Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
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Titel: Die Braut in Trauer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 641–644
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzungsroman in 11 Teilen // Heft 40–50
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[641]

Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
„Hat das Trauergewand seinen Grund in dem Bedürfniß des Gemüths, der Stimmung des Schmerzes äußeren Ausdruck zu geben? So scheint es. Was ist natürlicher, möchte man sagen, als daß die düstere Stimmung zur düsteren Farbe greift? Wenn der Sonnenschein des Lebens der Nacht gewichen ist, so kleidet sich das Leben in die Farbe der Nacht: in Schwarz. Die Auffassung hat etwas Bestechendes, aber sie erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig. Das Schwarz ist nicht des Trauernden, sondern der dritten Personen wegen da, mit denen er in Berührung tritt, es ist nicht die Farbe des Hauses, sondern des Verkehrs, darum wiederholt sie sich außer an dem Kleide und dem Hute (beim männlichen Geschlecht als Flor) auch an dem schwarzen Rande der Briefcouverts, des Papiers, Siegellacks, kurz, die schwarze Farbe kehrt ihr Antlitz nicht dem Trauernden, sondern der Außenwelt zu, sie ist eine unablässig in Erinnerung gebrachte Todesanzeige. Das Schwarz soll eine Scheidewand ziehen zwischen dem Schmerz und dem Scherz, dem Kummer und der Freude, es soll den Trauernden sichern gegen die Heiterkeit der Welt und die Heiterkeit der Welt gegen ihn.“


1.

Die bekannte Equipage mit den beiden Braunen hielt vor dem Consul Berghen’schen Hause in der Liventstraße.

Zu beiden Seiten der Thür hatten sich, wie regelmäßig in diesem Fall, einige Krüppel, alte Weiber und bleiche Kinder aufgestellt, die Abfahrt der gnädigen Frau zu erwarten. Sie wußten, daß es dann für die Bettler jedesmal eine kleine Ernte gab, und ließen sich deshalb die Weile nicht lang werden. Der Kutscher in seiner dunkelgrünen Livree mit schwarzen Aufschlägen saß steif auf dem Bock und ließ nur mitunter die Spitze der Peitschenschnur tupfend auf den Hals oder Rücken der Pferde fallen, wenn sie sich irgend eine kleine Ungehörigkeit erlaubten. Seine würdige Haltung gab keinem Zweifel Raum, daß er sich voll bewußt war, in wessen Diensten er stand.

Endlich bewegte sich die schwere Thür, an der die Messingbeschläge bei der Bewegung aufblitzten. Eine Matrone, ganz in schwarzen Atlas gekleidet, trat am Arm einer schönen jungen Dame heraus, deren Anzug gleichfalls nur die schwarze Farbe erkennen ließ. Sie theilten nach rechts und links Gaben aus und empfingen dafür den üblichen „Gottes Lohn“. Es folgte der Diener mit Mänteln und Fußdecken, und ein Mädchen, das in der einen Hand einen Kranz von Immortellen, in der andern ein Körbchen mit Blumen nachtrug. Die junge Dame half der älteren in den bequemen Wagen und stieg dann selbst ein, der Diener rückte das Fußkissen zurecht und stopfte die Decke unter dasselbe, das Mädchen legte Kranz und Blumen auf den Rücksitz. Die alte Frau nickte freundlich dazu, der Diener schwang sich zum Kutscher auf den Bock und fort ging’s in scharfem Trabe durch die Speicherstraßen am Fluß über die Brücken der Vorstadt zu.

Das Ziel – der Kirchhof nahe am Thor – war als bekannt vorausgesetzt. Die Fahrt dorthin wiederholte sich fast täglich. Das Wetter mußte schon sehr unfreundlich oder ein Unwohlsein die Ursache sein, wenn sie einmal ausfiel. Der heutige Frühlingstag war kühl, aber hell, und die Sonne stand am blauen Himmel noch ziemlich hoch. Die Straßen zeigten sich belebt von Geschäftsleuten, aber auch von Spaziergängern, die sich die günstige Stunde zur Erholung nicht entgehen lassen wollten.

Die schöne junge Dame unterhielt sich lebhaft mit ihrer Begleiterin, half ihr auch das Rückenkissen zurechtlegen, das Kopftuch gegen die Windseite vorziehen und die Decke über den Knieen fester ziehen. Das Gespräch und diese kleinen Dienstleistungen hinderten sie nicht, ihre Aufmerksamkeit auch dem Straßengewühl zuzuwenden, das sie mit seiner bunten Abwechselung zu interessiren schien. Sie hatte den schwarzen Spitzenschleier hoch aufgeschlagen, sodaß er nur die Stirn beschattete, und ließ, ohne den Kopf viel zu bewegen, die Augen munter ausschauen.

„Da geht Lieutenant Kern von der Artillerie,“ sagte sie; „er wird grüßen, Mamachen.“ Dann wieder: „Herr von Blömel reitet ein schönes Pferd, es erinnert ein wenig an Robert’s Fuchs; aber er sitzt schlecht und führt es ungeschickt. Findest Du nicht auch?“ Bald darauf: „Das ist Emma Stein, mit der ich zusammen nach der Schule gegangen bin. Ich glaube, sie hat’s jetzt recht kümmerlich, seit ihr Bruder seine Stelle verloren hat, der die ganze Familie unterhielt, und ist doch zu stolz, sich mit einer Bitte an uns zu wenden. Onkel Benjamin wußte, daß sie Musikstunden suche, aber wenig dabei verdiene. Sie hat ihm ihre Uhr verkaufen wollen, aber er hat sie nicht angenommen und ihr lieber ein Darlehen gegeben. Sie thut mir recht leid. Osterfeld ist doch wohl zu hart gewesen.“

„Mein Schwiegersohn sieht auf Pünklichkeit im Geschäft vor Allem,“ antwortete die Frau Consul, „und der junge Mann hat’s sehr daran fehlen lassen. Für das arme Mädchen wird man ja etwas thun können. Erinnere mich daran, Helenchen. Wär’s nicht übrigens Zeit, liebstes Kind,“ nahm sie nach kurzem Schweigen wieder das Wort, „daß wir unsere Gedanken sammeln und uns auf den Besuch bei unserem theuren Robert im Herzen vorbereiten?“

„Ich brauche eine solche Vorbereitung gar nicht, Mamachen,“ antwortete Helene, mochte aber wohl merken, daß die Frau Consul [642] die Lippen fester zusammenschloß, und versenkte sich nun in den Anblick des Kranzes ihr gegenüber. Die frischen Farben wichen rasch von ihrer Wange, und bald rollte auch eine Thräne über dieselbe hinab auf die schwarze Busenschleife.

Nun hielt der Wagen vor der Pforte des altstädtischen Kirchhofs. Der Todtengräber und seine Frau, die in der Nähe arbeiteten, eilten herbei und waren sehr devot beim Aussteigen behülflich. Die Frau konnte gar nicht genug rühmen, wie schön das Wetter sei und wie hell der Sonnenschein, und wie sie sich freue, die Frau Consul bei gutem Wohlsein zu sehen. Und was noch die größte Neuigkeit sei: es habe sich eine Nachtigall eingefunden, die wunderschön schlage. „Das ist wohl dem jungen Herrn Berghen zu Ehren geschehen, liebes Fräulein,“ meinte sie.

Die Frau Consul tupfte mit dem Tuch die Augen.

„Er hört sie nicht mehr,“ sagte sie schwermüthig und seufzte tief. „Mein einziger Sohn!“

„Aber wir hören sie, Mamachen,“ suchte Helene zu trösten, und sind dankbar, „daß sie sein Grab aufgesucht hat, zu seinem Andenken mit ihrer süßen Stimme ihr Lied zu singen. Sie mahnt uns, daß die Welt auch über Gräbern schön ist und die Natur ein ewiges Auferstehungsfest feiert. Wir sollen durch die Trauer um das Verlorene nicht unsern Sinn dagegen verhärten.“

Die alte Dame schien wenig damit einverstanden.

„Es ist doch unser bester Trost,“ entgegnete sie mit einiger Schärfe, „daß wir den Lieben, die uns vorangegangen sind, bald nachfolgen. In ihnen leben wir.“

Helene wendete ihr rasch das Gesicht zu, als ob sie lebhaft antworten wollte, besann sich aber eines Anderen und senke den Blick zur Erde. Wie sie bedenklich das Köpfchen auf- und abbewegte, konnte man erraten, daß der Gegenstand sie noch weiter beschäftigte und nur die Rücksicht auf die Matrone ihr Schweigen aufnöthigte.

Der Diener trug den Kranz und das Blumenkörbchen nach. Jetzt, in der Nähe eines Eisengitters von schöner Arbeit, nahm das Fräulein ihm die Sachen ab und gab ihm einen Wink zurückzubleiben. Die Frau des Todtengräbers öffnete die schwere Thür und entfernte sich dann ebenfalls. Die beiden Damen traten in den inneren Raum. Er war sehr sauber gehalten, rundum mit frischen Tannen ausgelegt. Links in dem Gartenbeet lag eine Steinplatte, deren Inschrift kündete, daß darunter der Consul Philipp Berghen ruhe: vor etwa vier Jahren war er verstorben, wenig über fünfzig Jahre alt. Daneben rechts erhob sich ein Postament aus Granit, das eine weibliche Figur von Marmor trug, einen Engel mit gesenkten Flügeln und Palmenzweig. In die vordere Wand war ein Portrait-Medaillon von Marmor eingelassen. Es zeigte den Profilkopf eines noch sehr jungen Mannes, unverkennbar der alten Dame ähnlich. Darunter stand nur der Name „Robert“. Das Mounment war von Topfgewächsen umstellt, Kränze hingen auf den Ecken der Platte.

Die Beiden standen eine Weile und schauten schweigend darauf hin. Das geschah so jedesmal bei diesen Besuchen. Sie sprachen vermutlich ein stilles Gebet, denn die Frau Consul sagte „Amen“, und gab damit das Zeichen, daß sie in ihrer Andacht nicht weiter gestört werde. Sie selbst begann das Gespräch mit einem Lobe der Tugenden ihres verstorbenen Sohnes und erzählte aus seiner Kindheit, wie klug und gutherzig zugleich er gewesen sei, in Vielem seitnem trefflichen Vater ähnlich, aber noch geistig belebter und heiterer. Man hatte dieselben Dinge schon so oft durchgesprochen und kam doch nicht damit zu Ende. Darauf wurden mit einer zierlichen Harke die trockenen Blumen rings um den Steig fortgeschafft und frische Blumen aus dem Körbchen an die Stelle gestreut. Der Kranz fand seinen Platz auf dem Grabe des Consuls, der doch nicht ganz leer ausgehen durfte.

Damit war der Kreis dieser Liebespflichten erfüllt. Diesmal aber schien sich die alte Dame damit nicht begnügen zu wollen. Sie setzte sich auf das eiseene Sprossenbänkchen gegenüber den Monumenten und lud Helene ein, ihrem Beispiele zu folgen.

„Man ist hier recht geschützt gegen den Wind,“ sagte sie, „und die Sonne bedenkt uns freundlich. Sitzen wir noch ein Weilchen.“

Helene leistete sogleich Folge, blickte nun aber neugierig durch die Stäbe des Gitters nach andern Kirchhofsbesuchern aus oder in die erst halbbelaubten Kronen der alten Linden hinein, deren Geäste der Spielplatz der munteren Vögel war.

„Woran denkst Du, Helenchen?“ fragte nach einer kleinen Weile die alte Dame.

„An nichts, Mamachen,“ antwortete das Fräulein ganz unbefangen.

„Das ist aber doch nicht recht,“ verwies jene. „Man darf sich nicht überall durch die Außendinge zerstreuen lassen; es giebt Orte, die uns auffordern, unsere Gedanken zusammenzuhalten. Ich meine, an einem solchen befinden wir uns.“

„Gewiß!“ entgegnete Helene, das Köpfchen traurig senkend. „Aber wir sollten uns doch nicht zwingen, Empfindungen in uns über ihre natürliche Dauer hinaus zu verlängern. Es kommt mir das immer wie eine Unwahrheit gegen sich selbst vor.“

Die alte Dame wiegte den Kopf.

„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte sie. „Wie kann da von Zwang die Rede sein, liebes Kind? Wir sitzen hier am Grabe meines einzigen Sohnes und Deines Bräutigams. Können da andere Empfindungen in uns lebendig sein, als die der Liebe und der Trauer über den unersetzlichen Verlust?“

„Aber ich habe nicht so stark, wie Du, das Bedürfniß, sie in mir durch die Betrachtung der Ruhestelle des lieben Todten erwecken zu lassen,“ wendete das Mädchen schüchtern ein. „Ich stehe immer und überall unter ihrer Herrschaft – einen leidenschaftlichen Ansturm wehre ich nicht ab, reize mich aber auch nicht dazu. Brauche ich mir denn vorzuhalten, was ich verloren habe? Kann es einen schmerzlicheren Verlust geben als den meinigen? Aber man muß ja doch das Leben ertragen und der Gewohnheit ihr Recht lassen. Sind doch bereits zwei Jahre darüber hingegangen, seit wir hier an dem offenen Grabe standen.“

Die Frau Consul nickte.

„Zwei Jahre - ja, ja! Aber zählt man da nach Tagen und Jahren? Darf man der Zeit erlauben, unser Gefühl abzustumpfen? Weil’s in der Welt gemeinhin so zugeht, daß man den schwersten Kummer überwindet, muß man da nicht um so ängstlicher über sich selbst wachen, daß man die Erinnerung in sich stark erhält für das ganze Leben?“ Sie nahm die Hand des Mädchens in die ihrige und streichelte sie zärtlich. „Ich weiß,“ fuhr sie fort, „Du hast Robert geliebt und kannst keinen Menschen mehr lieben, wie ihn. Aber es hat manchmal den Anschein … wie soll ich’s sagen? als ob Du Dich schon gelassener in die Nothwendigkeit fügst, den Kummer, ihn verloren zu haben, tragen zu müssen – als ob Du gleichgültiger an die Zeit zurückdenkst, wo er Dir gehörte. Das tut mir weh. Ich habe mir schon lange vorgenommen, mit Dir darüber ein mütterlich-ernstes Wort zu sprechen. Beruhige mich, wenn Du kannst.“

Das Mädchen bückte sich rasch und küßte ihre Hand.

„Du siehst es so an,“ sagte sie bewegt, „und – bist die Mutter. Ich werde Dich nicht überzeugen können, daß Du Unrecht hast, und doch kann ich mir keine Schuld geben. Du hast das schöne Talent, Dir den Tag einteilen zu können nach seinen mancherlei Bedürfnissen. Diese Stunden sind Deinen Töchtern, diese Deiner Wirthschaft, diese Deiner Vereinsthätigkeit, diese Deinen gesellschaftlichen Pflichten oder der Lectüre bestimmt – und dann hast Du auch eine, die ganz und voll der Erinnerung an Deinen Sohn geweiht ist. Du gehst zu ihm, wie Du in die Kirche gehst, und Du gehst von ihm wie aus der Kirche: mit ganz befriedigtem Gemüth. Ich kann mir’s nicht so geben. Ich bin immer im Ganzen; was meinen inwendigen Menschen beeinflußt, das giebt ihm mehr eine allgemeine Stimmung, jede Stunde nimmt gleichmäßiger daran Theil. Besinnst Du Dich wohl? Als Robert noch lebte – hast Du mir da nicht manchmal den Vorwurf gemacht, daß ich in seiner Gegenwart nicht merklich genug froh werde, daß ich zu wenig zärtlich, zu kühl für eine glückliche Braut erscheine? Ich konnte aber nur mein Glückgefühl nicht aufsparen für die Stunde des Beisammenseins; ich empfand es immer mit gleicher Stärke und vermochte es dann kaum noch zu steigern, wenn es sich nach Dritter Erwartung beweisen sollte. So ist’s auch im Leid. Es verläßt mich nie ganz, es hat aber auch nicht seine vorbestimmte Stunde.“

Die alte Dame zog sie an sich und küßte ihre Stirn.

„Ich will überzeugt sein,“ sagte sie, „daß Du ihn noch immer liebst, wie Du ihn geliebt hast, daß Du ihm in Ewigkeit nicht untreu werden kannst. Versprich mir an seinem Grabe, daß Du seine Braut bleiben willst, so lange Dein Herz schlägt, und ich werde ganz beruhigt sein, nie eine geliebte Tochter zu verlieren.“

[643] „Aber wozu ein solches Versprechen, Mamachen?“ rief Helene, offenbar erschreckt und beängstigt. „Hast Du Grund, an mir zu zweifeln? Habe ich selbst Grund, mir die Fessel eines Gelübdes anzulegen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals anders empfinden könnte, als ich jetzt empfinde. Laß mir diese Zuversicht!“

Die Frau Consul war durch diese Antwort nur halb zufrieden gestellt.

„Liebes Kind,“ sagte sie, „das menschliche Herz ist schwach – tausend Erfahrungen sprechen leider dafür. Die Todten, meint man, seien todt, und man könne sie nicht mehr verletzen durch Vergessen. Aber sie sind nur todt, wenn man sie vergißt, und was ihnen entzogen wird, das wird denen entzogen, die ihr Andenken treu und unverbrüchlich bewahren. Eine Mutter kann des Sohnes Recht nicht verkümmern lassen in ihrem Herzen. Und darum, theuerstes Kind, wenn Du mich lieb hast, nimm allezeit freundliche Rücksicht auf meine eifersüchtige Schwäche. Ich will kein Gelöbniß verlangen. Zeige Dich mir aber immer so, als ob Du es gegeben hättest, und mein Dank soll Dir gewiß sein.“

Sie streichelte wieder ihre nun ganz kalte und schlaffe Hand. Helene sah vor sich hin auf die Erde.

„Wie ich auch nachdenke,“ entgegnete sie, „ich kann eine Veranlassung zu diesem sonderbaren Gespräche nicht finden, das mich ernstlich beunruhigen könnte. Ist mein Benehmen –“

„Nein, nein!“ unterbrach die alte Frau. „Ich habe Dir alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte. Und daß ich Dir’s nur gestehe – ich hatte dabei etwas im Sinn, woran Du nicht denken konntest. Vielleicht habe ich’s recht ungeschickt angefangen, da vorzusorgen. Aber Du sollst alles wissen, und am besten sogleich. Mein seit des theueren Robert’s Tode so stilles Haus wird sich bald wieder der Gesellschaft freier öffnen müssen. Herr Hauptmann von Gräwenstein hat gestern brieflich bei mir um meiner Vera Hand angehalten. Das Ereigniß war vorherzusehen, wie er sich in letzter Zeit zur Familie stellte. Er ist ein sehr achtbarer Mann, den mein guter Philipp, so wenig er sonst für das Militär schwärmte, gewiß gern zum Schwiegersohn angenommen hätte.“

Helene hatte auf der Bank eine halbe Wendung gemacht, um ihr besser in’s Gesicht sehen zu können.

„Ach!“ rief sie, „ist’s möglich? Aber Vera hat mir kein Wort gesagt.“

Die Frau Consul lächelte.

„Wie sollte sie? Der Herr Hauptmann hat sich natürlich erst meiner Zustimmung versichern wollen. Sie wird im Stillen vermuthet haben –“

„Es überrascht mich doch. Ihre Aeußerungen über Herrn von Gräwenstein waren nicht der Art.“

„Sie ist sich vielleicht wirklich ihrer Neigung erst jetzt recht bewußt geworden.“

„Das müßte es sein. Ich kann mir’s nur noch schwer zurechtlegen, wie diese beiden Menschen ein so inniges Verhältnis zu einander finden konnten. Vera ist eine so sensible Natur. Sie schien mir immer zu erschrecken, wenn er das Wort ergriff oder lachte.“

„Es ist für Vera gewiß ein Glück, daß sie eine feste Stütze für’s Leben erhält, wie sie ihrerseits wieder mildernd und veredelnd auf den Mann einwirken wird, der sie liebt. Ein sehr passendes Paar, denke ich. Wie dem sei, die Verlobung wird in den nächsten Tagen gefeiert werden, und es steht nichts im Wege, die Hochzeit sehr bald folgen zu lassen. Ein Brautpaar im Hause – das verändert gleich die ganze Situation. Ich verkenne nicht, liebstes Kind, daß Deine Lage eine schwierige ist. Eine gewisse äußerliche Betheiligung kann Dir nicht erspart bleiben, und doch darfst Du nicht vergessen, daß Du Deinem geliebten Todten um so mehr die zarteste Rücksicht schuldig bist. Ich meine, Du wirst Dich noch mehr – wie soll ich sagen? – klösterlich einschränken müssen, um Dein Wesen mit Deiner äußeren Erscheinung in Harmonie zu zeigen. Es ist Dir tiefstes Bedürfniß, das Trauerkleid nicht abzulegen; sorge nun aber auch dafür, daß man Dich so versteht … selbstverständlich , ohne die Gesellschaft zu verstimmen, die keinen Grund hat, sich Deinetwegen einen Zwang aufzulegen. Achte freundlich auf meine kleinen Winke, und Deine Aufgabe wird sich erleichtern. Du bist ja überzeugt, daß es Niemand auf der Welt mit Dir so gut meint, als ich, die Mutter Deines Robert. Und nun laß uns nach Hause eilen – es wird schon empfindlich kühl im Freien.“

Helene küßte ihre Hand, stand dann auf und öffnete die Gitterthür. Sie entgegnete nichts, aber ihre finstere Stirn und die gepreßten Lippen hätten eine Antwort geben können. Doch war sie auf dem Gange nach dem Wagen bemüht, die alte Dame davon nichts merken zu lassen. Während der Fahrt wurden nur gleichgültige Worte gewechselt. Erst in der Langgasse bat sie aussteigen zu dürfen, um dem alten Onkel Grün einen Besuch abzustatten, auf den er gewiß schon sehr lange warte. Frau Berghen widersprach nicht gerade, stimmte aber auch nur halb zu. Das Fräulein hielt den Entschluß fest und gab dem Kutscher das Zeichen zu halten.

„Darf ich Dir den Wagen schicken?“ fragte die Frau Consul.

Helene danke. „Ich möchte nicht so sehr an die Zeit gebunden sein,“ sagte sie und huschte fort.




2.

Der „alte Onkel Grün“ war Uhrmacher und hatte sein kleines Geschäft in einer lebhaften Seitenstraße. Er war ein Vetter von Helenens verstorbenem Vater und ihr einziger Verwandter in der Stadt, überdies ihr Vormund.

Die Frau Consul hatte gegen ihn nichts weiter einzuwenden, als daß er den alten Handwerksgebrauch beibehielt und an seinem Werktisch unter dem Fenster vom Morgen bis zum Abend fleißig arbeitete, statt in einem seinen Local den Uhrenhandel kaufmännisch zu betreiben. Die Bedürfnisse des Wittwers waren die mäßigsten; er begriff nicht, warum er sich Sorgen und Lasten aufbürden sollte, da ihn seine Geschicklichkeit doch gut nährte. Wirklich war er ein sehr gesuchter Arbeiter; wenn es ein besonders künstliches Werk zu repariren galt, wandte man sich nur an ihn und wußte ihn trotz des einfachen Schildes an seiner Thür und des schmucklosen Schaufensters allemal zu finden.

Als das Fräulein eintrat, saß er auf seinem gewohnten Platz im grauen Arbeitsrock, den grünen Blendschirm über der Stirn, die Augen mit einer mächtigen Brille bewaffnet, die einem kurzen Opernglase ähnlich sah. Vornübergebeugt setzte er mit einer feinen Zange ein kaum sichtbares Stiftchen in ein Uhrgehäuse ein. Unter einer Glasglocke neben ihm lagen noch mehr dergleichen zierliche Sächelchen, außerhalb aber die mannigfachsten Werkzeuge, Bürsten und weiche Läppchen. Er war so eifrig beschäftigt, daß er gar nicht umschaute, als die sich öffnende Thür eine Glocke über derselben in Bewegung setzte.

„Was steht zu Befehl?“ fragte er nur zurück.

Helene horchte ein Weilchen auf das Ticken der vielen großen und kleinen Uhren an den Wänden ringsum. Dieses Geräusch machte auf sie jedesmal denselben ganz eigenen Eindruck. Als Kind hatte sie immer behauptet, daß sie sich die Ohren zuhalten müsse, wenn sie sprechen wolle, da die Uhren gar so eifrig wären ihr zuvorzukommen. Der alte Herr mußte seine Frage noch einmal stellen.

„Guten Tag, Onkelchen,“ sagte sie nun und trat hinter ihn.

Er ließ sich nicht stören.

„Du bist’s, Lenchen!“ rief er nun, offenbar sehr erfreut. „Gieb mir einen Kuß auf die Backe, aber stoße mich nicht an, sonst fällt mir das da aus einander und ein Paar Stunden Arbeit sind umsonst. Ein sehr merkwürdiges Werk aus dem vorigen Jahrhundert, keine Fabrikwaare. Damals gab’s noch Uhrmacher, heut ist eigentlich nur noch der Name davon übrig geblieben. Die Maschinen schaffen’s auch accurater, aber an einer geschickten Hand hat man doch größere Freude. So eine alte Uhr ist etwas für sich, hat ihren eigenen Charaker. Was man jetzt kauft, ist immer nur eins von vielen Tausenden – eine langweilige Gesellschaft, Kindchen.“

Helene begrüßte ihn mit aller Vorsicht.

„Wende nur gar nicht den Kopf,“ bat sie; „ich setze mich hier zu einem gemüthlichen Plauderstündchen in Deine Nähe. Darf ich?“

„Lege doch ab. Wie geht’s, wie steht’s? Hast Dich lange nicht blicken lassen.“

„Es ist auch gar nichts Wichtiges vorgefallen, Onkelchen.“

„Und heut –?“

[644] „Heute auch nicht. Es war mir nur so um’s Herz, Dich wieder einmal zu sehen und sprechen zu hören.“

„Das freut mich, das freut mich. So – da sitzt der Stift fest. Nun hat’s weiter keine Gefahr mehr.“

„Aber sputen sich Deine Uhren komisch!“ rief das Mädchen lachend. „Es ist, als ob sie um die Zeit wettlaufen wollten.“ „Sie sind die Zeit,“ meinte er, „mit jedem Pendelschlag grenzen sie ein Stückchen Ewigkeit ab. Könnte man’s nur dahin bringen, daß sie so genau gingen wie die liebe Sonne, nach der sie sich richten sollen. Aber sie haben alle ihre Nücken. – Von wo kommst Du?“

„Vom Kirchhofe, Onkelchen.“

„Vom Kirchhofe – immer vom Kirchhofe!“ knurrte er. „Was will denn ein so frisches junges Ding immer bei den Todten?“

Helene seufzte.

„Wenn’s da seinen Bräutigam hat …“

„Ah! das ist ein trauriges Erlebniß – schreibt sich schon tief genug in’s Gedächtniß ein. Muß man denn immer stacheln?“

Das Mädchen schwieg und senke die Augen.

„Ich denke mir,“ fuhr er fort, ein kleines Rad putzend, „wenn Einer eine tiefe Wunde empfangen hat, die lebensgefährlich war, so soll er sie ausheilen lassen, so gut es gehen will, und nicht immer wieder geflissentlich aufreißen, um sich neuen Schmerz zu verursachen. Es dauert so schon lange genug, bis sie sich schließt. Wenn sie sich aber mit der Zeit schließt, so ist’s doch wohl ein Zeichen, daß das nach der Natur der Dinge so sein soll. Ich rede wahrlich dem Leichtsinn nicht das Wort, hab’ selbst ein schweres Gemüth und stoße nur langsam ab, was darauf drückt. Wenn man den Tag über immer schweigsam bei der Arbeit sitzt, über sein handwerksmäßiges Thun nicht viel nachzudenken hat und selten zerstreut wird – Du kannst Dir’s denken. Und ich habe eine Frau begraben, von der ich in alle Wege nur Liebes erfahren, und zwei Kinder, die reiche Hoffnung gaben. Ich hab’ mir’s nicht abgewehrt – bei Leibe nicht. Recht versenkt hab’ ich mich in meinen Schmerz und Kummer, und wohl auch gemeint, nie mehr gesund werden zu können. Aber gewaltsam widersetzt hab’ ich mich der Heilung nicht und dem Leben sein Recht gelassen. So bin ich denn wieder in’s Gleichgewicht gekommen. Wenn das einem alten Menschen gelingt, der schon im Absterben ist und von der Welt nicht mehr viel zu erwarten hat, wie viel mehr eignet es sich für einen jungen und kräftigen, dem sie noch mit allen ihren Herrlichkeiten offen steht! Warum soll der mit allen seinen Gedanken immer nur zurück zu dem Verlorenen? Das ist ein gemachtes Wesen, dem ich nicht das Wort reden kann.“

In ihr Gesicht schoß die Röthe.

„Glaubst Du denn, daß ich unwahr gegen mich bin?“ fragte sie.

„Hm – hm!“ brummte er. „Ein klein wenig doch. Es mag Dir selbst nicht recht klar werden. Ich kenne Dich ja von frühester Kindheit an, Lenchen. Ist das wahr? Du bist in Deines Vaters Hause ein so munteres Dingelchen gewesen, als nur eines in der Welt herumspringen kann, und das Unglück, das Dich durch seinen Tod traf und Deine Verhältnisse gar sehr veränderte, hat Dich um Deinen natürlichen Frohsinn nicht bringen können. Ich habe Dich ja alle die Zeit immer unter Augen gehabt, bis die Frau Consul Dich in ihr Haus nahm. Du hast damals einen starken Willen bewiesen, Dir selbst durchzuhelfen, und ich meine, der würde sich auch jetzt bewähren, wenn Du Deinem Herzen Ruhe lassen könntest. Ist es denn wirklich ganz gebrochen? Das wirst Du dem alten Onkel doch nicht einreden.“

„Ich will’s auch nicht,“ sagte sie, den Kopf noch tiefer senkend, in trotzigem Tone.

„Nun also! Da gehst Du nun schon fast zwei Jahre lang in tiefster Trauer –“

„Das ist der Wunsch meiner Wohlthäterin, Onkel.“

„Ja so! Die Frau Consul schreibt’s vor.“ Er hob die große Brille von der Nase und legte sie auf den Tisch.

„Sie schreibt’s nicht vor,“ antwortete das Mädchen. „Aber ich weiß, daß sie sich’s gar nicht anders vorstellen kann, als mich in Trauerkeidern zu sehen. Und warum soll ich der alten schwergeprüften Frau, die so engelgut ist, nicht diese rein äußerliche Beruhigung gewähren? Ich selbst … ja, wie weißt Du denn, daß ich nicht einem herzlichen Bedürfnisse folge?“

Sie wagte dabei doch nicht aufzublicken. Es mochte ihr durch den Sinn gehen, was eben nur auf dem Friedhofe verhandelt war. Hätte er das mit angehört!

Onkel Grün ließ sich auch gar nicht irre machen. Er hatte nun auch seinen grünen Schirm abgelegt und den Stuhl herumgewendet, und sah sie nun mit seinem freundlichen alten Gesichte etwas ungläubig an, doch immer nickend, als ob er ganz einverstanden wäre.

„Ja, ja,“ sagte er, „sie haben Dich tüchtig eingesponnen und sprechen Dir’s täglich vor, daß Du die Flügelchen gar nicht mehr brauchst. Und wenn Du hübsch artig bist und an ihren Fäden nicht zerrst, so thun sie Dir alles Erdenkliche zu Liebe, tragen Dich auf Händen und verhätscheln Dich. Aber gieb nur Acht: Was Du jetzt meinst freiwillig zu geben, werden sie bald glauben als eine Pflicht fordern zu dürfen. Sein und Schein wird für Dein Gefühl immer mehr aus einander gehen, und das erträgst Du nicht ohne schwere Einbuße. Darum rathe ich bei Zeiten: prüfe die Flügelchen und schwinge Dich auf!“

Er hatte ihre beiden Hände gefaßt und betrachtete sie abwechselnd. Von der rechten hatte sie den schwarzen Handschuh abgenommen, und die Grübchen in der zarten Rundung schimmerten röthlich. Der Gegensatz schien ihm recht in die Augen zu springen, und auch sie merkte wohl, daß er einen schalkhaften Hintergedanken hatte. Sie lächelte, da er gar nicht fertig werden konnte, sein Spiel zu wiederholen, und seufzte dann recht wehmüthig.

„Du meinst es gut mit mir,“ sagte sie nach einer Weile und stand auf. „Aber mir ist nicht mehr zu helfen. Ich kann doch nicht, wie ich will, und – ich weiß auch nicht einmal, was ich will. Wenn ich mich nur einmal recht aussprechen dürfte! Aber das darf ich nicht – selbst Dir gegenüber nicht. Es ist mir, als ob ich den guten Menschen schweres Unrecht thäte, die mich in ihrer Art so lieb haben und recht auf Händen tragen. Laß mich’s nur still mit mir ausmachen: es ist schon dafür gesorgt, daß ich innerlich nicht allzu schwarz werde.“

Dabei faßte sie seinen weißen Kopf und küßte ihm die Stirn.

„Und nun von etwas Anderem, Onkelchen!“

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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 41, S. 661–664
Fortsetzungsroman – Teil 2

[661] Onkel Grün wischte sich mit seinem rothen Taschentuche über die Augen.

„Von etwas Anderem!“ knurrte er. „Ja, womit unterhalte ich Dich denn, Lenchen? Von rechtswegen solltest Du mir die Neuigkeiten zutragen. Aber da fällt mir ein …“ Er öffnete einen kleinen Wandschrank und nahm einen Brief heraus. „Willst Du einmal lesen?“

„Von wem?“

„Von meinem Sohn, Lenchen.“

„Von Walter …“

Sie schien zu zögern.

„Lies nur, es sind keine Geheimnisse darin. Und über die gute Nachricht wirst Du Dich auch freuen, wenn Du dem Vetter Grün auch nicht sonderlich grün gewesen bist.“

Er lachte herzlich über das billige Wortspiel und schob ihr den Brief in die Hand. Dann konnte er aber doch nicht abwarten, bis sie ihn zu Ende gelesen hatte, obschon er inzwischen seine Taschenuhr mit den Wanduhren verglich und einige Zeiger stellte. „Das Beste steht zuletzt,“ rief er, „er hat nach glänzend bestandenem Examen hier eine Stelle am Gymnasium angenommen, kommt wieder zu seinem alten Vater zurück. Nun, sein Stübchen soll er in Ordnung finden.“

„Das wird Dir lieb sein,“ sagte Helene ohne sonderliche Bewegung. „Wie lange war Walter fort?“

„Fast drei Jahre,“ antwortete der Alte. „Er war ja noch Student, als er ging. Ganz richtig! Er wollte durchaus fort, als Du Dich mit Robert Berghen verlobt hattest. Er hatte sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt, daß Du das Seminar durchmachen und Gouvernante werden solltest.“

Helene erröthete leicht.

„Er quälte mich wirklich ein bischen mit seinen pedantischen Grillen,“ sagte sie. „Ich konnte es ihm in nichts recht machen.“

„Seine Beweise von Zärtlichkeit waren freilich etwas bärenmäßig.“

„O! Er hatte sein grausames Vergnügen daran, mir fortwährend die Wahrheit zu sagen.“

Onkel Grün blinzelte mit den freundlichen Augen.

„Zu schulmeistern wird er jetzt nichts mehr finden.“

„Glaube das doch nicht, Onkelchen. Leute seiner Art können es nicht lassen. Und jetzt ist gewiß an mir noch viel mehr auszusetzen, als damals. Wenn Du schon mit mir nicht zufrieden bist …“

„O, o! Das ist etwas anderes."

„Nein, nein! Walter mit seinen scharfen Augen wird noch viel tiefer sehen oder zu sehen meinen. Er wird alles an mir unnatürlich, verschroben, unehrlich finden. Auf die Umstände Rücksicht zu nehmen, war er niemals geneigt. Weißt Du – ich fürchte mich recht vor ihm.“

„Aber Lenchen!“

„Du kannst mir das nicht so nachempfinden, Onkel,“ fuhr sie eifrig fort. „Recht habe ich doch. Und wenn er gar kein Wort sprechen würde, ich könnte ihm von den Augen ablesen, was er dächte.“

Der alte Herr schüttelte den Kopf und sah dabei schon ein wenig verdrießlich aus, obgleich der Mund das freundliche Lächeln festzuhalten suchte. „Da thust Du ihm gewiß zu viel,“ sagte er. „Du steckst voll Einbildungen, Kind.“

„So!“ entgegnete Helene in schmollendem Ton und zugleich weinerlich , „ist das auch Einbildung, daß er mir damals, als er wegging, offen herausgesagt hat …“ Sie stockte.

„Nun, was hat er Dir gesagt, Lenchen?“

„Es war eigentlich recht abscheulich. Er hat mir gesagt, er glaube gar nicht daran, daß ich Robert Berghen liebe. Das Wort hat mich tief gekränkt, Onkel, und ich kann’s ihm gar nicht verzeihen.“

„Lenchen!“

„Nein, nein! Es sollte mich vor mir selbst recht in den Staub hinabdrücken. Etwas Kränkenderes konnte mir gar nicht gesagt werden. Ich hätte gern davon geschwiegen, wie ich bis jetzt geschwiegen habe. Aber da Walter nun zurückkommt – und es Dir doch auffallen müßte, wenn unser Verkehr nicht so freundschaftlich ist, wie es sich für Verwandte schickt – und weil Du mir dabei eine Schuld beimessen könntest, von welcher ich mich frei weiß, darum habe ich gesprochen, Onkel. Aber es ist nur für Dich. Walter erfährt nichts davon, daß ich geplaudert habe – hörst Du? Das würde mich bei ihm in noch schlechteres Licht setzen.“

„Auf meine Verschwiegenheit kannst Da rechnen,“ versicherte er. „Aber es thut mir doch aufrichtig leid …“

Sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß.

„Sorgen brauchst Du Dir deshalb gar nicht zu machen,“ sagte sie. „Aber damit er nicht wieder etwas äußert, was mich verletzen muß – über meine schwarzen Kleider etwa – erkläre ihm das alles, Onkelchen, recht aus meiner Lage heraus, und übernimm gegen ihn meine Vertheidigung, auch wenn Du ihm lieber zum Munde reden möchtest. Es wird sich dann schon nach [662] und nach verbluten. Und nun lebe wohl! Man wird zu Hause auf mich warten. Ich sehe bald wieder nach, wie Dir’s geht. Bis Walter kommt, dauert es ja auch noch eine Weile. Und nicht wahr, Du bist mir nicht böse, daß ich ihn verklagt habe? Ich wollte ihn auch gar nicht verklagen. Deinen Sohn! Wie könntest Du das denken! – Ach Gott, nun ist mir wieder recht schwer zu Muth. Aber es wird vorübergehen. Ade, Onkel Benjamin.“

Sie küßte seine Stirn und sein graues Haar, wischte eine Thräne von der Wange fort und verließ das Zimmer, ehe er ein Wort des Abschieds sagen konnte.

Die Uhren tickten ruhig weiter.




3.

Helene Grün war die einzige Tochter des verstorbenen Kaufmanns Emil Ferdinand Grün, dessen Name einmal an der Börse den hellsten Klang hatte. Er besaß eines der ersten Getreidegeschäfte in dieser Stadt, deren Wohlstand vornehmlich auf dem Getreidehandel basirt. Eine schwere Krankheit, in die er nach dem frühen Tode seiner geliebten Frau gefallen war, hinterließ bei ihm eine Reizbarkeit der Nerven, die den sonst so soliden Kaufmann zu waghalsigen Speculationen trieb und schließlich in der Gefahr um alle ruhige Ueberlegung brachte. Seine Gegner benutzten die Nothlage. Er machte Bankerott. Für sein einziges Kind konnte er nichts retten. Das zehrte an seinem Herzen; der Concurs war noch im Gange, als er sich auf’s Krankenbett legte und nach schweren Leiden starb. Es hieß, er habe keine Nahrung angenommen und dadurch sein Ende beschleunigt.

Helene war damals erst sechszehn Jahre alt. Sie hatte von den Sorgen ihres Vaters, von der Gefahr, in der er die letzte Zeit schwebte, keine Ahnung gehabt, ihr junges Leben in vollen Zügen genossen. Plötzlich mußte sie erfahren, daß sie ganz arm sei, und bald darauf der Leiche des theuersten Menschen folgen.

Der Onkel Benjamin Grün hatte sich ihrer angenommen. Die Vettern standen nicht sonderlich mit einander. Der Kaufmann fürchtete, durch häufigere und freundschaftliche Besuche zu beschweren, der Handwerker zu geniren. Keinem Theil fehlte es an Wohlwollen, aber die Lebensbedingungen und wohl auch die Charakere waren zu verschieden. Nun gab es für Onkel Benjamin keine andere Rücksicht, als die auf das gute Herz. So sehr er sich einschränken mußte, um das verwöhnte junge Dämchen bei sich aufnehmen zu können, keinen Augenblick hatte er doch geschwankt. Selbst das Opfer hatte er nicht gescheut, seinen Sohn, den Studenten, auszuquartieren.

Helene zeigte den besten Willen, sich in ihre Lage zu schicken. Sie sah ein, daß sie dem guten Onkel nicht für ungemessene Zeit zur Last fallen dürfe. Es stellte sich bald heraus, daß sie im väterlichen Hause vielerlei gelernt hatte, aber das Wenigste so planmäßig und gründlich, daß sie davon prakischen Nutzen ziehen konnte. Dessen wurde sie sich erst bewußt, als Walter sie examinirte. Es war das ihr eigener Wunsch gewesen; nun aber fühlte sie sich leicht verletzt, wenn sie schlecht bestand. Sie glaubte zu bemerken, daß er ein grausames Vergnügen dabei empfand, die Blößen ihres Wissens aufzudecken, um sich in seiner Ueberlegenheit zu zeigen, oder gar mit seinen Schulkenntnissen vor ihr zu glänzen. Er fing’s wirklich nicht sonderlich geschickt an, sich ihr Vertrauen zu gewinnen. Es war seine Art, überall die Dinge in ihrem ganzen Ernst zu nehmen und so wenig sich selbst als Andern Concessionen zu machen. Auch als sie dann das Seminar besuchte, um sich zu einer Stellung als Lehrerin vorzubereiten, hatte er fortwährend an ihrer Beschäftigungsweise zu kritteln. Manchmal wieder war er wunderlich sentimental, saß schweigsam ihr gegenüber, sah sie unverwandt an und seufzte, als ob ihn ein tiefes Leid drückte; oder er philosophirte weltschmerzlich und erklärte unverstanden zu bleiben. Dann wußte Helene gar nicht, was sie aus dem Vetter machen sollte. Suchte sie seine finstere Stimmung fortzunecken, so schien er jedesmal tief gekränkt; auf ernste Fragen, was ihn bekümmere, antwortete er aber in räthselhaften Wendungen. So fühlte sie sich in seiner Gegenwart immer bedrückt und unfrei. Nur mit Mühe konnte sie den Argwohn abwehren, daß er sie nicht möge, weil sie ihn halb und halb aus dem väterlichen Hause verdrängt habe. Und nun mußten doch noch ein paar Jahre hingehen, bis sie selbstständig für sich sorgen konnte! Was dann geschah, um die Situation plötzlich völlig zu ändern, hatte kein Theil auch nur im Traum vorausgesehen.

Der gefährlichste Concurrent Grün’s war der Consul Philipp Berghen gewesen, der ein altes, höchst solides Geschäft vertrat und bedeutendes Capital zur Verfügung hatte. Er hatte Grün, der bei seinem Vater die Handlung gelernt, längere Zeit freundschaftlich unterstützt und im Geschäft gefördert. Erst als Berghen’s älteste Tochter Selma seinen Buchhalter Osterfeld geheirathet hatte, dieser nun Compagnon geworden war und seinen geschäftlichen Einfluß täglich ausdehnte, änderte sich das Verhältniß. Osterfeld glaubte, bei irgend einer Gelegenheit einmal von Grün eine persönliche Kränkung erfahren zu haben, und trug ihm dieselbe nach. Der Consul, schwach von Charaker, seiner Tochter zärtlich zugethan und immer geneigt, dem Hausfrieden Opfer zu bringen, ließ sich unschwer von dem alten Freunde abdrängen und durch den ebenso geschäftskundigen als energischen Schwiegersohn auf andere Bahnen leiten. Nun entstand eine Rivalität zwischen beiden Häusern, die geradezu in Feindschaft ausartete, als Grün sich auf gewagte Speculationen einzulassen begann, die doch, wenn sie gelangen, ihm an der Börse einen Vorrang schaffen konnten. Berghen rieth, den Verlauf abzuwarten. Aber Osterfeld, mochte er nun wirklich besorgt sein oder nur begierig den Vorwand ergreifen, ging mit dem größten Eifer daran, die Gegner des lästigen Rivalen unter einen Hut zu bringen, überall Contreminen zu legen, seine Verbindungen zu untergraben. So kam es, daß schließlich Grün seinen Fall vornehmlich dem Hause Berghen u. Comp. zu danken hatte.

Consul Berghen hätte das Mißbehagen über diesen Ausgang des Kampfes, in dem er doch Sieger geblieben war, vielleicht nicht so schwer empfunden, wenn dem Fall des Hauses Grün nicht bald darauf auch der Tod seines letzten Inhabers gefolgt wäre. Seine Gewissenhaftigkeit kam über den Vorwurf nicht hinweg, daß er einen Theil der Schuld dieses frühen Hinscheidens trage, und die Beschäftigung mit diesen Gedanken wurde um so peinlicher, als er nachträglich bei einer Durchsicht der Bücher und Correspondenz sich meinte überzeugen zu müssen, daß Osterfeld schließlich nicht einmal vom kaufmännischen Standpunkt ganz lautere Mittel angewendet gehabt, den verhaßten Gegner niederzuwerfen. Von dieser seiner Einsicht in die Verhältnisse konnte er freilich nichts verlauten lassen, ohne Streit in die Familie zu bringen. Als aber nach kaum einem Jahre sein Brustleiden sich plötzlich so arg verschlimmerte, daß er an sein Ende denken mußte, fand er keine Ruhe, bis er seinen einzigen Sohn Robert, künftigen Chef des Hauses, an sein Krankenlager berufen und ihm das Kind des früheren Freundes empfohlen hatte. Er verhielt ihm nichts von dem, was er wußte. Er gedenke ihm keine bestimmte Vorschrift zu machen, sagte er ihm, von seinem guten Herzen und seiner edelmüthigen Gesinnnug erwarte er aber die freundlichste Berücksichtigung seiner Wünsche. Er selbst wolle in Frieden mit allen Seinigen sterben, und bitte ihn daher diesen Auftrag geheim zu halten.

Robert wußte wohl, daß der Kaufmann Grün eine Tochter hatte. Vor einer Reihe von Jahren, als die Familien noch in einer Art von gesellschaftlichem Verkehr standen, hatte er das kleine Mädchen auch öfters gesehen und sehr niedlich gefunden. Dann aber war er zu seiner geschäftlichen Ausbildung nach Hamburg und demnächst auf weite Reisen geschickt. Das hübsche muntere Kind war seinem Gedächtniß ganz entschwunden, als er in’s Vaterhaus zurückkehrte. In die geschäftlichen Angelegenheiten des Hauses mischte er sich nicht weiter ein, als seine Dienste gefordert wurden. Er lebte wie ein junger Cavalier und trieb allerhand Sport, wozu es dem einzigen, von der Mutter verhätschelten Sohne eines reichen Hauses an Mitteln nicht fehlte, suchte mit Vorliebe den Umgang mit Cavallerie-Officieren und setzte besonders seinen Stolz darein, die schönsten Pferde im Stall zu haben und für einen untadelhaften Reiter geachtet zu werden.

Er hatte das kleine Fräulein Grün gänzlich vergessen; nicht einmal der Vorname war ihm erinnerlich, als sein Vater ihm von der armen Waise sprach, der er sich in gewisser Hinsicht verschuldet fühle. Robert war allezeit ein guter Sohn gewesen. Im Aeußeren seiner Mutter sehr ähnlich, die einmal für schön gegolten hatte, harmonirte er im Charakter eigentlich mehr mit dem Vater, dessen weiches Gemüth auf ihn übergegangen war. So freute er sich [663] nun seines Vertrauens und gab dem geliebten Kranken die Versicherung, sofort Nachforschungen anstellen zu wollen. Er drückte ihm dann innig die Hand, sprach die Hoffnung aus, daß es bald zur Besserung gehen werde, und bat ihn, sich jetzt und in Zukunft ganz auf ihn zu verlassen.

Er hielt Wort, nicht nur weil er ein Versprechen gegeben hatte, sondern auch aus eigener herzlicher Theilnahme an dem Schicksal des armen Mädchens. Er frischte die Erinnerung an seine Besuche bei Grün auf und versetzte sich dabei in Räume, deren Ausstattung hinter der im elterlichen Hause gewohnten in Nichts nachstand. Wie schmerzlich mußte das Fräulein durch den Umschlag der Verhältnisse berührt sein! Er machte sich Vorwürfe, nicht schon selbst daran gedacht zu haben, was aus dem Mädchen geworden.

Seine Erkundigungen führten rasch zum Ziel. Er suchte den Uhrmacher Benjamin Grün auf, gab ihm seine Uhr zur Reparatur, kaufte eine andere und hielt sich möglichst lange in dem kleinen Laden auf, um sich dem Manne bekannt zu machen, vielleicht auch einmal dem Mädchen zu begegnen. Das gelang wirklich, und gleich der erste Eindruck war entscheidend. So schön hatte er sich Helene gar nicht vorgestellt. Er sprach sie an. Ob sie sich wohl seiner noch erinnere? Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen prüfend an und schien sich nicht sogleich zurechtzufinden. Dann war’s, als ob sie erschrak; die Wimpern zuckten und auf der Stirn zog sich ein feines Fältchen. „Wenn ich nicht irre, Herr Berghen“ – sagte sie, nicht gerade unfreundlich, aber mit erzwungener Gleichgültigkeit. Sie war im Ausgehen begriffen und meinte, sich auch seinetwegen gar nicht aufhalten zu sollen. Er aber setzte das Gespräch fort und hielt sie so noch eine Weile fest. Sie dürfe ihm nicht zürnen, was auch von seinem Hause gegen ihren Vater unternommen sei. Uebrigens dürfe er versichern, daß seinem Vater ihr Unglück sehr nahe gegangen. Helene entsann sich sehr bitterer Aeußerungen ihres Vaters über Berghen und antwortete deshalb kühl: „Ich verstehe von diesen Dingen nichts. Einen Vorwurf mache ich Niemand. Was Sie mein Unglück nennen, werde ich zu tragen wissen. Bedauert will ich nicht sein.“ Sie entfernte sich in stolzer Haltung. Er entschuldigte sich gleichsam bei ihrem Onkel, daß er’s gewagt habe, die alte Bekanntschaft zu erneuern, stotterte etwas von herzlicher Theilnahme an ihrem traurigen Geschick, suchte den alten Herrn auszuforschen, wie für ihre Zukunft gesorgt sei. Er erhielt ausweichende Antworten. Dem biederen Uhrmacher wollte es nicht einleuchten, was die Sache den jungen Herrn angehe.

Robert hatte viel überflüssige Zeit. Das schöne Mädchen kam ihm nicht mehr aus dem Sinn, alle seine Gedanken richteten sich auf die Frage: wie er weitere Begegnungen ermöglichen könne. Sonderbar, daß seine Uhr nicht in Ordnung kommen wollte! Endlich eröffnete er Grün ein Anliegen. Der wies ihn glatt ab. Das Mädchen habe noch einen alten Onkel, der allenfalls im Stande sei, zwei Kinder zu ernähren. Robert bat ihn, nicht vorschnell zu entscheiden, ihn vor Allem mit Helene selbst sprechen zu lassen. Das konnte er nicht gut ablehnen.

Aber bei ihr kam er noch schlechter an. Es werde ihr schon nicht leicht, sagte sie, von Verwandten Wohlthaten anzunehmen. Daß sie ein Fremder ihr darbiete, und gar der Mann, der ihrem armen Vater das Leben verkümmert habe, müsse sie als eine Kränkung empfinden. Wenn er ihr einen Beweis von Achtung geben wolle, möge er darauf nicht weiter zurückkommen.

Er sagte seinem Vater nichts davon, wie wenig er ausgerichtet habe. Der Kranke wurde täglich kränker und zuletzt ganz theilnahmlos. Nachdem er gestorben und begraben war, nahm Robert längere Zeit die Regulirung der großes Erbschaft in Anspruch.

Wie er dann eifriger darüber nachsann, auf welche Weise er dem stolzen Mädchen würde helfend zur Seite stehen können, da sie doch nach aller Wahrscheinlichkeit von ihm noch weniger als von seinem Vater etwas annehmen werde, wurde es ihm täglich klarer, daß es nur einen einzigen Weg gebe, auf dem sich ihr unbedenkliches Entgegenkommen erhoffen lasse. Und nun glaubte er auch zu wissen, daß er vor dem Augenblicke, wo er Helene gesehen, ernstlich an gar nichts Anderes gedacht habe, als sich ihre Neigung zu gewinnen. So überlegte er denn nicht mehr lange, ging eines Tages zu Benjamin Grün und hielt feierlich um ihre Hand an.

Den alten Uhrmacher überraschte diese Erklärung sehr. Weniger Helene selbst. Sie hatte ja genug Beweise erhalten, daß sie ihm gefiel. Nur darüber konnte sie sich nicht sogleich versichern, daß die Neigung eine wechselseitige sei. Sie forderte Bedenkzeit. Inzwischen sollte er sie sehen und sprechen dürfen. Sie selbst machte Vetter Grün noch denselben Abend von dem Geschehenen in ruhiger Weise Mittheilung. Noch war bei ihr von leidenschaftlicher Betheiligung so wenig die Rede, daß sie ihn gut freundschaftlich um Rath angehen konnte, was sie thun solle. Aber er gebehrdete sich sogleich so närrisch, daß sie wohl diese Vertraulichkeit für übel angebracht halten mußte. Ob er glaube, daß es je vergessen werden könne, wie sein Vater gegen ihren Vater gehandelt habe? Ob der Bursche meine, mit einem goldenen Pflaster die Wunde schließen zu können? Sein Antrag sei beleidigend. „Aber Leute dieser Art bilden sich ein,“ rief er, „daß sie nur die Hand ausstrecken dürfen. Ihnen gehört ja die Welt! Warum soll sich nicht auch eine Frau kaufen lassen? Ah! die Speculation auf die liebe Eitelkeit mag wohl selten fehl gehen. Wenn ich mir vorstelle, daß Du Dich so entwürdigen könntest, Helene –!“ Und nun folgte im heftigsten Tone eine Fluth von Angriffen gegen die armen Mädchen, die durchaus „versorgt“ sein wollen und für erbärmlichen Tand auf die heiligsten Rechte des Herzens verzichten. Ein leichtfertiges Ding sei ihm lieber und achtenswerther, als eine so kluge Rechnerin. Er redete sich so in Eifer, daß sein Vater es nöthig fand, sich einzumischen und vor übereilten Schlüssen zu warnen.

Auf Helene machte sein heftiges Dreinfahren durchaus nicht den erwünschten Eindruck. Sie wußte nur zu gut, daß der Vetter in seiner üblen Laune ebenso Robert Berghen, als ihr selbst Unrecht that. Er war ja mit Allem unzufrieden, was ihre Person betraf, wie hätte er in diesem Falle sich rücksichtsvoller benehmen sollen? Sein Uebereifer wirkte komisch. Was wollte er denn? Am Ende, daß sie gar nicht heirathen sollte?

„Was hat nur Walter gegen ihn?“ fragte Helene einmal nach einer recht unartigen Begegnung. Der Alte zuckte die Achseln und machte dabei ein wunderlich pfiffiges Gesicht. „Unsinn,“ sagte er, „Unsinn! Er weiß selbst nicht, was er will und kann. Ein Student!“ Durch diese Charakeristik wurde ihr der Vetter nicht verständlicher.

Helene gab ihr Jawort. Robert war außer sich vor Freude darüber. Sie wurde aber bald gedämpft, als er zu Hause glückstrahlend von seiner Verlobung Anzeige machte und nur lange Gesichter zu sehen bekam. Seine Mutter schien sich ernstlich auf eine Erörterung gar nicht einlassen zu wollen. Selma sprach von der Romantik, die sich leider in der Praxis oft so schlecht bewähre. Vera hatte erwartet, daß er sich seine Braut unter ihren Freundinnen aussuchen werde. Osterfeld lachte ihn geradezu aus.

So verdrießlich es Robert war, mußte er doch Helene bitten, für jetzt nicht zu verlangen, den Seinigen vorgestellt zu werden. Sie trat sofort zurück. Nur dann könne sie ihm nun noch angehören, wenn seine Mutter selbst sie aussuche und für ihren Sohn werbe. Bis dahin dürfen sie einander nicht wiedersehen.

Robert gab die Partie nicht verloren. Mit einer Energie, die man an ihm ganz ungewohnt war, betrieb er seine Herzensangelegenheit bei der Mutter, wohl wissend, daß sie die entscheidende Stimme habe. Anfangs setzte sie freilich seinen Ansinnen ein empörtes: „Niemals!“ entgegen. Aber das Mädchen fing ihr doch an zu imponiren, das diese Forderung gestellt hatte und darauf in stolzester Haltung bestand. Robert drohte in’s Ausland zu gehen, das schien ihr unerträglich.

So entschloß sie sich denn, nachzugeben. Als sie einmal dieses Schwerste überwunden hatte, erledigte sie denn die heikle Angelegenheit auf die liebenswürdigste, auch für Helene freundlichste Weise. Nur nicht die Leute über Dinge reden lassen, die bei den Betheiligten schon abgethan waren. Und vor Allem den Töchtern und dem Herrn Schwiegersohn gegenüber die volle Autorität beweisen! Wer nicht wußte, was hinter den Coulissen gespielt hatte, mußte glauben, daß allen Familienangehörigen nichts Erwünschteres sich hätte ereignen können, als diese Verlobung, die nun wenige Wochen später mit so viel würdiger Repräsentation öffentlich gefeiert wurde, als bei der noch fortdauernden Trauer um den verstorbenen Chef des Hauses schicklich und zulässig schien.

Es folgte dann für das junge Paar eine sehr glückliche Zeit. Helene war bald der erklärte Liebling der Mama und die vertraute [664] Freundin der Schwestern Robert’s. Die Frau Consul hatte Bedenken, ob der Verkehr der jungen Leute im Hause des Uhrmachers nicht Anstoß erregen könnte, und sprach deshalb den Wunsch aus, Helene möchte sich schon jetzt als ihre Tochter betrachten und ganz zu ihr ziehen. Dagegen konnte Onkel Benjamin nichts einwenden, wennschon er nun völlig vereinsamte, da sein Sohn Walter die Stadt verlassen hatte. Helene konnte nur die gütige Hand küssen, die so mütterlich ihre Führung übernahm.

Der Hochzeit wäre mchts im Wege gewesen, hätte nicht das Trauerjahr abgewartet werden müssen. Helenen war diese Frist nicht unlieb; sie meinte, ihren Bräutigam noch so wenig zu kennen, ihn erst recht lieben lernen zu müssen. Um so ungeduldiger zeigte er sich. Sobald der gesellschaftliche Anstand es erlaubte, drang er auf Festsetzung des Hochzeitstages. Und nun war Alles bereit; in einer Woche sollte ihm sein Glück gewiß sein. Da ereignete sich der Unglücksfall, der jede Hoffnung vereitelte.

Robert’s Liebhaberei für schöne Pferde hatte sich auch in dieser Zeit nicht verleugnet. Seine größte Freude war es, Helene neben sich zu Pferde zu sehen oder sie auf einem mit zwei feurigen Rossen bespannten Wägelchen, das nur für Zwei Raum hatte, selbst spazieren zu fahren. Es kostete sie anfangs einige Ueberwindung, ihrer Aengstlichkeit Herr zu werden, aber bald machte ihr das Reiten auf einem gutgeschulten Pferde viel Spaß, und die Sicherheit, mit der er die Zügel führte, verminderte auch bei den wildesten Fahrten das Gefühl der Beklommenheit. Eines Tages rollte das Wägelchen auf einer der Chausseen vor den Stadtthoren. Vom Exercirplatz her kam ihnen ein Trupp Soldaten entgegen. Spielleute marschirten voran. Gerade, als das Fuhrwerk seitwärts vorüberfuhr, setzten sie mit ihren Trommeln und Pfeifen ein. Die Pferde scheuten, drängten zum Graben, wurden wild und gingen durch. Robert verlor die Gewalt über sie. Er dachte nur an die Gefahr für seine Braut. Noch wenige hundert Schritte, und die Chaussee nahm eine Wendung nach rechts. Folgten ihr die wilden Thiere, so mußten sie den leichten Wagen herumschleudern und zu Fall bringen; rannten sie auf die Bäume auf, so war noch Schlimmeres zu befürchten. Zu langer Ueberlegung blieb ihm nicht Zeit, der schreckhafte Gedanke, Helene könnte beschädigt werden, verwirrte ihn ganz. So versuchte er das Unsinnigste, sie zu retten: er sprang mit den Zügeln in der Hand ab und ließ sich schleifen. Wirklich gelang es ihm auf diese Weise die Pferde zum Stehen zu bringen, aber er hatte von den Hufen der Rosse und von den Steinen, gegen welche er geworfen wurde, die schwersten Beschädigungen davongetragen. Ohnmächtig wurde er von den Officieren, die nachgeeilt waren, aufgehoben und von den Soldaten nach Hause getragen.

Unbeschreiblich war der Jammer seiner Angehörigen – der Braut, die das Entsetzliche mit ansehen mußte, der armen Mutter, der Schwestern, die in den Anordnungen für das Hochzeitsfest überrascht wurden. Die Aerzte stellten eine schwere Verletzung der Brust fest, wagten kaum einige Hoffnung zu geben. Der Zustand des Verunglückten verschlimmerte sich trotz der sorgsamsten Pflege von Tag zu Tag. Linderung seiner Leiden schien er nur zu fühlen, wenn Helene seine Hand hielt oder ihre Wange an die seinige lehnte. Das Sprechen wurde ihm schwer.

Er mochte sein Ende herannahen fühlen und sprach so dringend den Wunsch aus, sein Testament zu errichten, daß man ihm wohl nachgeben mußte. Als der Richter sich einfand, verlangte er mit demselben allein zu bleiben. Osterfeld, der ihn – vielleicht nicht ohne Absicht – in’s Krankenzimmer begleitet hatte, mußte sich zum Rückzug verstehen. Was er letztwillig verordnet hatte, erfuhr Niemand. In der nächsten Nacht starb er.

Helene flel in Folge der Aufregung und Ueberanstrengung in ein Nervenfieber. Bald nach dem Begräbnißtage war sie selbst aufgegeben. Aber ihre kräftige Natur widerstand. Monate vergingen freilich, bis sie für hergestellt erklärt werden konnte.

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 42, S. 677–682
Fortsetzungsroman – Teil 3
[677]
4.

Als Helene genesen war, legte ihr eines Tages die Frau Consul eine Schrift vor. „Ersieh daraus,“ sagte sie, „wie sehr er Dich geliebt – selbst vor seinen nächsten Verwandten bevorzugt hat.“

Sie las sein Testament. Robert hatte sie zu seiner Universalerbin eingesetzt.

„Nein, nein!“ rief sie, „das darf nicht sein, das will ich nicht. O mein Gott, wenn Jemand glauben könnte …“

Frau Berghen beruhigte sie. „Ich denke, wir kennen einander,“ sagte sie. „Mein theurer Robert hätte sich diesen Act sparen können. Es verstand sich von selbst, daß seine Braut mein Kind blieb. Ich würde Dich bedacht haben, wie meine anderen Kinder – seinetwegen, und weil in meinem Herzen kein Unterschied ist. Ich habe keinen Sohn mehr – Du bist mir seine Verlassenschaft. Ich weiß, daß Dein ganzes Leben, wie das meinige, der Trauer um den geliebten Todten geweiht sein wird. Leben wir denn in gleichem Leide einander zum Trost.“

Helene sank an ihre Brust und weinte sich recht satt. „Die Welt hat keine Freuden mehr für mich,“ schluchzte sie. „Ach! daß ich ihm nicht folgen kann! Für mich ist er in den Tod gegangen."

„Für Dich! Vergiß das nie," mahnte die Mutter.

Das Mädchen umarmte sie von Neuem. „Wie könnte ich das je vergessen?“

Helene hatte nicht vergessen – gewiß nicht. Sie war noch immer, wie am ersten Tage, überzeugt, nie vergessen zu können. Aber unmerklich hatte die Trösterin Zeit ihren Heilbalsam in die Herzenswunde geträufelt. Sie war thätig im Hause, beschäftigte sich mit Handarbeit zu wohlthätigen Zwecken, las viel, musicirte und malte. Wenn sich so der Tag mit nützlichen Dingen füllte, empfand sie so viel Wohlsein, als sie glaubte auch in ihrer Abgeschiedenheit nicht entbehren zu dürfen.

Sie hieß noch immer „Robert’s Braut“. Wenn man von ihr sprach, nannte man sie kaum anders, auch in ihrer Gegenwart. Was sich von kleinen Andenken an ihn auffinden ließ, wurde ihr zugetragen. Die Möbel seines Zimmers wanderten in das ihrige, seine Bücher, seine Briefmappe, seine Taschenbüchelchen, seine Abbildungen von edlen Rennpferden und wilden Jagden, seine Sammlungen aus der Knabenzeit, seine Schulhefte und Geburtstagszeichnungen, seine Uhr mit Kette, selbst seine Waffen, auf die er viel gehalten hatte. Photographien aus jedem Lebensalter hingen an den Wänden, standen auf zierlichen Gestellen, füllten ein kostbares Album. Noch nach seinem Tode war er in ganzer Figur von dem geschicktesten Künstler der Akademie gemalt, dann für sie nochmals copirt. Trat sie in ihr Zimmer, so empfing er sie; überall war er ihr gegenwärtig.

Die Schwestern wetteiferten mit der Mutter, das Andenken an den Verstorbenen zu einem wahren Cultus zu stempeln. Doch hatten sie nach einem Jahre die Trauerkleider abgelegt – sich der Sitte gefügt, wie sie sagten. Das Haus, in dem früher ein so lebhafter, gesellschaftlicher Verkehr unterhalten wurde, konnte sich nicht dauernd in ein Kloster verwandeln. Frau Selma Osterfeld bewohnte die zweite Etage. Sie öffnete wieder ihren Salon, wenn auch zunächst nicht zu lauten Vergnügungen. Von solchen war sie überhaupt keine Freundin. Schlank gewachsen, fast hager und stets bleich, hatte sie es gern, wenn man sie für ein ätherisches Wesen hielt, für eine ganz unsinnliche Natur, für eine schöne Seele. Sie sprach immer sehr leise und etwas lispelnd, liebte die strengen Odeurs und fühlte ihre Nerven durch jedes Geräusch angegriffen. Sie gab am liebsten Thees, die spät anfingen und früh beendet waren. Eine kleine Vorlesung irgend einer hochpathetischen Dichtung war mitunter Beigabe. Ihr Mann hatte das Privilegium, sich an solchen geselligen Abenden immer nur einige Minuten blicken lassen zu dürfen, oder auch gänzlich fern zu bleiben. Der Aermste war leider durch das Geschäft so sehr in Anspruch genommen, daß er sich keine Mußestunden gönnen konnte. Das Verhältniß zwischen Beiden war schwer zu bestimmen. Sie begegneten einander vor Dritten immer mit ausgesuchter Zartheit, aber von innigeren Beziehungen war wenig zu spüren. Beide sprachen von ihrer „glücklichen Ehe“. Aus derselben war nur ein Kind hervorgegangen, ein Knabe von jetzt acht Jahren. Sie sehnten sich auch nicht nach Vermehrung der Familie. Selma war glücklich, diesem einen Sproß ihre ganze mütterliche Zärtlichkeit zuwenden zu können, Osterfeld nicht unzufrieden, daß das Vermögen „zusammenblieb“. In die Erziehung mischte er sich vorläufig wenig. Er behielt sich vor, später den dereinstigen Chef des Hauses Berghen u. Comp. für seinen Beruf vorzubilden.

Helene, so vorsichtig sie sich auch nach irgend einer Seite hin äußerte, fand Osterfeld kalt, Selma überschwänglich. Sie traute seiner Höflichkeit so wenig, als ihren wortreichen Freundschaftsbezeigungen. Auch die pietätvolle Verehrung für Robert schien ihr bei Beiden etwas Erkünsteltes zu haben, das sie verstimmte. Sie sprechen nicht, wie sie denken, mußte sie sich immer wieder sagen. Und warum sprechen sie überhaupt mit mir so [678] eifrig bei jeder Gelegenheit über einen Gegenstand, der in mir die trübsten Erinnerungen wecken muß? Daß Osterfeld, sowie er sie sah, auch das Testament seines Schwagers vor Augen hatte, ahnte sie freilich nicht. Wie hätte ihr das einfallen können, da sie auf diese letztwillige Erklärung nie ein größeres Gewicht gelegt hatte, als daß sie auch darin einen Beweis von Robert’s tiefer Neigung schätzte.

Auch Vera hätte sie sich bei ganz freier Wahl nicht gerade zur Freundin ausgesucht. Sie war in ihrer äußeren Erscheinung der Gegensatz zu der viel älteren Schwester, eher klein als groß, voll und, wie man sagt, blühend, wie eine Rose. Doch fehlten ihr die zarten Farben dieser Blume; bei ihrem lebhaften Temperament erhitzte sie sich leicht und ärgerte sich dann über ihre rothen Backen. Sie hielt auf die neueste Mode und war auf drei der ersten Fachzeitungen abonnirt, konnte aber sehr ungehalten sein, wenn man sie auch nur im Scherze beschuldigte, diesen Dingen irgendwelche Wichtigkeit beizulegen. Sie wollte eher für eine Gelehrte gelten, besuchte wissenschaftliche Vorlesungen „interessanter“ Professoren und las Bücher, die sie nur zum kleinsten Theil verstand. Sie war Dilettantin in mancherlei Künsten, ihrem Können aber stets um mehrere Stationen voraus. So übte sie nur die schwierigsten Clavierstücke, ohne sie je zu bewältigen, und sprach mit Bedauern von den Leuten, die hübsche Musik machen. Sie behauptete, Partituren lesen zu können, und bildete es sich sicher auch ein. Sie malte in Oel, modellirte auch gelegentlich, um „ihren Farbensinn zu bilden“. In der Kunstgeschichte war sie so weit beschlagen, eine Reihe von Namen hersagen zu können, die den Laien verblüffen mußten. Auch verfügte sie über eine gewisse Zahl von Kunstausdrücken und machte davon namentlich in Bilderausstellungen verschwenderischen Gebrauch. Im Salon zu glänzen war ihr geheimster Ehrgeiz. Sie konnte aber auch sehr gefühlvoll sein und besaß in bewunderungswürdigem Maße das Talent, „sich aussprechen zu können“. Wie gern sie es übte, wußte Helene.

Ob Herr von Gräwenstein der richtige Mann für sie sei, konnte bezweifelt werden. Er war ein tüchtiger Soldat, verwandt und verschwägert mit hohen Militärs und sonstigen Großwürdenträgern und hatte auf ein gutes Avancement zu rechnen – wenn ihn seine Schulden nicht unmöglich machten. Davon hatte er gerade so viel aufgesummt, daß er die Verpflichtung fühlte, sich nach einer reichen Partie umzusehen. Er sprach nicht Französisch und Englisch, spielte nicht Clavier – um so fertiger freilich Karten – war wenig belesen, außer in amüsanten Romanen, deren Titel er doch nie behalten konnte, verstand von Kunstsachen gar nichts und verließ sich überall mit Vorliebe auf seinen „prakischen Verstand“. Seine Witze waren oft nicht die feinsten, aber in Damengesellschaft erfreute er sich großer Anerkennung wegen seines frischen, munteren Wesens, seiner kecken Galanterie und seiner Fertigkeit im Tanz. Mit diesen Eigenschaften konnte er kaum erwarten, bei Vera Berghen sein Glück zu machen. Doch fing er’s geschickt genug an, sie für sich zu interessiren, indem er sich ihr auf Gnade und Ungnade ergab. Er stellte sich womöglich noch unwissender, als er war, um ihr ganz staunende Bewunderung ihrer „riesigen“ Kenntnisse und Talente beweisen zu können. Das schmeichelte ihr. Welches Glück, dem Herrn Gemahl stets als ein höheres Wesen zu erscheinen, gegenüber dem rauhen Militär als die Vertreterin von Kunst und Wissenschaft zu glänzen! Diese Erwägungen gaben rasch die Entscheidung. Die Verlobung wurde gefeiert.

Und nun verstand es sich auch ganz von selbst, daß sie ihren Bräutigam liebte, stets geliebt hatte. Helene mußte sich ihre verschwenderischen Gefühlsergüsse gefallen lassen. Sie hätte ja erfahren, was Liebe sei. „Jetzt kann ich erst die ganze Größe Deines Verlustes ermessen!“ rief sie. „Wie hast Du ihn nur überleben können? Wenn ich denken sollte … o, ich müßte den Verstand verlieren! Was ist das Leben ohne Liebe? Eine Welt ohne Sonnenschein. Kann man sich denn wirklich in sie hineingewöhnen? Deine Seelenstärke ist bewundernswerth. Und daß Du nun täglich daran erinnert werden mußt, was Dir das tragische Geschick unbarmherzig geraubt hat! Ich will Dir’s nicht verdenken, wenn unsere Freude Dich traurig stimmt. Nimm auf uns keine Rücksicht und ziehe Dich zurück, so oft Dir’s so um’s Herz ist. Ich werde Dich bei Gräwenstein zu entschuldigen wissen. Das Bild unseres theuren unvergeßlichen Robert wird Dir stets die liebste, die einzig befriedigende Gesellschaft sein.“

Helene fühlte sich verletzt durch dies zudringliche Mahnen. Sie vermißte den herzlichen Ton echten Mitleids. Es war so viel Schellengeklingel dabei.

Mama Berghen hatte aber ganz Recht gehabt: Die Verlobung gab rasch dem stillen Hause ein ganz verändertes Ansehen. Gräwenstein setzte überall die heitere Stimmung voraus, in der er sich selbst befand. Nachdem die pflichtschuldigen Visiten – deren gab’s eine Unzahl, da Civil und Militär gleichmäßig bedacht werden mußten – glücklich abgethan waren, meldeten sich nun die Gegenbesuche. An den Vormittagen blieb der Salon selten eine halbe Stunde leer. Mehrere entfernter wohnende Verwandte reisten zu und nahmen in dem gastlichen Hause Quartier. Der Bräutigam führte seine Cameraden ein. Vera hatte in literarischen und künstlerischen Kreisen Bekanntschaften, die ihre Gratulationen nicht versäumten. Das Fräulein versicherte, daß ihre „Beziehungen zu Kunst und Wissenschaft“ keine Unterbrechung erfahren würden; zur Zeit ließ sie sich doch durch die muntere Unterhaltung der Officiere am liebsten fesseln.

Die Frau Consul war so in Anspruch genommen – auch für eine glänzende Ausstattung mußte ja gesorgt werden – daß sie nur mit Mühe die zum Besuche des Kirchhofs bestimmte Stunde erübrigen konnte. Endlich gab sie den Bitten ihrer Töchter nach, sich zu schonen und ruhigere Zeiten abzuwarten. Helene aber sollte nicht gehindert werden. Jedesmal trug die Mama ihr die zärtlichsten Grüße an Robert auf. Sie ließ ihn förmlich um Entschuldigung bitten, daß ihre mütterliche Liebe sich jetzt so schlecht bewähre. „Aber seine Braut soll er auch jetzt nicht vermissen.“ Für Helene wiederholten sich diese Begleitreden, fast genau mit denselben Wendungen, so oft, daß sich der Eindruck bald abstumpfen mußte. Sie saß ein halbes Stündchen unter den sich immer dichter belaubenden Bäumen und hörte dem Gesange der Vögel zu. Die Nachtigall schien ihre schönsten Lieder für ihr Kommen zu sparen. Helene war ganz zufrieden damit, allein gelassen zu sein. Sie durfte sich nun keinen Zwang anthun. Mit den Todten sprach sie nicht, auch nicht in Gedanken. Längst war innerlich erschöpft, was sie ihnen zu sagen hatte. Aber sie nahm regelmäßig ein Weißbrödchen mit, zertheilte es in kleine Krumen und warf sie den Vögeln hin. Bald war sie ihnen so bekannt, daß sie vom Eisengitter hinab hüpften und sich auf die Bank dicht neben sie wagten. Diese Fütterung war nun ihr größtes Vergnügen.

Sie dachte auch nicht daran, sich von der Gesellschaft ganz zurückzuziehen; es schien ihr ausreichend, daß sie sich mit einem möglichst stillen Antheile begnügte. Das unbehagliche Gefühl, sich im Traueranzuge zeigen zu müssen, konnte sie freilich nicht ganz loswerden. Trat sie ein, so verstummte im Kreise der Lustigen eine Weile das laute Lachen; wer mit ihr sprach, dämpfte den Ton. Die Damen des Hauses meinten andeuten zu müssen, daß sie sich durch ihr Erscheinen ein Opfer auferlege. Und ihr selbst war gar nicht so zu Muth; sie hätte recht froh sein können mit den Fröhlichen, wenn sie nicht so von außen her verstimmt worden wäre.

Unter den näheren Verwandten des Hauptmanns, die nun häufig im Hause verkehrten, war auch der Regierungsassessor von Brendeln, ein Mann erst Anfangs der Dreißiger, aber von jedem Fremden, und namentlich von jungen Damen, älter geschätzt. Sein fast über der Mitte der hohen Stirn gescheiteltes Haar war schon recht dünn und deckte nach hinten hin die Platte trotz aller Kunst des Friseurs nicht mehr vollkommen. Die über der scharfen und spitzen Nase strichartig aufgezogenen Augenbrauen und das schwarze Lippenbärtchen, dessen Zipfel dieselbe Richtung aufwärts nahmen, gaben dem bleichen, fast hageren Gesichte etwas Keckes, Gespanntes. Er trug eine Brille ohne Einfassung, und hatte die Gewohnheit, öfters mit gebücktem Kopfe über dieselbe hinweg zu sehen, wenn er einen entfernteren Gegenstand fixiren wollte.

Wenn er nicht sprach, schob er meist die Unterlippe ein wenig vor, wodurch Mund und Kinn einen übermüthigen Zug erhielten. Uebrigens galt er für einen vollendeten Cavalier. Gräwenstein behauptete in seiner derben Manier, sein Vetter Brendeln sei „der klügste Kerl“, der ihm im Leben vorgekommen sei. Er habe große Aussichten und müsse jedenfalls in das Ministerium. „Strebt auch nach Kräften,“ fügte er leiser hinzu, „ist immer der Meinung seines Präsidenten – aus Ueberzeugung natürlich. Muß Carrière machen. Es fehlt ihm nur noch eine gute Partie.“

[679] Den Damen des Hauses lauschte der Assessor sehr bald ihre kleinen Schwächen ab. Die Frau Consul überzeugte er, daß er der beste Freund ihres Sohnes gewesen sei. Mit Frau Selma Osterfeld schwärmte er gefühlvoll und entwickelte ihr die neuesten spiritistischen Probleme, für die sie sich halb gläubig interessirte. Bei Vera spöttelte er über dieselben Dinge. Er imponirte ihr durch seine Belesenheit und ließ noch weniger gelten als sie. Er hatte alle großen Gallerien gesehen und viele Ateliers berühmter Künstler besucht. Natürlich hatte er nun auch das beste Recht, über Kunst zu sprechen, gelegentlich auch zu witzeln. Vera nannte ihn einen sehr geistreichen Menschen, und damit war er es für die ganze Familie.

Helene schien Herr von Brendeln anfangs kaum zu beachten. Ein hübsches Mädchen – freilich! Aber doch nur etwas wie ein angenommenes Kind und dazu eine unglückliche Braut! Eine unglückliche, oder wie er sich selber ausdrückte: „verunglückte“ Braut war ihm eine sehr „peinliche“ Erscheinung. Er ging ihr gern aus dem Wege und begnügte sich, der Frau Consul und ihren Töchtern mit passenden Variationen über deren zarte Behandlung des armen Mädchens Elogen zu machen. Helene bemerkte wohl, daß er sich wenig um sie kümmerte, es kränkte sie aber durchaus nicht. Der Assessor war ihr recht unsympathisch, sie wußte selbst nicht warum. Sie dachte aber kaum einmal ernstlich darüber nach, so wenig interessant war er ihr.

Plötzlich änderte sich die Situation ganz auffallend. Herr von Brendeln schien nur noch für Helene Augen zu haben, mit Ungeduld ihr Eintreten zu erwarten, am Gespräch mit ihr das größte Vergnügen zu finden, ihren Rückzug aus der Gesellschaft als das Signal zu betrachten sich selbst möglichst bald zu empfehlen. Konnte er nicht neben ihr Platz nehmen, so stellte er sich hinter ihren Stuhl; durfte er sie nicht zu Tische führen, so wußte er’s doch geschickt so einzurichten, daß er ihr Nachbar links wurde oder ihr gegenüber zu sitzen kam. Das arme Mädchen müsse sich so verlassen fühlen, äußerte er sich zu der Frau Consul; es sei die Pflicht des Hausfreundes, sie mit besonderer Aufmerksamkeit zu behandeln. „Das bin ich schon meinem verewigten Freunde Robert schuldig,“ fügte er hinzu. über die Brillengläser hinweghimmelnd. Das rührte die gute Frau fast zu Thränen. Selma versicherte er, daß er eine besondere Passion für unglückliche Menschen habe und allemal sehr stark das Bedürfniß empfinde zu ihrer Aufrichtung nach Kräften beizutragen. Das fand sie sehr edelmüthig. Zu Vera sagte er:

„Wenn ich Sie so Arm in Arm mit meinem Vetter sehe – ich könnte neidisch werden. Aber meine Aussichten sind gering, einmal eines ähnlichen Glückes theilhaftig zu werden. Ich bin zu kritisch, und eine zweite Vera Berghen giebt’s nicht. So ist’s am besten, ich lasse das Suchen ganz, wenigstens so lange ich Sie immer vor Augen habe, und wähle den Umgang der einzigen jungen Dame aus der Schaar Ihrer Freundinnen, die sicher nicht gefunden sein will. Fräulein Helene ist nicht besonders geistreich, aber man unterhält sich gut mit ihr. Und von Zeit zu Zeit haben Sie ja glücklicher Weise immer noch eine Minute für mich.“ Das war zu schmeichelhaft, um nicht ganz nach Wunsch zu wirken.

Der Einzige, der den wahren Grund dieser Umwandlung kannte, war Herr von Gräwenstein. Er selbst hatte sie durch eine wichtige Mittheilung veranlaßt. Unter Brautleuten darf es bekanntlich keine Geheimnisse geben. Als unter ihnen einmal auf Helene die Rede gekommen war und der Hauptmann sie wegen ihrer unsicheren Lage bedauerte, hatte Vera ganz unbefangen ausgeplaudert, daß ihr Bruder sie in seinem Testamente zur Erbin eingesetzt habe. „Wenn man will,“ hatte sie gesagt, „ist Helene reich und dazu ganz unabhängig. Wenn sie Robert’s Antheil herausforderte, würde man ihn ihr nicht weigern können. Freilich denkt sie selbst sicher am wenigsten daran. Es war ja auch eine bloße Form, die Robert anwendete, Helene fest an unser Haus zu schließen und ihr darin eine berechtigte Stellung zu geben. Sie wird da zeitlebens gut aufgehoben und jeder Sorge entledigt sein. Helene ist ein gutes Mädchen und wird nicht vergessen, wem sie Dank schuldig ist.“

Der Hauptmann hatte so seine eigenen Gedanken darüber. Wenn er das früher gewußt hätte, vielleicht …. Er brauchte unter allen Umständen bald nach der Hochzeit eine nicht unerhebliche Summe baar, um sich mit seinen Gläubigern zu arrangiren, und Vera blieb von ihrer Mutter abhängig, die sich wieder hinter Osterfeld zurückziehen konnte. Nun war’s für ihn zu spät. Aber sein Vetter konnte vielleicht daraus Nutzen ziehen. Und wenn der schnell zum Ziele gelangte, hatte er ja freie Hand, auch seine Noth zu bedenken.

Er nahm daher Brendeln bei Seite und sagte zu ihm: „Du – ich weiß eine gute Partie für Dich.“ Brendeln zuckte die Achseln. „Nein, wahrhaftig, eine famose Partie. Aber man muß es geschickt anfangen.“ „Das wäre meine Sache,“ meinte der Assessor. Der Hauptmann lachte: „Nu – ein hübscher Kerl bist Du gerad’ nicht, und das spricht bei den Frauenzimmern denn doch immer mit.“ „Dummes Zeug,“ knurrte Brendeln, „Du hast mich zum Besten.“ – „Wahrhaftig nicht.“ – „Ist sie denn jung –?“ – „Kaum zwanzig.“ – „Hübsch –?“ – „Sehr hübsch.“ – „Und natürlich reich.“ – „Natürlich, sonst würde ich Dir gar nicht davon sprechen.“ – „Aber, zum Teufel! es ist doch ein Haken dabei?“ Der Hauptmann klopfte ihm die Backe. „Du liebe Vorsicht! An diesem Haken hängt nichts, was Dich sonderlich beschweren darf. Das Mädel ist schon einmal verlobt gewesen.“ – „Ah! Das thut nichts.“ – „Aber der Bräutigam ist gestorben.“ – „Um so besser.“ – „Wer weiß? Die Braut hat die ernstliche Absicht, ihm treu zu bleiben.“ Der Assessor lächelte. „Von wem sprichst Du denn?“ Nun wurde der Schleier gelüftet. Herr von Brendeln war sehr überrascht, wußte sich aber bald zu fassen. „Das ist mir aufrichtig lieb zu hören,“ sagte er. „Ich habe für das schöne und liebenswürdige Mädchen längst eine tiefere Neigung gefaßt. Es wäre früher Thorheit geweden, sich ihr gefangen zu geben; jetzt hat’s weiter keine Gefahr.“

Seitdem also hatte Helene sich seines ausgezeichneten Wohlwollens zu erfreuen. Sie war ganz ahnungslos und legte deshalb auch seiner plötzlichen Annäherung kein anderes Motiv unter, als daß er sich erinnere, einer so nahen Angehörigen des Hauses Rücksicht schuldig zu sein.

Er fing es sehr geschickt an, sich in ihr Vertrauen zu bringen und sie zugleich auszuforschen. Immer wußte er dem Gespräch eine Wendung zu geben, die darauf hinleitete. „Es steht geschrieben,“ äußerte er sich ein andermal, „seid fröhlich mit den Fröhlichen und traurig mit den Traurigen, oder so ähnlich. Die Vorschrift ist nicht sonderlich schwer zu erfüllen. Denn echte Fröhlichkeit steckt an, wie echte Trauer. Sehe ich einen herzlich lachen, so verziehen sich unwillkürlich auch meine Lachmuskeln; sehe ich einen schmerzlich weinen, so fließt mir das Wasser in’s Auge, er mag mich sonst so wenig angehen, als er will. Aber es giebt eine conventionelle Fröhlichkeit und eine conventionelle Traurigkeit sich dazu angemessen zu stellen, ist oft eine sehr peinliche Zummuthung.“

„Das habe ich tausendfach empfunden,“ bestätigte Helene. „Wir haben eigentlich gar kein Recht, Andere daran zu erinnern, daß uns einmal etwas recht Trauriges begegnet ist, sobald wir selbst uns nicht mehr vom Verkehr mit den Menschen ausgeschlossen fühlen. Ich thu’s ungern.“

„Der Sitte muß man sich fügen,“ meinte er. „Aber es empfiehlt sich, da auf den Tag pünktlich zu sein, weil die kleinste Zugabe schon eigentlich jede Grenze aufhebt. Es ist ja eben nur von der Form die Rede, nicht von dem Wesen der Sache. Sie wissen, mein Fräulein, daß ja selbst die Farbe der Trauer rein conventionell ist.“

Sie stimmte so willig zu, daß es ihm unmöglich entgehen konnte, wie in ihrem Gemüth das Pflänzchen Unmuth schon ganz strebsam gekeimt hatte.

„Ich würde es sehr bedauern,“ fuhr er fort, „wenn Sie sich die schönsten Lebensjahre verkümmerten. Ich denke, wir haben gar kein Recht, der Welt zu entsagen, die ja ihre Ansprüche an uns keineswegs aufgiebt. Es mag das schlaffen und sentimentalen Naturen eine Erleichterung erscheinen; sie verlieren immer sogleich sich selbst. Wer sich aber gesund fühlt, wird allemal fragen, was er Anderen sein kann; und mit zwanzig Jahren, liebenswürdig, schön –“

Nun sah sie erschreckt auf. „Herr Assessor –“

„Ich sage nur die Wahrheit,“ versicherte er, „und zu welchem Zweck? Um Ihnen zu beweisen, daß wir Gott unser Leben schuldig sind, unser ganzes Leben. Wie kommen wir dazu, abschließen zu wollen, bevor er abschließt?“

Dergleichen Reden beunruhigten sie nicht wenig. Herr von Brendeln wurde ihr durch dieselben kaum vertrauter – so ernst er sprach, der ganze Mensch hatte etwas in seinem Wesen, das dazu nicht recht zu stimmen schien – aber da die Saite, die er [680] berührte, immer gleich einen Ton gab, der ihr wohlgefällig klang, konnte sie sich ihm doch nicht entziehen. Im Gegentheil empfand sie ein ängstliches Behagen, wenn er sie über die Brillengläser hinweg in’s Auge faßte und nun auf sie zuging, um sie in’s Gespräch zu verwickeln. Er beschäftigte sich doch mit ihr, er hielt sie nicht für abgestorben, und sie nahm sich stets zusammen, vor ihm ihre frischesten Lebensgeister spielen zu lassen.

Es war ihr eine stille Genugthuung, sich irgendwie oppositionell verhalten zu können. Diese Seitensprünge waren freilich sehr harmloser Natur. Sie malte Blumen, und wählte nun mit Vorliebe immer die heitersten Farbenzusammenstellungen. Das Roth und Gelb schien ihrem Auge besonders angenehm zu sein. Vera sagte einmal: „Aber der Strauß brennt ja!“ Sie spielte Clavier, aber nicht mehr seriöse Stücke und schwermüthige Melodien, sondern Compositionen von hellster Klangfarbe und raschem Tempo, womöglich Tanzrhythmen, wenn auch nicht Tänze. Und eines Abends, als viel junges Volk versammelt war und die Unterhaltung lahm wurde, setzte sie sich an den Flügel und lockte wirklich zum Tanz, der nun rasch in Gang kam, da Herr von Gräwenstein seine Braut umfaßte und mit ihr durch den Saal wirbelte. Die Frau Consul schaute etwas verwundert drein, that aber doch nicht Einhalt. Nur als Helene auf den Walzer gleich eine Polka folgen ließ, trat sie an’s Clavier und sagte: „Willst Du nicht lieber einen Andern spielen lassen, Lenchen? Du muthest Dir viel zu.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich bin gern nützlich, und es erfreut mich selbst.“

Herr von Brendeln tanzte nicht. Eine Weile stand er in einer Ecke des Saals, mit gekreuzten Armen, und blickte zu der schönen Spielerin hinüber. Sie bemerkte ihn wohl und griff jedesmal eine falsche Taste, wenn sie über das Blatt hin sich überzeugen wollte, ob er seinen Platz noch nicht verändert habe. Dann wurde er dreister, trat an’s Instrument, lehnte sich an dasselbe und schaute ihr zu. „Bravo, bravo!“ zischelte er.

Sie wurde gluthroth.

„Warum tanzen Sie nicht?“ fragte sie.

„Weil Sie spielen,“ antwortete er.

„Hören Sie das ungern?“

„Im Gegentheil – es elektrisirt mich.“

„Das merke ich eben nicht.“

„Weil ich nicht hüpfe wie die Püppchen auf der Scheibe unter der Glasglocke? Auf mich wirkt gerade diese Musik anders. Ich komme von dem Gedanken nicht los, daß gerade Sie es sind, die zum Tanz aufspielt. Das bannt mich an die Stelle.“

„So finden Sie’s doch ungehörig –“

„Sie wollen mich nicht verstehen, mein Fräulein. Diese Tanzmusik reizt mich nicht zum Tanz, weil sie mir viel mehr ist als das: ein erfreuliches Zeugniß der Heiterkeit Ihres Gemüths, das mir zu viel Werth hat, als daß ich es in so banaler Weise für mich ausnutzen möchte. Und ich denke mir auch, ein ruhender Punkt muß Ihrer Empfindung genehm sein.“

„Er verstreut mich nur. Tanzen Sie doch!“

„Mit Ihnen, Fräulein, wenn Sie einen Andern spielen lassen wollen.“

„O … ich tanze nicht.“

„Heute oder morgen –“

„Nie mehr.“

„Daran glaube ich nicht. Ich bin so dreist, mich zu verschwören, selbst nicht wieder zu tanzen, bis ich von Ihnen eine Zusage erhalte.“

In diesem Augenblick stockte der Tanz und die jungen Herren und Damen brachen in ein helles Lachen aus. „Aber wie spielst Du?“ rief Vera. „Es ist ja keine Spur von Tact mehr in Deiner Polka. Jeder versucht’s auf seine Weise damit zurechtzukommen, und dabei laufen wir einander über.“

„Daran haben Sie Schuld, Herr von Brendeln,“ sagte Helene ein wenig geärgert. „Ich kann nicht zugleich auf das Spiel und auf die Unterhaltung aufmerksam sein. Es wäre wirklich gut, Sie tanzten auch.“ Sie begann wieder den Walzer und sah fest auf’s Notenblatt. Der Assessor zog sich zurück und nahm wieder in der Ecke gegenüber Stellung. Auch jetzt aber fehlte viel, daß die Musik recht tactmäßig klang. Helene setzte sie auch nur noch eine Weile fort, dann stand sie auf und zog sich bald aus der Gesellschaft ganz zurück.




5.

An einem der folgenden Tage, als Helene sich, wie nun fast immer, allein auf dem Kirchhofe befand und auf dem Bänkchen an Robert’s Grabe in einem mitgenommenen Buche las, bemerkte sie, daß sich Jemand dem Gitter näherte. Sie glaubte anfangs, der Todtengräber mache sich an den Gräbern etwas zu schaffen, da aber die Person stehen blieb, blickte sie doch auf und sah nun zu ihrer Ueberraschung Herrn von Brendeln vor sich. Die Schreckwirkung war unverkennbar. Sie mußte sich wohl so deutlich auf ihrem Gesichte aussprechen, daß er, während er lächelnd den Hut zog, wie zur Entschuldigung seiner Anwesenheit sagte: „Ich hatte keine Ahnung, Sie zu treffen, bestes Fräulein. Es ist sonst nicht meine Gewohnheit auf Kirchhöfen spazieren zu gehen, und ich kam auch heute nur aus einer Art von geschäftlicher Veranlassung her. Ein Freund schrieb mir kürzlich, daß einer seiner Vorfahren hier beerdigt sein solle, für den er sich aus besonderen Gründen interessirte, und bat mich, gelegentlich einmal nachzuforschen, ob sich die Stelle noch ermitteln lasse. So wanderte ich nun durch die Reihe der Gräber und traf auf dieses Gitter, die junge Dame fesselte meinen Schritt, und ich wagte nicht mich bemerkbar zu machen, da ich sie in ein Buch vertieft fand. Nun bin ich ertappt.“

Helene war aufgestanden. Sie sah, während er sprach, seitwärts nach dem Monument und schien die Aufschrift zu lesen. Kein Besuch an dieser Stelle konnte ihr unlieber sein als dieser. Sie fühlte das, wenn sie sich auch nicht nach dem Grunde fragen mochte. Der erste wildaufschießende Gedanke war gewesen: das ist unverschämt! Sie war überzeugt, er habe sie hier aufgesucht. Sie erwartete, wenn sie schwieg, werde er sich sogleich wieder entfernen, da das nicht geschah, fragte sie sehr kühl: „Und haben Sie nun gefunden, was Sie suchten?“

„Wenn Sie das alte Grab meinen, nein,“ antwortete er, mit den beiden Händen die Eisenstäbe festhaltend, die er gefaßt hatte. „Weiß Gott, wo der alte Herr zur letzten Ruhe eingegangen ist. Es sind da zu viele Steine und Kreuze mit verwischten Aufschriften. Man würde Tage brauchen, um mit Zuversicht aussprechen zu können, der Name stehe darauf oder nicht. Ich weiß nicht, ob meine Geduld langmüthig genug sein wird.“

„Sollte das Kirchenbuch nicht die beste Auskunft geben können?“ fragte sie wieder nach einer Pause.

„Wohl möglich,“ sagte er leichthin, und fuhr dann fort: „Uebrigens ist eine solche Wanderung über eine Gräberstätte doch recht lehrreich. Man erfährt dabei unter anderen sehr nachdenklichen Dingen, wie rasch der Mensch vergessen wird, wenn er die Augen geschlossen hat, und begreift, daß Bescheidenheit, wenn nicht eine Tugend, doch eine beachtenswerthe Klugheitsregel ist; die allermeisten dieser in die Erde eingesunkenen, mit Gras bewachsenen Steinplatten und vom Regen entfärbten Kreuze sind verhältnißmäßig sehr jung. Auf ein halbes Jahrhundert haben es die wenigsten gebracht. Wahrlich, das Leben ist kurz, aber noch viel kürzer ist das Gelebthaben. Man thäte klug, sich’s zu verbitten, so undauerhaft conservirt zu werden.“

„Sie machen da den Menschen den schweren Vorwurf der Lieblosigkeit gegen ihre Todten,“ bemerkte Helene, selbst im Ton des Vorwurfs.

„Er ist durchaus nicht beabsichtigt,“ entgegnete der Assessor, „durchaus nicht. Das Lebende hat Recht! Es ist nur natürlich, daß die Gräber verfallen. Was thut denn am Ende auch der Durchschnittsmensch, das auf dauernde Erinnerung Anspruch hätte? Man sollte sich hüten, ihn nach seinem Hingange künstlich auszuzeichnen. Wer ihm ein liebendes Andenken bewahrt, braucht keine Gedächtnißtafel, und für jeden Anderen ist sie doch leer, was auch darauf geschrieben stehen mag.“

Dem hätte Helene zustimmen können. Aber daß er ihr’s gerade an diesem Orte sagte, machte sie scheu. Sie fand das unzart und wollte es ihn merken lassen. Deshalb entgegnete sie nichts, sondern nahm das Buch auf und öffnete die Gitterthür.

„Sie wollen fort?“ fragte er.

Sie schloß die Thür ab. „Es ist wohl schon spät.“

„Hoffentlich vertreibe ich Sie nicht?“

„O–h!“

„Sie erlauben, daß ich Ihnen bis zum Wagen das Geleit gebe –“

„Bemühen Sie sich meinetwegen nicht, Herr Assessor.“

[682] „Wenn ich Ihnen nur nicht lästig falle!“ Er schloß sich ihr an. „Darf ich Ihnen den Shawl tragen – oder das Buch?“

„Die Gegenstände beschweren mich nicht.“

„Aber wenn man sich gern nützlich beweisen möchte! Ein Gebetbuch?“

Helene erröthete über das ganze Gesicht. „Nein!“ sagte sie in heftigem Ton.

Er lächelte. „Ich hätte meine Frage anders fassen sollen: doch nicht ein Gebetbuch?“

„Nein, nein!“ fiel sie nun fast ängstlich ein. „Ihre Voraussetzung war gewiß sehr gerechtfertigt: Der Platz eignete sich nicht –“

„Aber, mein bestes Fräulein,“ unterbrach er, „was für Ansichten wollen Sie mir da aufbürden? Braucht man zum Leben überhaupt ein Gebetbuch? Braucht man dazu eine bekannte Stelle? Oder glauben Sie sich in meinen Augen zu versündigen, wenn Sie das reizend schattige Plätzchen eines Friedhofes benutzen, um in idyllischer Zurückgezogenheit einen interessanten Roman –“

„Es ist kein Roman – gewiß nicht,“ versicherte sie lebhaft abwehrend.

Er warf einen Seitenblick auf das Buch. „Goldschnitt! Also wirklich kein Roman. Gut! es ist mir gleich. Eine Sammlung von schönen Gedichten, nicht wahr? Etwas für’s Herz. Vortrefflich! Für stimmungsvolle Verse ist das umgitterte Plätzchen unter der Linde ganz wie geschaffen. Wenn ich nicht irre, schlug vorhin auch eine Nachtigall in der Nähe. Poesie – das ist Gebet. Sie erhebt die weltmüde Seele zu allem Höchsten, sie idealisirt das Leben, sie macht uns gut und fromm, sie heiligt unser Fühlen und Denken. Womit besser können wir uns an dem Grabe eines theuren Verstorbenen beschäftigen?“

„Mit Gedanken an ihn,“ sagte sie rasch, aber leise.

Er blinzelte über die Brille hin. „Mein theures Fräulein, beschweren Sie sich doch nicht mit Vorwürfen, die Sie am wenigsten zu verdienen glauben können. Was verlangen wir denn von uns? Man kann nicht Jahre lang Tag für Tag in der Stimmung sein, Gedanken zu erneuern, die sich naturgemäß sehr bald erschöpfen müssen. Wohin man täglich geht, dahin trägt man auch sein tägliches Empfinden. Soll unser Gefühl nicht vollends verflachen, so müssen wir ihm ein geistiges Element zutragen. Was kann man Löblicheres thun, als sich an dem Orte, der eine ernste Bedeutung hat, mit den Gedanken erfüllen, die der Dichter in den feierlichsten Stunden seines Lebens dauernd schön geformt hat?“

Wieder sprach er nur aus, was sie selbst gedacht hatte. Aber es war ihr peinlich, daß er’s aussprach. Sie hatte, wie auch sonst schon mitunter, das Gefühl, daß er gewaltsam einen Zugang zu ihrem Innersten zu erzwingen bemüht sei. Und es war ihr, als ob sie sich um so ängstlicher verschließen müßte. Sie beschleunigte ihre Schritte.

Beim Einsteigen in den Wagen war er ihr behülflich. Konnte sie sich getäuscht haben? Nein, er hatte ihr die Hand gedrückt.

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 43, S. 693–696
Fortsetzungsroman – Teil 4
[693]
6.

Helene war durch dieses Zusammentreffen auf dem Friedhofe sehr beunruhigt. Je mehr sie darüber nachdachte, um so weniger zweifelhaft wurde es ihr, daß ein bloßer Zufall dabei nicht obgewaltet hatte. Sie meinte anfangs, der Mama davon Mittheilung machen zu sollen, allerdings nur ganz gelegentlich im Gespräch, wie über irgend etwas anderes an sich ziemlich Gleichgültiges. Aber sie gab den Gedanken wieder auf. Warum von solchem Nichts ein Aufheben machen?

Ihr war aber doch recht beklommen zu Muth, als sie das nächste Mal nach dem Kirchhofe fuhr. Sie mußte sich immer wieder die Frage vorlegen, ob der Assessor sich blicken lassen werde. So zerstreut hatte sie noch nie auf dem Bänkchen vor Robert’s Monument gesessen. Sie schalt sich selbst närrisch. Eben stand sie auf, um jeder unliebsamen Eventualität aus dem Wege zu gehen, als wirklich der Assessor hinter den Linden vortrat und sich grüßend an’s Gitter stellte.

Nun ärgerte sie sich über seine Dreistigkeit, hielt es aber doch für ungeschickt, sofort aufzubrechen. Der Assessor wußte von dem Manne, dessen Grab er suchte, eine lange Geschichte zu erzählen, aus der doch nicht recht klug zu werden war. Sie währte so lange, daß sie immer ungeduldiger und unaufmerksamer zuhörte. „Aber das ist ja ein ganzer Roman,“ sagte sie; „erzählen Sie mir den gelegentlich einmal im Salon der Frau Consul zu Ende.“

„Wie Sie befehlen,“ antwortete er geschmeidig.

„Ich möchte Ihnen auch nicht hinderlich sein, Ihre Nachforschungen fortzusetzen,“ nahm sie wieder das Wort. „Es wird Ihnen lieb sein, recht bald zum Ziele zu kommen.“

„O, glauben Sie das nicht!“ rief er. „Jede Minute, die ich in Ihrer Nähe zubringen darf, entschädigt mich reichlich für alle Zeitversäumniß.“

Das ging zu weit. „Dann erlauben Sie, Herr Assessor,“ sagte sie mit abgewendetem Gesicht, „daß ich mich schleunigst entferne. Es kann wohl nicht meine Absicht sein, Ihnen Gelegenheit zu geben, mich hier zu unterhalten.“

Er folgte ihr. „Wenn ich Sie erzürnt haben sollte …“

„Nein, nein! Aber bleiben Sie zurück.“

„Darf ich Sie nicht zum Wagen –“

„Ich bitte, nein.“

Er verbeugte sich.

Helene eilte fort. Es war ihr schon unangenehm, daß die Frau des Todtengräbers in demselben Gange arbeitete und sie beobachten konnte.

Am folgenden Tage fuhr sie eine Stunde früher aus und blieb nun unbehelligt. Am dritten aber nützte diese List schon nichts mehr. Sie hatte die Stelle des Erbbegräbnisses noch nicht erreicht, als der Assessor ihren Weg kreuzte. „Ich wollte Sie nur begrüßen,“ sagte er, „da ich Sie kommen sah. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihre Andacht störe.“

Sie war im Augenblick ganz verwirrt. „Aber es ist doch sonderbar,“ stotterte sie, „daß Sie stets gerade zu derselben Zeit …“

„Ja, es trifft sich sonderbar,“ bestätigte er ganz ernst. „Aber für mich sehr glücklich,“ setzte er hinzu. „Uebrigens war mir heute sicher diese Belohnung zu gönnen. Ich habe einige alte Steine von den Brennnesseln gesäubert und mir dabei tüchtig die Hände verbrannt.“

Das war höchst unwahrscheinlich. Seine modefarbenen Handschuhe zeigten keine Spur der Berührung mit irgend welchem Unkraut. Helene achtete denn auch nicht weiter darauf. Sie überlegte, was sie zu thun habe, um Herrn von Brendeln den deutlichsten Beweis zu geben, daß er ihr lästig sei. Schnell entschlossen machte sie Kehrt und ging nach dem Pförtchen zurück. Das hatte er doch nicht erwartet. Noch eine Weile stand er mit abgezogenem Hut und sah der schlanken, sich im Gehen überhastenden Gestalt nach. Dann ließ er die Spitze seines Stöckchens eine Schlangenlinie durch die Luft beschreiben. „Der Kirchhof ist ihr verleidet,“ murmelte er. „das kann auch als ein Erfolg gelten.“

Helene hatte Mühe, die Thränen zurückzuhalten, als sie wieder in den Wagen stieg. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und senkte den Sonnenschirm so tief, daß die Vorübergehenden ihr nicht in’s Gesicht sehen konnten. Was beabsichtigte Herr von Brendeln eigentlich? Diese Annäherung war so persönlicher Natur, daß sie kaum noch mißverstanden werden konnte. Welche Tollheit, sie auf dem Kirchhofe aufzusuchen! Wenn Jemand dieses Zusammentreffen bemerkt hatte, davon sprach –! Wie konnte sie den Schein abwehren, im Einverständniß gewesen zu sein? Sie biß die Zähne in die Lippe ein. Eine solche Rücksichtslosigkeit!

Und doch sprach da noch eine andere Empfindung mit. Sie hatte sich in ihrem Innersten oft genug dem Zwange widersetzt, sich gleichsam als eine der Welt abgestorbene Nonne zeigen zu sollen: aber es war ihr bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß sie Anderen und sich selbst aufhören könne, die Braut Robert’s zu sein. Einem Anderen noch begehrenswerth zu erscheinen, einem Anderen zu werden, was sie Robert gewesen war, stellte sich ihr [694] nicht einmal im Traume als eine Möglichkeit vor. Und nun trat plötzlich etwas an sie heran, das ihr Denken und Empfinden in diese Richtung drängen mußte.

Es bemühte sich Jemand offenbar sehr ernstlich um sie. Hatte sie ihn abzuweisen ohne jede Prüfung, ob er ihr gefallen könne oder nicht, lediglich aus dem Grunde, weil sie einem Verstorbenen die Treue zu bewahren verpflichtet blieb? Oder durfte sie, ohne sich zu versündigen, ihr Herz befragen? Die Antwort war vielleicht in diesem Falle leicht, aber in einem anderen … Daß die Frage überhaupt aufgeworfen werden konnte, das war das Ueberraschende, Berauschende. Wie stand sie mit ihrem Herzen dazu?

Nicht weit von der Brücke über den Fluß klopfte sie mit dem Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter und gab ihm die Weisung, sie zu Herrn Benjamin Grün zu fahren. Sie beabsichtigte durchaus nicht den alten Onkel in’s Vertrauen zu ziehen, oder gar von ihm einen Rath zu erbitten; aber es war ganz ihrer Stimmung gemäß, jetzt gerade seine Gesellschaft aufzusuchen.

Noch eine ziemliche Strecke von seiner Wohnung entfernt, mußte der Kutscher die Pferde im Schritt gehen lassen, da ein Lastfuhrwerk die Straße sperrte. Seitwärts ging ein junger Mann in derselben Richtung und wurde eingeholt. Helene schien ihn aufmerksamer in’s Auge zu fassen. Als nun die Peitsche knallte – ein Zeichen für den Lastfuhrmann, rascher zu fahren oder auszuweichen – wandte er den Kopf zurück – nochmals und nochmals, und blieb dann stehen, um die Equipage dicht an sich herankommen zu lassen. „Vetter!“ rief Helene hinaus. „Bist Du’s wirklich?“

Er reichte die Hand über den Wagenschlag. „Guten Tag, Helene! Der Zufall will’s, daß ich Dich bei meinem ersten Ausgange treffe – wirklich nur um die Ecke herum zu meinem Director.“

Sie schüttelte seine Hand. „Seit wann bist Du zurück?“

„Seit vorgestern. Gestern ließ mich der alte Papa keine Minute fort.“

„Zu mir wärst Du wohl auch nicht gekommen.“

„Kann sein! Aber ich hatte mir’s vorgenommen, der Frau Consul möglichst bald meine Visite abzustatten.“

„Das ist löblich. Wohin gehst Du nun?“

„Nach Hause.“

„Dahin wollte ich auch. Komm zu mir in den Wagen.“ Sie drückte die Feder an der Thür, die nun aufsprang.

„Es lohnt kaum,“ meinte er, stieg aber doch ein und setzte sich ihr gegenüber. Eben war auch die Straße frei geworden und der Wagen rollte rasch weiter.

Helene reichte dem Vetter nochmals die Hand zum Gruß. Sie schien sogleich ein recht freundschaftliches Verhältniß anbahnen zu wollen.

„Du siehst übrigens gut aus,“ sagte sie, ihn musternd. „Wenn ich an das bleiche Mondscheingesicht von damals denke –“

„Denke nicht daran,“ bat er.

Sie beugte sich ein wenig vor. „Ist das da auf der Backe eine Schmarre?“

Er erröthete leicht. „Nicht die einzige, der Bart verdeckt die andern.“

„Wirklich? Ich denke, Du warst ein principieller Gegner des Duells?“

„Der bin ich noch,“ versicherte er lachend. „Aber wie weit kommt man im Leben mit seinen Principien? Und in gewissen Jahren reitet man sie doch in der That zu pedantisch. Hatte ich nicht überhaupt die glücklichste Anlage ein arger Pedant zu werden?“

„Das muß ich bestätigen,“ sagte Helene. „Du hast mich oft grausam gequält.“

„Das war gegenseitig.“

„Wie das? Ich wüßte nicht –“

„Ach, Du konntest so wenig dafür, als ich. Mir ist’s übrigens ganz heilsam gewesen. Wenn man Neigung zum Stubenhocken und Büffeln hat, kann man nur dankbar sein für einen kräftigen Stoß ins Freie.“ Er schien jetzt erst ihren schwarzen Anzug in’s Auge zu fassen. „Das konnte allerdings Niemand vorhersehen,“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Aber wer weiß, ob Dir’s anders – nicht noch trauriger ergangen wäre.“

Ihre Stirn verfinsterte sich. „Du warst gegen Robert ganz blind eingenommen.“

„Das mag sein. Obgleich … Zu Leuten mit seinen Passionen werde ich immer schwer Vertrauen fassen können. Und glaube mir, Du warst keine Frau für ihn.“

„Aber –“

Er zuckte die Achseln. „Was stöbern wir da in dem alten Staube herum? Er fliegt doch nur auf, um sich wieder zu senken und liegen zu bleiben, wo er liegt. Freilich – wie konnten wir Beide einander nach Jahren begegnen, ohne eine Strecke Weges zurückzugehen? Am besten geschah’s gleich. Man ist’s dann hoffentlich für alle Zeit los.“

Der Wagen fuhr am Hause des Uhrmachers vor. Der alte Herr saß an seinem Werktisch am Fenster und arbeitete fleißig. Nun sah er auf, schob den grünen Augenschirm zurück und lachte über das ganze Gesicht, als ihm die Zwei zunickten. Dann kam er ihnen bis an die Thür entgegen.

„Nun, was sagst Du zu meinem langen Jungen, Lenchen?“ war sein erstes Wort. Dazu schmunzelte er recht wohlgefällig. Er behielt ihre Hand und führte sie in’s Zimmer, in dem sie mit lautem Ticktack empfangen wurde.

„Ich hätte Walter kaum wieder erkannt,“ sagte sie.

„Zu seinem Vortheil verändert, nicht wahr?“ schloß er rasch an. „Sehr zu seinem Vortheil. Man kann’s nicht anders sagen.“ Er klopfte ihm die Wange.

„Er hatte früher etwas komisch Unfertiges,“ meinte Helene. „Nun ist er als ein ganzer Mann zurückgekommen.“

„Ein ganz anderer Mensch, ein ganz anderer Mensch!“ rief der Uhrmacher und küßte ihn rechts und links. „Und doch der alte, Lenchen – wenn man ihm auf den Grund geht, der alte. Eine wahre Seele von Mensch.“

„Da soll man nun nicht ganz eitel werden!“ sagte der Doctor, sich zu dem Mädchen wendend.

„Ah pah, eitel!“ polterte der Alte. „Du weißt am besten, was Du werth bist. Laß mir meine Freude an Dir. – Hast mir ja auch Sorgen genug gemacht.“

„Nun kommt die Kehrseite obenauf,“ neckte Walter.

„Ja, ja, mit Deinem vergrämten Wesen und unsinnigen Gerede damals. Und als Du ganz wild ausschlugst und recht liederliche Briefe schriebst! Ja, ja, Du Schwerenöther!“ Er faßte ihn wieder beim Kopfe und küßte ihn ab. „Gereimt habe ich mir’s doch.“ Er blinzelte dem Mädchen zu. „Verstehst Du, Lenchen?“

„Kein Wort, Onkel.“

Walter meinte ihm jetzt zuvorkommen zu müssen.

„Hast Du denn nicht gemerkt, Cousinchen, daß der lange Junge in Dich ganz närrisch verliebt war?“ rief er lachend. „Zum Tollwerden!“

Sie schien zu erschrecken. „Walter,“ sagte sie, „so darfst Du nicht scherzen.“

„Scherze ich denn? Ja, jetzt, nun ich curirt bin! Ich hab’s wahrscheinlich sehr klug angefangen, Dir zärtliche Gefühle für mich einzuflößen. Mein Himmel, heut kann man sich ja kritisch zerfleischen. Ich war ein Narr, Lenchen. So ein komisch unfertiger junger Mensch –“

„Vetter –“

„Du hattest ganz Recht, der zählt nicht mit. Ihm selbst fallen dann freilich so viel Heine’sche Verse ein; er verzweifelt am Leben und begeht noch nicht den dümmsten Streich, wenn er sich nun erst recht hineinstürzt. Es muß irgend ein Kopfüber gewagt werden. Nach einiger Zeit steht man wieder fest auf den Füßen.“

„Ohne Gefahr ist’s doch nicht,“ meinte der Papa und tätschelte ihm die Schulter. „Mancher setzt sich so etwas in den Kopf, das er dann niemals wieder herausbringt, oder das verzweifelt lustige Leben hört gar nicht mehr auf. Eine so kerngesunde Natur freilich … na, ich freue mich, daß Alles wieder in bester Ordnung ist. Und nun sage ich’s auch ganz dreist heraus: Die beste Figur hast Du als Liebhaber nicht gespielt, mein Junge. Was, Lenchen? Da verstand’s der junge Herr Berghen besser.“

Helene war ganz still und ernst geworden. Nun ihr Name genannt wurde, schien sie erst wieder aufzumerken. Da sie das vergnügte Gesicht des alten Onkels sah, lachte sie auch und sagte:

[695] „Ja, es ist sehr lustig.“ Und dann rückte sie vor dem kleinen Spiegel das Hütchen zurecht, strich die Handschuhe glatt und verabschiedete sich, indem sie Vater und Sohn zugleich die Hände reichte.

„Willst Du schon fort?“ fragte der Onkel verwundert. „Du bist kaum eingetreten.“

„Ich darf die Pferde nicht so lange stehen lassen,“ entschuldigte sie. „Ich wollte auch nur fragen kommen, ob Walter schon angekommen sei, und da ich ihn nun gesehen habe, braucht’s darauf nicht einmal einer Antwort. Aber ich finde mich schon wieder ein – Abends einmal, wenn wir zum Plaudern Zeit haben. Walter hat gewiß viel zu erzählen.“

Er begleitete sie zum Wagen und hob sie hinein. Sie nickte ihm freundlich zu, aber ihr Lächeln hatte etwas Wehmüthiges. Und als sie nun allein mit sich war, überkam sie eine Bangigkeit, die sich gar nicht meistern lassen wollte. Was war ihr denn geschehen? Sie war auf ihrem Lebenswege an einer offenen Thür vorübergegangen, und jetzt erst, da sie sich weit, weit entfernt hatte und zufällig zurückblickte, sah sie, daß sie zum Eintritt eingeladen hatte. Sie empfand keinen Schmerz darüber; aber es beunruhigte gleichsam ihr Gewissen. Wie viel Kummer hatte sie Walter bereitet! Und wie schwer mußte sein Kampf gewesen sein, wenn es ihm gelang, sich so völlig zu befreien, daß er nun in ihrer Gegenwart über sein früheres Leid scherzen konnte!

Walter war sicher der strenge Idealist geblieben, der an sich die höchsten Anforderungen stellte. Und nicht nur an sich. Wie er das Gefühl, das keine Erwiderung gefunden, von sich ausgestoßen hatte, so setzte er auch bei ihr die Festigkeit voraus, ihr Geschick hinzunehmen, wie sie sich’s bereitet hatte. Eine Rückkehr gab’s nicht. Wohin auch? Sie waren beide andere Menschen geworden in diesen Jahren.

Er hatte sie geliebt … Es war doch wundersam, das jetzt zu erfahren und nachträglich ein Verständniß für das Unverstandene zu suchen und zu finden. Vorbei – vorbei!

Zu viel hatte an diesem Nachmittage auf ihr Gemüth eingestürmt. Sie ging sogleich auf ihr Zimmer, schloß sich ab und ließ sich auch am Abend nicht mehr in der Familie blicken. Robert’s großes Bild verhängte sie, die Photographien stellte sie um. Sie konnte heute nicht mit reinen Empfindungen und auch nicht gleichgültig genug darauf blicken. Und es war ihr auch, als müßte es ihn kränken, sie zu sehen. Sie konnte nichts dafür. Es war ohne ihr Zuthun geschehen, daß der Eine und der Andere sich ihrer bemächtigt hatte. Aber bei Robert konnte sie nun doch nicht sein.

Am folgenden Tage ließ sie sich unwohl melden. So fiel die Fahrt nach dem Kirchhof aus. Aber auch am nächsten suchte sie Ausflüchte.

Die Frau Consul entschloß sich, einmal wieder selbst auf den Kirchhof zu fahren. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie, daß sie dort Herrn von Brendeln getroffen habe. Helene hörte auffallend zerstreut zu. „Es scheint mir doch aber recht unpassend,“ sagte sie, „daß er da …“ Sie wurde roth und stockte.

„Wieso?“ fragte die Mama. Dann kam ihr ein Gedanke, der frappirend wirkte. „Er ist wohl auch sonst schon dort gewesen?“

„Ja – in letzter Zeit,“ antwortete Helene.

„So – so! Wahrscheinlich erwartete er auch heute, Dich da zu finden? Ich erinnere mich jetzt, daß er mich so sonderbar anredete. Er hatte mich offenbar von weitem nicht gleich erkannt, da ich gebückt stand und der Lebensbaum ihm mein Gesicht verdeckte. Er wußte es hinterher zu verreden. Ja – was will er denn von Dir?“

„Das weiß ich nicht.“

„Sehr sonderbar. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb Du in den letzten Tagen … Du hast ganz Recht, mein liebes Kind. Sein Benehmen ist mindestens unzart. Mein Himmel! der Tag ist ja lang, und er kann auch zu anderer Stunde seine Nachforschungen nach dem versunkenen Geheimrath anstellen, oder was er sonst gewesen ist.“

Die Frau Consul wollte sich’s überlegen, was dagegen zu thun sei. Die Sache wurde mit den Töchtern besprochen. Vera versprach durch ihren Bräutigam ganz unter der Hand Herrn von Brendeln wissen zu lassen, daß man mit ihm unzufrieden sei. Durch Selma erfuhr Osterfeld regelmäßig, was sich in der Familie ereignete. Er nahm den Vorfall sehr ernst. „Dieser Herr von Brendeln,“ sagte er, „ist mir längst verdächtig. Habe ich’s denn allein bemerkt, daß er Helenen auffällig den Hof macht? Er ist zu klug, um irgend etwas ohne Absicht zu thun. Wenn er sich ernstlich um Helene bemühen sollte …“

„Sie ist jung und hübsch,“ äußerte Selma wie zur Bestätigung.

„Pah!“ sagte er, „und reich.“

„Reich?“

„Vergeßt doch nicht Robert’s Testament. Ich weiß nur noch nicht bestimmt, ob er davon Kenntniß hat. Aber es ist mir sehr wahrscheinlich – es ist anders kaum denkbar. Herr von Brendeln strebt vorwärts und braucht dazu die solide Unterlage eines möglichst unabhängigen Vermögens. In ein armes Mädchen verliebt er sich nicht.“

„Schade um seine ganz nutzlosen Bemühungen.“

„Hm … Er kann sehr liebenswürdig sein.“

Selma lächelte ungläubig. „Aber wie kannst Du nur denken, daß Helene einer solchen Verirrung fähig wäre! Sie hat geliebt! Vermagst Du Dir vorzustellen, daß man mehr als einmal lieben kann? Das würde mich sehr unglücklich machen.“

Damit war jede Fortsetzung des Gesprächs abgeschnitten. Osterfeld hatte nur noch alle Mühe aufzuwenden, seine Frau durch Zärtlichkeiten zu überzeugen, daß er ganz ihrer Meinung sei. Sie kosteten ihm allemal einen gewissen Zwang. Zum Glück kam er nur sich selbst als Liebhaber komisch vor; Selma war immer leicht gerührt, wenn er weich wurde.

Uebrigens erreichte er durchaus seinen Zweck. Selma sprach natürlich mit der Mama über die wichtige Angelegenheit und beleuchtete sie hier mit dem Lichte, das er ihr angesteckt hatte. Nun freilich gab sich die Frau Consul den Anschein, gar nicht begreifen zu können, wie ein solcher Verdacht sich durch die Thatsachen rechtfertige. „Osterfeld rechnet da zu kaufmännisch,“ sagte sie, „und übersieht, daß es für das Gefühl unmögliche Combinationen giebt.“ Trotz dieses Absprechens beschloß sie doch, im Stillen schärfer zu beobachten. Helene wurde mit zärtlichster Sanftmuth wie eine Leidende behandelt; sie sollte nicht einmal ahnen, daß man etwas anderes als völlige Resignation von ihr erwarten könne.

Herr von Brendeln setzte übrigens seine Besuche im Hause fort und änderte sein Benehmen in keiner Weise. Vielleicht noch auffälliger, als vorher, hielt er sich zu Helene; so oft sich irgend die Gelegenheit dazu bot, war er bemüht, sie in ein vertrauliches Gespräch zu ziehen. Er erschreckte sie oft genug durch seine Offenherzigkeit in der Beurtheilung der Menschen, unter deren täglichem Einfluß sie stand.

Helene entnahm für sich aus seinen anscheinend ganz allgemeinen Betrachtungen, was auf ihre besondere Lage Bezug haben konnte, und fühlte sich immer unbefriedigter. Es ängstigte sie manchmal, daß der Assessor so viel Macht über sie gewann; aber dann erschien er ihr wieder als der Befreier aus den drückendsten Banden. Es war ihr ganz sicher, daß sie nichts für ihn empfand, was herzliche Zuneigung hätte heißen dürfen, aber sie fühlte sich ihm doch zu Dank verpflichtet. Sie täuschte sich vielleicht über den eigentlichen Grund jener Sicherheit, aber darin, daß sie vorhanden war, täuschte sie sich gewiß nicht.

Nun hielt auch Walter Grün Wort: er stattete im Hause der Frau Consul seine pflichtschuldige Visite ab. Man empfing ihn dort allseitig mit einer gewissen Voreingenommenheit. Eine so achtbare Persönlichkeit der Uhrmacher war, man wußte eben in diesem Kreise nichts mit ihm anzufangen, und sein Sohn, mochte er auch studirt haben, war doch wohl zu sehr unter dem Einflusse kleinbürgerlicher Anschauungen und Gewohnheiten erzogen, um hier heimisch werden zu können. Nun machte sein Erscheinen offenbar den günstigsten Eindruck auf die weiblichen Mitglieder der Familie. Der Herr Doctor bewegte sich mit der vollen Freiheit eines geschulten Cavaliers, und nicht einmal das den jungen Gelehrten sonst wohl eigene steife Wesen, das sich namentlich in der Schule so leicht angewöhnt, wurde fühlbar. Er führte das Gespräch mit größter Leichtigkeit in jenem spielenden Tone, der auf die wenigen Minuten des Zusammenseins berechnet ist. Dabei war doch kein Wort ganz unbedeutend, der Gegenstand, den er berührte, sofort interessant. Bald wendete er sich an die Frau Consul, bald an eine der Töchter und warf ihnen den Ball zu. Ein Fremder hätte überzeugt sein müssen, daß er seit Jahren in dem Hause aus- und eingehe.

[696] Die Damen selbst, höchst angenehm und anregend beschäftigt, suchten den Besuch zu verlängern. Mit dem Hut in der Hand mußte er stehend noch eine Weile die lebhafte Conversation fortsetzen. Als er dann endlich entlassen wurde, lud die Frau Consul, der Zustimmung ihrer Töchter gewiß, ihn auf’s Freundlichste zum Wiederkommen ein. „Warten Sie nicht auf die feierliche Einladung,“ sagte sie, „sondern kommen Sie, so oft Sie ein Stündchen frei haben. Sie sollen uns jederzeit willkommen sein.“

Das mußte Helene sehr liebenswürdig finden, und sie bewies auch ihre Dankbarkeit durch die heiterste Stimmung nach seinem Weggange. Vorher hatte sie sich bei dem Gespräch kaum betheiligt, wie denn auch Walter wenig bemüht gewesen war, sie hineinzuziehen. Das hatte sie nicht für eine Zurücksetzung gehalten, sondern eher im Stillen die geschickte Weise gelobt, wie er sich zunächst den fremden Damen bekannt machte und die Frau vom Hause merken ließ, daß er ihretwegen gekommen. Sie war mit dem Vetter außerordentlich zufrieden, wohl sogar ein wenig stolz auf ihn. In die Freude darüber mischte sich wieder die Verwunderung, was der linkische, pedantische Student in den Wanderjahren aus sich gemacht habe. Sein Vater behielt Recht: er war ein ganz anderer Mensch geworden.

„Was für ein hübscher, stattlicher Mann ist Dein Vetter!“ rühmte die Frau Consul.

„Er hat etwas Geistiges im Gesicht, das sehr anzieht,“ meinte Vera.

„Und aus den Augen spricht ein tiefes Gemüth,“ ergänzte Frau Selma Osterfeld.

„Die Haltung ließ nichts zu wünschen,“ nahm die Mama wieder das Wort. „Erinnert er nicht in der Figur ein wenig an Robert? Auch ungefähr dieselbe Größe.“

„Was er spricht, ist eigentlich Alles ganz ernst,“ kritisirte Vera, „und man muß manchmal recht scharf aufpassen, um ihm folgen zu können; aber es fließt ihm so leicht vom Munde, als fänden sich die Worte von selbst zusammen. Ich mußte wiederholt an Herrn von Brendeln denken, mit dem er doch sonst nicht die mindeste Aehnlichkeit hat.“

„Nicht die mindeste,“ bestätigte Helene.

„Der Assessor ist vielleicht noch gewandter,“ sagte Selma lächelnd – sie glaubte, daß Helene für ihn Partei ergriffen habe. „Aber man weiß doch nie, wie weit es ihm Ernst mit der Sache ist. Ich bin da in letzter Zeit sehr vorsichtig geworden und möchte Jedem rathen, meinem Beispiel zu folgen. Herr Doctor Grün hat etwas in seiner ganzen Art, das Vertrauen erweckt. Ich würde ihm ohne Bedenken die Erziehung meines Sohnes anvertrauen. Ob er sich nicht möchte bereit finden lassen, wenigstens einige Stunden zu übernehmen?“

„Wohl schwerlich,“ meinte Helene.

„Weshalb nicht?“

„Ah! Ich kann mir nicht denken, daß er sich dazu verstehen wird, den Hauslehrer zu spielen – am wenigsten in diesem Hause.“

„Warum am wenigsten in diesem Hause?“ fragte Frau Berghen ein wenig gereizt. „Man ist anderswo kaum in der Lage so hohe Honorare zu bewilligen.“

„Gerade des Honorars wegen, Mamachen,“ antwortete Helene. „Doch kann man sich ja bei ihm erkundigen.“

Das geschah bei nächster Gelegenheit, genau mit dem Erfolge, den Helene vorhergesehen hatte. Er lehnte aber so liebenswürdig ab, daß man die Anfrage nicht bereuen durfte. Er gedenke alle seine freie Zeit wissenschaftlichen Arbeiten zu widmen, sagte er, die seine Habilitation bei der Universität vorbereiten sollten. Doch erbiete er sich gern, den Knaben von Zeit zu Zeit zu prüfen und – ganz freundschaftlich – wegen seiner weiteren Ausbildung Rath zu ertheilen. Er ließ sich auch zugleich die Bücher zeigen und spendete den Arbeiten so freundliches Lob, daß die zärtlichste Mutter hätte beruhigt sein können.

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 44, S. 709–712
Fortsetzungsroman – Teil 5
[709]
7.

Vetter Grün benutzte die Erlaubniß, sich nach seinem Belieben als Gast einführen zu dürfen, viel eifriger, als Helene erwartet hatte. Ihre Befürchtung, daß ihm die Hausgenossen bald gleichgültig werden würden, schien sich nicht bestätigen zu wollen. Er gab freilich allemal mehr, als er empfing, und hielt dies offenbar auch ganz in der Ordnung. Wenigstens ließ er sich selbst gegen die Cousine nichts merken, daß er etwas vermißte. Er fehlte auch bei den kleineren und größeren Gesellschaften selten, vielleicht nur so oft, als ihm gerade schicklich schien, um nicht für unvermeidlich gehalten zu werden. Dann konnte Helene überall das Bedauern aussprechen hören, daß man seine anregende Unterhaltung entbehren müsse. „Haben Dir neulich nicht die Ohren geklungen, Walter?“ pflegte sie ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen, die sie manchmal selbst durch einen Besuch bei Onkel Benjamin herbeiführte.

Herr von Brendeln hatte sich ihm in jeder Weise entgegenkommend bewiesen. Zu Anfang schien es auch so, als hätten sich ein Paar Männer gefunden, die nach ihrer geistigen Structur zu einander gehörten und rasch gute Freunde werden müßten. Aber bald zeigte sich eine sehr merkliche Abkühlung. Sie gingen sich nun eher aus dem Wege, so weit dies möglich war. Betheiligten sie sich bei einem gemeinsamen Gespräch, so schien es sich ganz von selbst zu verstehen, daß auf die Behauptung des Einen der Andere gerade das Gegentheil vertheidigte. Diese Redekämpfe wurden oft sehr interessant. Vielleicht bewies sich der Assessor darin als der gewandtere Dialektiker, aber der Doctor hatte das tiefere und gründlichere Wissen für sich, und er überzeugte auch mehr.

Helene freute sich, in Vetter Grün eine feste Stütze finden zu können, deren sie in diesem Hause so sehr bedurfte. Es war ihr Wunsch, sich ihm recht innig anzuschließen. Sie durfte erwarten, daß er sich, wenn er erst im Hause bekannt geworden, vornehmlich mit ihr beschäftigen, sich liebevoll um sie bekümmern werde. Aber darin täuschte sie sich schwer. Er begrüßte sie, wie man eben eine Verwandte begrüßt, und verabschiedete sich auch so – mit einem nichtssagenden Wort, mit dem üblichen Händedruck. Er suchte nicht die Unterhaltung mit ihr, und wenn sie sich von selbst ergab, war sie so allgemeiner Natur, daß der Fremdeste Zeuge sein durfte. Oft stellte sie sich absichtlich allein in eine Fensternische oder an’s Clavier, immer so, daß sie von ihm bemerkt werden mußte. Sie wurde auch bemerkt, aber er machte nicht die mindeste Anstalt zu ihr zu treten, sondern ließ sich nur um so eifriger in das Gespräch mit dem Nächststehenden verwickeln. Es war, als ob er geflissentlich jedes Mißverständniß beseitigen wollte, als wuchere die Jugendthorheit noch heimlich fort und habe Mühe sich zu verbergen.

Sie empfand darüber den heftigsten Verdruß. Es war ihr gar keine Entschädigung, daß Herr von Brendeln fortfuhr sie auszuzeichnen und mit immer auffälligerer Ausschließlichkeit sich ihr zu widmen. Unlieb war ihr dies jetzt freilich nicht. Wenn Walter sich so wenig aus ihr machte, so war da doch ein Anderer, der sich desto mehr um sie bemühte.

Sie glaubte auch wirklich zu bemerken, daß Walter sich zu diesem augenfälligen Entgegenkommen nicht ganz gleichgültig stellte. Sprach sie mit Herrn von Brendeln, so streifte sein Blick viel häufiger an ihr vorüber, als wenn sich ein Anderer mit ihr beschäftigte. Wurde die Unterhaltung munterer, so konnte sie sich einbilden, daß Walter etwas wie Beunruhigung merkbar werden ließ. Gelegentlich fehlte es auch nicht an flüchtigen Aeußerungen über den „galanten“ Herrn Assessor, die scherzhaft eingekleidet waren, aber einen mürrischen Klang hatten. Verspürte er am Ende doch eifersüchtige Regungen? Mindestens beachtete er sie.

Sie hatte also ein Mittel, sich bei ihm Beachtung zu verschaffen. Trotzig sagte sie sich: gut! treib’s nur, wie du’s willst. Ich glaube dir nicht recht, daß du im Ernst von mir so wenig wissen willst. Wenn du aber dein Vergnügen daran hast, mich so obenhin zu behandeln, als ob ich für dich gar nicht zähle, so will ich mir wenigstens die Genugthuung schaffen, dich ein Bischen dafür zu ärgern. Und es ärgert dich, daß mir einer den Hof macht, den du nicht leiden kannst, und daß ich ihn nicht abfallen lasse, weil du ihn nicht leiden kannst. Ich will auch zeigen, daß ich mich ganz frei weiß. Ich will recht boshaft sein, um dir’s zu vergelten!

Darnach handelte sie nun auch. Und gar nicht boshafter meinte sie sein zu können, als wenn sie Herrn von Brendeln die Wege zu sich ebnete und ihn recht auffällig ermunterte, seine Liebenswürdigkeit an sie zu verschwenden. Hatte er sich auch keiner heimlichen Gunst zu erfreuen und mußte er sie für recht launisch halten, wenn sie an Abenden, wo Walter fehlte, ihm recht übermüthig zu erkennen gab, wie weit er vom Ziel sei, so durfte er sich zu anderen Zeiten doch zu seinen Erfolgen gratuliren. Sie hielt dann seinen schmeichelhaftesten Lobsprüchen und vorzüglichsten Redewendungen nicht nur muthig Stand, sondern schien durch ihr heiteres Lachen und ihre witzigen Antworten ihr Wohlgefallen daran beweisen zu wollen. Seine Aufforderung zu musiciren oder zu singen blieb selten unbeachtet, und er stand [710] dann hinter ihrem Stuhl, ihr die Blätter umzuschlagen, oder lehnte sich ihr gegenüber auf’s Clavier und rief von Zeit zu Zeit ein 1eises Bravo hinüber. Es war ärgerlich genug, daß er immer dreister wurde, aber sie litt es doch nicht seinetwegen.

Der Frau Consul war es jedesmal ein Stich in’s Mutterherz, wenn sie die Beiden zusammenstehen, Herrn von Brendeln sich geschäftig um das schöne Mädchen bemühen, Helene aber mit gerötheten Wangen munter lachen und plaudern sah. Sie faßte einmal den Muth, Doctor Grün auf das Paar hinzuweisen.

„Ist Ihnen das Benehmen des Herrn Assessors nicht auffällig?“ fragte sie ihn.

„Er interessirt sich unzweifelhaft für meine Cousine,“ antwortete er, leicht die Achsel zuckend.

Die Frau Consul wurde sehr unruhig. „Aber Herr Doctor –“ zischelte sie, „Sie sagen das so, daß ich vermuthen muß … Nein! auf etwas der Art darf man ja gar nicht kommen. Vergessen Sie nicht, daß Helene Braut ist.“

„War –“

„O! in ihrem Herzen kann Robert nicht gestorben sein. Man soll sie dessen aber auch nicht mit einem Schein von Grund beschuldigen dürfen. Und sie ist wirklich recht unvorsichtig. Es sind schon von anderer Seite Bemerkungen gefallen, die mich besorgt machen müssen, daß sie sich schadet. Und doch ist mein Verhältniß zu ihr – meines Sohnes wegen – so zarter Natur, daß ich unmöglich eingreifen kann, ohne ihr etwas Kränkendes zu sagen. Sie aber –“

„Ich, gnädige Frau –?“

Walter versprach nichts. Er hatte über das, was die Frau Consul anregte, seine eigenen Gedanken, die er denn auch am liebsten für sich behielt. Das nächste Mal aber, als Herr von Brendeln wieder mit mehr als gewohnter Dreistigkeit Helene von der Gesellschaft im Garten zu isoliren wußte und sie sich’s sogar gefallen ließ, daß er ihr den Fächer aus der Hand zog und damit allerhand Spielereien trieb, stand er doch auf und ging zu ihr, irgend eine gleichgültige Frage einwerfend. Der Assessor, der seine Absicht merken mochte, zog sich bald zurück. Walter legte Helenens Arm in den seinigen und führte sie durch den Garten, der Laube zu, in der die Anderen saßen. Sie war sich augenscheinlich nicht klar darüber, wie sie sein Benehmen deuten sollte, sah zur Erde, oder schielte zur Seite, wie er’s eigentlich meine. Er bemerkte es. „Du bist eine kleine Kokette,“ sagte er in scherzendem Tone.

Sie machte sogleich ihren Arm frei und blieb stehen.

„Gefällt Dir das nicht?“ fragte sie herausfordernd.

„Aufrichtig gesagt – nein!“ antwortete er.

„Und warum nennst Du mich so?“

„Nun … ich habe doch Augen.“

Die Thränen perlten ihr über die gerötheten Wangen. „So bin ich also doch für Dich noch auf der Welt!“ rief sie mit schluchzender Stimme.

„Helene –!“

„Du siehst wenigstens, was Dir mißfällt! Aber ich verdiene diesen Vorwurf von Dir nicht.“

„Von mir oder einem Andern. Man beobachtet Dich.“

„Mag man doch!“ Ihre Lippen zitterten. „Man täuscht sich – ich weiß es am besten.“

„So ist Dir’s wirklich voller Ernst, Helene?“

„Was?“

„Du läßt Herrn von Brendeln glauben, daß er sich nicht umsonst bemüht.“

Die Thränen flossen reichlicher. „Und was geht’s Dich an?“

Die Frage setzte ihn in Verwirrung. „O! mich …? Ich bin Dein Vetter.“

„Das spricht nicht mit,“ entgegnete sie rasch. „Das gar nicht.“

„Du bist sonderbar, Helene. Ich verstehe Dich nicht.“

Sie wendete sich mit Heftigkeit ab und drückte das Tuch auf die Augen.

„Wie willst Du mich denn auch verstehen,“ sagte sie trotzig, „da Du von mir gar nichts wissen magst?“

„Du hörst ja, Helene, daß ich –“

„Ach! wenn Du schelten kannst. Das war ja auch früher so Deine Art und damit hast Du alles verdorben.“

Er wiegte den Kopf. „Aber ich habe ja noch gar nicht gesagt, daß ich Dich tadle, wenn Du diesem Herrn von Brendeln in allem Ernst –“

„Siehst Du, daß ist Dir ganz gleichgültig,“ rief sie. „Und wenn es Dir gleichgültig ist, so mache ich mir auch nichts daraus, was Herr von Brendeln von mir glaubt. Ach, ich – ich …!“ Sie preßte das Tuch in der Hand zusammen, warf ihm einen zornigen Blick zu und entfernte sich schnell nach dem Hause.

Walter folgte ihr nicht. Einen Moment nahm sein Gesicht einen recht heiteren Ausdruck an. „Er wird doch der Glückliche sein,“ murmelte er. „Was darf es mich kümmern? Sie sollte ja volle Freiheit haben …“ Der Kopf schien ihm heiß, er zog den Hut ab und trug ihn in der Hand, während er nach der Laube ging. „Aber unbegreiflich ist’s – unbegreiflich. Dieser Faun –!“

Er blieb nur noch kurze Zeit. –

In den nächsten Tagen ließ er sich gar nicht blicken. Dann stattete er eine flüchtige Visite ab. Und dann kam er seltener und immer seltener, sich mit überhäufter Arbeit entschuldigend. Gegen Helene zeigte er sich ganz unverändert, wenn nicht freundlicher. Sie aber that, als ob sie ihm nicht frei in’s Gesicht sehen könne. Er meinte, sie schmolle, weil er zu dreist in ihrem Herzen geforscht und eine wunde Stelle getroffen habe.

Eine wunde Stelle gewiß. –




8.

Helene trieb’s nun wieder auf den Kirchhof. Sie fühlte sich sehr unglücklich und hoffte, daß die melancholische Stimmung der Gräberstätte ihr wohlthun würde. Auf dem Plätzchen vor dem Monument war ihr nur noch beklommener zu Muth. Sie quälte sich absichtlich mit Gedanken an Robert. Sein Bild blieb nebelhaft verschwommen; sie konnte mit dem Herzen nicht zu ihm. Der Assessor beirrte sie dabei nicht. Aber desto mehr Walter. Nicht daß sie mit zärtlichen Empfindungen seiner gedacht hätte. Sie konnte sich einreden, daß sie ihn recht aus Herzensgrund hasse. Wer sonst verschuldete denn auch, daß sie sich selbst so zuwider geworden war?

Die Frau Consul begleitete sie jetzt wieder öfter. Das war ihr anfangs lieb. Sie meinte, so werde sich am leichtesten das gewohnte Verhältniß wieder herstellen. Bald mußte sie erkennen, daß Mißtrauen im Spiel war. Nun hatte es die alte Dame ganz bei ihr verschüttet.

Indessen rückte der Hochzeitstag immer näher heran. Hauptmann von Gräwenstein war sehr ungeduldig geworden und hatte so dringend die Abkürzung der Wartezeit gewünscht, daß die Mama schon nachgeben mußte. Die Hochzeitsreise im Spätsommer versprach auch erfreulicher zu werden, als weiter hinaus im Herbst. Dazu kam, daß man jetzt noch auf den Garten rechnen durfte, der, wenn auch nicht am Hochzeitstage selbst, doch am Polterabende die sehr wünschenswerthe Aushülfe schaffen konnte. In der Hoffnung auf gutes Wetter war ein Gartenfest geplant, bei dem sich die Gäste, aus dem Hause ab- und zugehend, abwechselnd betheiligen konnten.

Wichtige Fragen waren schon Wochen lang vorher zu erörtern: wie viel Brautführerpaare erwünscht sein könnten, wie man Civil und Militär möglichst gleichmäßig heranziehe, wer den Brautkranz zu überreichen habe. Vera weigerte sich mit aller Entschiedenheit, den Kranz aus Helenens Händen anzunehmen. So starkgeistig sie sich sonst gerne bewies, hier behielt die abergläubische Vorstellung die Oberhand, daß eine Kranzjungfer, deren Bräutigam gestorben sei, ihr Unglück bringen müsse. Sie hielt dieses Bedenken auch gegen Helene selbst nicht zurück; unter den zärtlichsten Liebkosungen versicherte sie, daß ihr der Gedanke schreckhaft wäre, von einer Braut in Trauer geschmückt zu werden; sie würde die Empfindung nicht los werden, daß ihr ein Todtenkranz geweiht sei. „Es ist ja auch ganz unmöglich,“ rief sie, „daß Du in Deinem schwarzen Kleide das Gedicht sprechen kannst!“ Helene beruhigte sie völlig. „Uebrigens,“ fügte sie lächelnd hinzu, „würde mein schwarzes Kleid nicht gestört haben. Ein so frohes Ereigniß, wie Deine Hochzeit, giebt mir den schicklichen Anlaß es abzulegen.“

Natürlich erfuhr die Frau Consul von dieser „sehr merkwürdigen“ Aeußerung. Sie gab sich den Anschein, sie leichthin zu nehmen, spürte aber doch nach, was Helene etwa wegen ihrer Garderobe veranlasse. Es war lange nicht dahinter zu kommen. Eines Nachmittags kurz vor dem Feste fand sie endlich Helenens [711] Stübchen in einen Bazar umgewandelt. Auf allen Möbeln lagen die herrlichen Roben ausgebreitet, mit denen sie als Robert’s glückliche Braut überreich beschenkt worden war. Alle Farben zeigten sich vertreten. Mit allen Zeichen des Schreckens blieb die alte Dame an der Thür stehen, faltete die Hände und zitterte mühsam die Frage: „Aber was treibst Du, Kind –?“ heraus.

Helene gelang es nicht sonderlich, den Ton der Unbefangenheit festzuhalten, als sie antwortete: „Ich suche mir ein Kleid zum Polterabend aus, Mamachen, und krame deshalb alle meine Schätze vor. Es ist eigentlich überflüssig, da ich schon vorher mit mir ganz einig war.“

„Aber wie konntest Du überhaupt im Zweifel sein?“ fragte die Frau Consul, die sich die letzten Worte günstig auslegte. „Wir Beide, denke ich, sind ein für allemal entschuldigt, wenn wir auch freudigen Ereignissen gegenüber an der Farbe der Trauer festhalten.“

„O Mama!“ rief das Mädchen, „mit mir ist’s doch etwas anderes. Ich bin jung und gehöre zur Jugend. Die Jugend aber will an einem lustigen Polterabend nicht daran erinnert sein, daß Freude sich rasch in Leid wandeln kann. Ich habe mir’s überlegt, daß ich’s dem Brautpaar, den Gästen – wenn Du willst, auch mir selbst schuldig bin, die Umstände zu berücksichtigen. Natürlich kann von der Wahl heiterer Farben nicht die Rede sein. Aber Du bist gewiß einverstanden, wenn ich ein weißes Kleid wähle und mich auch sonst ganz mit Weiß schmücke. Selbst Nonnen tragen ja weiße Gewänder.“

Der alten Dame fingen die Backen an zu glühen, und die zornige Aufwallung machte sich auch in der Stimme bemerkbar. „Weiß oder Roth! Es ist in diesem Falle ganz gleich. Sei ehrlich! Der Polterabend ist Dir nichts als ein Vorwand, endlich die verhaßte Trauer los zu werden. Schon lange trauerst Du nicht mehr im Herzen. Geh, geh! Du hast meinen Sohn nie geliebt!“

Diese heftigen Vorwürfe verfehlten ihre Wirkung. Helene setzte sich trotzig zur Gegenwehr, überzeugt, daß ihr Unrecht geschehe. „Sprich nicht von der Vergangenheit,“ sagte sie. „Robert ist glücklich gewesen – ich will mir kein Verdienst zurechnen, aber Robert ist glücklich gewesen durch mich. Ob ich ihn geliebt habe, das weiß nur Gott. Ich gab ihm mein ganzes Herz, so weit ich es selbst verstand. Und noch immer empfinde ich’s als einen Schmerz, daß ich ihn verloren habe. Nie kann ich ihn vergessen! Aber lebendig todt mag ich nicht sein. Schmähe mich deshalb, wie Du magst, ich werde nicht geringer von mir denken.“

Frau Berghen lenkte ein. „Es ist, wie es ist,“ sagte sie, traurig den Kopf senkend, „die Menschen sind sich alle gleich. Unter Millionen leistet einmal einer etwas Ungewöhnliches, das doch das Gewöhnliche sein sollte. Ist es möglich, daß eine so geringfügige Sache, wie ein Kleid, uns entzweien kann? Wenn Du nun weißt, daß eine alte Frau, die Du doch liebst und ehrst, als eine Kränkung empfindet, was Dir höchstens eine unbedeutende Befriedigung der Eitelkeit ist – sollte das nicht schon Beweggrund genug sein, von Deinem Vorhaben abzustehen und Dich ihren Wünschen zu fügen?“

Helene begriff sehr wohl, was Nachgiebigkeit in diesem Augenblick bedeutete. Aber sie traute sich auch nicht die Festigkeit zu, durchgreifen und ihr Stück behaupten zu können. „Wenn Du’s so nimmst …“ sagte sie unmuthig, „gut! Das weiße Kleid soll Dir kein Aergerniß bereiten. Aber auch das schwarze soll Niemand die Festfreude verkümmern: ich werde zu Vera’s Polterabendgästen nicht gehören.“

Davon wollte nun freilich die Frau Consul nichts wissen. Aber ihr Zureden war doch nicht einmal besonders dringlich. „Wie Du willst, liebes Kind,“ sagte sie endlich, „Du hast ja noch Zeit, Dir’s zu überlegen.“

Damit küßte sie ihre Stirn und ging. Helene suchte ihren Aerger zu verbeißen. „Ihr seid Alle nur auf Euch bedacht,“ murmelte sie in sich hinein, „und habt nicht einmal einen greifbaren Nutzen davon. Es ist Euch eine Genugthuung, daß ich unglücklich bin: der Todte soll sein Opfer unter den Lebenden haben. Wenn sich mir noch einmal etwas Frohes ereignete, Euch wär’s ein Dorn in’s Fleisch. Aber seid ruhig, seid ganz ruhig! Mein Glück wird Euch nicht kränken! Ich habe nicht einmal Wünsche, die Euch besorgt machen dürften.“

Ihre Stimmung wurde sehr schwermüthig, als sie alle die bunten Fähnchen wieder bei Seite schaffte, und sie blieb es auch in den folgenden Tagen. Meist war sie mit sich allein. Als nun der Polterabend herankam, schloß sie sich wirklich auf ihrem Zimmer ein und ließ sich auch durch Vera nicht herauslocken, so gefällig sie ihren Festanzug bewunderte.

Es kamen doch recht schwere Stunden. Nicht daß sie starke Sehnsucht empfunden hätte, an Tanz und Spiel da unten Theil zu nehmen. Aber sie konnte doch auch nicht von da hinwegdenken; es mahnte sie fortwährend, nun sei’s für alle Zeit mit Spiel und Tanz zu Ende und dürfte doch nicht zu Ende sein. Die Unruhe des Festabends drang bis zu ihr. Die nächsten Zimmer waren zu Garderoben eingeräumt. Sie hörte die Damen, die dort ihre Toilette ordneten, laut sprechen und lachen. Dann rauschten die seidenen Schleppen vorüber. Unter ihr im Saale wurde es lebhaft. Aus ihren Fenstern sah man in den Garten. Dort brannten Hunderte von Lampions. Bengalische Flammen wurden angezündet und färbten das Laubdach der Bäume roth, blau und weiß.

Die Aufmerksamkeit wurde fortwährend dahin abgelenkt. Sie ließ die Vorhänge herab, aber trotz der Lampe auf ihrem Tische machte sich der Wechsel des Lichts bemerkbar. Die Musik spielte lustig auf. Von Zeit zu Zeit, nach gelungenen Aufführungen, wurde laut gelacht oder geklatscht und Bravo gerufen. Helene hatte ein Buch aufgeschlagen und schien auch eifrig zu lesen. Aber die Blätter wurden selten gewendet, und der Blick, der sich darauf heftete, war starr. Sie hatte die Ellenbogen aufgestützt und die Fingerspitzen in die Ohrmuscheln gelegt – es half doch nichts; sie hatte keine Ruhe bei sich selbst.

Sie sprang auf und ging mit raschen Schritten durch das Zimmer. In den Spiegel warf sie einen flüchtigen Blick im Vorbeigehen. Die Backen glühten ihr, als ob sie getanzt hätte. Sie kam sich recht häßlich vor. Auf dem Wege zurück wendete sie absichtlich das Gesicht ab. Sie wiederholte den Gang auch nicht wieder, sondern setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl, streckte den Kopf zurück und träumte zur Decke hinauf. Ob mich doch einer vermissen wird? Einer! Wer? Erst war’s wirklich kein Bestimmter. Irgend einer. Es wäre ihr eine Wohlthat gewesen, wenn sie’s gemußt hätte. Dann schien doch die Frage nicht mehr so ganz gleichgültig: wer? Der Kreis zog sich enger und enger. Der und der und der … was mache ich mir daraus? Es blieben noch ein paar Menschen, auf deren Vermissen sie eine Art von Anspruch hatte. Die Gestalten huschten vorüber. Vom Garten herauf scholl wieder ein vielstimmiges Beifallrufen, und gleich darauf setzte die Musik mit einem Tusch ein. Wer hat Zeit an Dich zu denken?

Ob doch Walter gekommen sein mag? Er konnte an diesem Tage kaum fehlen. Was sollte er nur davon denken, daß sie sich gar nicht blicken ließ? Ah! Wahrscheinlich hatte die Mama entschuldigend von einem Unwohlsein gesprochen, auch ohne daß er sich nach ihr erkundigte. Gefragt hatte er sicher nicht. Oder so beiläufig. Sie konnte sich vorstellen, wie?

Die kleine Stutzuhr auf der Spiegelconsole schlug zehn. Es ist Zeit zum Schlafengehen. Die Decke über den Kopf!

Sie erhob sich langsam und müde im Stuhl. Da klopfte es leise an die Thür. Nun zuckten die Hände, die auf den Seitenlehnen lagen. Ihr erster Gedanke war: Walter.

Lächerlich! Wahrscheinlich hatte die Frau Consul eins von den Hausmädchen geschickt, sich zu erkundigen, ob ihr das Abendessen hinaufgebracht werden solle. Helene stand auf und trat an die Thür. „Wer ist da?“ fragte sie.

Statt der Antwort erfolgte ein neues Klopfen. Es war ihr, als ob sie ein leises Kichern vernahm. Nun drehte sie den Schlüssel um. In demselben Augenblicke öffnete sich auch schon die Thür. Eine männliche Gestalt trat auf die Schwelle.

„Herr von Brendeln!“ rief sie sehr erschreckt. „Was in aller Welt wollen Sie?“

„Mich durch den Augenschein überzeugen, daß Sie nicht krank sind,“ sagte er.

„Aber das ist unschicklich – bleiben Sie!“ bat Helene. Sie versuchte, die Thür wieder zu schließen. Es gelang nicht.

„O!“ sagte er, „ich komme nicht allein. Meine Schwester, die zum Feste hergekommen ist, brennt vor Verlangen, Sie kennen zu lernen. Wollen Sie ihr gütigst erlauben …“

Er schob eine junge Dame vor, die seitwärts gestanden hatte und von Helene bis jetzt nicht bemerkt war.

[712] „Ihre Schwester?“ fragte sie verwundert. „Aber hier … Ich bitte, mein Fräulein –“

Die so Angemeldete schlüpfte hinein. „Darf ich? Mein Bruder hat in seinen Briefen so viel von Ihnen geschwärmt, daß ich auf’s Herzlichste bedauern mußte, Sie in der Gesellschaft nicht anzutreffen. Man sagte, Sie seien unwohl; aber er versicherte so zuversichtlich, das sei ein Vorwand, daß ich dem Verlangen nicht widerstehen konnte, mich zu Ihnen führen zu lassen. Da bin ich nun und bitte um Verzeihung, wenn ich zu dreist war. Der ganze Polterabend wäre mir verdorben gewesen, wenn ich Sie nicht gesehen hätte.“

Der Assessor war gleich nach ihr eingetreten und hatte die Thür hinter sich geschlossen. „Aurelie hofft sich im Sturm Ihr freundschaftliches Vertrauen erobern zu können,“ sagte er; „ich darf ihr das Zeugniß geben, immer eine treffliche Schwester gewesen zu sein, und das spricht doch, wie Sie mich kennen, bestes Fräulein, entschieden für ihr gutes Herz.“

Helene war so verwirrt, daß sie darauf nicht eine passende Antwort fand. Sie kehrte ihm den Rücken zu und führte das Fräulein nach dem Sopha. Jetzt im Lichtschein der Lampe bemerkte sie erst, daß sie es mit einer nicht mehr ganz jugendlichen Erscheinung zu thun hatte. Die Verwandtschaft war unverkennbar. Aurelie hatte die spitzen Züge ihres Bruders und auch in den Augen etwas Lauerndes wie er. Der Assessor hatte öfters von ihr gesprochen und dann immer nur ihre Klugheit gerühmt.

Jedenfalls wußte sie rasch und mit großem Geschick Helene aus der Verlegenheit zu ziehen. Herr von Brendeln stand hinter seinem Stuhl und mischte sich gelegentlich in das Gespräch. „Es ist hier so reizend in Ihrem stillen Stübchen,“ sagte Aurelie, „daß ich am liebsten gar nicht mehr zur Gesellschaft zurückkehren möchte.“

„Da es uns aber schwerlich so gut werden wird,“ bemerkte der Assessor mit einem bestätigenden Seufzer, „wird uns nichts übrig bleiben, als das Fräulein zu entführen.“

„Das gelingt nicht,“ sagte Helene kopfschüttelnd.

„Warum nicht? Wir sind Zwei gegen Einen,“ scherzte er.

Helene lachte schon. „Also Gewalt?“

„Im Nothfall,“ gab er zu. „Aber ich hoffe, daß gute Worte –“

„Verschwenden Sie sie nicht an mich, Herr Assessor. Ich bin taub.“

„Aber im Ernst, liebes Fräulein,“ mischte sich Aurelie ein und nahm deren Hand zärtlich in die ihrige, „warum entziehen Sie sich der Gesellschaft?“

„Es ist eine Nothwendigkeit,“ sagte Helene den Blick senkend, „erlassen Sie mir die Gründe.“

„Sehr ungern,“ versicherte Fräulein von Brendeln. „Ich würde sie gewiß sämmtlich nicht gelten lassen dürfen.“

„Und die Nothwendigkeit liegt auch wohl nicht in Ihnen selbst,“ fügte der Assessor hinzu.

„O doch – doch!“

„Wie? Es widerstrebt Ihnen innerlich an diesem frohen Familienfeste theilzunehmen?“

„Im Trauerkleide.“ Es war ausgesprochen. Schon im nächsten Augenblicke wurde es ihr leid.

„Aber was nöthigte Sie –?“

„Forschen Sie nicht weiter,“ fiel Helene ein. „Die besonderen Verhältnisse bedingen es so.“

„Und da haben wir denn wohl auch sämmtliche Gründe auf einem Haufen zusammen,“ rief Aurelie lachend. „Das Trauerkleid! Aber die Trauerzeit ist längst vorüber. Das Trauerkleid ist ein schwarzes Kleid, nichts weiter, und das schwarze Kleid“ – sie lehnte sich in die Sopha-Ecke zurück und musterte sie mit sichtlichem Wohlbehagen – „das schwarze Kleid steht Ihnen außerordentlich gut, liebstes Fräulein. Ihr zarter Teint, Ihre frischen Farben, das blonde Haar –“

„O, ich bitte Sie –!“ unterbrach Helene. „Sie beschämen mich.“

„Aber warum soll man’s nicht sagen dürfen,“ meinte das Fräulein, „wenn es wahr ist? Ach! Lassen Sie sich bewegen, liebes Fräulein! Es ist ja gar zu traurig, daß Sie hier so allein sitzen sollen und an dem schönen Fest nicht Theil haben. Wenn ich Sie recht herzlich bitte –!“

„Bitten Sie nicht! Es ist einmal so beschlossen.“ Der Ton war nicht so fest, wie ihn die Worte bedingt hätten.

„Aber kein Beschluß ist unabänderlich,“ bemerkte der Assessor. „In so kleinen Dingen muß man nicht consequent sein wollen.“

„Eigensinn ist sonst nicht mein Fehler,“ meinte Helene. „Aber meine Toilette ist wirklich nicht geeignet –“

„Sie läßt sich ja im Augenblick ergänzen,“ rief Aurelie, sich erhebend. Auf dem Tisch stand ein Glas mit prächtigen rothen Rosen, Helenens Lieblingsblumen. Die lebhafte Dame zog zwei davon heraus und steckte sie ihr in’s blonde Haar. „Kann es einen reizenderen Kopfputz geben?“ fragte sie. „Lebende Blumen – Rosen. Wie unschuldig das aussieht! Noch ein Sträußchen hier auf die Schulter … Nein, nein! wehren Sie meine Hand nicht ab, das gehört dazu. Zwei Rosen, ein Knöspchen, ein paar grüne Blätter – allerliebst! Was sagst Du, Leopold?“

„Ich bin stumm vor Bewunderung,“ versicherte er, über die Brille wegsehend. „Das ist ja das Ei des Columbus! Lebende Blumen – trefflich! Daran kann auch die trübste Grillenfängerei keinen Anstoß nehmen.“

Aurelie zog sie nach dem Spiegel. „Und wie die schwarze Farbe gleich paralysirt ist! Sehen Sie nur.“

„Ich werde mich wohl hüten eine Eloge zu sagen,“ äußerte Herr von Brendeln, sich abwendend. „Fräulein Helene hört dergleichen, wie ich weiß, sehr ungern.“

Dieses Anerkenntniß schmeichelte ihr. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie recht freundlich.

Er trat zu und reichte ihr den Arm. „Darf ich bitten?“

„Nein, es ist zu lächerlich, daß ich mich so abholen lasse.“

„Lachen wir doch! Man feiert ja Polterabend. Ihren Arm, mein Fräulein –“

„Aber Handschuhe wenigstens ….“ Sie zog eine Schieblade im Schränkchen auf und durchwühlte den Inhalt. Aurelie nickte hinter ihr dem Bruder zu. „Natürlich weiß,“ sagte sie.

„Weiß – hier.“ Helene war in fieberhafter Aufregung. „Wenn Sie’s denn wirklich so wollen ….“ Der Handschuh riß auf. Sie suchte ein zweites Paar vor. „Es ist wirklich – nicht einzusehen – warum ich nicht ….“ Aurelie knöpfelte mit geschickter Hand zu. „So –! ich bin bereit.“

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 45, S. 725–730
Fortsetzungsroman – Teil 6

[725] Eine Minute später trat Herr von Brendeln, die beiden Damen rechts und links am Arm führend, glückstrahlend im ganzen Gesicht in den glänzend illuminirten Garten ein.

Verwandte und Freunde des Hauses beeilten sich, Helene zu begrüßen und wegen ihres langen Ausbleibens zu befragen. Sie gab scherzend Antwort. Osterfeld kam vorüber, stutzte und bog in einen Seitenweg ein, um sie nicht ansprechen zu müssen. Um so munterer gab Herr von Gräwenstein seiner Freude Ausdruck, daß es dem Vetter gelungen sei, alle Bedenken der verehrten Schwägerin zu besiegen. „Wie weißt Du denn,“ fragte Vera, „daß dieser Erfolg auf Rechnung des Herrn von Brendeln kommt?“

Vermuthung – Vermuthung,“ redete er sich aus. „Es wurde davon gesprochen –“

„Daß meine Schwester Fräulein Helene aufsuchen wollte,“ ergänzte der Assessor. „Ihre Zauberkünste sind wirksam gewesen.“

„Ist Dir’s unlieb?“ fragte Helene.

„O gewiß nicht,“ versicherte Vera etwas verlegen. „Im Gegentheil …“

Unter dem Laubbogen, auf dem im Gaslicht der Namenszug des Brautpaares schimmerte, wurde die Frau Consul sichtbar. Sie hatte mehrere der angesehensten Gäste, höhere Officiere und Herren in besterntem Frack, in ihrem Gefolge.

Helene machte ihren Arm frei und eilte auf sie zu. „Da bin ich nun doch, Mamachen,“ sagte sie, „Du sollst in Allem Recht behalten.“

Frau Berghen lächelte etwas gezwungen. „Ich hörte schon [726] von Osterfeld –“ Sie zog mit einem kurzen Ruck die Hand fort, die Helene küssen wollte, und sagte leise: „Aber wie ist es möglich, Kind, daß Du so tactlos –“

„Mama –!“

„Mit rothen Rosen geschmückt!“

„Sie waren gerade zur Hand –“

„Ist das eine Entschuldigung, Helene? Du kannst gar nicht auffälliger den Wechsel Deiner Gesinnung zur Schau stellen. Diese Rosen sagem Jedem Alles. Pfui! sie machen Dich häßlich.“

„Das geht zu weit, Mama.“

„Ja, das geht zu weit. Im weißen Kleide hätte ich Dich lieber gesehen, als mit diesem koketten Aufputz.“

„Kokett –!“ Sie wurde auffallend bleich im Gesicht und preßte die Lippen zusammen. „Fräulein Aurelie von Brendeln wird Dir erklären –“

„Ich sehe, was ich sehe. Des Beifalls ihres Herrn Bruders bist Du ja auch wohl sicher.“

Helene richtete sich stolz auf. „Ich habe mich um ihn noch nicht bemüht. Willst Du mir noch mehr Kränkendes sagen?“

„O –! Du hast mir heute den ganzen Festtag verdorben,“ zischelte die alte Dame.

„Das thut mir leid,“ entgegnete Helene kühl. „Aber wie Du, sieht’s gewißlich kein Anderer. Es ist nun einmal geschehen. Was willst Du? Die Rosen welken rasch. Sieh mich nach einer Stunde; vielleicht gefalle ich Dir dann wieder besser.“

Sie wendete sich ab. Die Herren, die sich zum Brautpaar gesellt hatten, nahmen die Frau vom Hause wieder in ihre Mitte. Die Musik spielte einen lockenden Walzer, und die jungen Leute versuchten ein Tänzchen auf dem grünen Rasen. Dorthin zog sich die Gesellschaft. Helene blieb stehen. Als sie aufsah, stand Herr von Brendeln neben ihr und bot ihr den Arm. Sie nahm ihn ohne Zögern an und ließ sich in einen Seitengang führen, der jetzt ganz leer war. „Die Frau Consul sah recht verdrießlich aus,“ sagte er.

Sie gab kein Zeichen der Zustimmung, schien auch eine Frage ganz zu überhören. Er wagte es, seine Hand sanft auf die ihrige zu legen, während er weiter sprach.

Sie ließ es geschehen.

So hatten sie sich dem Ende des Ganges genähert. Er führte zu einer Laube von alten Lindenbäumen, die sich dann rechts und links wieder öffnete. In den Ecken standen Bänke. In dem Augenblicke fast, in dem sie eintraten, erhob sich von einer derselben eine dunkle Gestalt und verschwand im Seitenwege hinter den dicken Stämmen. Helene machte eine zuckende Bewegung, löst rasch ihre Hand und ließ auch seinen Arm frei. „Das war Walter,“ sagte sie.

„Herr Doctor Grün – es kann ja sein,“ meinte der Assessor, dem diese Störung sehr unlieb war.

„Ich glaubte ihn gar nicht anwesend.“

„Hatte ihn auch bisher nicht bemerkt. Er hielt sich in der dunkeln Laube versteckt, um zu philosophiren. Eine ganz eigene Art von Vergnügen.“

„Er muß uns gesehen haben.“

„Wahrscheinlich. Es ist ja gleichgültig.“

„Ich war so in Gedanken …“ Sie wendete, ihm einen Schritt vorans, in den Seitenweg ein, in dem die Gestalt verschwunden war. Brendeln ergriff ihre Hand und suchte sie zurückzuziehen. „Bleiben Sie, theuerste Helene,“ bat er, „– nur eine kurze Minute.“

Sie wendete sich erschrocken zurück. „Herr Assessor –!“

„Eine so günstige Gelegenheit, mich Ihnen zu eröffnen, kehrt nicht wieder. Mögen die Rosen, mit denen Sie sich nach so langer Kummerzeit in Hoffnung einer heiteren Zukunft zum ersten Mal wieder geschmückt haben, auch mir glückverheißend sein. Helene, ich wage das Geständniß –“

„Nein, nein!“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit Heftigkeit zurückstoßend. „Ich darf – ich will Sie nicht hören. Sie täuschen sich!“

„Gewiß nicht.“ Er folgte ihr, während sie ihm mit raschen Schritten zu enteilen suchte. „Wenn Sie nur ein Wort –“

„Peinigen Sie mich nicht,“ bat sie, ohne zurück zu sehen. „Mir ist so weh zu Muthe. Ach! ich bin schlecht – recht schlecht!“ Sie riß die Rosen von ihrer Schulter und warf sie auf die Erde.

Herr von Brendeln blieb stehen, bückte sich und hob die Rosen auf. Er lächelte befriedigt. „War das die Antwort?“ murmelte er. „Ach! sie ist recht grschickt, nichts zu sagen und alles errathen zu lassen. Ich täusche mich nicht.“ Er steckte die Knospe in’s Knopfloch.

Helene eilte durch den ganzen Garten, durch dte Festräume des Hauses.

Walter war nicht zu finden. Wenn sie ihn wirklich gesehen hatte, mußte er sich sogleich entfernt haben.




9.

Der folgende Tag war Ruhetag. Seine alte Bedeutung hat der Polterabend verloren. Man giebt eine Gesellschaft und ruht dann von den Strapazen vor der Hochzeit aus.

Die Familie fand sich erst beim Mittagstisch zusammen, auch da noch wohl schläfrig und abgespannt. Frau Consul Berghen schien Helene gar nicht zu bemerken. Nur Hauptmann von Gräwenstein sprach freundltch mit ihr – wohl zu freundlich nach der Meinung seiner Braut, da sie sich schmollend abwandte.

Auch nach Tische wurde jede Aussprache vermieden. Man zog sich zurück und ließ Helene schließlich allein. Sie ging wieder auf ihr Zimmer, sehr verstimmt und traurig. Aurelie kam sie zu besuchen – sie war auch schon Vormittags da gewesen – um sie zu einer Promenade aufzufordern. Helene bat sie zu entschuldigen, sie sei unwohl. Nun hielt es das Fräulein für Pflicht, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie hatte eine muntere Art aus dem Hundertsten in’s Tausendste zu plaudern. Zwischendurch fragte sie soviel, daß es kaum möglich war, immer ganz vorsichtige Antworten zu geben. Auf ihren Bruder brachte sie immer wieder die Rede. Ob er ihr denn mitgetheilt habe, was der Präsident gestern gesagt? Das Rathspatent sei unterwegs. „Ein kleiner Anfang – für seine Jahre immer ein Erfolg. Er ist jünger, als Sie vielleicht glauben – für einen Regierungsrath wirklich noch recht jung. Rathen Sie, wie alt er ist! Die anstrengenden Studien und die kopfbrechende Arbeit … da haben Sie’s. Gelebt hat er bis jetzt wenig. Wenn er bisher unverheirathet geblieben ist, ist’s wahrlich nicht die Schuld der Damen. O, er hätte schon manche gute Partie machen können – man hat sie ihm förmlich angeboten. Aber darin ist er nun komisch altmodisch: das Herz soll durchaus sprechen! Wie finden Sie das? Eigentlich ganz allerliebst, nicht wahr? Wir Frauen schwören zur Fahne des Idealismus. Leopold hat Recht: das Herz muß sprechen.“

Sie schien sich gar nicht losreißen zu können. „Sie glauben gar nicht, wie sympathisch Sie mir sind,“ versicherte sie ein Mal über das andere. Es vergingen ein paar Stunden. Helenen schwirrte der Kopf, sie antwortete kaum noch das Nothdürftigste. Mißtrauen empfand sie nicht, es gefiel ihr, daß die Schwester so zärtlich überall des Bruders Partei nahm. Sie fühlte sich sehr erleichtert, als die Dame mit vielen Küssen endlich Abschied nahm. Dann überkam sie eine nervöse Unruhe, die von Minute zu Minute peinigender wurde. Sie öffnete alle Fenster und ließ die kühle Luft ein. Es half nichts. Endlich kleidete sie sich zum Ausgehen an und verließ das Zimmer.

Sie nahm ihren Weg nach der Straße, in der Onkel Benjamin wohnte. Ihre stille Hoffnung war, Walter zu Hause zu finden. Zu sagen hatte sie ihm eigentlich nicht das Mindeste. Aber es war doch möglich, daß er ihr etwas zu sagen hatte nach dem gestrigen Tage – vielleicht gar nichts Schmeichelhaftes, aber doch aus freundschaftlicher Gesinnung heraus. Sie erröthete, wenn sie daran dachte, daß er sie mit Herrn von Brendeln von der dunklen Laube aus beobachtet hatte; es ärgerte sie, daß sie sich von ihm hatte führen lassen – und sie wußte jetzt auch, daß er ihre Hand gehalten hatte. Sie meinte sich deshalb bei Walter rechtfertigen zu müssen. Zum Glück konnte er die Rosenknospe in des Assessors Frack nicht bemerkt haben, wenn er wirklich gleich fortgegangen war. Was hätte er davon gedacht?

Onkel Benjamin empfing sie gar nicht so herzlich wie sonst. Er schien in schlechter Laune zu sein. Von Walter sprach er gar nicht. Als derselbe eintrat, schien es ihm unlieb zu sein.

„Kommst Du?“ sagte er. „Da ist Helene.“

Welchen Zusammenhang diese Worte hatten, konnte Walter vielleicht errathen. „Helene – so?“ fragte er, das Mädchen doch gleich beim Eintritt bemerkend. Er warf den Kopf auf, ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. „Du kommst Dir Deine Gratulation abzuholen,“ sagte er lachend.

[727] Ihre Hand wurde im Augenblick feuchtkalt. „Meine Gratulation?“ fragte sie, nicht im Ton der Ueberraschung oder Verwunderung, aber auch keineswegs mit sicherer Abwehr. „Wozu?“

„Ach! Du verstehst mich doch?“ Er zuckt die Achseln und zog spöttisch den Mund.

„Nein, wirklich –“ sagte sie kleinlaut. „Ich wüßte nicht –“

Er schien keine mitleidige Rücksicht gelten lassen zu wollen. „So ist die Verlobung noch nicht förmlich erklärt?“

„Walter –!“

Der Uhrmacher hustete in einigen kurzen Stößen. Sein Sohn verstand dieses Zeichen nicht oder wollte es nicht verstehen. Er sah sehr erhitzt aus, und während er immer anscheinend ganz lustig lachte, war sein Blick doch stechend und zuckten die Mundwinkel. „Aber thu doch nicht so!“ rief er. „Wenn man solche Dinge versteckt halten will, muß man vorsichtiger sein. Ich habe Euch doch wohl traulich Arm in Arm gehen sehen, denke ich.“

Ihr stürzten die Thränen aus den Augen. „Du kannst glauben, Walter –“ schluchzte sie.

Er warf den Kopf zurück. „Was glauben? Man vermuthet in solchen Fällen das Natürlichste. Aber wenn Du es nicht haben willst – gut!“

„Ich sage Dir aber, Du irrst!“

„Worin? Ihr seid noch nicht verlobt – das kann ja sein. Es ist dann von dem Herrn Assessor etwas – dreist, sich Rechte vorweg zu nehmen, aber wenn er’s haben kann …! Und an der Ernstlichkeit seiner Absichten ist ja auch nicht zu zweifeln.“

„Aber wenn ich Dich versichere, daß von meiner Seite …“ Sie drückte das Tuch auf die Augen. „Ach! – es ist abscheulich!“

„Was willst Du denn?“ rief er. „Du thust gerade, als ob Du nöthig hättest, mit mir Verstecken zu spielen. Was geht es mich an, ob Dir der oder ein Anderer gefällt? Ich bin doch wahrlich so närrisch nicht, von Dir zu erwarten, daß Du Dein ganzes Leben vertrauern sollst, weil Dir ein Bräutigam gestorben ist! Herr von Brendeln wäre mein Mann gerade nicht, aber das ist ja ganz gleichgültig. Er gefällt Dir, das entscheidet. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum Du Dich sträuben willst, eine ganz aufrichtig gemeinte Gratulation anzunehmen?“

Helene zuckte schmerzlich. „Aufrichtig, Walter?“

Er biß die Lippe. „Gewiß – ganz aufrichtig. Welches Interesse habe ich, Deinen Wünschen entgegen zu sein? Uebrigens überrascht mich die Sache gar nicht. Gleich am ersten Tage, als ich Gelegenheit hatte, den Herrn Assessor in Deiner Nähe zu sehen –“

Onkel Benjamin’s Husten nahm immer zu. Er stand dabei abgewandt und machte sich am Zifferblatt einer Schwarzwälder Uhr zu schaffen. Vielleicht ohne Absicht hatte er das Metallplättchen in der Mitte unter den Zeigern gedreht und damit den Wecker ausgelöst. Plötzlich fing er schrill an zu klingen und beruhigte sich eine geraume Weile nicht, da der alte Herr selbst zu verdutzt war, um Einhalt zu thun. Vielleicht war er auch gar nicht so unschuldig an diesem sonderbaren Zwischenspiel, das jedenfalls die Wirkung hatte, einer Unterhaltung ein jähes Ende zu bereiten, die mit jeder Minute peinlicher wurde.

Unter anderen Umständen hätte man die Klingelei komisch gefunden, jetzt war sie für die Betheiligten recht ärgerlich. Der Doctor wendete unwillig den Kopf zurück. Helene, die ihm eben hatte in’s Wort fallen wollen, preßte die Lippen zusammen und sah zur Erde. Das Glöckchen wollte gar nicht still werden, und als dann endlich das Gewicht abgelaufen war, fand der alte Herr sich gemüßigt, um Entschuldigung zu bitten und aus einander zu setzen, wie ihm das passirt sei. Nun wäre es ganz wunderlich gewesen zurückzugreifen. Und was konnte auch noch gesagt werden? Helene entschloß sich rasch, Abschied zu nehmen. Es geschah in ganz förmlicher Weise, indem sie des Onkels Hand nur berührte und dem „Adieu“, das Beiden galt, einen möglichst vornehm kühlen Klang gab. Walter sollte wenigstens wissen, daß sie sein Benehmen übel nahm. War sie die Beleidigte, so kam es nun auf ihn an, ob er ein freundschaftliches Verhalten ihrerseits wünschte.

Aber damit war doch für ihre Stimmung auf die Dauer recht wenig gewonnen. Das letzte Restchen unausgesprochener und unaussprechlicher Hoffnung, daß Walter ihr noch herzlich zugethan sei, hatte er grausam für alle Zeit zerstört. Seinetwegen konnte sie ja thun, was sie irgend wollte. Und das sollte ihr recht deutlich zum Bewußtsein kommen, noch viel deutlicher als schon bisher. Nicht einmal so viel galt sie ihm noch, daß er ernst abredete, zu reiflicher Ueberlegung mahnte, ein ganz klein wenig Betrübniß über ihre vermeintliche Verirrung zeigte. Es war ihr zu Muth, als ob ihrem Herzen ein schweres Leid angethan worden wäre – dagegen half kein zorniges Abweisen.

Sie hatte eine halb schlaflose Nacht und fühlte sich am Morgen von Vera’s Hochzeitstage wie zerschlagen. Den Vormittag über hatten die Hausgenossen mit sich selbst zu thun und beachteten sie wenig. Die Frau Consul beharrte gegen sie in ihrem Schweigen, Vera ließ sich gar nicht blicken. Um zwölf Uhr sollte auf’s Standesamt gefahren werden, um drei Uhr die Trauung in der Kirche stattfinden. Hülfeleistungen wurden von ihr nicht beansprucht.

Gegen ein Uhr kam Aurelie und brachte ihr ein köstliches Bouquet. Ihr Bruder gebe sich die Ehre. Diese Aufmerksamkeit konnte nicht ohne einen freundlichen Dank bleiben. Das Fräulein eilte diesmal rasch wieder fort, um rechtzeitig Toilette machen zu können. Der Gärtner habe sich verspätet gehabt, aber ihr Bruder würde es ihr im ganzen Leben nicht verziehen haben, wenn sie den Strauß nicht selbst abgegeben hätte.

In der Kirche und an der Hochzeitstafel durfte Helene nicht fehlen. Sollte sie sich jetzt dem Willen der Mama unterwerfen und schwarz erscheinen, nachdem der Bann einmal gebrochen war? Die roten Rosen wurden ihr doch nicht mehr vergessen! Sollte sie diese Demüthigung jetzt ertragen und nie mehr frei werden? Frei sein, sich wieder selbst bestimmen können – das war eigentlich noch in diesem Zustande gänzlicher Gebrochenheit ihr einziger bewußter Wunsch. Was sie mit dieser Freiheit beginnen wollte, kam ihr gar nicht in Gedanken. Aber sie wollte nicht länger die Sclavin eines traurigen Zufalls sein. Ihr eigenes Hochzeitskeid von schwerer weißer Seide lag noch unberührt. Sie wählte es ohne weitere Bedenken. Der Strauß, fast nur weiß und grün, paßte trefflich dazu. Sie schellte ihrer Jungfer und ließ sich ankleiden.

Als sie im Saal erschien, wo schon die meisten näheren Angehörigen des Brautpaares zu gemeinsamer Fahrt nach der Kirche versammelt waren, richteten sich alle Blicke auf sie. Viel schöner war sie als die Braut, und ihr schienen nur Myrthenkranz und Schleier zu fehlen, um selbst zum Altar treten zu können. Herr von Brendeln eilte auf sie zu und bat um Erlaubniß, ihr seinen Wagen anbieten zu dürfen. Er wich dann auch nicht mehr von ihrer Seite.

Es war ihr nicht unlieb, da die Hausgenossen sich für sie ganz unankömmlich zeigten. Sie begegnete da nur vorwurfsvollen oder kalt abweisenden Blicken. Selbst Gräwenstein verhielt sich heut merkwürdig steif und beschränkte die Unterhaltung auf das Nothwendigste. Er schien nicht anstoßen zu wollen.

„Du siehst gar nicht vergnügt aus, wie ein junger Ehemann,“ zischelte Brendeln ihm zu. „Das bist Du doch bereits von Staatswegen. Was fehlt Dir?“

Der Hauptmann drückte ihm die Hand und schob ihn zugleich sanft ab. „Nicht jetzt, Vetter,“ sagte er leise. „Wir sprechen noch vor der Abreise.“

Aurelie war unter den Letzten. „Wie habe ich mich beeilen müssen!“ rief sie Helene entgegen. „Aber wie reizend Sie aussehen! Mein Bruder wird der Gegenstand allgemeinen Neides der jungen Herren sein.“

Zu großer Erleichterung für Helene wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Bald setzte sich der lange Zug der Wagen nach der Kirche in Bewegung.

Herr von Brendeln ließ bei der Hin- und Rückfahrt die Gunst, mit Helene allein zu sein, nicht unbenutzt. Wagte er auch jetzt nicht eine förmliche Liebeserklärung, so bot er doch seine ganze Geschicklichkeit auf, um liebenswürdig zu erscheinen. Helene entmuthigte ihn auch keineswegs. Es war etwas wie Trotz in ihr, daß sie allen Widerstand aufgab und sich treiben ließ, wohin es ihr das Schicksal bestimmt haben mochte. Weshalb auch? Wem zu Liebe?

Die kirchliche Feier ging an ihr ganz ohne Eindruck vorüber. Auch an der Hochzeitstafel verhielt sie sich so theilnahmlos, als ihr dies die Höflichkeit ihrer Nachbarn – Herr von Brendeln gehörte nicht dazu, war nicht einmal an denselben Flügel gesetzt – erlauben wollte. Bei den üblichen Toasten erhob auch sie ihr Glas und hielt es geduldig jedem hin, der anzuklingen Neigung hatte. Aber sie netzte kaum die Lippen. Bei dem großen Rundgange am Brautpaare vorüber konnte sie nicht fehlen. Aber Vera war so beschäftigt, daß sie kaum Zeit behielt, ihr [728] flüchtig das Glas hinzuhalten, und die Frau Consul neben dem jungen Ehemanne sah plötzlich so finster aus, daß ein Vorbeigehen mit dem Schwarme gerathen schien. „Mögt Ihr Euch von mir nicht Glück wünschen lassen,“ dachte Helene bei sich, „ich dränge mich Keinem auf; meine Gesinnungen für Euch bleiben doch dieselben.“

Der Assessor versäumte nicht, seinen Weg so zu nehmen, daß er ihr begegnen mußte. Er hatte dem Champagner schon munter zugesprochen und sah sehr erhitzt aus, was ihn nicht gerade verschönte. Er stieß so kräftig an, daß der Rand des feinen Glases spitterte und ein Theil des Weines auf den Boden floß. Er schlürfte schnell den Rest aus und sagte: „Das hat die beste Vorbedeutung – es bleibt bei Ihrem Wohle.“

Sie lächelte. „Das Geschick hat’s versehen: die Scherben hätten in meiner Hand bleiben müssen.“

Er sich sie forschend an. „Wozu so melancholische Gedanken, bestes Fräulein? Ihre Tischnachbarn scheinen übermäßig langweilig gewesen zu sein. Ah! ich habe vor Aerger schon mehr Wein getrunken, als mir zuträglich ist. Welche Abscheulichkeit des verehrten Tafelordners – wahrscheinlich Osterfeld – uns förmlich wie Gegenfüßler zu behandeln!“

Helene winkte einem der Diener. „Für den Herrn Assessor ein anderes Glas,“ dann ging sie weiter nach ihrem Platze.

Noch vor Beendigung des Hochzeitsmahls sollte das junge Paar nach dem Bahnhofe in aller Stille abfahren. Vera entfernte sich schon früh der Reisetoilette wegen. Ihre Mutter und Schwester folgten ihr. So waren denn in der Nähe des Hauptmanns an der Tafel Lücken entstanden, die nun abwechselnd von guten Freunden ausgefüllt wurden, denen es noch um ein Wort des Abschieds und einen Glückwunsch auf die Reise zu thun war. So fand sich denn auch Vetter von Brendeln bei ihm ein. Er rückte den Stuhl auf dem die Frau Consul gesessen hatte, halb herum, sodaß er ihm frei das Gesicht zukehren konnte, klopfte ihm auf die Schulter und fragte: „Bei besserer Stimmung jetzt, Freundchen? Bald erlöst von allen Bräutigamsqualen.“

Der Hauptmann ließ das silberne Messer auf dem Tellerrande balanciren. Es glitt immer ab. „So ganz stimmts nicht,“ antwortete er nach einigem Bedenken.

„Ganz stimmt’s nie,“ meinte der Assessor. „Aber im Besonderen, Vetterchen, wo fehlt’s Dir? Du hast doch gebeichtet?“

Herr von Gräwenstein nickte. „Ja – nach der Rückkehr vom Standesamte.“

„Natürlich erst, nachdem die Sache fest war, und eine Stunde vor der lustigen Hochzeitstafel, die bis zum gerührten Abschiede den üblen Eindruck wieder verwaschen konnte. Nun –?“

„Ich bat die Mama um eine Unterredung unter vier Augen. Wie sie mich dabei ansah! Als ob sie tausend Augen zu haben wünschte, mich gleich durch und durch zu sehen. Eine fatale Situation das, sage ich Dir. Habe in dichtem Kugelregen gestanden – ist aber nichts dagegen. Diese Leute in sogenannten geordneten Verhältnissen vermögen sich gar keine Vorstellung davon zu machen, daß ein armer Teufel von Officier ohne einen Haufen Schulden gar nicht anständig existiren kann. Nun mach’s ihnen mal klar! Die Moral spielt da immer gleich mit; aus dem armen Teufel wird ein armer Sünder, er weiß selbst nicht wie. Eine fatale Situation!“

„Pah! Du hast sie doch hinter Dir.“

„Wie man’s nehmen will. Ich habe gebeichtet, wie Du’s nennst, Aber – nicht vollständig; aufrichtig gesagt, kaum die Hälfte meiner … ich hätte wirklich bald Sünden gesagt.“

„Aber das war – verzeihe mir, Vetter – eine kolossale Dummheit.“

„Der Schreck war schon so groß genug. Ah! Man kommt sich so erbärmlich vor …“

„Aber der Zweck, reinen Tisch zu schaffen, ist verfehlt. Es wäre in Einem hin gewesen. Halb ist fast so schlimm als gar nicht. Was soll nun geschehen?“

„Du mußt mit den schwierigsten Kunden verhandeln. Versuch, was Du willst. Sie müssen sich hinhalten lassen, bis wenigstens der erste Zeuge da ist; der Appell an das Großmutterherz ist weniger peinlich.“

„Und inzwischen meinst Du –“

„Die Karten rühre ich nicht mehr an – wahrhaftig nicht. Inzwischen kann sich auch noch dies oder das ereignen. Wenn Dir’s glücken sollte … auf Deine Freundschaft kann ich ja rechnen.“

Herr von Brendeln nickte, antwortete aber nicht.

„Uebrigens,“ fuhr der Hauptmann fort, „hätte ich’s sicher viel leichter gehabt, wenn die Mama nicht so arg verstimmt gewesen wäre. Helenens wegen. Du hast da ein nettes Unheil angerichtet, und Deine Schwester secundirt nach Kräften. Euch gaben sie die Hauptschuld an ihrer auffälligen Sinnesänderung, und doch wohl mit Recht. Das arme Kind wird’s auszubaden haben. Man darf kein leises Wörtchen zu ihrer Entschuldigung sagen, gleich ist man ein herzloser Mensch. Das Hochzeitsfest sollte nur nicht gestört werden; aber ich bin überzeugt, morgen bricht das Gewitter von allen Seiten los.“

„Gut! So werde ich mich als Blitzableiter hinstellen.“

„Das bist Du dem Mädchen schuldig.“

„Es giebt keine angenehmere Pflicht,“ sagte der Assessor lachend und stand auf.

Eben trat der Diener der gnädigen Frau an den Hauptmann heran und sagte ihm etwas in’s Ohr. „Gleich,“ rief derselbe. Er erhob sich, drückte seinem Vetter die Hand und verließ den Saal.

Die Gesellschaft hatte indessen fast allgemein Platz gewechselt. Helene war von Fräulein Aurelie in Beschlag genommen. Zu beiden gesellte sich nun noch der Assessor. Nach einer Weile kehrte Frau Osterfeld zur Tafel zurück und entschuldigte ihre Mutter: der Abschied habe sie zu sehr angegriffen. Osterfeld bat zum Kaffee in den Garten. Gruppenweise zogen die Gäste dahin ab, sich in der frischen Luft zu erquicken. Helene vermied es, mit Herrn von Brendeln allein zu bleiben, wozu Aurelie ihrem Bruder gern geholfen hätte. Von Minute zu Minute fühlte sie sich trüber gestimmt unter all den vom Festjubel und Weingenuß erregten Gästen. Sie gefiel sich gar nicht mehr in ihrem weißen Kleide. Und es beunruhigte sie auch, wie Herr von Brendeln sie mit erhitzten Augen ansah und ihr Worte zuflüsterte, die fast schon ein geheimes Einverständniß voraussetzten. Sobald es anging, verließ sie die Gesellschaft ganz, indem sie sich auf starkes Kopfweh berief.

Das Gewitter zog noch schneller auf, als Herr van Gräwenstein vorausgesagt hatte. Bald nach acht Uhr wurde das Haus still, das Dienstpersonal blieb noch eine Stunde mit dem Abräumen beschäftigt, wozu die Frau Consul als gute Wirthin sich wieder einfand. Das junge Ehepaar war entlassen, das Fest beendet – sie empfand nicht das Bedürfniß, eine gehobene Stimmung sanft und langsam ausklingen zu lassen; im Gegentheil schien es ihr lieb eine Beschäftigung zu finden, die sie schnell ablenken mußte. So war sie denn mit ganzer Aufmerksamkeit dabei, als ihr das Silberzeug vorgezählt und jedes zerbrochene Glas nachgewiesen wurde. Auch die Rothweinflecken auf den feinen Tischtüchern entgingen ihrem Blick nicht.

Osterfeld revidirte inzwischen den Weinbestand; dann begab er sich in’s Contor, die eingegangenen Briefe durchzusehen und das Wichtigste noch vor Nacht abzufertigen. Dorthin folgte ihm die Schwiegermama. Sie konnte nicht rasch genug sein geschäftskundiges Gutachten in Betreff der ärgerlichen Enthüllungen des Hauptmanns einholen. Osterfeld überbot sich in scharfen Ausdrücken über sein leichtsinniges Verfahren. „Und wer weiß, was noch nachkommt!“ Einen solchen Argwohn wehrte sie mit Entschiedenheit ab. Gräwenstein war nun doch ihrer Vera Ehegatte: die Verstimmung gegen ihn durfte nicht Bestand haben. Irgend ein Ableiter war erwünscht, und da bot sich Helene ganz von selbst. Bei Gräwenstein handelte es sich nur um eine verdrießliche Geldangelegenheit. Aber Helene –!

Es war noch nicht zu spät, sie gleich jetzt noch in’s Gebet zu nehmen. Der Leuchtschein aus ihrem Fenster erhellte das Laub der Linden, die dicht am Hause standen, und bewies, daß sie noch auf war. So erschreckte sie denn Helene, die halb ausgekleidet auf dem Sopha lag und mit wachen Augen die Ereignisse der letzten Tage durchträumte, durch ihren Besuch. Die steife Haltung und der starre Zug in dem sonst so freundlichen Gesicht verkündeten im Voraus nichts Gutes. Die Robe, die über eine Stuhllehne geworfen war, gab denn auch sofort den gesuchten Anlaß zur Scheltrede. Und diesmal bemühte die Frau Consul sich nicht einmal, würdevolle Ruhe zu behaupten. Das Abscheuliche war ja bereits geschehen; es galt nur noch, der Entrüstung darüber den schneidigsten Ausdruck zu geben.

Sie ließ Helene gar nicht zu Wort kommen. Der ganze lang verhaltene Groll entlud sich in den heftigsten Beschuldigungen [730] der Lieblosigkeit und des Undanks. Undank! Dieser Vorwurf mußte am empfindlichsten treffen. Eine kalte Natur sei sie. Vielleicht habe Robert zu seinem Glück so früh die Augen geschlossen, ehe er sie recht erkannt habe!

Helene hätte um keinen Preis ein Wort der Rechtfertigung vorbringen mögen. Ihr Herz erkaltete wirklich mehr und mehr, sie glaubte es zu fühlen. Stolz blieb die einzige Empfindung, deren sie sich mit Befriedigung bewußt blieb.

„Was Du mir sagst,“ antwortete sie, „muß mich überzeugen, daß Du jenes Band schon als gelöst ansehen willst. Durch meine Schuld – aber gelöst. Wenn es Wohlthaten waren, die ich hier empfing, so wirst Du wünschen, daß ich sie mir nicht vorwerfen lassen darf. Mag ich so schuldig sein, wie ich Dir scheine, zu einer Bettlerin erniedrige ich mich deshalb nicht. Ich will darauf denken, wie ich es ermöglichen kann, Dir und den Deinen nicht länger lästig zu fallen, und – Ihr werdet mich nur noch kurze Zeit dulden dürfen.“

Das sagte sie so ernst und ruhig, als sei kein Zweifel weiter möglich, und dabei blieb sie auch, die Mama mochte sich noch so sehr ereifern. So trennten sie sich denn zuletzt, ohne auch nur oberflächlich zu einem Ausgleiche gelangt zu sein, die alte Dame noch erregter, als sie gekommen war, und die hellen Thränen in den Augen, Helene trotzig und verstockt.

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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 46, S. 748–751
Fortsetzungsroman – Teil 7
[748]
10.

Früh am nächsten Vormittage ereignete sich dann etwas, das Helene nöthigte, ihren Erwägungen eine andere Richtung zu geben. Sie erhielt einen Brief in einem zierlichen Umschlag. Im Kreuzpunkt auf der Rückseite zeigte sich eine kleine Rosenknospe. Unwillkürlich mußte sie an die Knospe denken, die Herr von Brendeln im Knopfloch getragen hatte, und nun erbrach sie den Brief mit zitternden Fingern. Was hatte er ihr zu schreiben?

Während des Lesens überflammte helle Röthe Wangen und Stirn. Sie schwand langsam wieder; ein Lächeln spielte über das Gesicht hin, und unmittelbar darauf wurde die Lippe von den kleinen Zähnen gefaßt und tief eingedrückt. Sie hielt den Brief noch unbeweglich vor sich hin, als die Augen schon darüber weg blickten, und dann faltete sie ihn mit aller Ruhe zusammen und schob ihn in’s Couvert zurück.

Assessor von Brendeln machte ihr mit der Anzeige, daß seine Ernennung zum Regierungsrath gestern Abend eingetroffen sei, einen förmlichen Heirathsantrag. Er betheuerte in einigen poetisch angehauchten Sätzen seine leidenschaftliche Verehrung, wagte auch an ein wenig Gegenneigung ihrerseits glauben zu dürfen – so viel seiner Bescheidenheit vorerst genügen müsse – und versicherte schließlich, er selbst werde mit Frau Consul Berghen in allernächster Zeit sprechen. Es scheine ihm das Richtige, daß sie durch ihn erfahre, was sie voraussichtlich im ersten Augenblick nicht angenehm berühren werde. „Und so, mein theuerstes Fräulein,“ schrieb er, „behalten Sie denn freieste Wahl, mich unbegreiflicher Vermessenheit zu beschuldigen, oder mit einem Wort meine Kühnheit zu rechtfertigen. Ich vertraue meinem guten Stern.“

So war nun also auf ein ganz bestimmtes Ziel in nächster Nähe hingewiesen, das zu ergreifen lediglich von ihrem Willen abhing. Nahm sie den Antrag an, so ergab sich alles Weitere von selbst. Ihre Zukunft war gesichert in der Weise, wie man in ähnlichen Fällen von gesicherter Zukunft eines Mädchens mit mäßigen Ansprüchen an’s Leben zu sprechen pflegt. Die Ansprüche brauchten nicht einmal ganz mäßig zu sein. Der Mann, der sich um ihre Hand bemühte, war von Adel, in einem höheren Staatsamt, als geistvoll und geschäftstüchtig bekannt. Auch sonst sprach nichts gegen ihn. Diese rein praktischen Erwägungen waren jetzt ganz Helenens nüchterner Stimmung gemäß. An eine Versöhnung mit der Familie Berghen war nicht zu denken; sie hätte ihre völlige Unterwerfung zur Voraussetzung gehabt. Nun bot sich ein bequemer Weg zu einer mittleren Höhe, auf der ihr wohl sein konnte, wenn sie nicht idealistischen Träumereien thörichter Weise nachhing. Wozu das auch? Es war ja kein Mensch auf der Welt, der von ihrem Herzen etwas haben wollte, wie sie es in ihrer Brust klopfen fühlte. Was Brendeln von ihr erwartete, schien ihr überhaupt da gar nicht abgewogen werden zu können.

Wenige Stunden später ließ die Frau Consul sie auf ihr Zimmer bitten. Sie fand dort auch Osterfeld und Selma. Alle drei waren augenscheinlich in großer Aufregung. „Das ist also der Schlüssel zu Deinem sonderbaren Benehmen in letzter Zeit,“ begann die Mama. „Nun verstehe ich Deine gestrige Haltung. Wir erleben ja merkwürdige Dinge.“

„Das hätte ich Dir nie zugetraut,“ rief Selma.

„Da ist’s nun zu Tage, welchen Rückhalt man hatte,“ meinte Osterfeld boshaft lächelnd.

„Wovon sprecht Ihr?“ fragte Helene, mit großen, kalten Augen im Kreise umschauend.

„Thue noch unschuldig,“ verwies sie die Frau Consul streng, eine Visitenkarte, die vor ihr auf dem Tisch lag, aufhebend und wieder fortwerfend. „Man wird mir nicht einreden, daß so etwas ohne Mitwissen des andern Theils geschieht. Wenn Du es denn noch ausdrücklich hören willst: Herr von Brendeln ist bei mir gewesen und hat – um Deine Hand angehalten.“

„Und was – hast Du ihm geantwortet?“ fragte Helene beklommen.

[750] „Ich habe ihm geantwortet,“ sagte die alte Dame, indem sie sich hoch aufrichtete, „daß Du meine Tochter nur bist, so lange Du selbst es sein willst, daß ich darüber hinaus keine Macht habe, Dir etwas zu erlauben oder zu verbieten. Nähmest Du seine Werbung an, so sei damit auch jene Vorsorge entschieden.“

Helene schwieg. Aber ein leichtes Zucken der Stirn und des Mundes bewies, wie sehr ihr Gemüth beunruhigt war.

„Liebst Du diesen Herrn von Brendeln denn?“ fragte Selma pathetisch.

Helene blickte rasch auf. „Lieben –! Ich liebe ihn nicht.“

„Aber Sie heirathen ihn dennoch,“ fuhr Osterfeld brüsk drein.

Helene lächelte spöttisch. „Wenn ich ihn liebte und heirathete ihn nicht – das hätte auch geringe Bedeutung.“

„Was willst Du damit sagen?“ fragte die Mama. „Ich würde die Verirrung Deines Herzens sehr bedauerlich finden, aber der Entschluß, sie durch Entsagung selbst zu berichtigen, müßte mir doch achtbar erscheinen, den andern Fall hätte ich übrigens für unmöglich gehalten, daß Du einen Mann, den Du nicht liebst …“ Sie wendete das Gesicht ab und hüstelte in die Hand.

„Man heirathet heutzutage nicht aus Liebe,“ ergänzte Osterfeld spitz.

Helene hob kaum merklich die linke Schulter, die ihm zugekehrt war. „Wissen Sie das etwa aus Erfahrung?“

„Das war sehr unzart, Helene,“ verwies seine Frau. „Osterfeld ist, hoffe ich, über jeden Verdacht erhaben, aus Interesse geheirathet zu haben.“

„Um so besser für Dich,“ antwortete Helene. „Es ist ja auch gleichgültig, da Du befriedigt bist.“

„Als ob ich so leicht zu befriedigen gewesen wäre!“ ereiferte sich Selma, die nun statt der Empfindsamen die Empfindliche vorkehrte. „Ich finde es mindestens sehr sonderbar, daß Du allerhand Spitzen gegen uns wendest, wo Du allen Grund hättest Dich zu vertheidigen.“

„Zur Sache, zur Sache,“ forderte die Mama mit ungewöhnlicher Energie. „Sie ist mit einem einzigen Worte abgemacht. Was hat Herr von Brendeln zu erwarten?“

Helene stand einen Augenblick tief in sich gekehrt, während Aller Blicke auf sie gerichtet waren. „Jedenfalls die ganze Wahrheit,“ sagte sie dann leise, „und wenn sie ihn nicht abschreckt –“

„Helene!“ riefen die beiden Frauen wie aus einem Munde.

Nun brach Helene in Thränen aus. „Was wollt Ihr noch von mir?“ rief sie. „Was bin ich Euch noch? Auch Ihr sollt die Wahrheit hören, da doch nichts mehr zu verderben ist. Ich lese in Euren Herzen. Nicht weil Ihr mich liebt, fordert Ihr mich ganz für Euch; nicht weil Ihr mich liebt, meint Ihr meine Schritte lenken zu müssen. Ich bin Euch ein Todtenopfer, und so achtet Ihr mich. Aber ich bin Euch solchen Dienst nicht schuldig – keinem, auch dem Todten selbst nicht. Und nun das gesagt ist, – was bleibt noch zu sagen? Ich weiß, daß ich Euch nichts mehr sein kann, außer diesem nichts zu geben habe, das für Euch Werth hat. Jetzt würde ich Wohlthaten empfangen, wenn ich weiter annähme, was ohne Vergeltung bleiben muß. Mein Stolz empört sich dagegen. Und wenn nun ein armes Mädchen allein in der Welt dasteht, und ein achtbarer Mann bietet ihm seine Hand – verdient sein Edelmuth eine kränkende Abweisung?“

Osterfeld lachte laut auf. „Edelmuth! Herr von Brendeln – so, so, so! Edelmuth gegen ein armes Mädchen? Diese Komödie ist zu närrisch.“

„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte Helene, peinlich berührt. „Was finden Sie dabei so überaus lächerlich?“

„Der edelmüthige Mann,“ rief er und schnitt dazu eine Grimasse, „der das arme Mädchen heirathet, das ihren reichen Bräutigam beerbt hat!“

Helene fuhr erschreckt zurück und stieß dabei einen Laut aus, der nicht verständlich war, aber die stürmische Erregung des Gemüths kennzeichnete. Gleich darauf deckte sie die Hände auf die Augen und drückte die Finger tief ein.

Der Pfeil hatte getroffen. Die Frau Consul beobachtete einen Moment die Wirkung. Dann sagte sie: „Osterfeld hat Recht. Herr von Brendeln ist nichts als ein kluger Rechner. Sicher hat er von dem Testament Robert’s Mittheilung erhalten. Es versteht sich von selbst, daß wir Dein formelles Recht unangetastet lassen. Wenn Dir aber noch ein Rest von Zartgefühl geblieben ist, findest Du vielleicht selbst die zureichende Schätzung für einen Mann, der bei seiner Bewerbung an dem älteren Verhältniß des Mädchens keinen Anstoß nimmt, für dessen Ausstattung sein großmüthiger Vorgänger gesorgt hat.“

Nun sie ausgesprochen hatte, zog Helene mit einer stoßartigen Bewegung die Hände von den gerötheten Augen fort und schöpfte tief Athem. „Haltet mich für so schlecht als Ihr wollt,“ stöhnte sie heraus, „aber einen so gemeinen Vorwurf verdiene ich nicht. Das Testament – ich erinnere mich jetzt, daß davon die Rede gewesen ist. Einmal und nicht wieder. Ich habe nie ernstlich seine Bedeutung erwogen – ich habe nie über seine Folgen nachgedacht – ich hatte diese Mittheilung gänzlich aus dem Gedächtniß verloren. Und Herr von Brendeln –! Ihr beschuldigt ihn des niedrigsten Eigennutzes. Aber es ist doch noch zu beweisen, daß Eure lieblose Vermuthung zutrifft. Noch bin ich durch kein Versprechen gebunden, aber ich fühle die Verpflichtung, für ihn einzutreten, wenn er ungehört verdammt wird.“

Sie schaute stolz im Kreise um und wendete sich dann der Thür zu. „Halt!“ rief die alte Dame nach. „Ich muß eine bestimmte Erklärung fordern, da sie nun doch einmal Herr von Brendeln von mir erwartet.“

„Laßt mir wenige Stunden Zeit,“ sagte Helene, ohne sich zurückzuwenden. „Ihr werdet dann über meine Gesinnungen wenigstens nicht weiter im Zweifel sein.“ Damit verließ sie das Zimmer.

Und dann, ohne jedes Zögern, kleidete sie sich zum Ausgehen an, bestieg auf dem nächsten Halteplatz eine Droschke und ließ sich zu Uhrmacher Grün fahren. Den Kutscher hieß sie warten.

„Es kann Dir diesmal nichts helfen, Onkel Benjamin,“ sagte sie, bevor der alte Herr sich noch auf seinem Arbeitsplatze nach der Thür zugekehrt hatte. „Lege Schirm und Brille fort, nimm Hut und Stock und begleite mich.“

„Hoho!“ rief er, und ein knurrender Laut zog lang nach. „Ich bin doch nicht nur so zu commandiren.“

„Aber wenn ich recht herzlich bitte, die Arbeit eine kleine Stunde ruhen zu lassen? Es wird ja nicht so lange dauern, und es muß sein, Onkel Benjamin.“ Sie legte die Hand auf die Brust und sah ihn recht ernst und entschieden an. „Ganz gewiß, es muß sein.“

Er schob den Schirm über die kahle Stirn und blickte ihr mit seinen blauen Augen kopfschüttelnd in das erhitzte Gesicht. Dabei schien er sagen zu wollen: So – so! Wollen doch einmal abwarten. Aber er sagte es nicht und sagte eine kleine Weile überhaupt nichts. Die Augenlider fingen an sehr beweglich zu werden, die Stirn krauste und glättete sich abwechselnd. Wie sie so ernst vor ihm stand, mochte wohl in ihrem Wesen etwas sein, das blinden Glauben forderte. Und so äußerte er denn am Ende kleinlaut: „Ja, wenn es sein muß …“ und erhob sich zugleich langsam vom Stuhl. Nun umarmte und küßte sie ihn. Er ließ sich’s ziemlich mürrisch gefallen.

„Aber ich werde doch erfahren können, was es giebt?“ fragte er, indem er schon sein Arbeitszeug fortpackte.

„Alles,“ versicherte sie. „Aber später, mein guter Onkel, später. Es ist sogar durchaus nothwendig … aber später. Erst muß das in’s Reine gebracht sein, und ohne alle Worte – ich möchte sagen, auf alle Fälle. Bis zwei Uhr längstens haben wir Zeit. Der Wagen wartet ja auch –“

„Nun gut, gut!“ brunmmte er, „ich beeile mich ja schon.“ Er streckte den Arm nach dem Hut aus, der zwischen den Wanduhren an einem Nagel hing, und zog ihn wieder zurück. „Kann’s nicht auch Walter sein?“ fragte er halblaut, wie schon der ablehnenden Antwort gewiß.

„Nein, Onkel,“ entgegnete sie denn auch, „Keiner als Du. Ich brauche meinen Vormund.“

„Ah so! den Vormund. Dem hast Du bisher wenig zu thun gegeben. Nun soll’s wohl nachkommen im letzten Jahre?“ Er bürstete den Hut mit dem Rockärmel glatt. „Ich will nur Walter melden, daß ich weggehe,“ sagte er und trat in das Cabinet, das zu den hinteren Wohnräumen führte. Es dauerte ziemlich lange, bis er zurückkam. Wahrscheinlich ward der sonderbare Fall dort noch besprochen. Helene klopfte mehrmals ungeduldig mit dem kleinen Sonnenschirm auf die Hand und musterte die Uhren ringsum, die doch alle fast auf dieselbe Secunde die schon vorgerückte Zeit zeigten.

Als sie dann endlich im Wagen Platz genommen hatten, fragte sie: „Welchen Notar kannst Du empfehlen, Onkel? Er darf aber nicht allzu sehr beschäftigt sein, da wir rasch abgefertigt sein wollen. Es drängt wirklich sehr.“

[751] Er nannte verwundert zwei, drei Namen.

„Wer wohnt am nächsten?“

„Hm – Doctor Mossau.“

„Also zu Doctor Mossau, Kutscher.“

Sie wurden sehr bald vorgelassen. Helene stellte sich und ihren Vormund vor. „Zwanzig Jahre bin ich aber bereits alt,“ fügte sie hinzu.

„Womit kann ich dienen, mein Fräulein?“ fragte der Geschäftsmann, dessen gutmüthig kluges Gesicht Vertrauen einflößte. „Ich bitte, Herr Grün, nehmen Sie Platz.“

„Zuerst eine allgemeine Frage,“ begann Helene. „Lachen Sie mich nicht aus, wenn sie recht dumm sein sollte. Also … Wie soll ich’s nur in eine feste Formel bringen? Wenn Jemand ein Testament macht und setzt darin Einen zu seinem Erben ein – muß der auch durchaus sein Erbe sein?“

„Durchaus nicht,“ antwortete der Notar. „Der Eingesetzte hat das Recht, der Erbschaft zu entsagen.“

„Ist das ganz sicher?“

„Ganz sicher, mein Fräulein. Ist Ihnen eine Erbschaft zugefallen, von der Sie sich befreien wollen?“

„Ja – vor zwei Jahren.“

„Ah! vor zwei Jahren schon. Das ist etwas anderes.“

„Also geht’s doch nicht?“ fragte sie betroffen.

„Gewiß – aber nur in bestimmter, kurz bemessener Frist. Sie wäre in diesem Falle längst abgelaufen.“

Der Uhrmacher horchte sehr verwundert zu und wiegte immer wieder den grauen Kopf. Von welcher Erbschaft war denn die Rede?

„Und was man dann einmal hat, muß man durchaus behalten?“ erkundigte sich Helene weiter, den Knopf des Schirmes in das Kinn eindrückend.

„Das steht wieder auf einem anderen Brette,“ meinte der Notar. „Einer Erbschaft entsagen, heißt gar nicht Erbe sein wollen. Ist man’s einmal geworden, so muß man die Folgen auf sich nehmen. Eine Erbschaft ist ein Ganzes. Es können dazu so gut Passiva als Activa gehören, und die ersteren unter Umständen –“

„Ach! von dergleichen ist hier gar nicht die Rede,“ rief sie ein wenig erleichtert. „Es handelt sich, wie die Leute sagen, die es wissen müssen, um eine reiche Erbschaft. Ist’s nun zulässig?“

Der Notar lächelte nicht ohne Verlegenheit, wie er sich zu der wunderlichen Clientin stellen solle. „Zulässig! Wer etwas geerbt hat, kann darüber verfügen – er kann’s verschenken, wenn er freigebig sein will.“

„Aber, Kind,“ fiel der Uhrmacher ein, „ich weiß doch nicht –“

„Gleich, Onkel, gleich,“ begütete das Mädchen. „Ich bin bald mit meinen Fragen zu Ende.“

„Wenn von Ihnen selbst die Rede ist, mein Fräulein,“ bemerkte der Notar, „so würde in solchem Falle allerdings Ihr Herr Vormund, vielleicht auf dem Gericht, ein sehr gewichtiges Wort mitzusprechen haben.“

„O – mein Vormund ist mein lieber, guter Onkel“ entgegnete sie, „der allemal nur mein Bestes will. Und das Gericht – das fragen wir lieber gar nicht. Die es angeht, werden nicht glauben, daß ich über’s Jahr anderen Sinnes sein kann; und ich kann’s ihnen ja dann auch noch ausdrücklich bestätigen.“

Nun trug sie den Fall vor, so weit er den Notar interessirte, und versicherte ihn, überzeugt zu sein, daß sie sich’s ernstlich überlegt habe und unter keinen Umständen davon abgehen werde, und dabei blickte sie auch seitwärts auf Onkel Benjamin, der mit halbgeöffnetem Munde zuhörte, nickte ihm freundlich zu und warf auch für ihn irgend ein bekräftigendes Wörtchen ein.

„Ich will mich jeder Frage enthalten,“ sagte der Notar, „was der Anlaß zu einer so auffälligen Willenserklärung ist. Wenn ich aber niederschreiben soll, was Sie verlangen, so muß ich vorerst der Zustimmung Ihres Herrn Vormundes versichert sein. Herr Grün scheint selbst so wenig informirt –“

„Onkel –!“ bat Helene mit dem zärtlichsten Ausdruck ihrer weichen Stimme. „Wenn ich Dich versichere, es muß sein …“

„Dann muß es freilich sein,“ antwortete er. „Ich kann mir wohl denken, daß die Frau Consul –“

„Still!“ sagte sie und legte den Finger auf den Mund. „Du erfährst Alles und wirst mir Recht geben. Schreiben Sie also, was zu schreiben ist, Herr Doctor. Aber es kommt mir ganz wesentlich darauf an, die Ausfertigung noch heute zu erhalten.“

„Heute noch? Diese Eile, mein Fräulein –“

„Aber Sie wissen ja nicht, wie sehr es drängt. Heute noch. Am liebsten warte ich darauf.“

Der Notar schüttelte den Kopf. „Ich werde diese wichtige Urkunde jedenfalls nur in die Hand Ihres Herrn Vormunds legen,“ sagte er mit aller Entschiedenheit. „Ich würde sie gar nicht aufnehmen, wenn ich nicht wüßte, daß sie erst durch Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ihre volle Gültigkeit erlangen kann.“

„Gut denn!“ schloß Helene. „Ich darf mich auf Onkel Benjamin verlassen.“

Während Doctor Mossau seinem Schreiber dictirte, nahm sie den Onkel in eine Ecke des Zimmers und sprach leise, aber desto eifriger in ihn hinein. Es genügte eigentlich schon, daß sie bestätigte, man habe ihr diese Erbschaft vorgeworfen, um den alten Herrn auf ihre Seite zu bringen. Er war offenbar gar nicht unzufrieden mit ihrer raschen Handlungsweise, glaubte aber doch als Vormund seine Bedenken äußern zu müssen, ob es sich verantworten lasse, so leichthin ein Vermögen aufzugeben. Sie gebe in Wirklichkeit gar nichts auf, entgegnete sie, als einen Anspruch auf dem Papiere. „Oder vermagst Du Dir vorzustellen,“ fragte sie, „daß ich diese Erbschaft je herausfordern könnte, wenn mein persönliches Verhältniß zur Familie Berghen gelöst wäre? Und es ist gelöst, sobald ich aufhöre, die Braut in Trauer zu sein.“ Das leuchtete ihm ein.

Der Notar las das Schriftstück vor. Helene war mit dem Inhalt ganz einverstanden; sie wünschte nur noch ausdrücklich zugefügt, daß sie sich verpflichte, unaufgefordert nach erlangter Großjährigkeit ihre heutige Erklärung zu wiederholen. Dann unterschrieb sie mit fester Hand, und auch der Uhrmacher gab seine Unterschrift. Nachmittag um sechs Uhr sollte die Ausfertigung abgeholt werden können.

Helene begleitete ihn wieder nach Hause. Sie schien in der heitersten Stimmung zu sein oder sich wenigstens zu bemühen, sie äußerlich zu bethätigen. Dem Onkel entging doch nicht, daß sie häufig die Farbe wechselte, mit ihren Gedanken nicht recht bei dem Nächsten war, wovon sie sprach, und ganz zerstreute Antworten gab. Zu Hause angelangt, sagte sie: „Es wäre mir lieb, Onkel, wenn bei dem, was ich noch mitzutheilen habe, Walter zugegen sein wollte. Möchtest Du ihn nicht bitten, mir eine Minute seiner kostbaren Zeit zu schenken? Oder – wir gehen lieber gleich zu ihm.“

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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 47, S. 763–766
Fortsetzungsroman – Teil 8

[763] Daß Helene Walter sofort spreche, wollte Onkel Grün durchaus nicht zulassen. Es kam ihm offenbar darauf an, seinen Sohn erst mit dem bekannt zu machen, was inzwischen geschehen war. Nach mehreren Minuten erst kam er zurück, und Walter folgte ihm. „Du hast mich zu sprechen gewünscht, Helene,“ sagte er, „hier bin ich.“

„Ungern genug,“ fügte sie im Tone zwischen Ernst und Scherz hinzu.

„Wie Du willst,“ meinte er, „es kümmert Dich ja nicht.“

Sie musterte ihn einen Moment mit ihren vor innerer Aufregung fieberhaft glänzenden Augen und ließ ihr Blitzfeuer auf ihn sprühen. Sie schien zu denken: warte, es trifft Dich doch, was ich im Rückhalte habe – es soll treffen! „Du hast mir neulich etwas voreilig gratulirt, Vetter,“ begann sie dann, leise einsetzend, aber von Wort zu Wort die Stimme hebend. „Jetzt könnte dazu allerdings Gelegenheit werden. Herr Regierungsrath von Brendeln hat heute feierlich um meine Hand angehalten.“

Sie faßte, während sie diese Worte sprach, Walter fest in’s Auge, als wolle sie sich nicht das leiseste Zucken der Lippen entgehen lassen. Wie sehr er sich auch zu beherrschen vermochte, eine plötzlich auffliegende, über Wangen und Stirn hinspringende Röthe verrieth die Wirkung auf sein Gemüth. Es klang recht gezwungen, als er dann sagte: „Das ist ja sehr erfreulich … Also doch!“

„Ich habe mich noch nicht erklärt,“ bemerkte Helene, wieder einen forschenden Blick auf ihn werfend.

„Aber Du wirst Dich erklären,“ entgegnete der Doctor. „Ich denke, Du bist mit Dir längst einig.“

„Meinst Du?“ fragte sie rasch und herausfordernd.

„Ich nehme dies nach Deinem ganzen Verhalten an,“ bestätigte er sehr kühl.

„So! Und wenn …“

„Nun –?“

„Mitunter trügt der Schein.“

„Den unbefangenen Beobachter selten.“

„Und für den soll ich Dich wirklich halten?“

„Ich bitte darum.“

„Du kannst Herrn von Brendeln nicht leiden, denke ich.“

„Ah –! Erlasse mir jede Meinungsäußerung über einen Mann, der wahrscheinlich morgen schon das Recht hat, sich Deinen – Bräutigam zu nennen.“

Sie preßte die Lippen auf einander. „Meinen – Bräutigam! Und das sagst Du so …“ Der kleine Fuß trat fest mit der Spitze auf.

„Du bist sehr sonderbar, Helene. Erwartest Du vielleicht, daß ich Dir zurede, den Herrn Assessor mit Deiner Hand zu beglücken?“

Sie lachte kurz auf und wendete sich in demselben Momente auch ab, um die Thränen zu verbergen, die ihr in die Augen schossen. „Das wäre in der That die Krone Deiner Liebenswürdigkeit,“ spottete sie, sich zu einem festen Tone zwingend.

„Wenn Du aber vor einem solchen Entschlusse stehst, Lenchen,“ meinte der Onkel, dem dieses Gespräch augenscheinlich die schwerste Pein verursachte, „so begreife ich doch nicht, warum Du Dich vor einer Stunde so beeilt hast …“

Er meinte: auf ein Erbe zu verzichten, das für eine gute Mitgift gelten könne. Aber ehe er noch ausgesprochen hatte, begriff er dies ganz gut, pausirte deshalb ein wenig und schloß mit einem sehr bezeichnenden: „Ja so –“

[764] Helene war dieses „Ja – so –“ sehr verständlich. „Nicht wahr, Onkel,“ sagte sie, „es war durchaus nothwendig. Du siehst nun ein, daß ich gar nicht anders handeln konnte, wenn ich nicht –“ sie drehte den Schirm durch die Hand und sah dabei seitwärts zu Walter auf – „wenn ich nicht ohne Weiteres Herrn von Brendeln einen Korb geben wollte.“

Der Doctor ließ diese Seitenbemerkung ganz ohne Erwiderung. Das ärgerte sie augenscheinlich. Sie kehrte ihm mit kurzer Wendung auf dem spitzen Absatze den Rücken zu und reichte dem alten Herrn die Hand. „Ich komme also gegen Abend, die Urkunde abzuholen, Onkel Benjamin,“ sagte sie. „Lebe wohl, so lange.“

Damit ging sie, ohne es für erforderlich zu erachten, Walter einen Gruß zu schenken.

Abends noch vor sieben Uhr kam sie wieder. Der Uhrmacher hatte die Ausfertigung der Urkunde vom Notar abgeholt und machte nun gar keine Umstände weiter, sie ihr auszuhändigen. Wahrscheinlich war zwischen Vater und Sohn verabredet, daß ihr in Allem völlig freie Hand zu lassen sei.

Nun aber hatte sich in diesen Stunden ihre Stimmung sehr verändert: nichts mehr von dem entschlossenen und trotzigen Wesen war zu bemerken. Obgleich der Alte sich jeder Einladung enthielt, blieb sie doch nach Empfang der Urkunde in seinem Arbeitszimmer, zog das Papier mit sichtlicher Verlegenheit durch die Hand und schien nach ihrer ganzen Haltung noch etwas auf dem Herzen zu haben.

„Ich habe mir’s überlegt, Onkel,“ begann sie dann, „es ist damit allein doch nicht gethan.“ Sie deutete auf das Schriftstück in ihrer Hand. „Ich kann im Hause der Frau Consul nicht länger bleiben. Brechen wir mit einander, so brechen wir vollständig.“

„Es kann wohl sein,“ meinte er ohne sonderliche Betheiligung.

„Aber dann muß ich mir ein anderes Unterkommen suchen.“

„Allerdings … das wird geschehen müssen.“

„Ich habe Niemand, der mir in dieser schwierigen Lage Beistand leistet –“

„O! der Herr Regierungsrath von Brendeln wird sich das doch nicht nehmen lassen –“

„Onkel –! Das war nicht hübsch. Du begreifst, daß er der Letzte wäre, von dem ich eine Unterstützung irgend welcher Art annehmen dürfte. Sei mein alter, gütiger Onkel, auch jetzt mein Freund in der Noth!“

„Hm – hm! Wie soll ich …?“

„Meine Zukunft muß ja bald entschieden sein. Wenn ich heirathe …“

„Natürlich, wenn Du heirathest.“

„Bis dahin aber –“

„Ja, bis dahin –“

„Onkel Benjamin, gerade heraus: es wird Dir nichts übrig bleiben, als mich bei Dir aufzunehmen.“

Sie sah ihn bei diesen Worten, die recht herzhaft klingen sollten, aber zitternd genug herauskamen, bittend an, streichelte auch seine Schulter. Erfreulich war ihm aber sicherlich nicht, was er da hörte. Ihr Anliegen schien ihn völlig zu überraschen und im Augenblick aus der Fassung zu bringen. „Wie ist das aber in aller Welt möglich, Kind!“ rief er und riß die Augen weit auf.

„Es muß doch möglich sein, Onkel Benjamin,“ meinte sie; „sage selbst –“

„Ja, muß – muß!“ eiferte er. „Hat sich was zu müssen. Es geht doch nicht.“

„Kannst Du’s wirklich über’s Herz bringen, mich abzuweisen? Das traue ich Dir doch nicht zu.“

„Aber von über’s Herz bringen kann da gar nicht die Rede sein. Ich habe keinen Platz. Wo soll ich Dich lassen? Ich kann doch Deinetwegen meinen leiblichen Sohn nicht austreiben!“

„Walter –“

„Ja, Walter – natürlich Walter.“

„Du meinst, er würde mich hier nicht leiden.“ Sie senkte dabei traurig den Kopf.

„Leiden, leiden –! ich weiß nicht,“ knurrte er ärgerlich. „Aber für Euch beide ist doch kein Raum in meiner engen Wohnung.“

Sie hob den Kopf und senkte ihn wieder. „Es wäre schon, wenn .... Aber was soll nun geschehen?“

„Richte Dich verständig ein, Lenchen,“ rieth er, „trage den Verhältnissen billige Rechnung. Fliege nicht aus, bis Du ein anderes sicheres Nest hast. Was sollen denn auch die Leute davon denken? Freilich – wenn Du Dich verlobst .... angenehm wird der Aufenthalt im Hause der Frau Consul nicht sein. Aber sie ist Dir und Deinem künftigen Bräutigam äußerlich doch Rücksicht schuldig, und wenn Du ihr nun Schwarz auf Weiß beweisen kannst, daß Du von Deinem Erbrecht gar keinen Gebrauch machen willst, daß Du von ihnen nicht das mindeste forderst –“

[765] „Adieu, Onkel,“ unterbrach sie ihn. „Schlägst Du meine Bitte ab, so bin ich auf mich selbst gestellt und muß thun, was ich vor mir verantworten kann. Du kannst Dich doch in mich nicht hineinversetzen. Wenn Du alles wüßtest, wie ich. … Aber das ist nicht möglich. Und darum: leb wohl!“

Sie drückte seine Hand und entfernte sich schnell.

Die Urkunde couvertirte sie und schickte sie noch denselben Abend der Frau Consul zu. Dann packte sie bis spät in die Nacht hinein ihre Sachen. Später im Halbschlummer wechselten allerhand traumhaft abenteuerliche Pläne mit einander ab. Am Morgen mehr abgespannt als erfrischt durch einen so unruhigen Schlaf, sank ihr ganz der Muth, sich durch eigene Kraft aus diesem Wirrsal zu befreien. Nun schien es ihr eine rechte Vermessenheit, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, das ihr einmal den Wittwenschleier bestimmt hatte, bevor sie Frau geworden war. Ein Rückzug ohne tiefste Beschämung war doch nicht möglich. Wo hinaus aber?

Aus dieser Bedrängniß rettete sie ganz unvermuthet ein Brief des Onkel Benjamin. Er schrieb ihr – mit allerhand verzwickten Redewendungen freilich – daß er die Sache mit Walter besprochen habe, der sogleich der Meinung gewesen sei, er dürfe sie nicht abweisen. Wenn sie das Haus der Frau Consul verlasse, so gebe es für sie zur Zeit keine andere Heimstätte, als die ihr der nächste Verwandte bieten könne. Dort müsse der Mann, der sie zum Altar führen wolle, sie aufsuchen können. Walter habe sich deshalb entschlossen, ihr zum zweiten Mal den Platz zu räumen. Mittags schon werde sie das Stübchen zu ihrem Empfange vorbereitet finden. Nehme sie nicht davon Besitz, so werde es nun leer stehen bleiben. „Walter versichert,“ fuhr er hier wörtlich fort, „daß seines Bleibens bei mir doch nicht mehr lange hätte sein können. Er habe mich nur nicht durch seinen Auszug kränken wollen, als hätte ich’s an etwas fehlen lassen. Nun komme ihm die Gelegenheit, sich ein passendes Quartier zu wählen, eigentlich ganz erwünscht. Ich muß ihm wohl glauben und thu’s Deinetwegen gern. Kann ich meinen Sohn nicht bei mir haben, so ist mir natürlich Niemand lieber, als Du. Richte Dich also ein, liebes Kind, wie Dir’s gut scheint. Hoffentlich wirst Du mit der Frau Consul nun in aller Güte aus einander kommen. Geh ihr zu diesem Zwecke zwei Schritte statt eines entgegen. Es erwartet Dich – Dein treuer Onkel Benjamin.“

[766] Walter also hatte sie diese günstige Wendung zu danken. Er machte ihr Platz, um jedes Hinderniß für – Herrn von Brendeln zu beseitigen. Sie sollte um Himmels willen sich nicht einreden, daß er aus persönlichen Gründen ihrer Verbindung mit diesem Manne abgeneigt sei. Gut, gut! So mag denn das Rad weiter rollen, wo es den Weg geebnet findet.

Und doch zögerte sie noch, gerade ’raus das letzte Wort zu sprechen.

Sie schrieb einige Zeilen an Herrn von Brendeln. Sie enthielten keine Zusage, keine Abweisung. Sie wollte ihn nur in Kenntniß setzen, daß sie beabsichtige, noch an diesem Tage das Berghen’sche Haus zu verlassen und zu ihrem Onkel überzusiedeln. Dort erwartete sie seinen Besuch, um ihm mündlich auf seine Frage Antwort zu geben.

Eben als sie sich anschickte, den Brief selbst zum nächsten Postkasten zu tragen, kam Fräulein Aurelie. Sogleich wanderten ihre lebhaften Augen im Zimmer herum, wo die Pakete mit Kleidungsstücken, Koffer und Schachteln auf den Möbeln lagen und standen. „Aber wollen Sie denn verreisen, mein theuerstes Fräulein?“ fragte sie. „Ich sollte denken, gerade in dieser Zeit …“

„Ich reise nur einige Straßen weit,“ beruhigte Helene. „Nur zu meinem Onkel Benjamin Grün.“

„Ah! Das ist ja eine höchst merkwürdige Neuigkeit.“ Und nun brach ein Sturm von Erkundigungen los. Um ihn zu beschwichtigen, gab Helene ihr den Brief an Brendeln mit der Bitte, ihn an die Adresse zu besorgen. Nun gerieth das Fräulein in noch größere Unruhe. „Was enthält der Brief?“ rief sie, ihn wieder und wieder auf der Hand wägend. „Ich weiß Alles. Mein Bruder hat mich in das Geheimniß seines Herzens eingeweiht. O – nur ein Wörtchen, ein ganz kleines Wörtchen! Ja oder nein? Nein? Sie lächeln. Ja? Sie schütteln den Kopf. Aber doch nicht im Ernst? Unmöglich im Ernst. Sagen Sie aufrichtig: ja oder nein. Ich zittere am ganzen Leibe – sehen Sie nur. Wenn Nein … Sie werden nicht verlangen, daß ich meinem Bruder sein Todesurtheil überbringe. So grausam sind Sie nicht. Und darum –“

„Aber der Brief hat den unschuldigsten Inhalt,“ fiel Helene ein. „Ich zeige dem Herrn Regierungsrath nur an, daß ich – verreise.“

„Damit mein Bruder Sie zu finden weiß – wie? Natürlich. O, er wird sehr glücklich sein. Daß Sie ihm überhaupt schreiben, sagt in diesem Fall Alles. Sie Engelskind!“ Es regnete zärtliche Küsse. Und dann hielt sie sich auch nicht länger auf, als nothwendig schien, ihrem Entzücken Ausdruck zu geben. Die Besorgung des Briefes drängte.

Nun trat Helene den schweren Gang zur Frau Consul an. Sie schärfte sich’s wiederholt ein, ihrerseits jeden Anlaß zu einer aufregenden Scene zu vermeiden. Sie täuschte sich über die Stimmung, in der sie die alte Dame zu finden erwartete, ganz und gar. Auch für sie schien die Sache völlig erledigt. „Von dem Hausmädchen erfuhr ich,“ sagte sie, „daß Du zum Auszuge gerüstet hast. Ich konnte nichts anderes voraussetzen nach der schriftlichen Erklärung von gestern Abend. Du hast den Streit aus dem Hause hinausgetragen in die Amtsstube des Juristen. Dorthin kann ich Dir nicht folgen. Ich spreche nicht von dem Inhalte des Schriftstückes – eine Schenkung von Dir anzunehmen hast Du uns wohl selbst nicht für fähig gehalten –; für mich entscheidet, daß Du eine solche Erklärung abgeben konntest in der Meinung, Dich dadurch von allen Verpflichtungen der Anhänglichkeit und Treue zu lösen. Wer das vermochte, dem kann ich in der That nichts mehr sein. Ich danke Dir, daß Du mich der unliebsamen Pflicht überhebst, Dir selbst sagen zu müssen, daß eine Trennung zur Nothwendigkeit geworden. Werde glücklich, wie Du kannst.“

Helene fühlte einen kühlen Kuß auf ihrer Stirn, einen schwachen Händedruck. Sie bückte sich und küßte die Hand der Frau, gegen die sie jetzt keinen Groll mehr empfand. Ein Paar Thränen fielen darauf. Die Frau Consul zog rasch ihre Hand zurück. Sie wollte nicht gerührt sein.

„Du verkennst auch jetzt meine Gesinnung,“ sagte Helene. „Die Urkunde, die ich in Deine Hand legte, beweist nichts weiter, als daß ich mich von dem Vorwurfe rein halten will, eigennützig zu handeln – soll nichts weiter beweisen. Ich werde ihren Inhalt niemals widerrufen. Zu schenken habe ich nichts. Mag eine milde Stiftung Robert’s Andenken in fernste Zeiten bewahren und vielen Unglücklichen zum Segen gereichen.“

„Osterfeld hat das Schriftstück vorläufig an sich genommen,“ bemerkte Frau Berghen. „Ich vertraue seiner Geschäftskenntniß, daß er dasselbe richtig zu gebrauchen wissen wird. Sprechen wir nicht weiter davon.“

Von diesem Augenblicke ab behandelte sie Helene wie eine Hausgenossin, die eine längere Reise anzutreten beabsichtigt, auch dem Dienstpersonale gegenüber. Selma wurde durch Unwohlsein entschuldigt. Osterfeld war an der Börse.

Im Wagen der Frau Consul – sie hatte es so gewünscht - fuhr Helene zu Onkel Benjamin.

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 48, S. 782–784
Fortsetzungsroman – Teil 9
[782]
11.

Es vergingen mehrere Tage.

Onkel Grün war still und viel bei der Arbeit. Manchmal sah er wie schwer bekümmert aus; wenn er sich aber beobachtet glaubte, hob er den Kopf und gab sich ein vergnügtes Ansehen.

Helene war viel für sich. Das war sie auch in dem Hause der Frau Consul gewesen, aber doch in ganz anderer Weise. Nichts von der Beunruhigung des Gemüths bei dem leisesten Geräusche draußen: wer wird kommen? was wird zu melden sein? Welche Verdrießlichkeit soll’s wieder geben? Sie wußte, daß Niemand sich darum kümmerte, was sie thue und unterlasse. Sie fand Bücher und las darin, größtentheils die alten aus der kleinen Bibliothek des Onkels, die sie vor Jahren schon einmal gelesen hatte, Walter Scott, Wilibald Alexis, Hoffmann, Chamisso. Wenn sie dann doch wieder eine Handarbeit vornahm, hatte sie gleich nachzusinnen, ließ bald die Hände in den Schooß sinken und blickte unverwandt zum Fenster hinaus, wo es doch – nach dem Hofe hin – weiter nichts zu sehen gab, als eine hohe weiße Wand.

Walter kam gar nicht.

Aber der Alte ging Abends spät ein Stündchen aus, wahrscheinlich ihn zu besuchen. Helene nahm dies als gewiß an, enthielt sich jedoch aller Fragen.

Von Aurelie langte in einem duftenden Couvert eine Visitenkarte mit Bleifederaufschrift an. In Folge einer unerwarteten Nachricht mußte sie schnell abreisen und deshalb sogar auf das Vergnügen verzichten, von ihr mündlich Abschied zu nehmen. Nicht einmal ein Ausrufungs- oder Fragezeichen. Helene lächelte, [783] indem sie langsam das Kärtchen in’s Couvert zurückschob, aber die Brust war ihr dabei beklommen. Kein Zweifel: die vor Kurzem noch so glühende Freundschaft hatte eine starke Abkühlung erfahren. Was war der Grund? Einen Grund muß doch jede Veränderung haben.

Es war doch mindestens höchst auffallend, daß Herr von Brendeln gar nichts von sich hören ließ. Helene hatte seinen Besuch gleich am nächsten Tage erwartet. Ihren Brief konnte er gar nicht mißverstanden haben. Jetzt war sie frei, konnte über sich verfügen. Warum in aller Welt zögerte er?

Nicht als ob sie ihn mit Sehusucht erwartete! Sie fürchtete sich eher vor der Minute, die sie ihm gegenüberstellen würde, um diesen unsicheren Zustand für immer abzuschließen. Noch hatte sie sich nicht fest gebunden, noch konnte sie zurück, noch blieb die Möglichkeit, daß sich etwas ereignete, was ihrem Schicksal eine andere Wendung gab. Trat Brendeln ein, so ging er als ihr Verlobter fort. Und sie wußte im Voraus, daß sie sich dann sehr unglücklich fühlen würde, daß sie alle ihre Seelenstärke würde zusammenfassen müssen, sich in das Unvermeidliche zu finden. Ihn konnte aber doch kein Bedenken zurückhalten. Wenn er sie liebte … Nein! nicht einmal das: selbst wenn er sie nicht liebte, wenn er sich einen Irrthum des Herzens bekennen mußte, jetzt war dem Ehrenmanne der Weg vorgeschrieben. Es war beleidigend, daß er Tage darüber hingehen ließ, bis er that, was auf der Stelle gethan werden mußte.

Sie war mehrmals drauf und dran ihm zu schreiben, abweisend natürlich, das Verhältniß gänzlich abbrechend. Aber sie schämte sich – vor Walter. Er hätte den Spott billig gehabt. Wenn sie dann aber die Feder in der Hand hielt und das weiße Papier einladend vor ihr lag, bemächtigte sich ihrer eine solche Schreiblust, daß sie nicht widerstehen konnte. Sie schrieb an sich selbst. Erst nur einen knappen Bericht ihrer Erlebnisse, wie in einem flüchtig geführten Tagebuche; dann, da die Thatsachen rasch erschöpft waren und an sich auch wenig bedeuteten, eine ausführliche Darlegung ihrer wechselnden Seelenstimmungen. Da konnte es denn gar nicht ausbleiben, daß sie sich ernste Auskunft gab über das, was ihr Handeln bestimmt hatte, und daß nun die Gründe, selbst die geheimsten, die sich immer nur zögernd auf’s Papier wagten, gar nicht genügen wollten, sie sich selbst zu erklären. Die geheimsten waren es vielleicht doch noch nicht. Und auch sie mußten aus dem Versteck. Entschlossen tauchte sie die Feder ein – ein großer Tintenklecks gab davon bleibendes Zeugniß – und schrieb:

„Es muß doch gesagt sein: mein schwerstes Unglück ist, daß ich Walter liebe. Ja, ich liebe ihn, jetzt weiß ich’s; und jetzt weiß ich auch, daß ich ihn immer geliebt habe – damals schon, als ich meinte, Furcht vor ihm zu haben, und mich ärgerte, daß er mir nicht schmeichelte und immer auf seinem Willen bestand. Es gab aber auch Augenblicke, in denen ich verständiger urtheilte, und dann hatte ich – nachträglich wieder zu meinem Verdruß – von ihm eine ganz andere Meinung und freute mich seiner männlichen Entschiedenheit und Unnachgiebigkeit gegen die Schwächen des verwöhnten Kindes. Es war nur so schwer, sie abzuthun, und Anderen schien ich, wie ich war, so gut zu gefallen, daß die liebe Eitelkeit am Ende wohl Recht behalten mußte. Ich will mir aber gar nicht Unrecht thun: daß Walter für mich etwas wie Liebe empfinden könne, das ist mir dazumal nicht in den Sinn gekommen. Ich habe auch nicht seinetwegen eine Weile geschwankt, ob ich Robert’s Wunsch erfüllen solle. Ich muß mich aber wirklich ein wenig zu Robert zwingen und am Ende allerhand Gründe für ihn sprechen lassen, die mit der Neigung des Herzens nichts zu schaffen hatten. Leidenschaftlich habe ich mich überhaupt nicht zu ihm hingezogen gefühlt, obschon ich ihm recht gut wurde und gewiß ihn mit der Zeit noch immer lieber gewonnen hätte. Ich muß mir bekennen, daß ich während meines ganzen Brautstandes mich nicht ein einziges Mal zu überwinden vermochte, ihm zärtlich entgegenzukommen, sondern immer nur annahm, was er mir bot, und freundlich erwiderte. Ich habe nie das sehnliche Verlangen gehabt, mit ihm einmal ganz allein zu sein; ich habe nie gefürchtet, mich wohl auch vergessen zu können. Seit ich Walter wiedergesehen, quält mich mitunter der sündhafte Gedanke, ich hätte schlecht bestanden, wenn Robert noch lebte. Gott sei Lob und Dank! Davor bin ich behütet worden. Was mich jetzt so namenlos schmerzt, berührt in anderer Art mein Gewissen. Ich liebe und bin nicht mehr geliebt. Ich möchte mich Walter an die Brust werfen, ihm mein tiefstes Geheimniß beichten – ach, es wäre mein Tod! Er würde mich zurückstoßen, und das ertrüge ich nicht. Aber statt dessen – was thue ich? In welche heillose Verwirrung des Gefühls bin ich gerathen? Das Widerwärtigste muthe ich mir zu, nur um meine äußere Lage zu verändern, meinen Schmerz zu betäuben. Was ist mir der Mann, der mich zu seinem Weibe begehrt? Ihm angehören … Nein, nein und aber nein –“

Sie warf die Feder hin und sprang auf, gluthroth im Gesicht, die Augen flammend. „Nein, nein und aber nein!“ rief sie. „So darf ich nicht fallen. Ich will nicht frei geworden sein, um mir die traurigsten Fesseln anzulegen, die ein unglückliches Weib tragen kann. Sei stolz, mein Herz, sei stolz, vergieb dir nichts! Nie, nie diese unselige Verbindung. Jetzt hab’ ich mich wieder. Auf der Stelle soll Brendeln erfahren …“

Zu spät!

Onkel Benjamin brachte einen Brief, der soeben für sie abgegeben worden. Sie las ihn, wurde kreidebleich und sank ohnmächtig zusammen.

Herr von Brendeln schrieb ihr eine Absage.

Onkel Benjamin holte ein Glas Wasser herbei und netzte ihr die Schläfen. Sie brach, wieder zu sich gekommen, in ein krampfhaftes Weinen aus. „Da lies,“ schluchzte sie, lies! „O – es ist gemein. Aber mir geschieht Recht, ganz Recht; ich verdiene solche Zurückweisung. Wenn Walter erfährt … ich ertrag’ es nicht. Nein, nein, er soll’s erfahren, gerade er. Vor Keinem, als vor ihm, habe ich mich zu demüthigen.“

Grün las und wiegte den grauen Kopf und las wieder, vielleicht nur, um im Augenblick sich nicht äußern zu dürfen. Und dann ließ er, wie das so in bedenklichen Fällen seine Gewohnheit war, erst einige knurrende Laute vernehmen, die als allgemeine Zeichen der Unzufriedenheit verstanden sein wollten. Dabei streichelte er Helene das Haar und klopfte ihr ermunternd die Schulter. „Das ist gemein!“ wiederholte er endlich mit dem Ausdruck tiefster Entrüstung und zwang dazu sein gutmüthiges Gesicht recht wüthend auszusehen. „Ein solcher Mensch! Und das nennt sich von Adel – das! Walter hat ganz richtig gesagt: eine gefährliche Bestie!“

Das letzte war ihm so herausgekommen, er wußte selbst nicht wie. Helene merkte auf und sah ihn mit ihren verweinten Augen fragend an.

„Walter? Ja, ja! Der hat ihn recht erkannt. Und ich selbst … ach Gott! wenn ich’s einem Menschen anvertrauen dürfte!“ Sie wandte wieder das Gesicht ab und bedeckte es mit den Händen. „Ihr müßt mich verachten.“

Der alte Herr suchte sie zu beruhigen, aber es gelang schlecht genug. So Schweres habe sie sich am Ende doch nicht vorzuwerfen. Man könne sich wohl in einem Menschen täuschen, wenn er so geschickt falsches Spiel spiele. Und was könne sie denn dafür, daß sie ihm gut gewesen sei? Damit traf er’s nun ganz unglücklich.

„Onkel, kannst Du das wirklich glauben?“ rief sie, von Neuem in Thränen ausbrechend. „Ach, Du mußt ja wohl! Das ist ja das Traurigste, daß Du und Walter … Nein, er soll nicht …. Sag’ ihm … Ach, es ist nicht zu sagen.“

Er ging nun eine Weile schweigend im Zimmer hin und her. Allein wollte er sie nicht lassen und den richtigen Zuspruch konne er auch nicht finden. Endlich suchte er wieder seinen Arbeitstisch auf, ließ aber die Thüren offen stehen. Und dann, früher als sonst, schickte er sich zum Ausgehen an, kam jedoch noch zu fragen, ob er ihr irgendwie zu Dienst sein könne, und versicherte, daß er heute nicht lange ausbleiben werde. Helene hatte sich auf’s Sopha gelegt, wendete den Kopf nicht zurück, reichte ihm aber die kalte Hand zum Abschied hin. Sie sprach nicht dabei.

Wirklich blieb er nicht lange fort. Er sei bei seinem Sohn gewesen, erzählte er, um ihm von der „Schändlichkeit“ Mittheilung zu machen. Es sei doch nöthig gewesen, ihn von dem Geschehenen zu unterrichten. Sie wollte wissen, wie er sich darüber geäußert habe. „Knapp genug,“ sagte er. „Er hat so den Kopf zurückgeworfen und zwischen den Zähnen hindurch gezischt: ‚Wie konnte Helene auch so thöricht sein, auf eine reiche Erbschaft zu verzichten?‘“

„Ich segne meinen Entschluß,“ entgegnete Helene.

[784] Dem Alten schien’s schon am andern Tage, daß sie ruhiger geworden sei. Sie bat ihn, mit ihr zu berathen, wie sie nun ihr Leben anstellen solle.

„Ich mochte bei Dir die Uhrmacherei erlernen, Onkel,“ sagte sie, „das ist eine zierliche Arbeit, die gut für Frauenhände paßt. Was meinst Du dazu?“

Er zuckte schmunzelnd die Achseln. „Hättest Du wirklich Lust dazu?“

„Gewiß! Ich glaube, diese Beschäftigung würde mich sehr befriedigen. Man sitzt für sich allein, ist ganz still und denkt, was man mag. Dabei hat man doch ununterbrochen zu thun.“

Das gefiel ihm nicht ganz. „Aber diese Arbeit fordert mehr Aufmerksamkeit, als Du denkst, Lenchen,“ wendete er ein. „Wenn der Kopf nicht dabei ist, die Augen allein thun es nicht und die Hände noch weniger. Bei Deinem lebhaften Temperament –“

„Das ist vorbei, Onkel Benjamin.“

„Hm – hm …“

„Traust Du mir nicht? Du solltest es einmal mit mir versuchen. Ich will Dein Lehrling sein und später Dein Gehülfe. Du wirst doch auch einmal alt werden –“

„Ich bin’s schon.“

„Ja, an Jahren vielleicht. Aber Dein Geschäft treibst Du wie der Jüngste. Es wird noch lange dauern, bis Du mir’s einmal abtreten magst. Versuch’s doch. Ich bin recht geschickt.“

„Nun, wie Du willst.“

„Und wir fangen sogleich an, nicht wahr?“

„Meinetwegen. Setze Dich hier zu mir.“ Er meinte, ihr nicht widersprechen zu sollen. Was kam’s denn auch darauf an, wenn sie bald wieder die Lust verlor? Die Beschäftigung war neu und konnte ihr die schwere Stimmung überwinden helfen.

Helene arbeitete nun wirklich unter seiner Leitung sehr fleißig und aufmerksam. Es machte ihm auch offenbar Freude, sie in den Handgriffen seiner Kunst zu unterrichten, die kleinen Hände zeigten sich so geschickt, und die jungen Augen bemerkten jedes Stäubchen ohne Lupe.

Eine halbe Woche war so verbracht, als eines Vormittags der Uhrmacher etwas geheimnißvoll hinausgerufen wurde. Als er wieder zurückkam, sah sein Gesicht ganz verstört aus. Er sprach nichts, kleidete sich aber mit größter Geschwindigkeit an und lief fort.

Erst nach Stunden kam er wieder, ganz matt und aufgelöst, wie von großen körperlichen Strapazen, und zugleich sehr aufgeregt, die Augen voll Thränen. Helene forschte bekümmert, was ihm begegnet sei. Er konnte lange nicht sprechen, bewegte nur die auf der Lehne des Sorgenstuhls schlaff aufliegende Hand ein paar Mal im Gelenk auf und ab und nickte dazu mit dem Kinn auf die Brust hinab. Endlich sagte er weinerlich: „Mein Sohn ist sehr krank, Lenchen, sehr krank –“

„Walter!“ rief Helene überrascht und erschreckt. Daß er zu dem traurigen Zustand des Onkels den Anlaß gegeben, war ihr nicht entfernt eingefallen. „Aber Du hast in den vorigen Tagen nicht das Mindeste davon angedeutet –“

„Wie sollte ich – wie konnte ich?“ winselte er. „Er war ja ganz gesund. Nur manchmal ein bischen wunderlich –“

„Und ganz plötzlich?“

„Ganz plötzlich – heute früh …“

„Was ist’s denn?“

„Er hat eine Wunde –“

„Eine Wunde?“

„In der Brust. Man weiß noch nicht, wie tief, und welche edlern Organe –“

„Onkel, foltere mich nicht. Was für eine Wunde? Wie kommt Walter zu einer solchen Verletzung?“

Er sah sie schmerzlich an. „Eine Schußwunde, Lenchen. Es ist leider wahr – eine Schußwunde in die Brust. Zum Glück nicht in’s Herz, aber in die Lunge vielleicht. Der schändliche Mensch –“

Helene schrie auf. Sie schien zu begreifen, um was es sich handelte. „O, mein Gott – ein Duell –“

„Mit Herrn von Brendeln.“

Sie zuckte zurück. In ihr bleiches Gesicht stieg eine Secunde lang flammende Röthe. „Meinetwegen …“ zitterten ihre Lippen.

Der Onkel nickte. „Ich hab’s gleich gemerkt,“ erzählte er, „daß Walter im Stillen etwas plante. Er hielt den Brief, den Herr von Brendeln Dir geschrieben, für einen Schimpf der Familie. Ich weiß jetzt, daß er zu ihm gegangen ist und ihn aufgefordert hat, Dir sein Wort zu halten.“

„O, er konnte glauben –?“

„Herr von Brendeln hat ihm eine schnöde Antwort gegeben – eine Forderung war unvermeidlich. Von einer Aussöhnung konnte nicht die Rede sein. Heute früh haben sie im Stadtwalde mehrere Kugeln gewechselt. Herr von Brendeln ist unbedeutend am Arm verletzt; mein Walter aber …“

Die Stimme versagte ihm.

„Und ich trage die Schuld!“ rief Helene, vor ihm niedersinkend. „Ach! Du mußt mich hassen!“

Onkel Benjamin hob sie auf. „Die Ursache bist Du, Kind,“ entgegnete er, „ja, ja! Aber Deine Schuld will ich’s nicht nennen, daß das geschehen ist. Was kannst Du dafür, daß er Dich liebt?“

„Er liebt mich?!“ schrie Helene auf. „Walter liebt mich? Onkel – dieses Wort –“

„Der Kummer hat mir’s herausgepreßt,“ sagte er. „Magst Du’s doch auch wissen, da nun Alles zu Ende ist. Schon damals als Student – warum ging er fort? Nur weil er Dich dem Herrn Robert Berghen lassen mußte. Als er wiederkam, sollten wir glauben, daß davon nichts hängen geblieben sei. Wer ihn aber so gut kannte, wie sein Vater, der durchschaute bald das Komödienspiel. Vorsichtig wollte er erst prüfen, ob für ihn Hoffnung sei. Nun, mit dem Todten hätt’ er es wohl noch aufgenommen, aber da sah er, daß er zu spät gekommen, daß dieser Herr von Brendeln Dein Herz schon gewonnen hatte.“

„Er hat es nie besessen,“ fiel Helene ein, „glaube mir!“

„Dann ist mein armer Junge um so mehr zu bedauern,“ klagte der Onkel, „da er für ein rechtes Nichts sein Leben auf’s Spiel gesetzt hat. Wie Du das vor Dir rechtfertigen willst …“

Er schluckte den Rest des Vorwurfs nieder. Er war nun aber doch so gut wie ausgesprochen. „Meine Rechtfertigung wird Dir mein Verhalten noch unbegreiflicher erscheinen lassen,“ sagte Helene. „Welch unseliger Irrthum! Wie haben wir einander verkannt! Weil ich mich von ihm verschmäht glaubte –“

„Von Walter?“

Sie warf sich an die Brust des alten Onkels. „Nun darf’s nicht verschlossen bleiben,“ rief sie. „Du wenigstens sollst es wissen: vom ersten Augenblick an, wo ich Walter wiedersah, verstand ich mein Herz. Er – nur er –“

„Spiele nicht mit mir,“ bat er kopfschüttelnd. „Wie konntest Du für meinen Sohn herzlich empfinden, wenn Du einem Andern Deine Hand zusagtest? Aber dieser Andere hat Dich betrogen, und da ist Dir nun Walter gut genug –“

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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 49, S. 799–802
Fortsetzungsroman – Teil 10

[799] „Onkel! das ist eine unwürdige Beschuldigung,“ rief Helene, „Wie überzeuge ich Dich denn?“ Sie riß ihre Briefmappe vor, öffnete sie mit Hast, raffte die Blätter zusammen, die lose darin lagen, und reichte sie ihm zu. „Lies dies da!“ bat sie, „und Du wirst an meiner Aufrichtigkeit nicht zweifeln können. Es sind Geständnisse, die ich nur mir selbst zu machen meinte; nun mögen sie meine wahre Schuld offenbaren.“

Er sah verwundert bald auf sie, bald auf die beschriebenen Blättchen, die sie ihm in die Hand schob. „Es ist jetzt dazu keine Zeit, Kind,“ sagte er. „Wenn Du mir aber diese Schriftstücke lassen willst – es findet sich wohl die Gelegenheit sie durchzulesen. Mir flimmert jetzt Alles vor den Augen – ich könnte mich nicht einmal in den Zeilen zurechtfinden.“ Er steckte die Blättchen in die Brusttasche seines Rockes. „Die Aerzte haben [800] mich fortgeschickt,“ fuhr er fort, „sie untersuchen die Wunde. Da bin ich denn nach Hause gelaufen, um meine geschäftlichen Angelegenheiten nothdürftig zu ordnen, und dann will ich zu den grauen Schwestern, um mir eine Krankenpflegerin zu erbitten. Wann ich wieder den Platz an meinem Arbeitstisch einnehmen werde, weiß ich nicht. Mein armer, armer Junge!“

„Zu den grauen Schwestern geh nicht, Onkel Benjamin,“ bat das Mädchen. „Laß mich seine graue Schwester sein. Wir wollen einander am Krankenbette ablösen: ich thue dort den Tag über Dienst, Du in der Nacht … oder auch umgekehrt; ich fürchte die Nacht nicht.“

Das vergrämte Gesicht erheiterte sich ein wenig. „Du wolltest –? Ah! das ist freundlich, das ist gütig. Aber – ich weiß doch nicht, ob Walter …“

Sie senkte den Kopf. „Du meinst, Walter könnte mich gar nicht sehen wollen – lieber eine Fremde, die ihm ganz gleichgültig ist. Freilich – so lange ich hier bin, ist er nicht ein einzig Mal gekommen. So sehr bin ich ihm zuwider geworden.“

„Nicht doch, Lenchen, nicht doch,“ suchte er in seiner Gutmüthigkeit zu beruhigen. „Er wollte Dir nur ganz freie Hand lassen. Aber wie dem auch sei … weißt Du, ich will ihn fragen – wenn die Aerzte es erlauben, Lenchen; und ich schicke Dir dann ein paar Zeilchen zur Information.“

Sie drückte seine Hand. „Oder besser noch, ich komme gleich mit Dir, Onkel,“ sagte sie, „und warte draußen auf die Entscheidung. Wenn Du wüßtest, wie bedrückt mir das Herz ist –“

Davon wollte er aber nichts hören. Einer müsse doch auch des Geschäfts wegen zu Hause sein, damit die Kunden Auskunft erhalten könnten. Er wolle die Antwort schon möglichst beeilen.

So ließ er sie denn in großer Sorge zurück.

Doch wallte mitunter auch ein freudiges Gefühl in ihr auf.

Traurig genug war’s wohl, daß die Kugel ihn getroffen hatte; aber er lebte ja, und was er gethan hatte, hatte er für sie gethan, was er litt, litt er für sie. Sie betete recht inbrünstig zu Gott, daß er ihm das Leben erhalten wolle, und gelobte sich, ihm bis zum Tode treu anzuhängen, auch wenn sein stolzes Herz sie jetzt abwiese.

Onkel Benjamin schrieb nicht, aber er kam vor Abend noch einmal selbst. Walter’s Secundant habe ihn auf eine Stunde abgelöst. Er erzählte, daß die Kugel glücklich aufgefunden sei und der Zustand des Kranken nach Versicherung der Aerzte zur Zeit nicht ungünstig genannt werden könne. Das alte Gesicht schaute wieder etwas heiterer drein. „Und darf ich –?“ fragte Helene, doch recht zaghaft. Sie hatte sich auf ein Nein gefaßt gemacht, oder bildete sich wenigstens ein, darauf gefaßt zu sein. Um so dankbarer war sie für sein freundliches Kopfnicken. „Aber heute nicht,“ dämpfte er sogleich, „und die Nacht über bleibe ich bei ihm. Morgen früh kannst Du Dich melden.“

Am andern Morgen war Helene schon früh auf. Sie meinte, daß Onkel Benjamin dringend der Ruhe bedürfen werde; eigentlich war’s wohl ihre eigene Unruhe, die sie von Hause forttrieb. Die Wirthin Walter’s öffnete ihr. Sie solle nur leise anklopfen, sagte sie, der Kranke liege im zweiten Zimmer und werde nicht gestört. Grün war schon durch das Läuten aufmerksam geworden und kam auch ohne ihre Meldung heraus. Die Nacht sei gut gewesen, versicherte er. Nach Hause wollte er sich nun aber durchaus nicht schicken lassen; jedenfalls müsse er noch den Morgenbesuch des Arztes abwarten. Helene fügte sich, da Widerspruch doch vergeblich gewesen wäre. Grün nahm sie in das vordere Zimmer mit und bedeutete sie, sich ganz still zu verhalten. Er ließ sich nun wenigstens bewegen, sich auf’s Sopha zu legen und zu versuchen, ob er ein Stündchen schlafen könne.

Sobald Walter sich ein wenig räusperte, war er doch wieder auf. „Warte, ich will Dich anmelden,“ sagte er. Sie hörte, daß Walter nach ihr fragte. Gleich darauf winkte ihr der Alte durch die Thür.

Im Krankenzimmer brannte eine Lampe. Walter sah zum Erschrecken bleich aus; die Bettdecke war bis zum Halse hinaufgezogen. Er grüßte durch eine Bewegung des Kopfes und durch einen Blick der Augen, der sie eines herzlichen Willkommens schien versichern zu wollen. Sie trat mit leisen Schritten an sein Bett. „Walter –“ sagte sie. Die Stimme zitterte heftig, und sie brachte keinen Laut weiter heraus. Auch er schwieg einige Secunden lang. Dann sagte er: „Ich würde Dir die Hand reichen, Helene, wenn der Arzt mir nicht anbefohlen hätte, ganz still zu liegen. Aber nimm an, es sei geschehen.“

Sie bückte sich schnell und küßte seine Stirn und seinen Mund. „Rühre Dich nicht,“ bat sie.

Eine leichte Röthe überflog sein Gesicht; er drückte einen Moment die Augen zu.

„Meinetwegen leidest Du, Lieber,“ sprach sie weiter und legte die Hand auf seine Schulter.

„Davon rede nicht,“ antwortete er. „Ich that, was ich für meine Pflicht hielt. Andere mögen mich deshalb unvernünftig schelten.“

„Aber ich darf Dir doch danken?“ fragte sie. „Auch dafür, daß Du mich in Deiner Nähe dulden willst,“ fuhr sie fort. „Sprich jetzt nur gar nicht mehr, es könnte Dir schaden. Onkel Benjamin wird mich unterrichten, was ich zu thun habe, und dann soll der leiseste Augenwink genügen.“

So wurde sie ihm die gewissenhafteste Pflegerin. Auch als sich ein heftiges Wundfieber einstellte, ängstigten sie seine Phantasien nicht fort. Sie wich nicht von seinem Bette. Als sein Zustand sich dann besserte, wußte sie Grün zu bestimmen, sich sein Bett in’s Krankenzimmer stellen zu lassen, um sich Abends schlafen zu legen. Doch vergingen viele Wochen, bis die Wunde sich schloß und der Kranke ausgehen durfte.

Helene las ihm Stunden lang vor, oft aus gelehrten Büchern, die er zu seinen Studien brauchte, schrieb nach seinem Dictat, spielte geduldig mit ihm Schach – nicht nur geduldig, sondern auch aufmerksam, da sie wohl sah, daß er ungern allzu leichte Siege errang. Sie wurde mit der Zeit eine ganz tüchtige Spielerin, gewann sogar auch hin und her eine Partie. Sobald er gehen durfte, führte sie ihn im Zimmer auf und ab. Sie brachte allezeit gern das Gespräch auf ernste und schwierige Dinge, in denen sie ihn gut unterrichtet wußte. Sie hatte ihre Freude daran, ihm zu beweisen, daß sie mit gutem Verständniß gelesen oder von ihm gelernt habe.

Den Tag über wirthschaftete sie wie eine kleine Hausfrau. Sie kochte den Kaffee auf einer zierlichen Maschine, die der Onkel zum Gebrauch für Zwei angeschafft hatte; sie ordnete den Frühstückstisch und machte für denselben kleine Einkäufe. Sie theilte mit ihm das Mittagessen, das aus dem Speisehause herangetragen wurde. Da Walter gern Früchte aß, so war stets ihr erster Gang zu der Obsthändlerin an der Börse, die in dem Ruf stand, über eine ausgesucht schöne Waare zu verfügen. „Du verwöhnst mich,“ schalt er. „Wie soll mir’s dann später behagen?“

Eines Tages war er augenscheinlich in ganz eigen erregter Stimmung. Das Gewöhnlichste, was er vornahm oder was die Tagesordnung ergab, behandelte er mit einer gewissen Feierlichkeit. Es dauerte schon merklich lange, bis der Morgenkaffee ausgeschlürft war. Dann sollte beim Frühstück die angebrochene Flasche Wein durchaus ganz ausgetrunken werden, und das Glas, das die Neige enthielt, setzte er nicht an die Lippen, ohne vorher damit ihr Glas zu berühren und dabei einen guten Wunsch auszusprechen. Die Beschäftigungen, die sonst nach Bedürfniß des Tages gewechselt hatten, schienen nun sämmtlich gleichsam schnell repetirt werden zu müssen. Immer wieder versuchte er einen scherzhaften Ton anzuschlagen, um doch bald die ernsteste Seite seines Wesens vorzukehren. Gegen Abend, etwa eine Stunde vor der gewohnten Ablösung Helenens durch den Onkel, schien er unruhig zu werden, klappte das Buch zu, aus dem er vorgelesen hatte, und ging im Zimmer auf und ab, während sie mit ihrer Handarbeit am Fenster sitzen blieb. Wenn sie ihrem feinen Gehör trauen durfte, seufzte er ein paar Mal leise.

Endlich blieb er vor ihr stehen, kreuzte die Arme über der Brust und zog sie fest zusammen, als ob er sich selbst fesseln wollte. „Es muß doch gesagt sein, Helene,“ begann er, „so schwer es mir fällt. Ich bin gesund und gedenke in nächster Zeit meine gewohnte Thätigkeit wieder aufzunehmen. Laß Dir also herzlich danken für alle Deine Güte und treue Pflege. Du hast mir recht freundschaftlich wohlgethan. Nun aber ist’s meine Pflicht, selbst die Grenze zu ziehen. Dieser Tag muß der letzte Deines Pflege-Amts gewesen sein. Es ist mir recht betrübt zu Muth, als ob ich einen Abschied zu nehmen hätte.“

Helene hatte die Hände mit der Arbeit in den Schooß sinken lassen und sah mit ängstlichen Blicken zu ihm auf. Plötzlich rollten große Thränen über ihre Wangen – ungehindert, unaufhaltsam [802] aufhaltsam. Sie warf von sich, was sie in der Hand hielt, stand rasch auf und legte ihre Arme um seinen Hals. „Verlaß mich nicht, Walter,“ rief sie, „ich kann ja nicht leben ohne Dich.“

Dieses leidenschaftliche Geständniß mußte ihm wohl unerwartet kommen. Er erschrak sichtlich, griff über seine Schultern und suchte ihre Hände zu fassen und zu lösen. „Helene –! was ist das?“ sagte er mit unsicherem Tone. „Du –?“

Sie faltete die Hände über seinem Nacken und hinderte ihre Entfernung. „Eine Liebeserklärung –“ rief sie. „Ja, ja –! Nenn’s nur so. Sie wird mich in Deinen Augen ganz erniedrigen – sie wird mich vernichten. Aber sei’s! ich kann nicht anders. Ich löse meine Schuld gegen Dich ein. Wirf fort, was ich Dir biete – das ist Dein Recht. Aber wissen sollst Du heute, daß Du geliebt warst und geliebt bist – keiner, keiner, als Du!“

Sie drückte einen heißen Kuß auf den sprachlosen Mund, ließ rasch die Hände sinken und wandte sich schluchzend ab. „Nun ist’s geschehen,“ sagte sie, „nun mag alles zu Ende sein. Lebe wohl!“

Er streckte die Arme nach ihr aus und schien doch nicht den Muth zu haben, sie zu erfassen. „Helene,“ sagte er, „so ist es wahr, was mein Vater mir zum Trost …“

Sie hatte ihr Mäntelchen ergriffen und eilig um die Schultern gehängt, setzte den Hut auf, der einen Stapel Bücher krönte, und konnte doch mit den bebenden Fingern keine Schleife ziehen. „Ich gehe schon,“ flüsterte sie, „es dauert keine halbe Minute mehr. Du brauchst mir gar nichts zu antworten. Walter – ich weiß, daß ein Mann darauf keine Antwort hat. Nur glauben sollst Du mir, glauben! Und wenn wir einander wiedersehen – wir müssen doch als Verwandte und weil ich in Deines Vaters Hause bin – handle edel! Erinnere mich an diese entsetzliche Stunde nicht. Spare mir das Erröthen.“

Sie eilte nach der Thür.

„Aber so höre mich doch, Du wunderliches Kind,“ bat er. „Du giebst mir das schwerste Räthsel auf, und ich soll’s lösen in solchem Moment der Verwirrung. Das ist unbillig. Wenn ein Gott Dir zu rechter Zeit die Zunge gelöst hätte … Was hast Du meinem Vater vertraut? Er hat mir ein versiegeltes Couvert übergeben und gesagt, was darin sei, habest Du geschrieben, bevor Du Brendeln’s Brief empfangen. Ich solle abwarten, bis Du mich heißen würdest, das Siegel zu brechen. Helene, was bedeutet das Alles? Gieb mir Gewißheit.“

„Brich das Siegel,“ rief sie. „Ich habe vor Dir kein Geheimniß mehr!“

Sie winkte mit der Hand zurück und verließ das Zimmer, die Thür hinter sich zuziehend.

Kaum aber hatte sie zu Hause Onkel Benjamin, der sich eben zum Fortgehen rüstete, durch ihr verstörtes Aussehen gehörig in Schrecken gejagt, als zu seiner größten Verwunderung Walter mit eiligen Schritten eintrat, ohne ihm auch nur einen guten Abend zu bieten, auf Helene zuging, die sich in das Cabinet flüchten wollte, sie stürmisch umarmte und küßte. – „Aber Kinder –“ sagte er ganz verdutzt und wußte nichts weiter vorzubringen.

„Ja, Deine Kinder,“ rief Walter, das Mädchen zu ihm ziehend. „Helene ist nicht mehr die Braut in Trauer – sie ist meine Braut!“

Textdaten
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Autor: Ernst Wichert
Titel: Die Braut in Trauer
aus: Die Gartenlaube 1883, Heft 50, S. 814–817
Fortsetzungsroman – Teil 11 (Schluß)
[814]
12.

Walter und Helene Grün sind nun schon fünf Jahre verheirathet. Sie leben, wie sich wohl von selbst verstehen kann, sehr glücklich mit einander.

Er ist seit Kurzem zum Professor ernannt worden, vorläufig zwar nur zum außerordentlichen, aber es ist schon eine kleine feste Einnahme dabei. Man kann im Nothfall davon existiren.

Darauf ängstlich gewartet haben sie nicht. Papa Grün [815] sprach gleich nach der Verlobung mit seinem Sohne ein ernstes Wort und brachte diese Angelegenheit „ein für alle Mal“ in Ordnung. Er sagte ihm einfach: „So und so viel habe ich erspart. Die Hälfte davon gehört Dir als Erbe Deiner Mutter, also von Rechtswegen. Ueber die andere Hälfte kannst Du im Voraus verfügen, wenn’s nöthig werden sollte. Wenn nicht, um so besser – für Dich. Es wäre Thorheit, um ein paar tausend Thaler zu sparen, seinen ganzen Lebensplan zu ändern. Also zehre rubig von dem Deinigen, bis Dir die Wissenschaft auch eine milchende Kuh wird, und wenn Du es das meinige nennen willst, wird mich’s wohl auch nicht beschweren dürfen. Das Schulmeistern laß mir hübsch bleiben.“

Sie bewohnen nun in einer stillen Straße die obere Etage eines kleinen Hauses, zu dem auch ein Gärtchen gehört, und sind überzeugt, daß sie allerliebst eingerichtet sind, da in keinem Raume Bücher oder Kunstsachen fehlen. Sie haben einen reizenden Jungen, der nun drei Jahre alt ist. Zu ihrem Glücke fehlt ihnen nichts. Allenfalls noch ein kleines Mädchen. Aber das kann ja noch kommen.

Aus dieser langen Zeit ist sonst nichts zu berichten, und diese Nachschrift wäre überhaupt überflüssig gewesen, wenn sich nicht ganz kürzlich etwas ereignet hätte, das nicht unterschlagen werden darf.

Als nämlich Willy, wie seine Gewohnheit war, wenn er einen Wagen auf dem Steinpflaster heranrollen hörte, auf den Stuhl kletterte, um aus dem Fenster zu gucken, und Frau Helene, wie ebenfalls ihre Gewohnheit war, eiligst zulief, um sich zum zwanzigsten Mal die Ueberzeugung zu verschaffen, daß auch die Fensterhaken geschlossen seien, erkannte sie vor der Kutsche die beiden Braunen der Frau Consul Berghen.

In dieser oberen Stadtgegend sah man sie sonst nicht leicht, außer etwa spät Abends im Winter, wenn Gesellschaften zu besuchen waren. Was aber besonders merkwürdig war: der Wagen hielt vor der Thür des Hauses und der Diener half gleich darauf der Frau Consul beim Aussteigen.

Kein Zweifel weiter: der Frau Professor war ein Besuch zugedacht. Sie eilte vor Freude hinaus und die halbe Treppe hinab der alten Dame entgegen, die langsam und schwer athmend die Stufen aufwärts stieg.

„Gilt der Besuch wirklich mir?“ fragte Helene, ihr die Hände küssend. „O, das ist freundlich, das ist gütig. – Willy, Du bleibst oben, verstehst Du –? Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Die Treppen sind nicht bequem wie in Ihrem Hause. Junge, Du rührst Dich nicht von der Stelle! Auch nicht eine Stufe mehr. Willst Du fallen und Dir den Kopf zerschlagen? Da hätte Papa schön zu schelten. – Ach, er ist noch so klein und gehorcht schon gar nicht mehr, und wild ist er –!“ Sie haschte sein Röckchen. „Da hab’ ich ihn. Nun marsch hinauf, und an der Thür einen tiefen Diener für die Frau Consul gemacht. So – das war recht.“

„Ihr Söhnchen, liebe Helene –“ bemerkte die alte Dame, Willy die Hand bietend. „Mit der Mama hat der Kleine wenig Aehnlichkeit.“

„Ganz des Vaters Ebenbild,“ versicherte die Frau Professor „Nicht wahr, Willy, Du bist Papas Sohn?“

„Aber bei Mama ist’s am besten,“ meinte der Junge, sich an sie schmiegend.

Erst als die Frau Consul auf dem Sopha Platz genommen hatte, fiel es Helene auf, wie sehr sie in diesen Jahren gealtert war. Das dünne weiße Haar zog sich straff unter die Haube, nur knapp die Schläfen deckend, die Stirn zeigte sich tief gefurcht und die Unterlippe hing schlaff von den Mundwinkeln ab. Den Augen fehlte jeder Glanz, und das Kleid saß lose wie bei einer Reconvalescentin, die noch nicht Zeit gehabt hat, ihre Garderobe passend verändern zu lassen.

Es entging ihr nicht, daß Helene sie mit mitleidigen Blicken betrachtete. „Nicht wahr,“ sagte sie, den welken Mund zu einem Lächeln zwingend, „an mir haben die Jahre eine tiefe Spur gelassen? Und doch tragen sie die geringste Schuld. Aber Kummer schwerster Art.… Von dem nahe bevorstehenden traurigen Ereignisse haben Sie wohl schon sprechen gehört?“

„Mein Gott, nein,“ versicherte die junge Frau, „ich weiß von nichts.“

„Die ganze Stadt ist voll davon. Man muß wahrlich in so glücklicher Zurückgezogenheit leben wie Sie, um von diesen widerwärtigen Dingen unberührt zu bleiben. An der Börse ist die Parole ausgegeben: das Haus Berghen wird fallen! Und damit scheint sein Fall in der That unvermeidlich geworden zu sein.“

Helene begriff nicht sogleich, um was es sich handelte. „Das Haus Berghen –“ wiederholte sie halb fragend. „Das ist kaufmännisch gesprochen … ich verstehe wohl. Aber wie kann ein Gerücht –“

„Osterfeld hat sich überall Feinde gemacht. Sie lauern schon lange auf die Gelegenheit, sich für allerhand Unbill zu rächen, und glauben sie nun gefunden zu haben. Man ergreift begierig den nächsten Anlaß, das drückende Joch abzuwerfen, unter das Osterfeld alle die kleineren Concurrenten zu beugen gewußt hat. Er hielt sich in seinen kaufmännischen Speculationen für unfehlbar. Nun folgen Rückschläge, die er mit dem Aufgebote aller Kräfte kaum noch zu pariren im Stande ist. Der Credit des Hauses war schon auf’s Aeußerste angespannt. Da nun von allen Seiten Kündigungen erfolgen, scheint eine Insolvenzerklärung nicht mehr aufgehalten werden zu können. Sie bedeutet den vollständigen Ruin des Geschäfts.“

Die junge Frau war in großer Verlegenheit, was sie antworten sollte. Sie dachte an das Unglück ihres Vaters, meinte aber seiner am wenigsten erwähnen zu dürfen. Die Frau Consul flößte ihr das tiefste Mitleid ein. „Wie sehr bedaure ich Sie!“ sagte sie mit dem Ausdrucke wärmster Theilnahme, indem sie ihr leise die Hand drückte.

Die alte Dame tupfte mit dem Taschentuche über ihr Gesicht hin. „Zu Osterfeld’s Entschuldigung läßt sich nur sagen,“ fuhr sie fort, „daß er auf so gefahrvolle Wege gelenkt ist, weil er es für seine Pflicht hielt, Verluste auszugleichen, die nicht auf Rechnung seiner Geschäftsführung kommen. Der bodenlose Leichtsinn Gräwenstein’s …“

Diese offene Anklage schien sie selbst zu erschrecken. Sie war einen Moment unschlüssig, ob sie dieselbe fortsetzen sollte. „Er verdient keine Schonung,“ sagte sie dann. „Ich will nicht davon sprechen, daß er mich hintergangen hat, indem er mir’s rechtzeitig mitzutheilen unterließ, wie schwere Verbindlichkeiten auf ihm lasteten, und dann nur zum kleinsten Theile aufrichtig war. Gräwenstein ist ein Verschwender – ein Spieler. Immer wieder sind wir für ihn eingetreten – seiner Frau und Kinder wegen. Alle seine Versprechungen erweisen sich schon nach kürzester Zeit werthlos. Er wußte, daß wir ihn nicht fallen lassen konnten, ohne dem Renommée des Hauses zu schaden, und verpfändete unbedenklich sein Ehrenwort, um uns desto dreister die Wahl zu stellen, Schmach und Schande über die Familie zu bringen oder uns zu neuen Opfern bereit zu erklären.“

„Und Vera –?“ fragte Helene schüchtern.

„Sie ist unglaublich schwach gegen ihren Mann gewesen. Es gefiel ihr, in der Gesellschaft eine Rolle spielen zu können – und sie spielte sie mit viel Geschick. Um geschäftliche Angelegenheiten bekümmerte sie sich nicht. Es war nicht möglich, ihr klar zu machen, daß die Quelle, aus welcher ihr Mann schöpfte, auch einmal versiegen könnte. Erst als sie durch einen Zufall dahinter kam, daß er auch … doch das geht nur die Eheleute selbst an. Kürzlich hat sie sich von ihrem Manne getrennt, ist mit ihren Kindern zu mir gezogen. Der Scheidungsproceß ist im Gange. Wie bald wird sie die letzte Stütze verlieren!“

„Arme Frau!“

Die alte Dame schwieg eine Minute lang, traurig vor sich hinstarrend. „Ich weihe Sie in diese trostlosen Verhältnisse ein, liebe Helene,“ nahm sie dann wieder das Wort, „um Ihnen zu zeigen, daß es auch für Sie die höchste Zeit ist, sich zu sichern.“

„Für mich –?“

„Ich habe es vor fünf Jahren schon – bei Osterfeld durchgesetzt, daß Robert’s väterliches Erbtheil –“

„Aber, Frau Consul …“

„Lassen Sie mich ausreden. Ich habe dafür gesorgt, daß Robert’s väterliches Erbtheil aus dem Geschäftsvermögen ausgesondert und selbstständig verwaltet wurde. Ich habe auch später nicht zugelassen, daß diese Masse sich bei den gewagten Geschäften Osterfeld’s betheiligte, oder auch nur theilweise zur Deckung von Verlusten ihre Mittel hergab. Sie ist auch gegenwärtig noch intact. Das Capital nebst den angewachsenen Zinsen …“ Sie öffnete ein Täschchen und zog ein zusammengefaltetes [816] Papier hervor, das da bei anderen Papieren lag – „hier die specielle Nachweisung.“

Helene schob das Blatt zurück, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. „Es ist gewiß Alles in bester Ordnung,“ sagte sie; „aber was habe ich –?“

„Es ist Zeit, dieses Capital aus der Handlung zu nehmen, liebes Kind. Osterfeld kann ich unter jetzigen Umständen nicht mehr für einen zuverlässigen Verwalter halten. Und wenn auch … Sollte das Unglück uns treffen und die Falliterklärung unvermeidlich werden, so würden die Gläubiger auch auf diese Masse Beschlag legen, und man würde vielleicht meiner Versicherung keinen Glauben schenken, daß ich Ihre Abtretung nie angenommen habe.“

„Aber ich habe doch nach meiner Großjährigkeit –“

„Hier sind die Entsagungsurkunden. Ich habe sie für Robert’s Erbin aufbewahrt. Jetzt sind sie bei Ihnen besser aufgehoben; am besten werden sie von der Ausstellerin vernichtet, dann ist’s, als ob sie nie dagewesen. Nehmen Sie! Es wäre baare Thorheit, das Vermögen in unserem Gewahrsam zu gefährden.“

Helene wehrte ihre Hand ab. „Aber ich habe keinen Anspruch daran,“ sagte sie mit aller Entschiedenheit. „Was ich that, habe ich wohlüberlegt gethan, und es hat mich nicht einen Augenblick gereut. Fühlen Sie’s denn nicht, wie ich, daß ich als die Frau eines Anderen Robert’s Erbin nicht sein kann? Daß mein Mann … ich bitte, ich beschwöre Sie, Frau Consul – wenn Sie mir noch einen Rest mütterlicher Zuneigung bewahrt haben, stören Sie mein Glück – unser Glück nicht.“

Die alte Frau wiegte den Kopf. „Ich hoffte es im Gegentheil zu fördern,“ äußerte sie. „Glauben Sie mir: ich freue mich aufrichtig Ihres Glückes. Als wir uns trennten, konnte ich diesen Verlauf der Dinge nicht ahnen. Aber auch ohnedies hätte mein Mißmuth nicht lange Bestand gehabt. Ich sah ein, daß ich Unbilliges von Ihnen gefordert hatte, daß Jugend und Alter verschieden empfinden müßten – ich schämte mich der selbstsüchtigen Regungen meines Herzens. Wie oft habe ich Ihrer mit den wärmsten Wünschen für Ihr Wohlergehen gedacht! Wie oft bin ich schon auf dem Wege zu Ihnen gewesen! Nur die Besorgniß, daß mein Entgegenkommen unrichtig ausgelegt werden könnte, hat mich immer wieder zurückgehalten. Und selbst jetzt in dieser traurigen Stunde – wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, wie thut es meinem wunden Herzen wohl, bestätigt zu hören, daß Sie glücklich sind!“

Helene ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen; sie legte den Arm um ihre Schulter und lehnte den Kopf an ihre Brust. „Meine liebe, gute Mama!“ sagte sie.

Die Frau Consul streichelte ihre Wange. „Ich hatte mir vorgenommen,“ fuhr sie fort, „meines Sohnes Nachlaß bis an mein Lebensende für Sie zu verwalten und in meinem Testament Anordnung zu treffen, daß Ihnen dieses Vermögen ausgehändigt würde. Sie hätten dann gleichsam von mir empfangen, was Sie von Robert nicht meinten annehmen zu dürfen, und wären zugleich jedes Dankes entledigt gewesen. Die Verhältnisse nöthigen jetzt zu einer schnelleren Verfügung, aber die Sache bleibt dieselbe. Unterschätzen Sie nicht in jugendlichem Uebermuth den Werth eines namhaften Vermögens, liebe Helene. Sehen Sie da auf Ihren Sohn –“

„Sein Vater wird, so Gott will, für ihn sorgen, bis er sich selbst in der Welt forthelfen kann,“ rief die Professorin. Sie mochte fürchten, mit diesem stolzen Wort zu verletzen. „Wenn ich mich auch überreden ließe,“ setzte sie milde hinzu, „mein Mann, wie ich ihn kenne, würde nie einwilligen. Ich kenne im Voraus [817] seine Meinung so gut, daß er es mit Recht als eine Kränkung ansehen müßte, wenn ich ihn auch nur fragte.“

Frau Berghen stand auf. „Dann kann ich zu meinem tiefsten Bedauern nichts weiter für Sie thun,“ sagte sie. „Mag das Gericht seine Entscheidung treffen.“

„Aber wozu das?“ fragte Helene mit sanftem Vorwurf. „Die Mutter hat ihren Sohn beerbt, ist das nicht die natürlichste Lösung? Was konnte Robert denn hinterlassen, als was seine Eltern für ihn erworben hatten? Sagen Sie mir aufrichtig: wenn dieses Capital, das Ihre Großmuth mir bestimmt hatte, für die Handlung frei würde, wenn eine geschickte Hand, wie die Osterfeld’s, es klug verwendete – könnte das Haus Berghen auch dann unter keinen Umständen gehalten werden?“

Die alte Dame preßte die schmalen Lippen fest auf einander und schloß eine Secunde lang die Augen. „Und wenn ich nun antwortete: vielleicht –“ antwortete sie dann mit stockender Stimme, „was könnte das ändern?“

„Es muß hier allein entscheidend sein,“ rief Helene. „Ich flehe Sie an, theuerste Mama, bedenken Sie, was auf dem Spiel steht. Wie können wir Robert Berghen’s Andenken besser ehren, als indem wir thun, was er selbst unbedingt gethan hätte: sein ganzes Hab und Gut einwerfen, um das alte Handelshaus zu retten?“

„Wir – wir …“ sprach die Frau Consul leise und doch mit scharfer Betonung vor sich hin. „Sie wollen ja keinen Theil an diesem Besitz haben. Ich bin nicht weniger stolz als Sie.“

„Aber Sie sind unglücklich und in Noth – und es kann Ihnen und den Ihrigen geholfen werden, wenn Sie nachgeben.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Robert hat’s gewollt.“

Helene sah halb abgewandt zur Erde. Plötzlich war’s, als ob ihre Augen, die von unten her nach dem traurigen Gesicht der alten Mama ausspähten, heller zu leuchten anfingen. „Ich hab’s,“ sagte sie. „Theilen wir! Aber nicht so, daß Jeder die Hälfte nimmt – das wäre mir soviel als das Ganze und Ihnen nichts. Nein! Sie verfügen jetzt über Robert’s Nachlaß zu Gunsten des Hauses Berghen. Geht das Capital verloren, so hat damit jeder Streit von selbst ein Ende. Gelingt es ihm, wie zu hoffen, das alte Haus neu zu stützen und in seinem Ansehen zu erhalten, dann …“ Sie neigte sich ganz dicht zum Ohr der Frau Consul – „der Junge horcht auf, als ob er dem Papa von jedem Wort, das wir gesprochen, Rapport erstatten müßte“ – flüsterte sie. „Dann – will ich’s vor meinem Mann verantworten, wenn ich in Ihrem Testament bedacht werde. Schlagen Sie ein, ich bitte Sie.“

Das fahle Gesicht der alten Frau röthete sich merklich. Sie stützte sich auf den Schirm, den sie in der Hand hielt, wie auf einen Stock; der ganze Körper schwankte, die Lippen bewegten sich zitternd und die Brust athmete ängstlich schnell. „Schlag’ ein,“ bat Helene nochmals, jetzt aber zu dem alten vertraulichen Du zurückkehrend. „Sei wieder meine gute, liebe Mama –!“

Da fühlte sie ihre Hand ergriffen, ihren Hals umfaßt. Die alte Frau schluchzte an ihrer Brust wie ein Kind. „Sei es denn so,“ rief sie, „und Gott segne Dich und gebe Dir Freude an Deinen Kindern!“

Sie hob Willy auf und küßte ihn.

Der Junge ließ sich’s gefallen. Aber noch als die Professorin, die den Gast zur Treppe begleitet hatte, zurückkehrte, stand er da mit ganz verwunderten Augen. Das Leben hatte ihm zum ersten Mal ein Räthsel aufgegeben. „Aber warum hat die fremde Frau geweint und mich geküßt?“ wollte er durchaus wissen.