusammenlegend, leise den nächtlichen Schrei der Eule nachgeahmt hatte, öffnete sich eine Thüre zur Linken, in welcher er verschwand.
Das Zimmer, in welches er eintrat, war fast dunkel. Die Läden waren gegen den Garten hin geschlossen, in der Ecke auf einem dreifüßigen Marmortische brannten die Kerzen auf einem Armleuchter. Sie gaben eben nur Licht genug, die prächtige Einrichtung des großen Raumes zu gewahren, aber der Cavalier beachtete sie nicht, er schien den Saal zu kennen, und er kannte auch die Dame, welche ihn dort erwartete, und deren reiches Hofcostüm einen sonderbaren Gegensatz zu der Dunkelheit und der Einsamkeit des Saales bildete. Ihre Haltung verrieth ihre Unruhe und ihre Aufregung; die Gelassenheit des Mannes, der ihr gegenüber stand, war anscheinend um so größer.
„Sie haben mich gerufen, Frau Marquise,“ sagte er, „und noch einmal bin ich Ihrer Einladung gefolgt, obschon ich nach der Weise, in welcher Sie gestern meine Fragen, meine bittenden Vorstellungen aufgenommen, kaum noch darauf gerechnet hatte, der Gunst einer solchen Einladung theilhaftig zu werden. Darf ich Sie fragen, welchem Ereigniß oder welcher glücklichen Stimmung ich den Vorzug verdanke, Sie, und eben hier an diesem Orte wieder zu sehen? –“ Er sprach diese Worte mit der Gemessenheit eines Menschen aus, der sie vorher überlegt und sich überhaupt die Rolle vorgezeichnet hat, welche er aufrecht zu halten gedenkt; indeß ein Ton von Gereiztheit und von Erregung drang wider seiner Willen daraus hervor. Die Dame empfand das, aber sie wollte es nicht bemerken.
„Ich würde die Freiheit, die ich mir genommen,“ versetzte sie, „allerdings zu entschuldigen haben, Herr Graf, hätte ich Sie nicht sprechen müssen, um Ihnen zu sagen, was ich Ihnen zu schreiben nicht für sicher hielt. Der Zustand des Chevalier von Lagnac ist hoffnungslos. Ich weiß, daß Sie beurlaubt sind. Säumen Sie nicht, Herr Graf, Ihren Urlaub zu benutzen. Der König, Sie wissen es, ist dem Duell entgegen, seit der Graf von Artois selbst in dem Zweikampf mit dem Herzog von Bourbon sein Leben exponirte, und der Graf von Artois ist in Verzweiflung darüber, daß er Lagnac, daß er seinen Günstling und Genossen verlieren soll. Die Herzogin aber schürt das Feuer des königlichen Zornes. Es handelt sich um Ihre Freiheit, um Ihre Zukunft, Graf! Man spricht davon, ein Beispiel zu statuiren, eine lettre de cachet –“ Der Graf lachte spöttisch. „Sparen Sie die Mühe, Marquise,“ sagte er, „mir zu beweisen, wie sehr Sie mich zu entfernen wünschen.“
Die scharfgezeichneten Augenbrauen der Marquise zuckten leise zusammen, ihre Lippen öffneten sich, aber sie unterdrückte ihre Bewegung, unterdrückte auch die Antwort, welche sie zu geben beabsichtigt hatte, und sagte mit wiedergewonnener Fassung: „Es steht bei Ihnen, Graf Rottenbuel, es zu verkennen, daß ich gut zu machen, vergessen zu machen wünschte, was ich gegen Sie verschuldet.“
Und wieder unterbrach sie der Graf. „Gut machen? vergessen machen?“ rief er. „Kannst Du es mich vergessen machen, Franziska, daß ich in Dir einst die höchste Liebe meines Herzens niedergelegt und daß Du sie verrathen hast? Kannst Du sie mich vergessen machen, Franziska, die Stunde, in welcher Du hier, eben hier in diesem Pavillon, mir Treue geschworen, mir Deine Hand, Dich selbst für immer angelobt, wenn ich die Zustimmung Deiner Eltern für unsere Verbindung zu erlangen wüßte? Denkst Du des Abends, es sind fünf Jahre her, als Du, das kaum dem Vaterhause entnommene Mädchen, mir hier die Art und Weise Deines Vaters und Deiner Mutter schildertest, als Du mir die Anweisung gabst, wie ich es zu machen hätte, Deine Eltern umzustimmen, die sich große Vortheile für sich und Deine Brüder von Deiner eben angetretenen Stellung neben der Königin erwarteten? Erinnerst Du Dich“ – er vollendete den Satz nicht, und mit ganz verändertem Tone fügte er hinzu: „Ich ging in die Touraine, ich sah Deine Eltern, ich erlangte ihre Zustimmung; und als ich wiederkehrte, als ich das Herz voll Hoffnung vor Dir erschien, als ich es mir vorstellte, welches Glückes wir fern von hier in meiner Heimath genießen würden, da – hatte die Herzogin Dich unter ihren ganz besondern Schutz genommen. Die Nachricht von Deiner beabsichtigten Verlobung mit ihrem Vetter war die erste Kunde, die ich hier empfing, Deine Zustimmung zu derselben die Freude, die Du mir zum Willkomm zugedacht!“
Der Marquise kam diese Scene ungelegen, aber ihre Gefallsucht konnte es nicht ertragen, selbst den einst verschmähten und seitdem von ihr in koketter Selbstsucht neben sich festgehaltenen Mann in Zorn und Unmuth von sich scheiden zu sehen. Sie war nur der Huldigungen, nicht der Vorwürfe von ihm gewohnt, und doppelt in ihrer Eitelkeit verletzt, rief sie, schnell mit sich darüber einig, wie sie sich diesem Manne gegenüber zu verhalten hätte: „Nun ja! sei es darum, ich fehlte. Ich fehlte gegen Sie, ich brach mein Wort – aber muß ich Ihnen denn noch heute, nach fünf Jahren voll heimlich getragenen Unglücks, es wiederholen – ich wußte nicht, was ich damit that, ich ahnte es nicht, daß ich damit aller Hoffnung, allem Glücke meines Lebens ein für allemal den Stab brach?“
Ihre Stimme sagte noch mehr als ihre Worte, und vor dem vollen, schmelzenden Blicke ihres Auges, den sie fest auf den Grafen richtete, verstummte er. Mehr hatte sie für den Augenblick gar nicht gewollt, und schnell und schneller sprechend, je weiter sie in ihrer Erklärung fortschritt, sagte sie: „Ich hoffe, Sie endlich von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen; um Ihretwillen, Graf, hoffe ich, Sie werden mir vertrauen. Sie müssen Paris verlassen, ehe es zu spät wird, aber grade darum sollen Sie auch hören, mich noch einmal hören, ehe wir für immer scheiden.“ Sie machte eine Pause und setzte sich nieder. „Es ist wahr,“ sagte sie dann, „ich habe Sie geliebt, ich habe Ihnen Treue geschworen und ich habe diese Treue verrathen. Ehrgeiz und Eitelkeit rissen mich hin; aber ich war siebenzehn Jahr alt, ich hatte noch nicht den Muth, mir ein Leben, eine Zukunft für mich selbst zuzuerkennen. Ich wurde die Gattin des Marquis, die Cousine der Herzogin. Man beneidete mein Loos, man lobte meine Fügsamkeit, die erhöhte Liebe meiner verehrten Eltern, die größte Zärtlichkeit meiner Brüder lohnte mir das Opfer, das ich gebracht hatte, und ich war zufrieden. Ich glaubte damals, man könne die Liebe vergessen; es schmeichelte mir, einen der großen Namen Frankreichs zu tragen und die nahe Verwandte der allmächtigen Herzogin zu werden. Da traten Sie auf’s Neue an mich heran, und Ihr Schmerz machte mir klar, was ich verloren hatte, er erweckte mein eigenes Herz. Aber es war zu spät. Unter Ihren und meinen Thränen schwur ich, Ihnen –“
„Franziska, nur daran erinnere mich nicht!“ rief Graf Joseph, „sprich es nicht aus, daß du mir angelobt, mein Ideal zu bleiben, da Du mein Weib nicht werden konntest! denn auch dies, auch dies Versprechen hast Du schlecht gehalten!“ – Sie schwiegen Beide, dann sagte der Graf: „Die [20] Tage der Jugend, der Täuschungen liegen hinter mir. Ich bin nicht mehr der glückliche Jüngling, der einst zu dem Weibe wie zu einer Gottheit empor schaute, ich habe das Weib kennen gelernt in seiner Schwäche – aber ich vermag mich dessen nicht zu freuen. Dich zu sehen, Dir zu folgen, stürzte ich mich in den Kreis des Hofes, für dessen Glanz und Schimmer Du mich aufgeopfert. Ich sah, wie Du verarmten Herzens nach Zerstreuung suchtest, ich sah, wie Du, hineingezogen in den Ehrgeiz Deiner neuen Familie, Dir selbst nur noch ein Mittel zur Erreichung Deiner Zwecke warst – und doch wollte ich mich darüber täuschen, doch wollte ich Anderm verbergen, was ich mir selber nicht verhehlen konnte, daß Du der Liebe nicht mehr werth warst, die ich für Dich in meinem Herzen nicht ertödten konnte.“ Er hielt abermals inne, und abermals entstand eine Pause. Die Marquise hatte sich in zorniger Bewegung erhoben und sich wieder niedergesetzt, als wolle sie sich zur Geduld zwingen, indeß ihr Auge fing an, sich spähend auf die Thüre zu richten, durch welche der Graf gekommen, und die leise, aber schnelle Bewegung, mit welcher sie den geschlossenen Fächer öffnete und wieder zusammenfaltete, zeigte, wie wenig ihre Gedanken bei der Unterredung waren, wie antheillos ihr Herz sich dabei verhielt, und wie ungeduldig sie den Schluß derselben ersehnte.
„Wir müssen ein Ende finden, Graf!“ sagte sie plötzlich, indem sie wieder aufstand, „und Sie sollen deutlich in meiner Seele lesen. Sie selbst haben es ausgesprochen, ich bin nicht glücklich. Sie haben auch darin Recht! Die Zerstreuung, nach der ich hasche, die Galanterie, in die ich mich verstricke, sie befriedigen mich nicht, sie erfüllen den Zweck nicht, mich vergessen zu machen, daß ich mein wahres, mein einziges Glück mit dem hochfahrenden Leichtsinn der Jugend, mit der schwachen Abhängigkeit des unerfahrenen Mädchens unwiederbringlich verscherzt habe. Wenn dies Gefühl mich bisweilen überwältigte, wenn ich Ihnen zu Zeiten nicht genug verbarg, wie ich noch immer an Sie gefesselt war: wollen Sie, eben Sie mich dafür tadeln? Und wenn die Scheu, dies Geheimniß dem Auge meines Gatten, dem Auge der Welt verrathen zu sehen, mich dazu antrieb, mich irgend einer Bewerbung, einer Galanterie geneigt zu zeigen, von der meine Gedanken fern, wer weiß wie fern waren, wollen Sie mir daraus ein Verbrechen machen? Sollte ich es preisgeben, das stille, unselige Geheimniß meines Herzens? Und war es an Ihnen, mir den Trost Ihrer Nähe durch dies traurige Duell mit jenem Knaben zu entziehen, der keinen andern Werth in meinen Augen hatte, als den, meinem Gatten ein angenehmer Gesellschafter zu sein, ihm keinen Argwohn einzuflößen und mich mit der Herzogin in gutem Einvernehmen zu erhalten, während er unserm Hause und unseren Interessen zugleich die Gunst des Grafen von Artois sicherte, dessen erklärter Liebling er fast seit seiner Kindheit gewesen ist?“
Graf Joseph lächelte bitter. „So klar raisonniren, so geschickt combiniren zu können, muß man sehr freien Herzens sein!“ entgegnete er ihr.
„Muß man ein Sclave seiner Verhältnisse sein!“ gab sie ihm zur Antwort. „Sie kennen, Sie beurtheilen meine, unsere Lage nicht richtig, Graf! Sie sind unabhängig, sind ein freier Mann, Sie dienen dem Könige, weil Ihr Vater ihm diente, weil es Ihnen so gefällt; aber Ihre Zukunft liegt nicht ausschließlich in der Hand des Königes. Jenseits der Alpen ist Ihnen eine Heimath, ist Ihnen ein freier, reicher Besitz unverlierbar gewiß. Ich hingegen bin hier festgebannt, ich und die Meinen sind an den Hof, sind an den guten Willen der Herzogin gekettet, sind einzig auf die königliche Gnade angewiesen, denn der unerläßliche Aufwand unseres Standes und die prachtliebenden Neigungen meines Gatten haben mein Erbe schnell verschlungen, und ich stehe nicht allein. Ich habe Kinder. Jung wie diese Kinder jetzt noch sind, werden sie doch einst eine Zukunft, eine Stellung von mir fordern. Die Herzogin kann ihnen dieselbe leicht ermitteln, wird sie ihnen schaffen; aber sie ist stolz auf ihren Namen, stolz auf die Ehre der Frauen in ihrer Familie. Scharfsichtig ahnt sie, daß unter allen Männern dieses Hofes Sie der Einzige sind, dessen Nähe meinen Frieden stört, dessen Nähe mir gefährlich ist. Wie sehr ich mich bemühte, diesem Argwohn zu begegnen, es gelang mir niemals, ihn völlig zu zerstreuen – und Ihr Duell an diesem Morgen hat mit einem Schlage vernichtet, was jahrelange Zurückhaltung und Vorsicht mir gewonnen.“
Sie näherte sich dem Grafen, legte ihre Hand leise auf seine Schulter und sagte, indem sie ernst und bittend in sein Auge blickte: „Ich habe Sie und mich um Glück betrogen; müssen Sie mich deshalb ganz verderben? Soll zu dem Schweren, das mein eigenes Verschulden mir auferlegt, mich noch die Angst um Sie belasten? Ich muß es Ihnen wiederholen, der Graf von Artois ist auf das Aeußerste erzürnt über die Verwundung seines Günstlings; die Herzogin, welche diesen Neffen, den einzigen Sohn ihrer früh verstorbenen Schwester, mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit liebt und die weitgehendsten Pläne für ihn und seine Zukunft geschmiedet hat, besitzt das Ohr des Königs durch die Königin. Schon heute früh erfuhr die Königin durch sie, was sich ereignet, und als die Herzogin dann die Majestät verließ, als ich vor dieser zu erscheinen hatte, da fühlte ich, daß die Königin Alles wußte, daß die Herzogin meinen Namen genannt. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen nicht mehr sicher, ich empfand es, daß der Sturm, der sich gegen Sie, mein Freund, erhebt, nicht Sie allein vernichten wird, wenn Sie sich nicht entfernen.“
Der Graf hatte ihr schweigend zugehört, und ihre Worte verfehlten die beabsichtigte Wirkung nicht. Von den wechselndsten Empfindungen umhergeworfen, von der Schönheit des immer noch geliebten Weibes wie von ihren Geständnissen gerührt, so oft sie ihn auch schon getäuscht hatte, und vertraut genug mit den Verhältnissen des Hofes, um zu wissen, daß Franziska’s Schicksal sich wirklich in den Händen der Herzogin befand, fragte er sich überwindend endlich: „Was soll ich thun? was fordern Sie von mir, Franziska?“
Die Marquise athmete auf. Es war hohe Zeit! rief es in ihrem Innern, aber sie faßte sich, sie wurde ruhiger, nun sie sich ihrem Ziele nahe glaubte. „Fliehen Sie, Joseph, fliehen Sie noch diese Nacht!“ beschwor sie ihn im weichsten Tone ihrer melodischen Stimme. „Gönnen Sie Ihren Freunden Zeit, für Sie zu wirken. Der König schätzt Sie, der Graf von Artois ist nicht unversöhnlich. Bleiben Sie fort, bis der Zustand des Chevalier de Lagnac sich entscheidet, bis die Gefahr vorüber, bis er genesen ist; und er selbst – ich bürge Ihnen dafür – er selbst –“
Der Graf trat plötzlich zurück, und mit einer Kälte, welche schneidend gegen seine bisherige Stimmung contrastirte, sagte er: „O ja! der Chevalier von Lagnac wird, ich bin deß sicher, auf Ihre Bitte, meine gnädige Frau, mir vom Könige die Verzeihung für die Lection zu schaffen wissen, die er heut von mir erhalten hat. Dann aber, gnädige Frau, dann lehren Sie ihn auch die Ehre der Frauen, die sich ihm anvertrauen, besser zu bewahren, heiliger zu halten, als er es bisher gethan hat.“
Er verneigte sich und wendete sich der Thüre zu. Die Marquise fuhr bei seinen letzten Worten zusammen. Das Gefühl des nahen Triumphes, das auf ihrer stolzen Stirne geleuchtet, die Röthe der Aufregung, welche ihre Wangen bedeckt, wichen plötzlich von ihr. Sie verlor die Fassung. Sie wollte sprechen, das rechte Wort aber bot sich ihr nicht dar, und doch wollte sie ihn so nicht scheiden lassen. Schon that sie den Schritt, ihm zu folgen, ihn zu halten, schon öffneten sich ihre Lippen, ihn noch einmal zurückzurufen, als eine plötzliche Ueberlegung sie davon abstehen ließ. Die Hand fest auf den Tisch gestützt, das Auge fest auf den Scheidenden gerichtet, so verweilte sie an ihrem Platze. Sie kannte das Herz des Grafen aus langer Erfahrung, sie wußte, daß er nicht gehen werde, ohne sein Auge noch einmal auf sie zu richten, und sie hatte sich darin nicht betrogen.
Als unter der Thüre seine Blicke noch einmal zu dem geliebten Weibe zurückkehrten, sah er, wie ihre starre Gestalt zusammenbrach. Der Anblick vernichtete seinen Entschluß. Seiner selbst nicht mächtig, stürzte er zurück und warf sich vor ihr nieder. Sie hatte ihr Gesicht in ihr Tuch verhüllt. Er ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit seinen Küssen. Da neigte sie ihr Antlitz auf sein Haupt herab, als wolle sie ihm den Anblick ihrer Bewegung entziehen, und mit den Worten: „Fliehe, damit ich Dich wiederkehren sehe!“ entließ sie ihn.
Ein Nichtamnestirter.
Die gewöhnlichen Engländer wissen nicht viel von Deutschland, aber bis in die niedrigsten Schichten herab kennen sie Hamburg, Luther und Kinkel. Ich habe das während der zehn Jahre in London oft genug erfahren. Andererseits, so oft ein Deutscher nach England kam, hoch oder niedrig, schwarz-weiß oder roth – immer ganz ohne Rücksicht auf politische Farbe oder Lebensstellung; so oft ich nach meiner Rückkehr in’s Vaterland hohe oder niedere Personen, Beamte, Officiere, Bürger oder Bauern begrüßte: immer blieben sie nach dem ersten Durcheinander von Fragen und Antworten an dem Namen und der Persönlichkeit Kinkel’s haften. Da nun Andere in ähnlichen Verhältnissen immer dieselben Erfahrungen machten, so haben wir den thatsächlichen Beweis für die Bedeutung, welche Kinkel für unsere Zeit sich errungen hat.
Kinkel’s Leben und Geschicke sind wie ein Epos, wie ein Drama, das durch tragische Handlung den Ausspruch Fanny Lewald’s zur Anschauung bringt: „Man bewundert die Wahrheit und ewige Tiefe des berechtigten Anfangs und – beweint die Consequenzen.“ Das Volk hat sie an Kinkel beweint, wie sonst wohl nie und nirgends, wird sie aber auch noch zu ehren, zu verwirklichen trachten.
Kinkel ist der Sohn eines Geistlichen und zwar eines protestantischen mitten im Katholicismus des rechten Rheinufers. Hier ward er am 8. August 1815 in Oberkassel geboren, eine Stunde von Drachenfels und den Siebenbürgen, auf der alten Grenze von Nord- und Süddeutschland, Franke, Rheinländer und doch in einem echt protestantischen Vater- und Predigerhause und in einer Zeit, als noch Niemand wußte, welchem Herrn sein Geburtsort diplomatisch vermacht werden würde.[1] Vielfach einsam, Einsamkeit liebend, in sich gekehrt und reiche Eindrücke auf eigene Weise in sich verarbeitend, als Kind und Knabe schon arbeitsam und riesenfleißig, ward er mit dem sechzehnten Jahre Primaner auf dem Gymnasium zu Bonn und machte im siebzehnten sein Abiturientenexamen, durch welches er sich das Zeugniß Nr. 1 erwarb.
Den sehr jungen und schlanken, schwarzlockigen und dunkeläugigen Studenten Kinkel finden wir in Bonn als evangelischen Theologen für sein Alter sehr ernst und gottesfürchtig. Kein übermüthiges Renommiren und Kneipen. Nach dem Colleg studirt er im väterlichen Hause, da sich sein Vater in Bonn zur Ruhe gegesetzt hatte, oder unterhält sich ernst über göttliche Fragen mit dem Vater, der sorgsamen Mutter, der frommen Schwester. Auch im Umgange mit wenigen treuen Freunden (Marheineke, Bögehold, seinem nachmaligen Schwager und jetzigen Prediger des Zellengefängnisses in Moabit bei Berlin etc.) tritt mehr religiöses und theologisches [22] Forschen und Streben, als studentischer Jugendübermuth hervor. Ein Glaubensbekenntniß aus seinem Tagebuche jener Zeit ist voller Schwärmerei für wahren Glauben und Gottesdienst und voller Verachtung gegen weltliche Freuden, voller Haß gegen studentischen Trunk, ja gegen Tanz, Musik und unschuldigere Freuden. Auch erste Liebe, erste Poesie, erste Tragödie (Prexaspes) befreien ihn nicht aus seiner evangelisch-theologischen Gebundenheit. Erst das nüchterne, kritische, scharfe Berlin in der flachen, märkischen Sandebene und das Berliner Theater, damals noch eine Stätte dramatischer Classicität, fingen an, an diesen Banden zu rütteln, obwohl tägliches Bibellesen und Collegia bei Neander und sogar Hengstenberg den Theologen gegen die Verlockungen der Musen schützten. Er wohnte in der Charlottenstraße am Gensd’armenmarkte bei dem kleinen, sehr durchgebildeten Künstler und Theater-Regisseur Weiß, durch den er mit der Bühne vertraut, Theater-Kritiker, Theater-Dichter und Corrector ward. Im Hause unten war die damals schon berühmte, literarische Conditorei von Stehely, die er nicht ein einziges Mal besuchte. Der alte, kleine Künstler und sein Sohn, der Maler, erwähnten ihren Freund, den Studenten der Theologie Kinkel, mit Liebe, aber er war ihnen zu fleißig, zu theologisch, zu wenig „Berliner“ gewesen. Berlin hatte ihm während eines bloß zehnmonatlichen Aufenthalts (October 1834 – August 1835) direct wenig angethan oder genützt, ihm aber freiere Blicke in’s Leben eröffnet. Diese mögen während seiner übrigen Studentenzeit (wieder in Bonn) nachgewirkt und einen Bruch mit der strengen Urania zu Gunsten freundlicherer Musen vorbereitet haben. Doch war und blieb er noch voller Theologe nach außen und machte ein glänzendes Licentiaten-Examen, um sich nun als Privatdocent in Bonn zu versuchen.
Den theologischen Privatdocenten lockten Katheder und Studenten mit dicken Heften, um darin Schwarz auf Weiß nach Hause zu tragen, aber dem Dichter und künftigen Lehrer der Kunstgeschichte ließ es keine Ruhe mehr im Norden und in der Theologie.
„Hinaus zum Süd! Auf springt der Alpen Thor –
O kennst Du diesen Zauberlaut: der Süden?
Es reißt entzwei der Thränen Nebelflor,
Und Lebenskraft umrauscht den Lebensmüden.“
Kinkel reiste durch Südfrankreich, über Nizza, Genua, Lucca etc. nach Rom und kam nach halbjährigem Genuß des Südens, „zum reifen Thun gekräftigt“, im März 1838 auf seinen theologischen Lehrstuhl zurück, in das nordische Leben, „erhellt von des Südens Nacht“.
Er ist wieder Privatdocent und bleibt Privatdocent noch volle neun Jahre, und erhält erst nach eilfjährigem preußischem Staatsdienste unter dem „Cultus-Ministerium“ 400 preußische Thaler Gehalt. Cotta trug ihm 1847 die Redaction der Augsburger Allgemeinen Zeitung mit glänzendem Gehalt an, aber Cultus-Minister v. Eichhorn sagt ihm persönlich sehr graciös, daß man sich freuen würde, ihn dem preußischen Staatsdienste zu erhalten, und er bleibt, was er seit eilf Jahren gewesen. Ehe wir uns den furchtbaren Geist ansehen, der ihn mit Gewalt aus seiner friedlichen, glücklichen Welt rief und trieb, gilt es, uns ein Bild von diesem Gelehrten, Lebens- und Liebesglücke zu entwerfen. Wir beschränken uns auch hier auf die Hauptzüge.
Als Gelehrter und Lehrer der christlichen Kunstgeschichte (vor oft 200 Studenten der kleinen Universität) und der Culturentwickelung, welche in der Kirchengeschichte liegt, später in der philosophischen Facultät der Kunst[2] und Literatur überhaupt, wußte er dem nüchternen, frommen Protestantismus, in welchem seine Dichterseele keine wahre Befriedigung mehr finden konnte, Geist, Begeisterung und Schönheit theils abzugewinnen, theils einzuhauchen. Dies machte ihn mit seinem klangvollen, lebendigen Vortrage zu einem der beliebtesten akademischen Lehrer, der natürlich dem „odium theologicum“, dem berüchtigten Hasse amtlicher Gottesgelahrten, nicht immer entgehen konnte. Namentlich warf ihm das Provinzialschul-Collegium einmal vor, „das alte Testament herabgesetzt“ zu haben.
Dieser Haß drängte sich noch weiter in sein häusliches und herzliches Leben ein. Als er die geistvolle, berühmte Künstlerin Johanna Mockel[3] aus den Fluthen des Rheins gerettet, hatte er „seines Geistes hellen Stern“, die liebende, geliebte Gattin, die ihn hernach mit dem Heroismus eines Weibes aus viel gräßlicherer Todesgefahr befreite, gefunden und ewig und unauflöslich mit sich vereinigt, und kein Mensch hatte ein Recht mehr, in solch’ ein Lieben und Leben hineinzureden. Aber die Theologen und Klatschschwestern drängten sich harpyienartig ein. Erstere hatten ihm schon vorher gedroht, daß er sich als Gatte einer vorher geschiedenen Frau in der theologischen Facultät beförderungsunfähig machen werde. Sie hielten Wort, was insofern dankenswerth ist, als sich Kinkel wohl selbst auf diesem Gebiete beförderungsunfähig und für seinen schöneren Beruf, die Sphäre der Kunst und des Schönen, reif gemacht hatte. Mit dem Weibe und der Künstlerin war er einer höheren, schöneren Thätigkeit gewonnen und gab die häßlich an ihm mäkelnde Theologie auf.
Der Hochzeitstag im Wonnemonat 1843 war ein neuer Frühlings-Anfang in Kinkel’s Leben. Die theologische Gottesfurcht hatte sich zu einer dichterischen Gottesliebe erweitert und erhoben, zu einem Pantheismus, dem wir die schönsten Gedichte Kinkel’s verdanken: „Menschlichkeit“, „Abendmahl der Schöpfung“, „Vor den achtzehn Gewehrmäulern“. Doch die wahre Poesie aus dieser Zeit ist keine gedruckte. Man lebte sie in sich und in Anderen. Das Schloß Clementsruhe, später Poppelsdorf bei Bonn, wo Kinkel wohnte und, nicht selten mit dem Kinde Johanna auf dem Schooße und der Frau Johanna zur Seite, arbeitete, wurden Wallfahrtsorte der Dichter und Tempel der Poesie in heiterer und lebensfrischer Freude des Schaffens und Gestaltens. Ein Verein von Dichtern und Dichterinnen hielt als „Maikäferbund“ seine Sitzungen in Kinkel’s Hause, hielt Gericht über die neuesten Dichtungen und bekränzte den Sieger. Kinkel gewann manche solche Lorbeerkränze, so z. B. für die Tragödie „Lothar“, die freilich für unaufführbar galt, da ein „Papst“ darin vorkam. Auch sein „Grobschmied von Antwerpen“ und der herrliche, pantheistische „Traum im Spessart“[4], das in 24 Stunden geschriebene Liederspiel „Friedrich Rothbart in Susa“, „Otto der Schütz“, (sechszehnte Auflage 1855, jetzt zweiundzwanzigste), das Lustspiel „Heilung des Weltschmerzlers“, und die Tragödie „die Stedinger“ wurden mit dem Lohne ersten Preises anerkannt. Der Verein schrieb eine „Zeitschrift für Nichtphilister“, auf dunkelgrünem Papier, genannt „der Maikäfer“, die Kinkel als „Molterwurm“ redigirte. Es ist eine Sammlung, ein Archiv der besten und originellsten Einfälle und Ergüsse der Mitglieder, unter denen wir die volksthümlichsten und geehrtesten Namen der deutschen Literatur finden, sodaß ein künftiger Biograph und Historiker der deutschen Poesie manche Schätze und Stoffe darin entdecken mag, wie in dem Bettina’schen „Lindenblatt“, das eigentlich den „Maikäfer“ gebar, und in dem vom Anfang an in London fortgeführten Familien-Journale des Kinkel’schen Hauses. – Wer diese blühende Lebens-, Liebes- und Dichterzeit genauer kennen lernen will, findet keine bessere Quelle, als die Schilderung Johanna Kinkel’s im „Kinkel-Album“.
Der theologische Privatdocent war in die philosophische Facultät übergegangen, wurde 1846 außerordentlicher Professor der Kunst- und Literaturgeschichte, und nun erst begann jener oben genannte Gehalt. Der berühmte Professor der Künste Kugler in Berlin verschaffte ihm bald darauf einen Ruf in die preußische Hauptstadt. Inzwischen erschien sein „Männerlied“ in dem Dichterbuche „Vom Rhein“. Bethmann-Hollweg, damals geistiger Oberpräsident der Frommen im Lande, schrieb darauf an Kugler, daß so ein Dichter des Männerliedes nicht nach Berlin passe. So blieb er außerordentlicher Professor in Bonn, bis er als Gesandter des Volks und ohne Erlaubniß Bethmann-Hollweg’s in der gesetzgebenden Versammlung Preußens erschien.
Wir haben’s nun mit Kinkel dem Volksvertreter, Kämpfer und Märtyrer für deutsche Einheit und Ehre zu thun. Die schwarz-roth-goldene Fahne, welche am 20. März 1848 in Bonn als Standarte des neuen Deutschlands nach dem „Patent“ des Königs von Preußen von allen Parteien in gemeinschaftlicher Begeisterung eingeweiht ward, führte Kinkel zum ersten Male auf die öffentliche Volksrednerbühne. Seine ersten Worte galten der deutschen Einheit, wie alle nachfolgenden Worte und Werke. Mit einem Schlage fand er sich als Volksführer der Kreise Bonn und Sieg, Seele des Handwerker-Bildungsvereins und der Wahlen für die preußische Nationalversammlung. Sein Programm vom 10. April hatte bloß einen Gedanken, ein Pathos: Einheit des alten deutschen Reichs. [23] Alle seine Reden, seine Vortrage und Artikel in der Bonner Zeitung, deren Redaction er am 5. August übernahm, in seinem Handwerkerblatte und in der Broschüre „Handwerk, errette Dich!“ später in seinem Volksblatte „Spartacus“ und als Redacteur der „Neuen Bonner Zeitung“ (die alte hatte man ihm wegreagirt), alle Reden, die er als Wahlcandidat und als Erwählter (5. Februar 1849 im Siege über den Gegencandidaten, Professor Bauerbrand) in der zweiten Kammer zu Berlin der Öffentlichkeit und dem Volke widmete, gingen von diesem einen Gedanken aus und suchten dieses eine große Ziel des deutschen Volkes erreichen zu helfen.
Dafür wirkte er fast ein ganzes Jahr lang durchschnittlich alle Tage 16 bis 18 Stunden lang als Heros des Arbeitens, der er immer gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben. In dem Einzelkampfe einer Zeitung galt es, vielen kleinen und großen Feinden oft und rasch entgegen zu treten, so daß sich natürlich Preß-Processe einstellten. Theils verurtheilt, theils freigesprochen, reiste er am Tage seiner letzten Freisprechung als gewählter Vertreter der Kreise Bonn und Siegburg am 23. Februar 1849 nach Berlin ab. Die preußische Verfassung war von der Nationalversammlung im Wesentlichen vollendet worden; noch weiter war die deutsche gediehen, das unglückliche Kind der Paulskirche.
Beide Versammlungen und deren Verfassungen waren auf dem „neuen Rechtsboden“, über den sich Fürsten und Völker „vereinbart“ hätten, entstanden. Die deutsche Verfassung, um die es sich hier handeln wird, hatte Wort und Werk der deutschen Fürsten und Völkerschaften für sich. Beide hatten daran gemeinschaftlich in der Paulskirche gearbeitet. Sie galt nun in den Augen des Volks als das wirkliche Rechtsfundament für die deutsche Einheit. Daher erklärt sich die Empörung des Volks und der Aufstand in Baden, um das mit Militärgewalt bekämpfte neue Grundrecht der deutschen Einheit zu vertheidigen. Daher erklärt sich Kinkel’s Betheiligung, den es nicht mehr in Berlin duldete, als in Süddeutschland für und gegen das Grundwerk der deutschen Einheit die Waffen des Bürgerkriegs aufblitzten. Er riß sich am 10. Mai Abends von dem geliebten Weibe und den schlafenden Kindern los und ging mit der Muskete als gemeiner Vertheidiger der deutschen Verfassung und als Secretair Fenner von Fenneberg’s (Mitgliedes der provisorischen Regierung in Baden) unter die Freischaaren-Armee. Die Muskete trug er bloß elf Tage, während welcher es zu keinem feindlichen Zusammentreffen mit preußischen Soldaten kam. Am 21. Juni wurde er während einer Recognoscirung zwischen Rothenfels und Muggensturm von einer preußischen Kugel am Kopfe verwundet und von der Feldwache gefangen. Von diesem Augenblicke an bis zum 4. August nach dem Urtheilsspruche des preußischen Kriegsgerichts stand er „vor den achtzehn Gewehrmäulern“, denen er seine muthigste, feurigste Poesie zurief:
Hier steh’ ich, nun zielt! Nun brichst Du, o Leib,
Wenn achtzehn Mündungen knallen;
Die Seele, sie braust in den heiligen Chor
Der Freien, die vor mir gefallen;
Wir kennen nicht Rast, wir durchstreichen die Welt
In Sonnenschein und Gewittern,
Bis die letzte Zwingburg flammend zerbirst
Und die letzten Ketten zersplittern.[5]
Nach Jahren vernahm ich’s aus seinem eigenen Munde und fand es von Anderen bestätigt, die so dicht vor gewaltsamem Tode gestanden, daß man kleineren Gefahren gegenüber wohl bangen und zagen kann, mit der Größe derselben aber der Mannesmuth wächst und der drohende Tod dicht vor unsern Augen ungeahnten, göttlichsten Trotz gegen alle sonstigen Schwächen aus verborgensten Tiefen der Seele empor ruft, womit die Absicht derer, die auf Tod erkennen und ihn vollziehen lassen, just durch Vollziehung vereitelt wird. Hier denke man auch an den Dichterfluch, den Kinkel der vom „vereinigten Landtage“ beibehaltenen Todesstrafe entgegen schleuderte,[6] an den unsterblichen 4. August 1848, an welchem Tage fast zur selben Stunde sowohl die preußische als die deutsche Nationalversammlung mit ungeheueren Majoritäten Abschaffung aller Todesstrafe beschloß.
Wieder an einem 4. August, nur ein Jahr später, stand Kinkel vor dem preußischen Kriegsgericht zu Rastatt in Baden, also mitten im Bereiche der Gesetze dieses Landes. Diese geographische und politische, gesetzliche Thatsache und viele vorausgegangene Verhöre ließen natürlich auf ein Verfahren nach badischem Gesetze schließen. Kinkel und sein Vertheidiger Dr. Hepp bereiteten sich also demgemäß vor und mußten auf „Zuchthaus bis zehn Jahre“ gefaßt sein. Aber inzwischen waren der christliche Himmel und der König von den Frommen im Lande flehentlich um den Tod Kinkel’s gebeten worden. Auch ministeriell und militärisch hatte man darauf hingearbeitet. So erfuhren Kinkel und sein Vertheidiger kurz vor Eröffnung des Kriegsgerichts, daß in Baden nach dem strengeren preußischen Gesetze gegen ihn erkannt werden solle, also auf Todesstrafe. Beide Unvorbereitete fanden noch in der letzten Stunde den milderen Paragraphen im preußischen Landrechte: „Wenn durch Rebellion dem Staate kein erheblicher Schaden zugefügt worden ist, soll die Todes- in entsprechende Gefängnißstrafe umgewandelt werden.“
Nichts war klarer, als daß Kinkel durch elftägiges Tragen der Muskete, verwundet, ohne selbst von der Waffe Gebrauch zu machen, dem Staate keinen erheblichen Schaden zugefügt habe. Das Kriegsgericht konnte also weder gesetzlich, noch, dem edeln, frei und männlich auftretenden und redenden Dichter gegenüber, moralisch ein Todesurtheil über die Lippen bringen, sondern nur „lebenslängliche Festungsstrafe“. Auch saßen in ihm gebildete Männer, welche, wenn auch Feinde, doch den Geist des vierten August 1848 höher achteten, als die „Instruction“ und das heiße Flehen der „Frommen“.
Das Urtheil war gefällt, schwebte aber „unbestätigt“ bis zum 30. September – beinahe zwei lange Monate, die in Versuchen, den Dichter zu entehrenden Bekenntnissen zu erniedrigen, das Urtheil zu verschärfen, umzustoßen etc., hingingen. Man muß Johanna Kinkel’s Erlebnisse, Kämpfe und heroische Leiden aus dieser Zeit lesen –
Endlich erschien folgende „Warnung“:
„Der ehemalige Professor und Wehrmann in den Freischaaren, J. G. Kinkel aus Bonn wurde, weil er unter den badischen Insurgenten mit den Waffen in der Hand gegen preußische Truppen gefochten, durch das in Rastatt angeordnete Kriegsgericht zum Verluste der Nationalkokarde und, statt zur Todesstrafe, nur zu lebenswieriger Festung verurtheilt. Zur Prüfung der Gesetzlichkeit wurde dieses Urteil[WS 1] von mir dem königl. General-Auditoriate und von diesem als ungesetzlich Sr. Majestät dem Könige zur Aufhebung überreicht. Allerhöchstdieselben haben jedoch aus Gnaden die Bestätigung des Erkenntnisses mit der Maßgabe zu befehlen geruht, daß Kinkel die erkannte Festungsstrafe in einer Civilanstalt verbüße. Diesem Allerhöchsten Befehle gemäß ist von mir das kriegsgerichtliche Erkenntniß dahin bestätigt, daß Kinkel wegen Kriegsverraths mit dem Verluste der preußischen Nationalkokarde und einer zu verbüßenden Festungsstrafe zu bestrafen, und zum Vollzug des Erkenntnisses die Abführung des Verurtheilten nach dem Zuchthause angeordnet worden, was hiermit zur öffentlichen Kenntniß gebracht wird.
Freiburg, den 30. September 1849.
Dieser gesetzliche Weg in’s Zuchthaus bietet folgende Denkwürdigkeiten: Erklärung des Kriegszustandes einen Tag nach der Gefangennehmung Kinkel’s, wonach er vor ein ordentliches Gericht gehörte. Dafür preußisches Kriegsgericht. Dessen Gesetzlichkeit angenommen, konnte es gesetzlich nur nach dem Gesetze des Landes verfahren. Dafür strengeres preußisches Gesetz. Alles als gesetzlich angenommen, konnte es nichts Ungesetzliches erkennen. Das General-Auditoriat findet aber aus unbekannten Gründen das Erkenntniß ungesetzlich. Herr von Hirschfeld veröffentlicht, daß der König etwas Ungesetzliches bestätigt habe und zwar aus Gnade, die Herr von Hirschfeld durch Abführung in ein Zuchthaus statt in eine „Festung“ oder „Civilanstalt“ richtig zu deuten und zu verwirklichen meinte. Ein solcher Rechtsweg und Gnadenpfad ist in der preußischen Rechtsgeschichte vorher nie betreten, von Niemand gewandelt worden.
Kinkel ward im October im Zuchthause zu Naugardt seines Haares und Bartes beraubt, in grobe, graue Kleider gesteckt und in einsamer Zelle zum Baumwollespulen gezwungen. Kein gebildeter Mann, keine deutsche Frauenseele wird die schmerzliche Empörung vergessen haben, die über diese unter allen Umständen gehässige Entwürdigung eines glänzend bewährten hohen Dichtergenius durch ganz Deutschland zuckte und bald aus allen Ländern der Erde sich über unser unglückliches Vaterland zurückergoß. Diebe, Räuber, gemeine Verbrecher [24] aller Art bemitleideten, ehrten ihn, und abgehärtete Kerkerdiener sprachen weicher, scheuer, wenn sie zu ihm sprachen. Der Zuchthausdirector Schnuggel vermochte es nur einen Monat, ihn streng nach der „Instruction“ zu behandeln, und schützte ihn später sogar vor den religiösen An- und Uebergriffen, die nach der „Instruction“ gegen ihn versucht wurden. Schon nach einem Monate erlöste er ihn von der Spule, gab ihm schriftliche Arbeiten, deutsche Classiker und Zeit zu eigener schriftstellerischer Beschäftigungen.
Im April 1850 erschien plötzlich der Polizeioberst Patzke in Naugardt und holte den zu lebenslänglichem Zuchthaus Begnadigten ab nach Köln auf eine neue Anklagebank und vor einen Staatsanwalt, der „wegen Aufreizung zur Bewaffnung bei den Aufständen in Düsseldorf und Elberfeld“ eine neue, längere Bestrafung des „Begnadigten“ verlangte. „La galera per la vita e dieci anni dopo la morte“. „Lebenslängliche Galeerenstrafe bis zehn Jahre nach dem Tode“. So heißt die Formel für lebenslänglich Verurtheilte im Kirchenstaate, die auch bei einer Amnestie keine Gnade zu erwarten haben.
Frau Kinkel, mit den Kindern bei den Eltern, einst die Auserwählte, der jetzigen Königin von Preußen auf dem Piano vorzutragen, und später in ihren berühmten Soiréen zu Poppelsdorf gelegentlich von Mitgliedern der preußischen Königsfamilie besucht, hatte endlich Erlaubniß ausgewirkt, bei dieser Gelegenheit ihren unglücklichen Gatten sehen zu dürfen.
Vom verlassenen Bruderstamme.
Bei meinem Aufenthalt in Venedig vor einigen Jahren
fuhr ich vom Molo nach San Servolo, dem Irrenhaus der
Lagunenstadt. Ein hohes, in byzantinischem Styl gebautes Thor,
dessen Marmorpfeiler von den Wellen der Lagunen bespült werden,
führt in diese düstern und traurigen Räume; über dem obern
Bogen des Thors liest man die goldenen Worte: „Fate bene fratelli!“
(Thut Gutes, Brüder!) Die Unterhaltung von San Servolo
wird theils von der venezianischen Commun, theils von den
Gaben reicher und wohlthätiger Signori, theils von den Mitteln
des Ordens beschafft, dessen Wahlspruch in goldenen Lettern
über dem Bogen des byzantinischen Thores steht. Im Sprachzimmer
des Klosters empfing mich der Pater vom Orden der
barmherzigen Brüder, der in San Servolo die Stelle des Arztes
bekleidet. Er war ein Mann in der Mitte der Vierziger;
sein Haar war schwarz und gelockt, seine Augen voll Intelligenz
und Wohlwollen, seine Tournüre ganz die eines Weltmannes, ohne
allen klösterlichen und mönchischen Anstrich, gewandt und zuvorkommend;
über seinem sonst weltlichen Anzug trug er das lange,
schwarze Ordenskleid der barmherzigen Brüder. Er führte mich in
den langen und hohen Krankensälen, in denen an hundert Betten
standen, in den obern Räumen des Klosters, in denen die Idioten
und Wahnsinnigen wohnten, und in dem großen Garten, dessen
Kiesgänge Pinien und Cypressen beschatteten, während mehrerer
Stunden umher und erzählte mir von seinen Kranken, von
seinen Heilmethoden und von seiner Apotheke, in der er die theuerste
Arznei ohne jede Rücksicht auf die Dosis verschriebe, wenn die
Arznei für die Kranken nothwendig sei. Die Krankensäle waren
außerordentlich sauber gehalten, Betten, Kissen und Bettlaken waren
von untadelhafter Reinheit; es herrschte überall eine musterhafte
Ordnung; hohe Repositorien, welche vom Boden bis an die Decke
reichten, enthielten die Krankheitsgeschichten und die bei sämmtlichen
Kranken angewandten Heilmethoden.
Im Garten sah ich die Idioten. Sie standen auf den mannigfaltigsten Stufen der menschlichen oder, wenn man will, der thierischen Entwickelung. Ich sah sie, wie sie umherschlichen, die Füße nach auswärts gerichtet, mit schleppendem Gange und schlotternden Knieen, fast ohne Bewußtsein, dann, wie sie bereits reinlich und mäßig geworden waren, wie sie gelernt hatten, Gegenstände zu unterscheiden. „Sehen Sie dort in die Ecke,“ sagte der Arzt, „da kauert ein Wesen, das auf der niedrigsten Stufe der Menschheit steht, so habe ich während der letzten drei Jahre fast zweihundert hier gehabt; in diesem entsetzlichen Zustande sind von jenen zweihundert nur zwanzig geblieben.“
Abends saßen wir auf dem Platze an der südlichen Seite des Klosters, wo die in den untern Sälen befindlichen Kranken sich zu ergehen pflegen und die Luft des Meeres einathmen. Der Platz war mit Marmorfließen gepflastert und mit Bänken von rothem Marmor eingefaßt. Weit streifte der Blick über die blauen Wellen der Lagunen, welche jetzt von den Strahlen der untergehenden Sonne in ihren farbenreichen, duftigen Mantel mit den purpurnen Falten und den goldenen Sternen gekleidet wurden; bunte Barken und schwarze Gondeln flogen vorüber; auf den weißen Lagunenpfählen funkelten rothe Sonnenlichter, und am Horizont stieg die Stadt der Marmorpaläste aus den Fluthen, wie ein verkörpertes Bild aus einem Zaubermärchen – die jetzt trauernde Königin der Adria. Ruhe und tiefe Stille lag auf den Wassern, wie ein süßes Geheimniß; dann schwebten vom Bord einer Gondel die weichen Töne einer Barcarole zu uns herüber. Es waren Stanzen aus Tasso’s befreitem Jerusalem, aber in den klangreichen, venetianischen Dialekt übertragen, der so süß an das Ohr tönt, wie die Saiten einer edlen Geige, wenn sie die Meisterhand einer Milanollo vibriren läßt. Dann wurde es drüben hell in der Stadt aus dem Zaubermärchen; erst flammten einzelne Funken und Lichter auf in den arabischen und gothischen Fensterbogen, dann blickte die ganze, lange Reihe von Palästen mit Feueraugen auf die Lagunen, und über ihnen legte sich ein weiter, goldener Reflex über den dunkeln Abendhimmel, wie der farbige Schein eines Nordlichts. Es war der Reflex der strahlenden Gasflammen, welche den prächtigsten Salon der Erde, den Marcusplatz, erleuchten. Von dem Thurme, der an jenem Platze schlank empor ragt, schlug die Stunde, wo sich dort Abends aus ganz Europa die Gesellschaft zu versammeln pflegt, welche sich vorzugsweise „le gens du monde“ nennt, Alles, was in England, Frankreich und Deutschland reich und vornehm ist, was Champagner trinkt und in allen Genüssen des Lebens schwelgt. Lange waren Tasso’s Stanzen verklungen; nun schwebten die Töne eines Walzers aus einer Verdi’schen Oper über den Wassern. Es war die Tanzmusik vom Marcusplatz!
„Nicht wahr, es ist schön hier, Signor Dottore?“ sagte der Arzt mit seiner weichen, klingenden Stimme, als ich lange hinausgeblickt hatte über die stille, ruhige Wasserebene; „ich führe auch immer die armen Geisteskranken hierher. Das ist ein Bild voll Bewegung und Freiheit; der Drang nach Freiheit ist ja ein Hauptgrundzug in dem Wesen aller Wahnsinnigen.“
„Wie viel Aerzte haben Sie denn zu Ihrer Unterstützung, Signor?“ fragte ich. „Wenn ich nicht irre, habe ich hier unten an hundert Kranke gezählt, und oben sind wenigstens dreißig Wahnsinnige, und im Garten waren gewiß fünfzig Idioten.“
„Es ist so; Sie haben sich nicht geirrt. Ich bin der einzige Arzt in San Servolo.“
„Allein?“ rief ich erstaunt. „Alles das thun Sie allein? Wie ist das möglich?“
„Drei Brüder unsers Ordens sind mir zur Hülfe gegeben; aber sie sind nicht Aerzte; sie thun nur die gewöhnlichen ärztlichen Handreichungen, woran ich sie gewöhnt habe.“
Mein Erstaunen wuchs. „Wie lange sind Sie denn schon hier, Signor?“
„Fünf Jahre; vielleicht werde ich immer hier bleiben. Ich bin nicht von unserm Orden hierher gesandt. Freiwillig habe ich meinen Platz gewählt. Sie haben ja den Spruch unsers Ordens über dem Thore gelesen; ich gehorche nur dem ersten und höchsten Gebot des Christenthums, wenn ich ihn erfülle.“
„Da können Sie das Haus ja selten oder gar nicht verlassen; ich sah Sie auch nie Abends auf dem Marcusplatz. Können Sie sich denn Ihr schweres Amt nicht erleichtern?“
Der Bruder vom Orden der barmherzigen Brüder lächelte.
„Nein,“ sagte er, „ich war schon lange, lange nicht auf dem Marcusplatz. Der Orden ist arm, auch San Servolo ist arm; einen zweiten Arzt kann der Orden nicht senden. Ich sagte Ihnen [25] ja, daß ich die theuerste Arznei ohne Rücksicht auf die Dosis verschreibe, das kostet viel Geld.“
„Wird hier bei Ihnen jeder Kranke, ohne Rücksicht auf die Religion, zu der er sich bekennt, aufgenommen, Signor Dottore? Auch die Ketzer?“
„Der Orden der barmherzigen Brüder und das Irrenhaus von San Servolo kennen keine Ketzer. Für ihn giebt es als einzige Richtschnur nur den Wahlspruch, den Sie gelesen haben.“
„Aber Sie sind ein Italiener, Signor, Sie lieben Italien; finden auch die Feinde Ihres Landes hier Aufnahme? Ein österreichischer Soldat?“
Ueber das schöne, kluge Antlitz des mir gegenübersitzenden Arztes flog wieder das milde, ruhige Lächeln.
„Der Orden der barmherzigen Brüder und das Irrenhaus von San Servolo kennen keine politische Feindschaft. Ich liebe Italien. Aber auch die Feinde Italiens finden hier dieselbe Aufnahme, wie die Ketzer, wie Sie sie nannten. Für mich giebt es nur das Gebot der Liebe und des Wohlthuns, der Wahlspruch meines Ordens.“
Mit einem Gefühle von Hochachtung, wie ich es selten vor einem Menschen empfunden habe, trennte ich mich spät Abends von dem Irrenarzte in San Servolo. Zum ersten Male hatte ich einen jener großen Apostel des Christenthums gesehen, von denen uns die Geschichte des Mittelalters erzählt, welche ein ganzes, langes Leben der Erfüllung der Pflichten ihrer religiösen Ueberzeugung opfern. Man hatte mir in Venedig gesagt, daß der Pater Arzt in San Servolo ein Mann von ausgezeichneten medicinischen Kenntnissen sei, dem es leicht werden würde, eine bedeutende und glänzende Stellung an dem großen Hospital in Mailand oder an jedem ersten Krankenhause in Italien zu bekleiden, wenn er es nur wolle. Und hier lebte er einsam, fast ohne jede geistige Unterhaltung, mitten zwischen armen Kranken und Blödsinnigen, ein Leben voll Anstrengungen und Entsagungen – weil er es so wollte, oder nein, weil er der Ueberzeugung war, das höchste Gebot seines Ordens so am besten zu erfüllen. Und so ohne Prunk in seinem Wesen, nicht einmal in der Erfüllung seiner Pflichten sich brüstend, so anspruchslos, so bescheiden, so ohne Sehnsucht nach den Genüssen und Freuden einer der prächtigsten Städte Italiens, deren Tanzmusik der Abendwind an den Strand seiner düstern Insel trug, deren Lichtschimmer den Horizont röthete! Als ich in die Gondel stieg, um nach Venedig zurückzukehren, konnte ich nicht umhin, die Gefühle von Hochachtung, welche mein Herz empfand, in lebhaften Worten auszusprechen. Da überflog noch einmal das milde, ruhige Lächeln seine schönen Züge; er drückte mir herzlich die Hand zum Abschiede, während er die Linke zu der goldenen Inschrift über dem Marmorbogen des byzantinischen Thores erhob, an dessen unterster Marmorstufe meine Gondel sich schaukelte.
Die Bilder des armen Irrenhauses von San Servolo und jenes Priesters der wahren Christusreligion traten mir wieder vor die Seele, als ich kürzlich auf meiner Reise durch die Herzogthümer das Irrenhaus in Schleswig besuchte. Ihre Contouren wurden schärfer; die klösterliche Ruhe, die stille Einfachheit, der religiöse Sinn, der in den Krankensälen jenes traurigen Hauses auf der kleinen, öden Insel des adriatischen Meeres waltete, welche wie ein grauer Streifen zwischen den glänzenden, blauen Fluthen und dem mit den warmen, farbigen Tinten des Südens geschmückten Himmel Italiens sich abhob, besonders aber die erhabene Gestalt des Pater Arztes vom Orden der barmherzigen Brüder mit seinen schönen, guten Augen und mit seinem milden Lächeln traten in diesem Bilde der Erinnerung um so lebendiger und charakteristischer hervor, je länger ich in den großen, mit allem Comfort versehenen Sälen und auf den langen, prächtigen Corridoren dieses deutschen Irrenhauses weilte. Dort, auf jener kleinen Insel im Meer, umschloß ein einziges, großes, graues Gebäude sämmtliche Räume, in denen zweihundert Kranke ihre Genesung oder den Tod als den Erlöser aus ihrem traurigen Dasein begrüßen sollten, und kaum hatte das kleine Eiland zu jenem Gärtchen und zu jenem mit Marmorfließen bedeckten Platze Raum, wo die Kranken die linde Abendluft einathmeten und auf die entfernten Klänge der Musik des Marcusplatzes lauschten. Hier, in Schleswig, standen palastartige Gebäude in einem parkähnlichen, mit schattigen Alleen, duftigen Rasenplätzen und in allen Farben schimmernden Blumenbeeten geschmückten Garten. Die hohen Korridore, die mit allem Comfort versehenen Wohnzimmer der Kranken und die mit luxuriösen Tapeten, Mobilien und Teppichen ausgestatteten Conversationssäle, die breiten Treppen, die geräumige Kirche zeugten von Ueberfluß an Allem, was zur Verwaltung und Ausstattung der Anstalt nothwendig war – es war ja die gemeinschaftliche Irrenanstalt der Herzogthümer Schleswig-Holstein, eines der reichsten und fruchtbarsten deutschen Länder –; über 600 Kranke bewohnten diese stattlichen Räume und spazierten in den Alleen und zwischen den Blumenbeeten dieses schönen, großen Gartens. Dort versah ein einziger Priester mit einigen Ordensbrüdern und wenigen Wärtern sämmtliche Kranke; hier waren eine Menge Aerzte, Kranke und Wärter angestellt, und kein Arzt brauchte mit ängstlicher Sorge zu berechnen, ob die starken Dosen der theuren Arznei auch finanziell in der Apotheke des Hauses herzustellen seien.
Aber auch sonst war es hier ganz anders. Die christliche Liebe, die zarte, ärztliche Sorgfalt, welche in San Servolo waltete – sie fehlte hier; der Pater Arzt vom Orden der barmherzigen Brüder, der innerhalb der Mauern seines Klosters weder Ketzer noch Feinde Italiens kannte, der nur dem Gebote seines Ordens gehorchte, welches die höchsten Lehren des Christenthums umschloß, die Lehren von der Liebe, von der Barmherzigkeit und von der Brüderlichkeit, dieser Mann war nicht da. Statt seiner waren Aerzte da, von denen Einer den Andern haßte, unter denen Einer den Andern ausspionirte, unter denen Einer mit dem Andern in einer Sprache sprach, die der Andere nicht verstand, obschon er die eigene Sprache seines Collegen wohl zu sprechen wußte, von denen Einer den Andern verleumdete und aus seinem Amte zu bringen suchte. Man horchte. Man sprach leise. Aengstlich schaute man sich um, wenn man sprach; denn das Ohr des Spions lauschte an der Wand. Hier haßten die Kranken in ihren lichten Momenten ihre Aerzte; denn die Aerzte brachten den politischen Haß mit in die Krankensäle, und das Vertrauen der Kranken zu ihrem Arzte, die erste Bedingung in der Heilmethode des Irren, war ganz und gar verschwunden. Zuweilen verstand der Arzt auch gar nicht die Sprache des Kranken; denn der deutsche Kranke sprach nur plattdeutsch, und der dänische Arzt sprach das Hochdeutsche nur nothdürftig, das Plattdeutsche gar nicht. Die Heilung der unglücklichen Irrsinnigen war hier Nebensache geworden, die politische Parteinahme war Hauptsache. Aber auch auf die Sprache des Herzens lauschte hier der Spion, selbst wenn der Mund diese Sprache vorsichtig verschloß. Man durfte hier nicht einmal deutsch denken. Die Krankenjournale wurden in zwei Sprachen wild durcheinander geschrieben, dänisch und deutsch. Der Kranke, dessen Krankheitsgeschichte und Heilmethode fünf Jahre lang in deutscher Sprache geschrieben war, erhielt plötzlich einen dänischen Arzt, und dann schrieb dieser die Fortsetzung seiner Krankheitsgeschichte in Dänisch, und der deutsche Arzt wurde gezwungen, auf Grund dieser Krankenberichte, welche er nicht lesen konnte, ärztliche Gutachten zu geben. Aengstlich schaute sich der Mann, der mich umherführte, überall um, ob auch Jemand sähe, daß er mich umherführe. Er sprach leise, oder er sprach in halben Worten, oder er zuckte die Achseln, ohne mir eine Antwort zu geben, oder er horchte, ob auch der Tritt eines Spions auf dem Gange schleiche. Und er wußte gar nicht einmal, zu welchem Zwecke ich die Anstalt besuchte. Ich hatte einen Empfehlungsbrief einer dem diplomatischen Corps in Kopenhagen angehörenden Person in der Hand, und aus diesem Briefe ging nur das Interesse eines Neugierigen hervor. Aber der Mann hatte das Gefühl der allgemeinen Unsicherheit, welches ein Gefangener in der Untersuchungshaft hat, „wo die Wände Ohren haben“, deshalb horchte er, und deshalb sprach er leise oder gar nicht mit mir.
Und was war denn eigentlich mit der Irrenanstalt in Schleswig geschehen? Warum horchte man dort, weshalb spionirte man, warum sprach der Arzt zu dem Kranken in einer Sprache, welche der Kranke nicht verstand?
Die deutsche Irrenanstalt in Schleswig wurde seit zwei Jahren danisirt.
Man wird erwidern: das ist unsinnig! Wie kann man eine Irrenanstalt danisiren? Die Heilung der Kranken ist doch der einzige Zweck in einer Irrenanstalt, und es ist doch wohl ganz gleichgültig, ob in dieser Irrenanstalt deutsch oder dänisch gesprochen wird, ob deutsche oder dänische Krankenberichte geschrieben, ob in derselben dänisch oder deutsch gepredigt wird. Vernünftigerweise ist es freilich so; aber die Danisirungswuth der dänischen Regierung in Schleswig geht auch über die Grenzen aller Vernunft [26] hinaus. Warum soll sie nicht eine Irrenanstalt danisiren, warum nicht ein Taubstummeninstitut, wenn auch die Irren und die Taubstummen nichts vom Eiderdanismus begreifen? Sie danisirt ja die christliche Religion; sie danisirt ja die Schule, Alles in gloriam Eiderdanismi! Nur das deutsche Herz in Schleswig vermag sie nicht zu danisiren. Daran scheitern alle Mittel, daran scheitern die Brüche, die Präcetto’s, die Gefängnißstrafen, die Eigenthumsberaubungen, das Wegjagen aus dem Amte, daran scheitert selbst der Hunger! Die preußische ministerielle Denkschrift sagt über die Danisirung der Irrenanstalt: „Der dänischen Sprachpropaganda mag es gleich sein, ob sie, die eine göttliche Heilsanstalt, die Kirche, mißbraucht, auch eine Irrenanstalt zu ihren Zwecken benutzen muß. Für das rein menschliche Gefühl ist das Eine ebenso verletzend, wie das Andere.“
Acht Tage nach meinem Besuche in der Irrenanstalt in Schleswig brachte ich den Abend in Holstein im Hause eines Mannes zu, der von den Verhältnissen derselben genau unterrichtet war. Er bekleidete in der Verwaltung des Irrenhauses eine der ersten Stellen und war selbst seines Amtes entsetzt worden, da er, wie die preußische Denkschrift sagt, erklärt hatte, „daß er die Danisirung der Anstalt mit Rücksicht auf das Interesse der unglücklichen Kranken selbst vor seinem Gewissen nicht verantworten könne.“ Ich hatte mit ihm von dem Arzt vom Orden der barmherzigen Brüder im Irrenhause von San Servolo gesprochen, der in seinen Krankensälen weder Ketzer noch politische Feinde kannte, dessen Richtschnur einzig und allein das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit war, welches mit goldenen Buchstaben über der Pforte des Klosters geschrieben stand.
„Als Gegenstück zu dem schönes Bilde eines wahrhaft christlichen Krankenhauses, welches Sie so eben vor mir entrollt haben,“ sagte er, „will ich Ihnen nun die Danisirung des Irrenhauses in Schleswig beschreiben. Hören Sie, und erzählen Sie in Deutschland, was hier vorgeht.
Daß die Irrenanstalt lediglich durch die Mittel der beiden Herzogthümer gegründet und aus ihren Mitteln erbaut ist, daß sie also Eigenthum der Herzogthümer und nicht Dänemarks und auch stets als solches bezeichnet ist, daß ferner in der Bekanntmachung der dänischen Regierung von 1852 die Irrenanstalt neben der Universität in Kiel und der Ritterschaft ausdrücklich unter den, beiden Herzogthümern gemeinschaftlichen, Einrichtungen und Anstalten aufgeführt und die weitere Verwaltung in der frühern Weise garantirt wurde, daß die Verwaltungs- und Geschäftssprache von jeher deutsch war, dessen will ich, obschon von diesen Gesichtspunkten aus die Sache politisch und rechtlich zu beurtheilen ist, kaum erwähnen. Vor der Incorporations- und Danisirungswuth der in Kopenhagen regierenden eiderdänischen Partei existiren weder Recht, noch Eigenthum, noch politische Verträge. Das wissen Sie ja!
Daß auf die 600 Kranken, welche durchschnittlich in der Anstalt sind, höchstens 50 kommen, welche dänisch sprechen oder von den dänischen Inseln gebürtig sind, daß also auch nicht das geringste Bedürfniß vorhanden ist, die Anstalt zu danisiren, davon will ich auch nicht sprechen. In den sogenannten gemischten Districten, wo dänisch gepredigt, dänisch confirmirt, in dänischer Sprache das Abendmahl gereicht wird, wo man in den Schulen die Kinder in dänischer Sprache unterrichtet, welche die Kinder nicht verstehen, ist ja noch weit weniger ein Bedürfniß zur Einführung der dänischen Sprache da. Sie haben ja diese Districte selbst bereist und selbst gefunden, daß in einem sogenannten gemischten Districte höchstens vier oder fünf alte Leute leben, welche vor fünfzig Jahren auf der Flotte oder in der Armee dienten, welche das Dänische verstehen. Genug, bald nach jener Bekanntmachung, wodurch die nationale Selbständigkeit und die nationalen Rechte Schleswig-Holsteins garantirt wurden, wurde eine eigene Medicinalbehörde für Schleswig errichtet und an die Spitze derselben ein Medicinaldirector Schleißner gestellt, einer der fanatischsten und rücksichtslosesten Eiderdänen, der selbstverständlich sofort der Sprachpropaganda die eingehendste Aufmerksamkeit und Thätigkeit zuwandte, mit großer Rücksichtslosigkeit das Recht der Communen vernichtete, Armenärzte anzustellen, und sowohl diese Stellen wie diejenigen der Kreisphysici mit ihm und der danisirenden Tendenz huldigenden Subjecten besetzte.“[7]
„Ist das derselbe Schleißner, der den unglücklichen Karberg ruinirte?“
„Derselbe.“
„Derselbe, der auf ganz ähnliche Weise den Apothekern in Husum und Quere ihre Apotheken nahm?“
„Immer derselbe. In der richtigen Consequenz eines solchen Verfahrens kam es auch zu der Danisirung der Irrenanstalt. Weil das Personal dieser Anstalt aus geborenen Holsteinern und Schleswigern bestand, wie es freilich die Natur der Sache mit sich brachte, und weil von diesem Personal die Benutzung der Anstalt zu den Zwecken der dänischen Sprachpropaganda nicht zu erwarten stand, so mußte eine der beliebten „Consequenzen des Sprachrescripts“ in Bewegung gesetzt werden. Weil sich unter 569 Kranken damals gerade 31, also etwas weniger als der achtzehnte Theil, aus dem willkürlich geschaffenen gemischten Districte befanden, betrachtete man das den Herzogthümern Schleswig und Holstein gemeinsame, in einem rein deutschen Districte gelegene Institut als, den Regeln für die gemischten Districte unterworfen und führte in demselben „die Gleichberechtigung der Sprachen“ in dem bekannten Sinne durch.
Die deutsche Direction wurde nun durch eine dänische ersetzt. An die Spitze derselben trat der durch seinen Eifer für die dänische Sprachpropaganda berühmt gewordene Renegat, Amtmann Holstein, der zu dem Propst Thieß auf die Vorhaltung, daß er doch die Rechte seiner Muttersprache bedenken sollte, erwiderte: „Gerade herausgesagt, ich schäme mich meiner Nationalität!“[8] und an die Stelle des seit Jahren in der Anstalt wirkenden Physikus Klinck ein Unterarzt aus der dänischen Armee, ein fanatischer Däne, Namens Hauschultz. Beide räumten nun in der Anstalt auf. Die Stellen des dritten und vierten Arztes wurden ohne Weiteres als vacant angezeigt. Die Stelle des dritten Arztes hatte Dr. Sager aus Schleswig inne, welcher bereits sieben Jahre zur besonderen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten an der Anstalt gewirkt hatte. Dem Dr. Sager wurden Seitens der Direction die Fragen vorgelegt, ob er während des Aufstandes gegen Se. Majestät die Waffen getragen, ob er Adressen an die schleswigsche Ständeversammlung unterschrieben, ob er als Arzt in der Insurgenten-Armee gedient habe? Dann wurde ihm, weil er als Arzt in der Insurgenten-Armee gedient habe, am 17. Mai 1859 angezeigt, daß er am 31. Mai gehen könne, daß er seiner Stelle verlustig sei.“
Das war doch selbst für mich, der ich täglich derartige Dinge hörte, etwas zu stark. „Was?“ rief ich, „in dieser Weise hat der ehemalige Unterarzt der dänischen Armee einen der gelehrtesten und verdienstvollsten Irrenärzte im ganzen Lande behandelt? So jagt man ja keine Dienstboten fort …“
„Es ist wörtlich so, wie ich Ihnen erzähle. Wenn Sie wieder nach Schleswig kommen, fragen Sie Dr. Sager selbst, ob es nicht so war.[9] Aber hören Sie weiter. „Der Mensch hat ja deutsche Gefühle!“ rief der ehemalige Unterarzt der dänischen Armee, der seiner medicinischen Kenntniß und Befähigung nach höchstens eine Stelle als Heilgehülfe beim Dr. Sager einnehmen könnte, als ihm im Interesse der Anstalt die dringendsten Vorstellungen gemacht wurden, den verdienstvollen Arzt nicht zu entlassen. An seine Stelle trat ein Candidat der Medicin aus Kopenhagen, Namens Sternberg. Der Reservearzt Dr. Kroll wurde, obschon er der dänischen Sprache vollkommen mächtig war, ohne Weiteres fortgejagt. Er hatte in Kiel studirt und war ein geborner Schleswiger, darin lag ja Vorwurf genug. Auch an seine Stelle trat ein geborner Däne. Sie können sich denken, was das jetzt für eine Wirthschaft in wissenschaftlich-medicinischer Beziehung an der Irrenanstalt sein muß. Man wird doch wahrhaftig nicht so über Nacht aus einem ganz gewöhnlichen Candidaten der Medicin oder aus einem Unterarzt der Armee ein guter Irrenarzt. Noch mehr! Auch der an der Anstalt seit einer Reihe von Jahren fungirende deutsche Prediger wurde fortgejagt – denn anders kann man eine Entlassung, wie die des Dr. Sager, doch nicht nennen – und durch den dänischen Garnisonsprediger in Schleswig ersetzt. Der weggejagte deutsche Prediger verstand und sprach das Dänische vollkommen. Aber darauf kam es ja nicht an. Der neue dänische Prediger ist eines der fanatischsten Werkzeuge der dänischen Sprachpropaganda in dem unglücklichen Lande.“[10]
[27] „Nun war das Personal vorhanden,“ fuhr er in seiner Schilderung fort, „die gefügigen Werkzeuge waren da, die Danisirung begann. Die Direction decretirte, daß die Correspondenz der Aerzte über Kranke aus dem dänischen Theil des Herzogthums ausschließlich dänisch, über solche aus den gemischten Districten, wenn die Vorfragen in dänischer Sprache geschehen seien, ebenfalls in dänischer Sprache stattfinden solle. Bis dahin war die ganze Correspondenz natürlicherweise deutsch geführt worden. Die beiden deutschen Aerzte, welche nach der von Hauschultz vorgenommenen Purificirung noch übrig geblieben waren, besaßen gar nicht die Fertigkeit, dänische Episteln oder gar wissenschaftliche Gutachten in dänischer Sprache zu schreiben. Ueber Nacht konnten sie das auch nicht lernen – und sie wollten es auch gar nicht lernen. Aber der dänische Director einer Anstalt, welche danisirt werden soll, weiß sich zu helfen. Er beauftragte den dritten, neu angestellten dänischen Arzt, die Berichte des ersten und zweiten Arztes zu übersetzen, oder auch, wenn er damit nicht fertig werden könne, dieselben in deren Namen selbstständig nach einem mündlichen Referat abzufassen.“
„Erlauben Sie,“ unterbrach ich unwillkürlich wieder den Erzähler, „das ist widersinnig! Von einer Glaubwürdigkeit eines wissenschaftlichen und gerichtsärztlichen Gutachtens kann doch da gar keine Rede sein. Auch kann ja ein Arzt unmöglich die Verantwortung für eine von einem Dritten verfertigte Uebersetzung in einer Sprache, welche er selbst gar nicht versteht, übernehmen.“
„Darauf kommt es ja auch gar nicht an,“ erwiderte er. „Die beiden an der Anstalt noch übrig gebliebenen deutschen Aerzte sind aber durch diese Maßregel in ein höchst drückendes Abhängigkeitsverhältniß zu dem dritten dänischen Arzt gebracht; darauf kommt es an. Das dänische Element soll im Irrenhause gehoben und das deutsche Element soll unterdrückt werden. Genug, seit zwei Jahren ist die Verwirrung im Irrenhause maßlos. In die Krankenjournale schreiben die dänischen Aerzte dänisch, die deutschen deutsch, und wenn der ehemalige Unterarzt der Armee, jetziger Director des Irrenhauses, die beiden deutschen Aerzte amtlich anredet, so geschieht dies immer in dänischer Sprache.“
„Aber Dr. Rüppell und Dr. Gaye verstehen doch kein Dänisch?“
„Das thut ja nichts, sie antworten in deutscher Sprache, natürlich falls sie die Frage überhaupt verstanden haben. Aber ihres Bleibens ist nicht mehr lange. Dr. Rüppell hat schon seit 30 Jahren mit großer Auszeichnung in der Anstalt gewirkt und ist ein vortrefflicher Irrenarzt. Das thut zur Sache nichts. Der dänische Medicinal-Director in Flensburg hat ihm bereits seine Erwartung ausgesprochen, daß er binnen zwei Jahren fertig dänisch sprechen und schreiben müsse, widrigenfalls er gehen könne.“
„Und nun studiren Dr. Gaye und Dr. Rüppell wahrscheinlich fleißig dänisch, überhören sich die Declinationen und lesen zusammen in dem famosen Buch für höhere Schulen von Lorenzen?“ fragte ich lachend.
„Nein, das thun sie nicht. Beide sind Männer von Ehre und Charakter. Sie haben dem ehemaligen Unterarzt in der dänischen Armee bereits erklärt, daß sie die Danisirung der Anstalt mit Rücksicht auf das Interesse der unglücklichen Kranken vor ihrem Gewissen nicht mehr verantworten können und, falls nicht bald eine Aenderung eintrete, selbst ihre Entlassung fordern würden.“[11]
„Aber kann denn dieser Medicinal-Director in Flensburg mit dem Medicinalarzte umspringen, wie er will? Das ist doch unerhört. Giebt es denn in Schleswig kein Sanitätscollegium?“
„Er macht mit dem ganzen Medicinalwesen, was er will. Sie wissen ja, wie den deutschen Apothekern in Husum, Quere und Apenrade ihre Apotheken weggenommen wurden. Das war sein Werk. Daß die Aerzte, welche als Physici im Herzogthum angestellt sind, ganz nach seiner Pfeife tanzen müssen, versteht sich von selbst; sonst werden sie fortgejagt. Ein Einwohner in Schleswig, der mehrere unheilbare Schwachsinnige verpflegt und einen deutschen Arzt als Hausarzt angenommen hatte, wurde vor den Physikus citirt und ihm bedeutet, statt seiner einen dänischen Arzt aus der Garnison zu engagiren. Der Mann mußte seiner Existenz wegen natürlich gehorchen. Das Sanitäts-Collegium sagt zu dem Allen nichts; es ist dem dänischen Medicinal-Director untergeordnet und ist künstlich aus dänischen Elementen zusammengesetzt. Um die deutschen Aerzte in ihrem Erwerb zu beeinträchtigen, darf eine Commune nicht einmal einen Armenarzt engagiren, den er nicht bestätigt hat. Natürlicherweise bestätigt er niemals deutsche, sondern nur dänische Aerzte. Neulich wollte er einen deutschen Arzt in Schleswig nur deshalb nicht als Armenarzt bestellen, weil er eine Adresse an die Ständeversammlung unterzeichnet habe.“
„Aber unter solchen Umständen darf man ja in Schleswig gar nicht mehr krank werden!“
„Gewiß nicht, wenigstens nicht, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen will, von einem unwissenden dänischen Arzte behandelt zu werden; denn die ehrenwerthen und wirklich wissenschaftlich gebildeten dänischen Aerzte gehen nicht nach Schleswig. Aber wundert Sie das? Man kann in Schleswig ja auch nicht mehr die Kirche besuchen. Es wird ja dänisch gepredigt. Wir können unsere Kinder ja auch nicht mehr in die Schule schicken. Sie werden ja dänisch unterrichtet. Warum sollen wir denn nicht an dänischen Aerzten sterben?“
Es war zehn Uhr geworden. Ich ging durch die stillen
Straßen nach Hause und dachte auf dem Rückwege wieder an den
Arzt in San Servolo, der keine Ketzer und keine politischen Feinde
kannte – und an Deutschland, wo man über das Schicksal der
Madiai’s und des Judenknaben Mortara weinte, wo der fingirte
Schmerz einer Negermutter Tausenden von schönen Augen
Thränen entlockte, und wo man für das Dulden des verlassenen
Bruderstammes kaum noch eine Minute der Erinnerung übrig hat!
Gustav Rasch.
- ↑ Später ward er ein „angefallener“ Preuße, wie sie’s am Rheine nennen.
- ↑ Geschichte der bildenden Künste bei den christlichen Völkern. Mit 28 Tafeln. Von G. Kinkel. Bonn 1845.
- ↑ S. Johanna Kinkel, Gartenlaube 1859, Nr. 1.
- ↑ Novellen und Erzählungen von Gottfried und Johanna Kinkel. Stuttgart, Cotta.
- ↑ Gedichte. Seite 344 und 345.
- ↑ Gedichte. Seite 332 etc.
- ↑ So charakterisirt den Medicinaldirector Schleißner wörtlich die Preußische Denkschrift.
- ↑ So wörtlich die preußische Denkschrift.
- ↑ Herr Dr. Sager bestätigte mir bei meiner Anwesenheit in Schleswig wörtlich dasselbe. G. R.
- ↑ So wörtlich die Preußische ministerielle Denkschrift.
- ↑ So wörtlich in der preußischen ministeriellen Denkschrift.
Persische Schauspiele.
Eben vergoldete die untergehende Sonne mit purpurrothem Strahle die steilen, nackten Gipfel der riesigen Kette des Elburs- Gebirges, als wir in unserem Sommerquartier zu Rustemabad, am Fuße des Elburs, den Garten durchschritten, dessen Bäume mit den herrlichsten Früchten beladen waren. In Heimatherinnerungen vertieft, hatten wir fast vergessen, daß wir uns inmitten des persischen Reiches und in der Nähe Teheran’s, der Residenz des Schah, „des erhabenen Mittelpunktes des Weltalls“, befanden, als wir uns dem Ausgange nach der Hauptstraße des Dorfes zu näherten. Der schlafende persische Wachtposten sprang eilig auf, von unserem Geräusch erweckt, um nach der verrosteten Flinte zu greifen, die an der Mauer lehnte.
Bald standen wir mitten auf dem Hauptplatze des Dorfes, in der Nähe der sehr ärmlich und einfach construirten Moschee. Während wir uns hier an den verschiedenartigsten Scenen des persischen Volkslebens ergötzten und scheinbar mit ernster Miene hin und her spazierten, wurde unsere Aufmerksamkeit plötzlich durch ein lautes Geräusch wach gerufen, das von einer Menge in regelmäßigem Takt geschlagener Klapperinstrumente herzurühren schien. Wir wendeten uns nach der Richtung hin, von wo uns, aus einer engen Gasse des Dorfes her, die seltsame Musik entgegentönte.
Ein wunderlicher Anblick überraschte uns da. Eine lange Reihe von Knaben im Alter von acht bis zu vierzehn Jahren sprangen, je zwei nebeneinander gehend, auf einem Fuße in die Höhe, den Körper bald nach rechts, bald nach links drehend, und die Worte: „O Hassan! O Hussein!“ ausstoßend. Bei jedem Sprunge schlugen sie mit beiden Händen zwei Hölzer zusammen, bald vorwärts, bald hinterwärts, nach dem Rücken zu, die Arme haltend. Dieser sonderbare Zug, der bisweilen klagende Töne ausstieß, näherte sich uns, tanzte, wie es schien, mit erhöhter Lebhaftigkeit und forderte uns dann das unvermeidliche Enam oder Geschenk ab. Nothgedrungen mußten wir die Börse ziehen und den Tänzern ein angemessenes Geldgeschenk auszahlen.
[28] Ich fragte meinen Freund J…, der schon seit Jahren in Persien weilt und mit der Sprache und den Sitten des Volkes genauer bekannt ist, was dies Alles zu bedeuten habe.
„Das will ich Ihnen gern erklären,“ erwiderte er mir, während es immer mehr dunkelte und wir Beide den Rückweg nach dem Garten einschlugen, der Zug der tanzenden Knaben inzwischen seinen Gang durch das Dorf fortsetzte und die Hölzer unaufhörlich klappern ließ, – „und ich kann es, da ich in früheren Jahren oft Zeuge dieser seltsamen Gebräuche war, als sich die Perser noch nicht von den Europäern so abgesondert hatten, wie es jetzt der Fall ist. Wenn Sie einen Blick in den heurigen persischen Kalender werfen, so werden Sie bemerken, daß mit dem 20. Juli unseres Datums der arabische Moharrem beginnt, mit welchem die Araber ihr Jahr anfangen, während bei den Persern mit dem genannten Zeitpunkte das große zehntägige Trauerfest beginnt. Es endet mit dem Tage Aschura, an welchem Hussein, der Enkel des Propheten, auf der Ebene von Kerbela seinen Tod fand. In diesen zehn Tagen finden nun jene religiösen Ceremonien statt, zu denen auch der Tanz der Knaben und das Klappern mit den Hölzern, vor Allem aber die so eigenthümlichen Schauspiele gehören, welche unter dem Namen der Tasieh allerorts öffentlich aufgeführt werden, am prächtigsten aber da, wo jedesmal der Schah weilt. Sie sind ohne Zweifel das Merkwürdigste, was der Europäer ehemals in Persien sehen konnte.“
„Ehemals?“ erwiderte ich dem unterrichteten Freunde, in der Befürchtung, daß meine gespannte Erwartung, diese Schauspiele zu sehen, nicht in Erfüllung gehen würde.
„Freilich, ehemals,“ gab mir J… zur Antwort. „Man hatte früher die Artigkeit, die in Teheran weilenden Mitglieder der verschiedenen Gesandtschaften zu den in Rede stehenden Schauspielen einzuladen, ihnen eine besondere Loge anzuweisen, ja sogar Kalian’s, Thee, Scherbets und Eiswasser zu präsentiren. Einige jüngere Mitglieder von „draußen“ sollen während einer sehr rührenden Scene gelacht oder gelächelt haben und dies von den Persern bemerkt und übel genommen worden sein. Seitdem ist die Geschichte aus, und die Fremden können selber eine Tasieh auf ihre Kosten geben, wenn sie sonst etwas von den Schauspielen zu sehen wünschen, und sehenswerth sind sie als etwas besonders Nationaleigenthümliches auf jeden Fall.“
„Wie ist das möglich?“ fragte ich meinen freundlichen Berichterstatter; „der Christ darf mohammedanische Schauspiele darstellen lassen?“
„Er darf dies nicht allein,“ ward mir zur Antwort, „sondern es wird ein solches Schauspiel, das ein Christ bezahlt und zu dem er jedem Mohammedaner den Zutritt gewähren muß, als etwas höchst Verdienstliches angesehen, als ein frommes Werk, das ihm Gottes besondere Gnade in der Zeitlichkeit und Ewigkeit erwirbt.“
Mein Entschluß war bald gefaßt. Ich wußte, wie meine Hoffnung in Erfüllung gehen konnte. Noch an demselben Abend theilte ich meine Unterredung unserem vortrefflichen Gesandten mit, der gütig genug war, eine Tasieh für das gesammte Gesandtschaftspersonal in Aussicht zu stellen.
Schon in den nächsten Tagen war überall in Dörfern und Städten die Vorbereitung zu den Theatervorstellungen sichtbar. Die Wände der Moscheen wurden mit schwarzem Kattun überzogen, der Hof mit großen Zelttüchern überdacht, Sitze für die vornehmeren Zuschauer zurecht gezimmert, die innere Umgebung mit Bildern, europäischen und persischen, Spiegeln, Fahnen, Waffen, Thierfellen und sonstigem Plunder geschmückt. Auch die Kaliandar’s, Obstverkäufer und Wasserspender rüsteten sich eifrig zu den Schauspielen.
In Rustemabad herrschte vor Allem eine gewisse Aufregung. Herr Baron von Minutoli hatte die Kosten zu einer mehrtägigen Vorstellung gern bewilligt, ja sogar den Schauspielern auf wiederholt ausgesprochene Bitten europäische Uniformstücke und Waffen geliehen. Man bereitete sich – da das Dorf arm ist und nicht viel an Schauspiele wenden kann – zu einem ganz besonderen Genusse vor.
Selbst in unserem kleinen Sommerfeldlager waren die Zeichen des angehenden Trauerfestes sichtbar. Unsere mohammedanischen Diener strenger Glaubensrichtung hatten sich in kurze Röcke von schwarzem Glanzkattun neu eingekleidet und trugen an Stelle des weißen Bundes um den Leib einen schwarzen. Die Soldaten stellten zum äußerlichen Zeichen ihrer Trauer die Gewehre mit den Mündungen nach unten zusammen und präsentirten in gleicher Weise, indem sie den Kolben der Flinte nach dem linken Oberarm richten.
Am 20. Juli gegen sechs Uhr Nachmittags schmetterten die starken Töne der uralten fünf bis sechs Fuß langen persischen Posaunen durch das Dorf hin, den Leuten den baldigen Anfang der heutigen Tasieh ankündend. Dazwischen mischte sich der Ton großer Holzklappern, welche aneinander geschlagen wurden und einen Heidenlärm hervorriefen. Die Diener näherten sich dem Gesandten, um ihm den Anfang des Spieles anzuzeigen, wir folgten ihm und befanden uns bald auf dem für uns bestimmten Platze des Theaters. Man hatte in dem Hause der Moschee einen hochgelegenen Raum zu einer Art Loge eingerichtet, den staubigen Fußboven mit Teppichen belegt, darauf Stühle gestellt, und so saßen wir denn bequem genug, um Zuschauer und Schauspieler auf das Ausführlichste zu betrachten und zu mustern.
Der kleine Hof der Moschee – sonst so leer – war heute wie besät mit Menschen beider Geschlechter. Die Männer hockten zusammen, theils mit der hohen persischen Lammfellmütze, theils mit der enganliegenden kurdischen Kappe, theils, wie die Sejid’s oder die Nachkommen des Propheten, mit grünem, theils, wie die Mollas und Schreiber, mit weißem Turbane das geschorene Haupt bedeckt. Eng nebeneinander kauerten an der einen Längsseite des Hofes die tief in blaue Schleier verhüllten Weiber, lebhaft mit einander schwatzend und mit den bemalten Händen und Armen gesticulirend. Ein Mann mit langem Stocke hielt die bewegliche Schaar in Ordnung und ein Anderer spendete den Durstigen mittels einer metallenen Schale aus einem großen auf dem Rücken befestigten Schlauche Trinkwasser.
Der Molla des Dorfes hatte die höchste Spitze eines thurmartigen hölzernen Stuhles eingenommen. Verwegene Buben kletterten wie Affen an dem seltsamen Gestell auf und nieder, ohne daß sich der fromme Mann in seiner abgesungenen Predigt stören ließ, durch welche er, wie üblich, die Gemüther für das bevorstehende Schauspiel würdig vorzubereiten suchte. Die Weiber, seine Worte zu Herzen nehmend, fingen bereits an, laut zu weinen und zu schluchzen, die Männer rauchten noch immer mit kalter Ruhe ihre Wasserpfeife. Hier und da wischte sich Einer und der Andere eine Thräne aus dem feucht gewordenen Auge. Wir suchten inzwischen nach der Bühne. Die Diener, welche hinter uns standen, gaben uns bald eine nähere Aufklärung. Ein kleiner freier Raum im Hofe stellte die Bühne vor. Kleine Haufen gehackten Strohes auf demselben sollten dazu dienen, die Stelle des Staubes zu vertreten, mit welchem sich die agirenden Schauspieler bei den ergreifendsten Scenen des Stückes den Kopf zu bestreuen pflegen. Ein von Holz gebautes niedriges, wie ein breites Bett geformtes Gestell mußte das Innere eines Hauses vorstellen.
So waren wir über alles Aeußerliche der Scenerie genugsam belehrt. Es fehlten nur noch die Schauspieler, deren Ausbleiben unsere Ungeduld erregte. Man suchte uns durch angebotene Scherbets, Thee und Wasserpfeifen für das lange Warten zu entschädigen, mit der Erklärung, daß die Acteurs auf dem Wege von Niaweran, dem etwa eine halbe Meile weit nach den Bergen zu gelegenen Lustschlosse und Sommeraufenthalte des Schah, gesehen würden; daß sie dort bereits vor dem König der Könige und der Königin Mutter gespielt hätten und baldigst das Dorf Rustemabad erreichen würden.
Endlich verkündigten neue Mark und Bein durchdringende Trompetenstöße die Ankunft derselben und somit den Beginn des Stückes. Die Bande bestand aus einem Director und aus etwa 12 Männern und Knaben, die, mit guter Stimme begabt, während der Moharrem-Schauspiele ihr Handwerk oder was sie sonst treiben mögen, im Stich lassen und sich einem Schauspieldirector anschließen. Sie wandern mit ihm von Ort zu Ort und müssen oft, wie diesesmal, hintereinander an verschiedenen Plätzen spielen. Jeder trägt in Gestalt langer beschriebener Zettel seine Rolle in der Hand und liest ab, um dem mangelhaften Gedächtniß zu Hülfe zu kommen. Frauenrollen werden nur von Männern gespielt; heilige Personen dürfen nur mit einem grünen Schleier vor dem Gesichte dargestellt werden. Der Stoff zu den Stücken, die nach einander an den zehn ersten Tagen des Monats Moharrem dargestellt werden, wie oben bereits bemerkt war, betrifft das Ende und das Martyrthum persischer Heiligen, vor allen des Imam Hussein, Sohnes des Ali, und seiner Kinder und Angehörigen auf der Ebene von Kerbela, in der Nähe von Bagdad. Sie vertreten die religiöse Partei der Perser, während von den Letzteren die Feinde [29] des Imam Hussein, Araber und Türken, selbst während des Schauspiels mit den heftigsten und allerernstesten Verwünschungen verflucht werden.
Obgleich ich nicht Alles verstand, was die Schauspieler, immer in singendem Tone, recitirten, so war ich doch auf’s Tiefste ergriffen von der Lebendigkeit und Wahrheit des Ausdrucks und von den Zeichen des tiefsten Schmerzes und der Klage, welche das ganze Publicum in echt homerischer Weise an den Tag legte. Man heulte und weinte, zerschlug sich Brust und Gesicht, bis das klare Blut aus den zerfetzten Körpertheilen floß, ja ich habe Perser gesehen, welche Steine vom Boden aufhoben, um sich damit die Brust zu schlagen. Je mehr sich der Augenblick höchster Gefahr für den Imam und seine Familie nähert, wobei ein ziemlicher Aufwand an Menschen, Pferden, Kameelen und Costümen stattfand, je grimmiger wird das ganze zuschauende Volk. Unaufhörlich streuten die Schauspieler Häcksel auf ihr Haupt, schlugen mit den Händen auf die Lenden und heulten immer wilder ihr Waï! Waï! ja Hassan! ja Hussein!
Auf dem Punkte, von den 72 Pfeilen getroffen zu werden, die seinem Leben ein Ende machen sollen, hat Hussein die Genugthuung, daß ein fränkischer Abgesandter – aller Augen richteten sich dabei unwillkürlich auf uns Europäer – ihm die Hülfe seines Königs anbietet, und daß selbst die wildesten Thiere, Löwe und Tiger, ihm beistehen wollen. Doch der fromme Imam weist jede Hülfe zurück, sich allein in Gottes Willen schickend, und nun geht die Mordscene in aller Ausführlichkeit vor sich.
In dem Augenblick, als das rothe Blut auf seinem von Pfeilen durchbohrten Körper sichtbar ward, erhob sich in tobender Wuth der ganze Zuschauerkreis, drängte nach der Bühne zu, und fast hatte ich Bange, der Fanatismus, einmal losgelassen, würde sich gegen uns richten. Allein es galt den Schauspielern, welche die Partei der Feinde des Imam darstellen, die sich auf das Schleunigste zurückziehen müssen, um nicht der religiösen Volkswuth anheimzufallen.
Oft genug tritt ein wirklicher Kampf ein, der bisweilen mit dem Tode mehrerer Personen endet. Ein solcher Tod wird aber als etwas Gott besonders Wohlgefälliges angesehen, und wenn sich auch der leicht erregbare Perser nicht grade danach sehnt, so fürchtet er ihn doch auch nicht. In der kleinen Stadt Demawend, in der Nähe des gleichnamigen Berges, 2 bis 3 Tagereisen von Teheran entfernt, findet fast alljährlich eine große religiöse Prügelei statt. Wer stirbt, wird als Paradiesgänger geradezu beneidet.
Trotz der ungeheuersten Aufregung ging Alles ruhig vorüber. Wir erwarteten den Abfluß der Menge, stiegen die steile Treppe nach dem Hofe der Moschee hernieder und begaben uns, von Soldaten und Dienern begleitet, zwischen – lachendem Volke nach unserer Wohnung im Garten.
Ich muß noch zum Schlusse die Bemerkung hinzufügen, daß diese Schauspiele, welche so lebhaft an die Mysterien des Mittelalters und an die heiligen Passionsspiele in manchen katholischen Ländern erinnern (man denke an die Oberammergauer Bauernspiele), sehr alten Ursprunges sind. Einer der ersten Reisenden, der sie gesehen und beschrieben, ist der bekannte Adam Olearius, welcher im Jahre 1635 als Secretair des herzoglich holstein-gottorpischen Gesandten nach Persien ging und in Ardebil einem solchen Trauerfeste beiwohnte. Nicht genug kann er in seiner drolligen Weise erzählen von den Leuten, welche „riefen und schrieen mit weit aufgesperrten Mäulern und ernsthaften Gebehrden, auch so heftig, daß sie unterm Gesichte ganz braun wurden.“
[30]
Deutsche Frauen.
Deutschland kann stolz sein auf seine Frauen, denn in seinen schwersten und trübsten Tagen haben viele von ihnen ein so muthiges, von edelster Vaterlandsliebe erfülltes Herz gezeigt, wie es manchem Manne zu wünschen gewesen wäre. Eine deutsche Frau war es, die 1806 ihrem Gatten, dem Commandanten von Küstrin, dem Oberst von Ingersleben, zu Füßen fiel und auf den Knieen ihn beschwor, seine und des deutschen Namens Ehre zu retten und die Festung nicht zu übergeben. Eine deutsche Frau war es, welche das Geschick damals an die Spitze eines großen Staates gestellt hatte, die, von echtem deutschem Sinne belebt, fast allein nicht Herz und Muth verlor, als Alles verloren zu sein schien – Louise, die Königin von Preußen. Deutsche Frauen sind, als der Freiheitskampf entbrannte, aus edelster Begeisterung hinausgetreten aus des Weibes Kreise, haben mitgekämpft für Deutschlands Recht und Ehre und sind mit freudigem Herzen für ihr Vaterland gestorben. Wir wollen hier nur an jene einundzwanzigjährige Eleonore Prohaska erinnern, welche unter den Lützowern mitkämpfte und in dem Gefecht an der Göhrde fiel.
Und wie viele andere Namen, die dem weiblichen Geschlechte zur Ehre gereichen, könnten wir nennen, wenn wir von den Blättern der Geschichte absehen und in die Privatkreise blicken wollten. Doch das ist nicht unser Zweck. Wir wollen den Blick unserer Leser auf mehrere deutsche Frauen richten, deren Namen nur Wenigen bekannt sind und die doch vor Allen verdienen, als Vorbilder hingestellt zu werden für künftige Tage und Zeiten. –
Am Morgen des 22. April 1809 herrschte in dem hessischen Städtchen Homberg – 9 Stunden von Cassel entfernt und ebensoweit von Marburg – welches damals zum Werra-Departement (Präfectur Marburg) gehörte, ein aufgeregtes, fast stürmisches Leben. Auf den nahen Dörfern tönten die Sturmglocken und aus der ganzen Umgegend strömten Landleute und ehemalige Soldaten, mit Gewehren, Säbeln, Heugabeln. Sensen und zum Theil auch nur mit Knütteln bewaffnet, dem Städtchen zu und wurden dort mit Jubel empfangen.
Auf dem Marktplatze waren zwei Schwadronen des ersten Cürassier Regiments, von dem Rittmeister von Weißen und dem Lieutenant Giesewald commandirt, aufmarschirt und wurden mit lautem Hurrah von den Landleuten begrüßt. Bürger mischten sich unter sie, Krüge mit Bier und Flaschen mit Branntwein in den Händen, um die weither Gekommenen zu stärken und die Begeisterung in den Köpfen frisch zu erhalten. Der greise Metropolitan der Stadt, Martin, wendete sich auf erhöhtem Standpunkte an die einige Tausend Köpfe zählenden Versammelten, um ihnen mit begeisterten Worten darzulegen, daß es ein rechtmäßiges, ehrenvolles Werk sei, welches sie vorhätten, und eine Proclamation vorzulesen. Mit klaren Worten sprach dieselbe aus, daß der Aufstand, an dessen Spitze der Oberst von Dörnberg stehe, keinen andern Zweck habe, als „Kurhessen, ganz Westphalen, ja wo möglich ganz Deutschland vom Joche der Fremden zu befreien und zu ehrenvoller Selbstständigkeit zurück zu führen.“ Der angestammte Landesherr solle wieder auf seinen rechtmäßigen Thron gesetzt werden.
Das erfaßte die Herzen der Bauern. Ein Lebehoch um das andere wurde dem Kurfürsten gebracht und noch lauter allen Franzosen Tod und Verderben geschworen.
Die Begeisterung ließ nicht nach, obschon der Tag weiter vorrückte. Der Sohn des greisen Metropolitan, der Friedensrichter Martin, suchte, mit einer bunten Uniform angethan, in den wirren Haufen Ordnung zu bringen und die Landleute nach Gemeinden abzutheilen, damit sie in Ordnung gegen Cassel ziehen könnten. Die Bauern aus den nächstliegenden Ortschaften wurden an die Spitze gestellt, dann kamen alte Soldaten, Jäger und Forstleute, fast die Einzigen, welche mit Schießwaffen versahen waren.
Während die aufgeregte Volksmasse in den Straßen der Stadt hin und herwogte und Manche sich auch wieder heimlich entfernten, waren die Anführer des Aufstandes in der Neustadt Homberg in dem Gebäude des Fräulein Stiftes von Wallenstein versammelt. Dort waren der Rittmeister von Weißen, der Lieutenant von Giesewald, der Metropolitan und Friedensrichter Martin, der Provisor Rommel und einige andere Männer, und mitten unter ihnen saßen fünf Frauen und nahmen an den ernsten Berathungen mit Theil.
Es waren die Aebtissin des Stiftes von Gilsa, die Dechantin Marie Anna von Stein, die Kanonissin von Metzsch und Sophie von Baumbach nebst deren Nichte Caroline von Baumbach.
Ein Theil der Männer war für das Aufgeben des ganzen Unternehmens, weil die Begeisterung der Bauern im Laufe des Tages schon sichtbar abgenommen hatte und nur mit einer tapfern, entschlossenen Schaar das gewagte Unternehmen auszuführen war. Da erhob sich Marianne von Stein, eine Frau von einigen sechzig Jahren und einer unscheinbaren Gestalt, aber aus ihren blauen klaren Augen, aus den bewegten geistvollen Zügen, aus der hohen Stirn, welche eine auffallende Aehnlichkeit mit der ihres Bruders Karl, des Retters von Preußen und Deutschland, zeigte, sprach ein überlegener Geist.
Mit bestimmten, klaren Worten wies sie darauf hin, daß das einmal begonnene Werk nicht aufgegeben werden dürfe. „Dörnberg erwartet Euch in Cassel,“ sprach sie, „gebt ihn und all die Männer, welche ihm zur Seite stehen, nicht preis. Die Saaten sind längst reif zum Schneiden. Tausende werden zu Euch strömen, sobald Ihr entschlossen vordringt, denn in hunderttausend Herzen lebt das Verlangen nach der Freiheit. Dem Muthigen gehört die Welt! Ich selbst würde mich nicht scheuen, mit Euch zu ziehen, wenn mein schwacher Arm nützen könnte. Steht nicht zurück, nun dieser lang ersehnte Tag endlich gekommen, bedenkt Eure – unsere Brüder an der Weser, an der Werra, der Saale und der Elbe, auf dem Harze – soweit der Druck der verhaßten Fremden reicht und die Freiheit darnieder liegt – sie Alle, Alle blicken auf Euch und erwarten von Euch, daß Ihr Männer seid, bereit, für des Volkes Höchstes Euer Höchstes – das Leben zu wagen!“ Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht und weckten auf’s Neue die wankenden Hoffnungen. Da stürmte Dörnberg in’s Zimmer, der, das Unternehmen verrathen glaubend, von Cassel entflohen und, von dem scharfen Ritte in Schweiß gebadet, Nachmittags 5 Uhr in Homberg angekommen war.
Sein Erscheinen rief Freude und Erstaunen zugleich hervor. Mit wenigen Worten erzählte er den Grund seiner Flucht. „Noch ist nichts verloren,“ rief er, „wenn wir schnell zu handeln verstehen. Heute noch müssen wir aufbrechen, morgen früh vor Cassel stehen, wo Alles bereit ist; wir wollen den Feind aufrütteln, ehe er von selbst erwacht. König Jerôme ist nicht gewöhnt, früh aufzustehen. Ich habe Nachricht aus Berlin von Schill; er erwartet nur das Zeichen durch unser Losbrechen – noch ist Alles zu retten! – Können wir uns auf die Landleute mit Zuversicht verlassen?“ wandte er sich fragend an den Friedensrichter Martin.
„Ich stehe für sie ein, Herr General,“ entgegnete Martin. „Einige Tausend sind in der Stadt, ich habe sie organisirt, und unterwegs dürfen wir noch auf einen starken Zuzug rechnen.“
„General?“ wiederholte Dörnberg lächelnd und nicht ohne einiges Erstaunen auf die Uniform des Friedensrichter blickend.
„Gewiß,“ rief Martin. „Sie sind unser General, und ich habe mich Ihnen freiwillig als Ihr Oberst untergeordnet. Etwas müssen wir doch auch für unsere Mühen haben.“
„Gott ist mein Zeuge,“ unterbrach ihn Dörnberg, „daß ich an mein Interesse noch nicht gedacht habe. Der Freiheit und dem Vaterlande! ist mein Wahlspruch, ihm will ich getreu bleiben! – doch wir müssen aufbrechen, die Zeit drängt.“
„Noch einen Augenblick,“ sprach Marianne von Stein vortretend. „Von dem ersten Entstehen dieses Unternehmens an haben wir daran Theil genommen, unter unsern Augen ist es herangewachsen, und nun es endlich in’s Leben tritt, muß unser schwacher Arm zurückstehen. Aber im Geiste werden wir bei Ihnen bleiben, und ich bitte Sie, dies Zeichen von meiner Hand anzunehmen und zu tragen!“
Sie überreichte ihm eine geschmackvoll gestickte Schärpe, welche Dörnberg, ihr die Hand küssend, in Empfang nahm und ausrief: „In Ihrem Geiste will ich sie tragen.“ Auch die Aebtissin von Gilsa, die Kanonissin von Metzsch und Sophie von Baumbach überreichten den Anführern selbstgestickte Schärpen. Nur die jugendliche Caroline von Baumbach blieb ruhig, sinnend am Fenster stehen und blickte hinab auf die Straße. Die Anführer des Unternehmens verließen das Stift und brachen auf. Es war Abends gegen sieben Uhr. Auf dem Marktplatze waren die gesammten Streitkräfte aufmarschirt. Der Oberst von Dörnberg mit den übrigen [31] Officieren erschien vor der Fronte. Die tiefste Stille trat ein. Rings hatte sich ein großer, dichtgeschlossener Kreis von Neugierigen und Zuschauern gebildet.
Eben war Dörnberg im Begriff, an die versammelte Mannschaft eine kurze Anrede zu halten, da öffnete sich der Kreis der Zuschauer und eine jugendlich schöne Frauengestalt drängte sich hindurch. Aus ihren Augen leuchtete eine schwärmerische Begeisterung, ihre Wangen glühten, und die letzten Strahlen der scheidenden Sonne, welche mit röthlichem Schimmer auf sie fielen und ihre ganze Gestalt umglühten, ließen sie in diesem Augenblicke fast wie eine Heilige erscheinen. Diesen Eindruck machte sie auch auf all die Versammelten. Fast Niemandes Brust wagte auszuathmen, und doch schlugen die Herzen darin lauter und schneller. Diese Frauengestalt war Caroline von Baumbach. In ihrer Rechten trug sie ein roth-weißes Banner mit der von ihrer Hand hineingestickten goldenen Devise: „Sieg oder Tod, im Kampfe für das Vaterland!“
Wie die Jungfrau von Orleans stand sie da, wahrhaftig erhaben und groß, als sie das Banner entfaltete und Dörnberg überreichte. Mit entblößtem Haupte empfing dieser die Fahne und rief mit lauter Stimme die Worte nach: „Ja, Sieg oder Tod!“
Eine lautlose Stille hatte bis dahin geherrscht, jetzt brach sich die Erregung der Menge durch den von tausend Lippen wiederholten Ruf „Sieg oder Tod!“ Raum. Ja, es loderte eine wahre und edle Begeisterung in diesem Augenblicke in Aller Herzen, und wären sie jetzt sogleich dem Feinde entgegengeführt worden, sie würden die schwachen Stützen, auf denen König Jerôme’s Thron aufgebaut war, zertrümmert haben, und einige Jahre früher würde die Sonne der Freiheit über Deutschland aufgestiegen und von deutschem Boden der Feind verjagt worden sein, den jedes deutsche Herz jetzt wie damals hassen und verachten muß, weil er das nicht achtet, was des Deutschen Stolz und Größe ist: die Ehre seines Namens und seines Hauses!
Gegen acht Uhr brachen die versammelten Streitkräfte von Homberg auf gen Cassel. Das Ende dieses Zuges und des ganzen Unternehmens ist bekannt. Es mißglückte, und mit ihm sanken all die Hoffnungen in den Staub, die darauf gebaut waren. Unsere Absicht ist nur, den Blick auf die Frauen zurückzulenken, die so eng damit verknüpft waren. Das Fräulein-Stift zu Homberg kann man mit Recht den geistigen Heerd dieses ganzen Unternehmens nennen. Dort trafen sich die Vertrauten und Verbündeten, dorthin konnten sie unbeachtet unter dem Namen von Eltern und Verwandten der Stiftsdamen kommen, und dort wurden all die einzelnen Flammen angezündet, welche einst zusammenschlagen und den schmachvollen Thron der Tyrannei in Asche legen sollten.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte eine Erbtochter des 1745 im Mannsstamm erloschenen Geschlechtes der Freiherren von Wallenstein das Fräulein-Stift in Homberg gegründet, in welches nur Töchter des ältesten Adels, welche mindestens sechzehn Ahnen ausweisen konnten, aufgenommen wurden. 1809 zählte die Anstalt dreizehn Pfründnerinnen, allein nur drei derselben, die Aebtissin von Gilsa, die Dechantin Maria Anna von Stein, welche später Aebtissin dieses Stiftes wurde, und die Kanonissin von Metzsch, waren damals im Stifte selbst wohnhaft.
Marianne von Stein, die jüngste Schwester des Ministers von Stein, welche ihm in geistiger Beziehung am nächsten stand und bis zu seinem Tode seine Vertraute und Lieblingsschwester blieb, war gleichsam die Anführerin des Unternehmens unter den Frauen. Ihr schlossen sich noch an: die in Homberg wohnende Schwester des 1808 verstorbenen kurhessischen Ministers von Baumbach, Sophie, und deren Nichte Caroline von Baumbach, dann die gleichfalls in Homberg wohnende Schwester Georg von Dalwigk’s, Frau Wolff von Gudenberg, geborene von Dalwigk, und einige andere Damen vom Adel.
Marianne von Stein, welche mit ihrem Bruder, dem Minister, und dem Grafen Münster in fortwährender Correspondenz stand und von ihnen Rathschläge empfing, war durch Dörnberg von Anfang an in das Unternehmen eingeweiht. Durch ihre klare, scharfe Auffassung, ihren hellen Verstand, ihre begeisterte Vaterlands- und Freiheitsliebe war sie würdig und fähig dazu, wie kaum eine zweite Frau, und sie hat ein Wesentliches dazu beigetragen, daß das Unternehmen zur Ausführung kam. An dem Mißlingen desselben trug sie keine Schuld, ebenso wenig wie irgend einer der Anführer. Marianne von Stein war in Eugen von Hirschfeld’s Plan, in Katte’s und Schill’s Unternehmen gleichfalls eingeweiht, und sie vermittelte die einzelnen Beziehungen und Nachrichten zwischen den verschiedenen Anführern. In dem Stifte zu Homberg trafen sich die einzelnen Vertrauten aus der ganzen Umgegend, denn soweit reichte der Scharfblick der französisch-westphälischen Polizei nicht, um zu errathen, daß dort unter den Augen und zum Theil mit von der Hand einer deutschen Frau Fäden gesponnen wurden, welche das ganze schmachvolle westphälische Königthum zusammenreißen sollten. Und wie klug diese Frauen an dem Werke mitgearbeitet haben, zeigte sich an den Folgen und den Verfolgungen, denen sie nach dem Scheitern ausgesetzt wurden.
Der westphälische „Moniteur“, ein ebenso serviles, erbärmliches Blatt wie der französische Moniteur, brach erst am 25. April über den ganzen Vorfall sein Schweigen, indem er nun in echt französischer Weise mit napoleonischen Rodomontaden die Posaunen des Triumphs ertönen ließ und des Königs Sieg verkündete über „einige Landleute, welche sich von Feinden des Vaterlandes hätten verleiten lassen.“ An demselben Tage erschien der General-Commissär der Polizei, von Wolff, mit dem Gensd’armerie-Capitain Dudon d’Envals in Homberg zur Untersuchung. Er kehrte schon am folgenden Tage zurück, ohne Etwas entdeckt zu haben, denn er berichtete nach Cassel, daß nur „Anscheinspuren einer Theilnahme in Homberg vorfindlich gewesen“. Für ihn erschien schon am Abend des 26. April ein besser unterrichteter Polizeibeamter, von einem Militair-Detachement begleitet. Er verhaftete sofort außer verschiedenen anderen Personen die Stiftsdamen von Gilsa, von Stein und von Metzsch, die Gattin des Escadronschefs Wolff von Gudenberg, Sophie und Caroline von Baumbach und führte sie nach Cassel, wo die Frauen wegen Ueberfüllung des Castells einstweilen im Gefangenhause untergebracht wurden.
Am 4. Mai erschien endlich in Nr. 53 des „Moniteur“ ein Decret vom 30. April: „In Erwägung, daß die Aebtissin und die Kanonissinnen des Stifts Wallenstein zu Homberg nicht allein die Absichten der Empörer in unserem Königreiche begünstigt, sondern sogar die Schärpen der Aufrührer gestickt und ihnen noch 3000 Thaler zur Unterstützung in diesem Aufruhr gegeben, verordnen wir: Art. 1. Der Aebtissin und den anwesenden Kanonissinnen des Stifts Wallenstein zu Homberg sind ihre Pfründen genommen. Art. 2. Beschlagnahme und Sequestration der in unseren und anderen Landen gelegenen Güter und Einkünfte genannten Stiftes etc.“
Daß von den dreizehn Stiftsdamen nur drei in dem Stift gewesen waren und an dem Unternehmen Theil genommen, machte nichts aus – französische Gerechtigkeit! Jerôme überwies später das auf 451,000 Thaler geschätzte Stiftsvermögen an den von ihm gestifteten Kronenorden. Dies Urtheil war gefällt und ausgeführt, ehe die Stiftsdamen überhaupt nur verhört waren. Das erste Verhör mit Marianne von Stein und der Kanonissin von Metzsch fand am 18. Mai statt. Es führte zu keinem Resultate, da ihnen namentlich ein Briefwechsel mit dem Freiherrn v. Stein während der letzten zwei Jahre nicht nachzuweisen war. Während die Aebtissin gar nicht verhört war, wurde allen drei Stiftsdamen am 20. Mai Abends 7 Uhr durch einen Gensd’arm angekündigt, daß sie sich zur Reise nach Mainz in Bereitschaft zu halten hätten. Es wurde ihnen freigestellt, ob sie zu Fuß oder durch Brigaden escortirt auf Leiterwagen oder mit der Post auf eigene Kosten reisen wollten. Sie wählten den letzten Weg, wozu ihnen der Bruder der Aebtissin das Geld verschaffte. Um 10 Uhr Abends bei Sturm und Regen reisten sie von zwei Gensd’armen begleitet ab und trafen am 23. in Mainz an, wo sie vorläufig in einem Privathause unter Bewachung untergebracht wurden.
Marianne von Stein, auf welche das Mißlingen des Unternehmens, auf das sie ihre schönsten Lebenshoffnungen, die Freiheit des Vaterlandes, so fest gebaut hatte, einen weit tieferen Eindruck hervorgerufen, als ihre eigene Verhaftung und unwürdige Behandlung, war leidend – krank. Trotzdem wurde sie schon am 25. Mai nach Paris geschleppt und dort in das Präfecturgefängniß gebracht. Hier schien sie gänzlich vergessen zu sein, da nicht einmal ein Verhör mit ihr angestellt wurde, bis es endlich den Bemühungen ihrer Nichte und deren Gemahls, des sächsischen Gesandten, Grafen Senfft-Pilsach, gelang, ihre Freiheit zu erwirken. Erst im Winter 1809–10 durfte sie indeß nach Deutschland zurückkehren.
Die Aebtissin von Gilsa und Fräulein von Metzsch blieben [32] als Gefangene in Mainz. Frau Wolff von Gudenberg, der nichts weiter zu beweisen war, als daß sie ihrem Manne ein rothes Bändchen, das Erkennungszeichen der an dem Unternehmen Betheiligten, gesandt habe, welches der Polizei in die Hände gefallen war, wurde bald wegen Kränklichkeit entlassen.
Auch Sophie von Baumbach erhielt wegen mangelnder Beweise die Freiheit, indeß weigerte sie sich, ihre Nichte Caroline zu verlassen, und folgte ihr in das Gefängniß, wo sie schon am 8. Mai starb. Die Brüder von Baumbach, von Siebertshausen, Sontra und Lenderscheid kauften mit 200 Thaler ihren Leichnam vom Einscharren los und ließen ihn in der Kirche zu Sontra beisetzen.
Caroline von Baumbach hatte in dem Verhöre mit entschlossenem Muthe gestanden, daß sie Dörnberg die Fahne übergeben und dieselbe selbst gestickt habe. Auf sie und Marianne von Stein schien Jerôme seinen ganzen Groll geworfen zu haben. Vergebens wandte sie sich brieflich aus dem Castell zu Cassel an den König und ihm nahe stehende Personen, um ihre Freiheit wieder zu erlangen.
Ihr Vater und Oheim kauften sie endlich im Juni mit 12,000 Francs los. Sie richtete 1813 auf dem von Baumbach’schen Burgsitze zu Sontra ein Lazareth für kranke und verwundete Preußen ein, deren Pflege sie sich selbst widmete, und starb im Februar 1814 am Typhus, den sie sich durch ihre aufopfernde Thätigkeit zugezogen.
Da den Stiftsdamen keine Theilnahme an dem Aufstande bewiesen werden konnte, so erhielten sie später, nach wiederholtem Drängen, für ihr bedeutendes Einlagecapital eine geringe Abfindungssumme. Nach der westphälischen Zeit wurde das Stift wieder hergestellt und Maria Anna von Stein die Aebtissin desselben.
Nicht ohne Bewegung können wir auf die hochherzige und muthige Gesinnung dieser Frauen zurückblicken. Ihre Thaten füllen einige schöne Zeilen in der Geschichte Deutschlands; um so schmerzlicher muß es uns indeß berühren, wenn wir sehen, wie schon damals die edelsten Handlungen verkannt und mißdeutet wurden. Die Magdeburger Zeitung von 1809 sagt in Nr. 60 v. 23. Mai über diesen ganzen Vorfall:
„Die Revolutionsgeschichte in Hessen kann einem Schriftsteller Stoff zu einem weitläufigen Roman geben, denn es kommen, wie in allen Romanen, auch Frauenzimmer und, was die Hauptsache ist, auch Liebesgeschichten vor. Man weiß, daß die Kanonissinnen des evangelischen Stifts Wallenstein zu Homberg den Insurgenten die Feldbinden gestickt haben. Höchst wahrscheinlich hatte sich jede dieser edlen Fräulein einen Ritter in dem Häuflein auserkoren, den sie durch dieses Panier zu einem Roland stempeln wollte. Das Fräulein von Stein hatte sich den von Dörnberg zum Mann ihres Herzens erkoren. Diesem Anführer weihte sie eine große Fahne, worin sein und ihr Name verschlungen gestickt war.“ –
Ebenso empören muß uns aber auch das Benehmen des Kurfürsten von Hessen, Wilhelm I., der in Prag weilte. Ihn auf den Thron zurückzuführen, war mit der Zweck des ganzen Unternehmens, daran setzten so viele Männer ihre Freiheit und ihr Leben, und als Dörnberg’s Bruder Fritz im Februar nach Prag zu ihm gesandt war, um ihn um Unterstützung zu bitten, wurde er kalt aufgenommen und erlangte von dem Kurfürst nicht mehr, als eine Anweisung auf 30,000 Thaler mit der mehr als seltsamen Clausel: „zahlbar, wenn die Pläne gelungen sind!“ Kurfürst Wilhelm I. hätte von Frauen seines Landes lernen können, welche Opfer ein edler, hochherziger Sinn zu bringen im Stande ist!
Blätter und Blüthen.
Ein japanesisches Hotel. „Es wurde,“ erzählte ein Hamburger, der
vor Kurzem Japan besuchte, „für mich ein Stuhl gebracht, um darauf in
europäischer Weise zu sitzen, und die japanesische Wirthin, eine mittelalterlige
und schwarzzähnige Person von angenehmem Aeußern und häßlichen Manieren,
erschien. Ihr Mann kam bald daraus ebenfalls und Beide bemühten sich
unsere Bedürfnisse zu erforschen und ihnen zu genügen. Ihnen folgten
drei junge Kellnerinnen, welche ihre natürlichen, weißglänzenden Zähne
hatten, deren angeborene gesunde Gesichtsfarbe noch durch eine künstliche
Anwendung von Perlenstaub und Schminke erhöht und deren Lippen
dunkelcarmoisin gefärbt waren. Diese jungen Kellnerinnen werden stets
unter den Schönsten und Angenehmsten ihres Geschlechtes ausgesucht und
benehmen sich mit einfacher, kunstloser Bescheidenheit. In allen Hotels
jener Gegenden warten die schönsten Mädchen auf, und man sagte mir, daß
sie eine sehr anständige Classe von Mädchen seien und die japanesischen
Gesetze sie auf das Strengste beschützten, so lange sie einen solchen Platz
in diesen Erfrischungshäusern einnähmen. Bei dieser Gelegenheit überhäufte
mich die Wirthin und ihre drei Mädchen mit Aufmerksamkeiten; sie
stellten meinen Stuhl an den bequemsten Platz, legten meine Reisedecken zusammen,
wischten meine Schuhe ab, legten ein Kissen auf meinen Sitz und
kamen jedem Wunsche zuvor. Kuchen, Suppe, Reis und Süßigkeiten wurden
eins nach dem andern hereingebracht. Ein lachendes, helläugiges Mädchen
näherte sich mir knieend mit einer Tasse Thee in der Hand, während
eine zweite, die an der andern Seite kniete, Zucker hielt und eine dritte
in derselben Stellung mir ein gekochtes Ei an den Mund führte, welches
bereits geschält und zerbrochen und mit Salz bestreut in einem Löffel lag.
Mit geschwätziger Lebhaftigkeit kamen sie jedem Blicke zuvor und wenn meine
Wünsche erfüllt waren, blieben sie dicht an meiner Seite knieen und
wetteiferten, mir zuerst ihre einheimischen Leckerbissen zu bringen. Nachher
untersuchten sie meine Kleidungsstücke, und jeder Theil meiner Equipirung
war ein Gegenstand lebhafter Unterhaltung und spaßhafter Verwunderung.
Europäische Schuhe, Strümpfe, wollenes Tuch und Regenschirm wurden
eifrig untersucht und lieferten Stoff zu erneueter Neugierde und Heiterkeit.“
Dompfaffen oder Gimpel haben wir bisher immer als sehr unschuldige Vögel
betrachtet und waren daher sehr erstaunt, eine schwere Anklage
gegen sie in einem englischen Sporting-Journale zu finden. Ein Herr
Warren, der in der Grafschaft Cork in Irland wohnt, klagt, daß die Dompfaffen
überhand nehmen und seine Aepfel- und Birnenbäume ruiniren.
Sie picken nämlich die jungen Blätterknospen ab, und das Schlimmste ist,
daß die Zweige, welche sie im Frühjahr abfressen, im nächsten Winter oder
Frühjahr absterben. Der genannte Herr behauptet, daß ein einziges Paar
Dompfaffen im Stande sei, einen Morgen Baumgarten in einer Woche
zu verderben. Was sagt Herr A. Brehm dazu?
Der heutigen Nummer unsers Blattes liegt die Probenummer der nunmehr im Verlage der Gartenlaube erscheinenden populär-naturwissenschaftlichen Zeitschrift
bei. Indem wir auf die Einleitungsworte des bekannten Herausgebers verweisen, enthalten wir uns jeder Anpreisung des Unternehmens, für dessen
Werth wohl der Name des Redacteurs allen Freunden der Natur gegenüber genugsam Bürgschaft leistet. Wer in der großen und schönen menschlichen
Heimath, der Natur, nicht länger mehr ein Fremdling bleiben will, dem empfehlen wir dieses Blatt, das mit Erfolg seit einigen Jahren Verständniß
und Kenntniß der Natur gefördert hat.
Die Redaction der Gartenl.
Mit dem heutigen Tage erlischt die Herabsetzung der Jahrgänge 1857–1859 und tritt der alte Preis von 2 Thlr. pro Jahrgang wieder ein.
Gleichzeitig wird wiederholt ersucht, alle Briefe und Zuschriften in Angelegenheiten der Redaction stets an die unterzeichnete
Buchhandlung zu richten. Ernst Keil.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage „Urtel“