Textdaten
<<< >>>
Autor: Emil Zittel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Doctor Martin Luther
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44–46, S. 712–716, 734–737, 751–754
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[712]

Doctor Martin Luther.

Von Emil Zittel.

Wir stehen vor einem deutschen Mann der Weltgeschichte. Niemand wird behaupten, daß alle weltgeschichtlich hervorragenden Helden auch immer persönlich anziehende oder auch nur interessante Menschen gewesen sind. Bei Luther könnte man eher streiten, ob die geschichtliche Bedeutung oder die individuelle Persönlichkeit desselben uns mehr Interesse und Bewunderung abgewinnt. An dieser letzteren wird sich auch der wirklich gebildete Katholik voll und ganz erfreuen können und jeder Deutsche bekennen müssen, daß hier echt deutsche Art, echt deutscher Geist und deutsche Kraft, germanische Gemüthstiefe bei echt deutschem Witz und Humor in der That in einer so eigenthümlich nationalen Färbung uns entgegen tritt, daß unser Herz unwillkürlich für ihn gewonnen wird.

Und wahrlich, selten hat ein Mann dem deutschen Volke so aus der Seele geredet, wie Martin Luther, und ebenso selten hat es einer so wie er verstanden, in der knappen Sprache des einfachen Volkes die ernstesten und heiligsten Dinge mit derber Geradheit und Handgreiflichkeit und doch zugleich in so religiös würdiger und ergreifender Weise auszusprechen. Dabei standen ihm jederzeit eine solche Menge drastischer, aus dem einfachsten Leben gegriffener Bilder, so köstliche Sprüchwörter oder von ihm selbst geschaffene sprüchwortähnliche Schlagworte zu Gebote, daß seine Schriften uns darin noch heute eine wahre Fundgrube sein könnten. Luther’s erste Biographie waren Predigten, welche Matthesius zum Andenken seines entschlafenen Lehrers gehalten hat, und weil

[713]

Das Luther-Denkmal zu Eisleben.
Nach Professor Rudolf Siemering’s Entwurf.

[714] auch nachher die meisten Luther-Biographien von Predigern und Theologen als „christliche Erbauungsschriften“ geschrieben worden sind, kommt gerade diese volksthümlichste Seite Luther’s selten genügend zur Geltung, und doch beruhte gerade auf ihr offenbar ein sehr großer Theil seiner Popularität.

Wie seine besonderen Naturanlagen, so hat aber auch die Erziehung, Bildung und Lebensschule, welche Martin Luther bis zum Jahre 1817 zu Theil geworden ist, ihn wohl dazu vorbereitet, der Führer der religiösen Reform im deutschen Reiche zu werden. Aus diesem Grunde ist seine Jugendgeschichte von besonders hohem Interesse.

Wie allbekannt, stammt Luther aus einer einfachen Bauernfamilie des unfern von Eisenach gelegenen Dorfes Möhra. Sein Vater, ein tüchtiger und schließlich wohlhabender Bergmann, war zuerst nach Eisleben gezogen, wo ihm sein Sohn Martin geboren wurde, und bald darauf in eine günstigere Stellung in dem nahen Mansfeld eingetreten, wo er schließlich Pächter mehrerer Schmelzöfen ward und bis nach dem Augsburger Reichstag (1530) als angesehener Bürger lebte.

In Mansfeld ist Luther in der damals üblichen strengen „Zucht“ herangewachsen, durch welche die seine ganze Jugendzeit erfüllende Verschüchterung und Betagtheit erzeugt wurde, die ihn später dazu trieb, aus Furcht vor Gottes Gericht und der verführerischen Macht der Sünden der Welt in’s Kloster zu gehen. Auch von den Schulen jener Zeit sagte er einmal, sie seien „Kerker und Höllen, die Lehrer aber Tyrannen und Henker gewesen“.

Von dem Segen einer gewissenhaften und treuen Erziehung aber, wie sie ihm von Vater und Mutter zu Theil geworden, hat er später die schönen Worte geschrieben:

„Wenn ich in des Kaisers Schmuck umherginge, oder eine junge Frau im Schmuck der Königin von Frankreich, das wäre ein so köstlich Ding von der Welt, daß Jedermann das Maul aufsperrte. Aber in Wahrheit ist’s nichts gegen diesen geistlichen Schmuck eines Christen, wenn ein Weib dahergeht in Gehorsam gegen Gott, ihren Ehemann lieb und werth hat, die Kindlein wohl und fein zieht, und sich in ihrem Beruf nach Gottes Wort und Befehl richtet. Gegen solchen Schmuck sind Perlen, Sammt, goldene Stück wie ein alter, zerrissener, geflickter Bettlersmantel.“

Von der nöthigen Strenge hat er aber auch ein ernst-heiteres Wort geschrieben:

„Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, das Gott lohnen will, daß man, wo böse Kinder und Gesind im Hause sind, einen eichenen Butterwecken in die Hand nehme, und schmiere ihnen die Haut damit voll. Solches ist eine geistliche Salbe wider der Seele Krankheit, die da heißt Ungehorsam gegen Väter und Mutter.“

Im vierzehnten Lebensjahre kam Luther mit einem wohlhabenderen Mitschüler auf eine bessere Schule nach Magdeburg und ein Jahr darauf nach Eisenach, wo sich eine Patricierfrau, Ursula Cotta, seiner freundlich annahm.[1]

Mit dem Frühjahre 1501 siedelte der siebenzehnjährige Luther in die fromme und blühende Universitätsstadt Erfurt über, wo er zunächst in der Artistenfakultät diejenigen humanistischen Studien trieb, welche heutzutage in die Oberclassen der Gymnasien verlegt sind, oder als „Philosophien“ neben den akademischen Fachwissenschaften unserer Universitäten hergehen. Nach drei Semestern bestand er ruhmvoll das Examen eines „Baccalaureus“ und im Jahre 1505 mit größtem Lobe das unserem „philosophischen Doktorexamen“ entsprechende Magisterexamen. Nun kam die Zeit, ein Fachstudium zu wählen, und gern hätte sich Luther der Theologie zugewandt, mit der er sich schon viel beschäftigt hatte, aber sein Vater, „der die Pfaffen nicht leiden konnte, die wohlversorgt von fremden Gütern leben“, wollte, daß er die juristische Laufbahn betrete, und der Sohn gehorchte.

Aber ihn, der auch als Student noch täglich die Messe besuchte und in der Universitätsbibliothek eine vollständige Bibel gefunden, die er noch nie gesehen hatte und die ihn nun ganz gefangen nahm, beschäftigte bald die Frage seines Seelenheils so ausschließlich und so lebhaft, daß er endlich in eine überreizte Gemüthsverfassung gerieth. Bald meinte er in jedem Schrecken und Unfall, zumal im raschen Tode eines Freundes, die drohende Stimme Gottes erkennen zu müssen, und gelobte schließlich am 2. Juni 1505 bei einem furchtbaren Gewitterschlage im Walde bei Stotternheim der heiligen Anna, der angeblichen Mutter der Jungfrau Maria und Schutzpatronin der Bergleute, falls er diesmal noch durch ihre Fürbitte das Leben behalte, ein Mönch zu werden. Am 16. Juli lud er alle seine Freunde zu sich und überraschte sie nach froh und munter verlebten Stunden schließlich, wie er das nachher auch noch öfter gethan hat, mit einem fertigen unwandelbaren und sofort in’s Werk gesetzten Entschlusse. In der Frühe des folgenden Morgens am Alexius-Tage überschritt er, von den ihn vergeblich abmahnenden Freunden bis zum Thore begleitet, die Schwelle des in der Stadt gelegenen hochberühmten Augustinerklosters.

Aber auch hier fand er nicht, was er suchte: die heiß ersehnte Ruhe seiner Seele, weil er nicht Herr werden konnte „der Erregtheit des Herzens, das sich vor den Sünden entsetzt und unablässig trachtet nach der Fülle guter Werke der Gerechtigkeit und Seligkeit“. Auch mußte es ihn doch fort und fort betrüben, daß sein Vater über diesen Schritt sehr entrüstet war. „Er,“ so erzählt uns Luther selbst, „wollte darüber toll werden und es mir nicht gestatten. Er antwortete mir schriftlich und hieß mich Du – vorher hieß er mich Ihr, weil ich Magister war – und sagte mir alle Gunst ab.“

Schließlich hat sich der Vater freilich in das Unabänderliche geschickt und sogar, wenn auch ungern, am 2. Mai 1507 an dem Feste der Priesterweihe seines Sohnes persönlich Antheil genommen. Dieses sein trostloses Klosterleben schildert Luther später selbst in den bezeichnenden Worten:

„Wahr ist’s, ein frommer Mönch bin ich gewes’t, und hab’ meine Ordenspflicht so streng gehalten, daß ich sagen darf: Ist je ein Mönch in Himmel kommen durch Möncherei, so wollt’ ich auch hineingekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen bezeugen, die mich gekannt haben; denn ich hätte mich, wenn es länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“

Als er nun schließlich ernstlich krank wurde, trat dann, wenn auch nur sehr allmählich, jene von Grund aus entschiedene Veränderung in seiner religiösen Weltanschauung ein, die er in Anlehnung an die Redeweise seines liebsten Apostels, des Paulus, als den Uebergang von der „Werkheiligkeit“ zur „Glaubensgerechtigkeit“ bezeichnet hat. Je fester er sich dann in den folgenden Jahren in diese Grundidee der Paulinischen Schriften hineinarbeitete – „das ist,“ sagte er einmal, „die Saite, auf der ich immer leiere“ – um so ruhiger und freudiger wurde sein Gemüth. Um so eifriger aber warf er sich nun auch auf das Studium der ihm hierdurch persönlich so theuer gewordenen heiligen Schrift.

Im Spätjahre 1508 wurde der zum einfachen Mönche herabgestiegene Magister auf die Empfehlung des Generalvicars seines Ordens, Johannes von Staupitz, zunächst in das Wittenberger Augustinerkloster versetzt, um als „Magister der philosophischen Wissenschaften“ an der neugegründeten Universität Wittenberg Vorlesungen zu halten. Im folgenden Jahre schon wurde er zum „biblischen Baccalaureus“ und dann zum „Sententiarius“ promovirt, als welcher er nun das Recht hatte, auch dogmatische Vorlesungen zu halten. Aber schon im Spätjahre 1509 wurde er wieder als Professor nach Erfurt gerufen und 1511 in Ordensangelegenheiten sogar nach Rom geschickt. Dort steigerte sich seine Abwendung von dem äußerlichen Wesen der Werkheiligkeit um so mehr, als er nun auch „des Papstes Hinterseite ohne Majestät geschaut“ und erfahren hatte, wie die italienischen Priester die Messe in frivolster Weise abhielten, von dem bon Christian, dem „guten Christen“ wie von einem dummen Esel redeten und die „deutschen Bestien“ höchlichst verachteten. Nach seiner Rückkehr von Rom wurde er alsbald wieder nach Wittenberg berufen, wo er nun sein Lebenlang geblieben und schon im November 1512 fast wider seinen Willen Doctor der Theologie geworden ist. Wie er dieses Amt aufgefaßt hat, ist in den folgenden, aus dem Jahre 1531 stammenden Worten sehr charakteristisch ausgesprochen:

„Zu einem guten Werke gehört ein gewisser göttlicher Beruf und nicht eigene Anschläge. Ich, Doctor Martin, bin damals dazu berufen und gezwungen worden, daß ich mußte Doctor werden, ohne meinen Dank aus lauter Gehorsam. Da hab’ ich das Doctoramt müssen annehmen und meiner allerliebsten heiligen Schrift [715] schwören und geloben, sie treulich und lauter zu predigen und zu lehren. Ueber solchem Lehren ist mir das Papstthum in den Weg gefallen, und hat mir’s wollen wehren. Aber ich will in Gottes Namen ,auf Leuen und Ottern treten’ (Ps. 91, 13) und das soll bei meinem Leben anfangen und nach meinem Tode vollends ausgerichtet sein. Johannes Huß hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängniß in Böhmerland schrieb: ,Sie werden jetzt eine Gans braten – denn Huß heißt: eine Gans – aber über hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen sie leiden.’“

Wie zum Doctorat, so hat ihn von Staupitz auch zum Predigen gedrängt, zuerst in der Klosterkirche, bald aber, weil diese zu klein und baufällig war, in der Stadt- und in der Schloßkirche.

Luther blieb stets bei seinem Bibeltext und klagte, daß so viele Prediger anstatt dessen gleich „in’s Schlaraffenland“ fahren: „Einer predigte von Weltweisen, einer von Heiligen; der von blauen Enten und jener von Hühnermilch; wer kann’s aufzählen, das Ungeziefer!“

Im Jahre 1513 war Luther auch zum „Districtsvicar“, das heißt zum Visitator aller Augustinerklöster in Meißen und Thüringen erwählt und war somit im Jahr 1517 wenigstens in Kursachsen eine sehr hochangesehene Persönlichkeit.

Da kam nun im Spätjahr 1517 der Ablaßstreit, den wir in Nr. 43 der „Gartenlaube“ ausführlich geschildert haben, und sofort begann sich aus ganz Deutschland die bisher im Stillen grollende Reformpartei in frischem thatenlustigem Regen um Luther als wie um einen plötzlich erschienenen Führer zu schaaren; Luther selbst aber hat später die Art und Weise, wie er in diese Sache hineingeführt wurde, in folgenden bezeichnenden Worten geschildert:

„Ich war allein und aus Unvorsichtigkeit in diesen Handel gerathen, und weil ich nicht zurückweichen konnte, räumte ich dem Papst in vielen und hohen Artikeln nicht allein viel ein, sondern betete ihn auch mit rechtem Ernst williglich an. Denn wer war ich elender, verachteter Bruder, der dazumal mehr einer Leiche als einem Menschen ähnlich sah, daß ich mich sollte wider des Papstes Majestät setzen, vor welchem sich nicht allein die Könige auf Erden und der ganze Erdboden, sondern – daß ich so sage – auch Himmel und Hölle entsetzten, und nach dessen Winken sich Alle richten mußten. Was und auf welche Weise mein Herz jenes erste und zweite Jahr erlitten und ausgestanden hat, in welcherlei Demuth, die nicht falscher und erdichteter, sondern echter Art war, wollte schier sagen Verzweiflung, ich da schwebte: ach davon wissen die sichern Geister wenig, die nachher des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angegriffen haben! Ich aber, der ich allein in der Gefahr steckte, war nicht so fröhlich, getrost und der Sache gewiß, denn ich wußte Vieles nicht, was ich Gott lob jetzt weiß. Ich disputirte nur und war begierig mich belehren zu lassen. Und weil mich die todten und stummen Meister, das ist der Theologen und Juristen Bücher nicht genugsam berichten konnten, begehrte ich bei den Lebendigen Rath zu suchen und die Kirche Gottes selbst zu hören.“

Am 7. August 1518 erhielt Luther in Folge des bekannten Anschlagens seiner 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg am 31. October 1517 (vergl. Nr. 43 d. J.) eine Vorladung nach Rom, da aber Jedermann erkennen konnte, daß man dort am Ablaß nicht werde rütteln lassen, versagte der weise Kurfürst seinem Professor den zur Reise nöthigen Urlaub. Darauf erhielt umgehend der in Augsburg anwesende päpstliche Legat, Cardinal Cajetan, von Rom aus den Auftrag, Luther zu verhören, zum Wideruf aufzufordern und im Falle der Verweigerung desselben seine Auslieferung nach Rom, im Nothfall unter Androhung des Bannes, ja des Interdictes über Kursachsen, zu erzwingen.

Im Oktober trat Luther in Augsburg vor Cajetan; er trat zuerst zaghaft und voller Scheu und Ehrfurcht vor diesen Großen der Kirche, fand aber bald den festen Muth des Bekenners wieder.

Dem frivolen Italiener Urban von Serralonga, der ihm sagte: „Was ist’s denn um die sechs Buchstaben r e v o c o (ich widerrufe)?“ hatte er auf die Frage: „Glaubst Du, daß der Kurfürst um Deinetwillen sein Land wird verlieren wollen?“ geantwortet: „Das will ich selbst nicht.“ Auf die fernere Frage: „Wo willst Du dann aber bleiben?“ gab er die stolze Antwort: „Unter dem Himmel!“ –

Cajetan brach nach zwei Tagen alle weiteren Verhandlungen mit den harten Worten ab:

„Geh! Widerrufe, oder komm mir nie wieder vor die Augen.“

Als ihn dann Staupitz bat, noch einmal mit Luther zu reden, gab Cajetan die bereits in unserm Ablaß-Artikel erwähnte Antwort: „Ich verhandle nicht weiter mit dieser Bestie, die so tiefe Augen und wunderbare Speculationen im Kopfe hat.“

Darauf entfloh Luther, Böses ahnend, plötzlich nach Wittenberg, worauf Cajetan vom Kurfürsten dessen Auslieferung nach Rom, mindestens dessen Landesverweisung forderte. Luther remonstrirte in einer Gegenschrift beim Kurfürsten und bat denselben, er möge ihn nicht nach Rom schicken, wo ja „selbst der Papst seines Lebens nicht sicher“ sei.

„Sie haben Papier und Federn und Tinte in Rom und unzählige Notarien; es wird leicht sein, zu Papier zu bringen, worin und warum ich geirrt habe. Ich kann mit geringeren Unkosten abwesend durch Briefe belehrt, als anwesend durch Nachstellungen umgebracht werden.“

So lehrte und predigte nun Luther in Wittenberg ohne Anfechtung die neue Lehre in Gemeinschaft mit dem vor Kurzem dahin berufenen einundzwanzigjährigen Melanchthon, dem Professor Amsdorf und dem Privatdocenten Bugenhagen, der dann 1523 Stadtpfarrer geworden ist.

„Es sind mehr als anderthalbtausend Studenten hier,“ schrieb damals ein Zeitgenosse, „welche beinahe alle beständig, wo sie gehen und stehen, ihre Bibel mit sich führen. Alle gehen bewaffnet, aber es herrscht unter ihnen, als unter Brüdern, die in Christo vereinigt sind, große Eintracht.“

Aber Rom ruhte nicht. Im Januar 1519 wurde Luther von dem päpstlichen Kämmerer Miltitz nach Altenburg berufen. Was der stolze Cardinal mit Härte nicht erreicht, das sollte nun der feine sächsische, mit den deutschen Verhältnissen besser vertraute Edelmann durch höfische Liebenswürdigkeit erlangen.

„Ich dachte,“ sagte Miltitz lächelnd, „Du wärst ein alter, verlebter Theologus, der hinterm Ofen säße und so mit sich selbst disputirte.“ Aber jetzt getraue er sich nicht, ihn selbst mit einem Heer von 2500 Mann aus Deutschland nach Rom zu holen! Ihm versprach denn Luther auch wirklich, er wolle vom Ablaß fernerhin ganz schweigen, der römischen Kirche treu gehorchen und an den Papst ein demüthiges Schreiben richten!

Das Letztere hat er gethan. Aber wenn er in diesem Briefe bekennen mußte, seine Schriften seien „weiter verbreitet, als er es je gedacht, und hätten in den Gemüthern tiefere Wurzeln geschlagen, als daß sie könnten widerrufen werden“, er also nur Schweigen geloben könne: so war es natürlich, daß sich die übrige Welt hierdurch nicht ebenfalls zum Schweigen verurtheilt sah. Siegesbewußt trat jetzt von der römischen Seite her der hochgelehrte Ingolstädter Theologe Dr. Eck auf und veranlaßte die Disputation zu Leipzig, und zwar gegen den Willen der Leipziger Facultät, die sogar durch den Herzog Georg dazu gezwungen werden mußte, indem er ihr schrieb: „Es liege ihm daran, daß die armen Laien erführen, woran sie hinsichtlich des Ablasses wären. Seinen Theologen aber, die er schon öfter als müßige und unzeitige Leute habe rühmen hören, werde das ein Exercitium sein, damit sie das mit an den Tag brächten, darüber sie so viele gute prandia verzehrt hätten; sonst sei ihm ein einjähriges Kind lieber, das doch mit Brei und geringer Kost mit der Zeit zu Etwas gebracht werde, oder ein altes Weib, das doch noch um Lohn singen oder springen könne.“

Das half! Im Juni und Juli 1519 fand die Disputation unter Anwesenheit des Herzogs Georg in der Pleißenburg statt. Die Wittenberger waren mit 200 Studenten, die „Spieße und Helleparten trugen“, eingezogen, und auch die Bürgerwehr war unter’s Gewehr getreten. Der Bischof von Merseburg freilich hatte noch in letzter Stunde die Disputation verboten und während des Einzugs der Wittenberger das Verbot an den Kirchenthüren anschlagen lassen. Aber der das besorgt hatte, wurde von Rechtswegen eingesteckt. Drei Wochen wurde gestritten, und schließlich behauptete jede Partei, den Sieg davon getragen zu haben.

Die hohe Bedeutung der Leipziger Disputation liegt lediglich darin, daß sie Luther und seine Gesinnungsgenossen nöthigte, über die Consequenzen ihres Standpunktes zu größerer Klarheit zu kommen; und in der That hat auch schon wenig Wochen nachher Luther in seiner „Erklärung zur Leipziger Disputation“ jenes bedeutende und kühne Wort geschrieben, welches als die erste helle und rückhaltlose Proklamation des protestantischen Princips betrachtet werden kann: [716] „Ich glaube ein christlicher Theologe zu sein und im Reiche der Wahrheit zu leben, deshalb will ich frei sein und mich keiner Autorität, sei es des Kaisers oder der Universitäten oder des Papstes, gefangen geben, um zuversichtlich Alles zu verkündigen, was ich als Wahrheit erkenne, sei es von einem Katholiken oder Ketzer behauptet, sei es von einem Concil angenommen oder verworfen.“

Damals hat ein gewisser Mosellanus den Reformator beschrieben: ein Bild, das ziemlich anders aussieht, als das des späteren wohlbeleibten Mannes, der uns auch in dem Wormser Denkmal entgegentritt. „Martinus“ schreibt dieser Zeitgenosse, „ist von mittlerer Statur; sein Leib ist schmächtig, durch Sorgen und Studien abgemagert, sodaß man fast alle Knochen an ihm zählen kann, seine Stimme tönt hell und scharf. Seine Gelehrsamkeit und sein Verständniß der heiligen Schrift ist unvergleichlich, sodaß er fast alles an den Fingern herzählen kann. Im Leben und Umgang ist er höflich und freundlich. In Gesellschaft führt er ein fröhliches und angenehmes Gespräch, ist lebhaft und heiter, immer munter und fröhlichen Gesichts, sieht immer freundlich aus, wie hart ihm auch seine Widersacher drohen, sodaß man wohl gern glaubt, er gehe nicht ohne Gott mit solchen wichtigen Dingen um.“

[734] Nach jener Erklärung Luther’s, auf der Leipziger Disputation, die wir als „Proclamation des protestantischen Princips“ bezeichneten, wurde es dem Dr. Eck gar leicht, in Rom den Erlaß einer Bannbulle gegen den Ketzer zu erwirken, und triumphirend kehrte er mit ihr nach Deutschland zurück. Hier aber kam er damit freilich fast überall recht übel an: er wurde öffentlich verhöhnt, in Erfurt geradezu aus der Stadt gejagt und am Anschlag der Bulle vielfach mit Gewalt verhindert; Luther aber, der dieselbe zuerst in einer Flugschrift als eine Fälschung Eck’s bekämpfte, übergab sie, nachdem er eines Besseren belehrt war, am 10. December 1520 öffentlich und feierlich vor dem Elsterthor in Wittenberg dem Feuer, nachdem er zu gleicher Zeit eine „Appellation an ein allgemeines Concil“, das über den Papst zu richten habe, hatte ausgehen lassen, und schrieb gegen den Letzteren das schon durch seinen Titel den Bruch offen kennzeichnende Buch „Wider die Bullen des Antichrists“, oder wie man damals zu schreiben pflegte, „des Endechrists“.

Wenn damals der ehemalige Jurist mit der Bulle und den päpstlichen Decretalen auch das Corpus juris canonici dem Feuer überantwortete, so verkündete er damit in prophetischem Geiste die Emancipation des modernen Rechtsstaates von der Oberherrschaft des theologischen Dogmas und der kirchlichen Clerisei!

In diesem denkwürdigen Jahre 1520 hat Luther nicht weniger als zwanzig Flugschriften, zum Theil von erheblichem Umfang, ausgehen lassen, darunter seine drei berühmtesten Reformationsschriften: „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, dann „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und „Von der babylonischen Gefangenschaft“, von welchen die beiden letzteren zuerst in lateinischer Sprache, dann in deutscher Bearbeitung von Luther’s Hand erschienen. In der Vorrede zu dem Büchlein „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, welches Luther in naiv-treuherziger Weise dem hochgebildeten Papst Leo X. widmete, stehen die bedeutsamen Worte:

„Ich habe freilich die römische Curie angetastet, von der Du aber selbst bekennen mußt, daß sie nichts besser ist als je ein Sodoma, Gomorrha oder Babylon gewesen ist. Dadurch ist die römische Kirche, die vor Zeiten die allerheiligste war, nun eine Mördergrube geworden, ein Haupt und Reich aller Sünde, des Todes und der Verdammniß, das nicht schlimmer sein könnte, wenn gleich der Antichrist selbst käme. Indeß sitzest Du, heiliger Vater Leo, wie ein Schaf unter den Wölfen (Matth. 10, 16) und gleichwie Daniel unter den Leuen (Dan. 6, 16 ff.) und mit Ezechiel unter den Scorpionen (Ezech. 2, 6). Was vermagst Du Einziger, wenn Dir schon drei oder vier gelehrte und fromme Cardinäle zufielen, unter solchem Haufen? Ihr müßtet eher durch Gift untergehen, ehe Ihr helfen könntet. Die Krankheit spottet der Arznei, Pferd und Wagen geben nichts auf den Fuhrmann.

Das ist die Ursach, warum es mir allzeit ist leid gewesen, Du frommer Leo, daß Du ein Papst geworden bist in dieser Zeit, der Du wohl würdig wärest, in besseren Zeiten Papst zu sein. Der römische Stuhl ist Deiner und Deines Gleichen nicht werth, sondern der böse Geist sollte Papst sein, der auch gewißlich mehr als Du in dem neuen Babylon regiert.

So habe ich gehofft, bei Dir Gnade und Dank zu verdienen und für Dein Bestes zu handeln, wenn ich solchen Deinen Kerker, ja Deine Hölle nur frisch und scharf angriffe.

Also komm ich nun, heiliger Vater Leo, um Dich, zu Deinen Füßen liegend zu bitten, Deinen Schmeichlern einen Zaum anzulegen. Daß ich aber sollt’ widerrufen meine Lehre, da wird nichts daraus; soll’s auch Niemand fordern, er wolle denn noch größere Wirren anfachen. Dazu kann ich auch nicht Regeln oder Maße für die Auslegung der Schrift dulden, weil das Wort Gottes, das alle Freiheit lehrt, nicht soll noch darf gefangen sein. Wo mir diese zwei Stück bleiben, so will ich, was mir sonst sollt’ aufgelegt werden, willig thun und leiden.“

Unterdessen war der alte Kaiser Max, der im Anfange des Streites gemeint hatte, diesen Mönch müsse man aufheben, man könne ihn vielleicht wohl gegen den Papst brauchen, im Januar 1519 gestorben. Man hatte an die Wahl Friedrich’s des Weisen gedacht, der aber bei seiner kleinen Hausmacht nicht Lust hatte, ein Spielball der übrigen Fürsten zu werden. Um so weniger wollten Papst und Fürsten es vor der Wahl mit ihm verderben und ließen deshalb die Wittenberger einstweilen unangefochten. Aber als nun gegen Ende des Jahres 1520 der jugendliche Karl V. als deutscher Kaiser erwählt worden war, wollte derselbe denn auch sofort daran gehen, die ungeordneten kirchlichen Zustände in Deutschland, insbesondere in Sachsen, zu beseitigen und mit vielen anderen kirchlichen wie politischen Angelegenheiten auf einem Reichstage, den er auf das Frühjahr 1521 nach Worms ausschrieb, von sich aus so gut als möglich ordnen. Der Wormser Reichstag, insbesondere der Festzug des gebannten Luther’s von Wittenberg nach Worms und sein Verhalten daselbst ist das allbekannteste und auch in der That bedeutsamste Stück seines Lebens. Denn wenn er hier gezagt und nachgegeben hätte, so wäre sein Name gar bald von den Wogen der Zeit verschlungen worden und die Reformbewegung vielleicht gänzlich in’s Stocken gerathen oder doch jedenfalls auf andere, für uns völlig unberechenbare Wege geführt worden. Hier in Worms aber bewährte sich Luther durch seinen ebenso festen und trotzigen, als bescheidenen Heldenmuth als ein echter Führer des Volkes. Damals schrieb er dem Freunde Spalatin: „Der lebt und herrscht noch, der die drei Männer im Feuerofen des Königs von Babel erhalten hat. Will er mein Haupt nicht erhalten, so ist wenig daran gelegen,“ und fügte dann das Wort hinzu, daß er hingehen werde, „wenn auch so viel Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern“ – ein Wort, das in dem später gedichteten Liede „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ seinen Nachklang gefunden hat.

Und treu hat er es auch durchgeführt, als der heldenhafte Zeuge des protestantischen Grundgedankens von der Nothwendigkeit einer persönlichen, selbsterfahrenen, innerlichen Geistes- und Herzensfrömmigkeit, eines individuellen und subjectiven Verständnisses der überlieferten Religion, das sich, eben weil es ein [735] persönliches ist, auch eine freie, historische Prüfung der Ueberlieferung jederzeit vorbehält[2] und, auf eine lebendige Ueberzeugung gestützt, jedem äußeren Autoritätszwang gegenüber immer wieder die Antwort geben muß, welche damals Luther dem Kaiser sammt dem um ihn versammelten Reichstag und damit auch dem Papst und allen Concilien in unbeugsamem Muthe ein für alle Mal gegeben hat: „Ich kann nicht anders!“[3]

Karl V. freilich wußte damals in stolzer Vornehmheit über den unscheinbaren deutschen Mönch nichts Besseres zu sagen, als „der hätte mich nicht zum Ketzer gemacht!“ Wenn er es aber auch später bereut haben mag, ihn damals nicht dem Henker übergeben zu haben, so gab er ihm doch jetzt, einem ritterlichen Anstandsgefühle folgend, noch freies Geleite zur Heimkehr, schickte ihm aber sofort einen in den herbsten Ausdrücken abgefaßten und zudem fälschlich am 24. Mai auf den 8. Mai zurückdatirten Achtbrief auf dem Fuße nach.

So war denn Luther jetzt von der geistlichen und weltlichen Obrigkeit aller menschlichen und christlichen Gemeinschaft unwürdig erklärt; ihn todt zu schlagen war kein Verbrechen mehr, sondern eher ein Verdienst vor Gott, das sich nebst einigen römischen Goldgülden wohl mancher zu verdienen getraut hätte, wenn nicht Friedrich der Weise ihn am 4. Mai hätte aus der Welt verschwinden und heimlich auf die Wartburg bringen lassen.

Vom 4. Mai 1521 bis 1. März 1522 durchlebte Luther als „Junker Georg“ auf der Wartburg äußerlich gar stille und doch geistig überaus bewegte und durch unermüdliche literarische Thätigkeit höchst arbeitsreiche Tage.

Hier begann er sein wichtigstes Werk: die deutsche Bibelübersetzung, welche er im Laufe der folgenden dreizehn Jahre mit Hülfe vieler gelehrter Freunde vervollkommnet und zu Ende geführt hat. Auch dazu, wie zu seinen anderen literarischen Arbeiten, namentlich den sogenannten Postillen, war er von Anderen, besonders von seinem Erfurter Freund Lange, der bereits selbst das Mätthäus-Evangelium im Sommer 1521 in deutscher Sprache herausgegeben hatte, gedrängt worden. Er begann naturgemäß mit dem Wichtigsten, dem Neuen Testament, das er auch auf der Wartburg vorläufig zu Ende brachte. Er benutzte dazu die neueste kritische Textausgabe des Erasmus und eine oder mehrere der bereits zahlreich vorhandenen deutschen Uebersetzungen. Aber sein Meisterwerk überragte und verdrängte diese alle, nicht blos durch das zunehmende persönliche Ansehen des Mannes, sondern auch durch die ungemein geniale Auffassung der biblischen Autoren, die seltene Kunst und Kraft der Sprache, die Knappheit und Treue des Ausdrucks und durch das gewissenhafteste Zurückgehen auf den griechischen Urtext. Jene früheren Uebersetzungen waren nämlich alle lediglich aus der lateinischen Vulgata geflossen.

Was neben dieser für die Geschichte der deutschen Literatur geradezu grundlegenden Bibelübersetzung die übrigen deutschen Schriften Luther’s betrifft, so lassen diese die bei der Bibelübersetzung überall erkennbare große Sorgfalt des Stils und eine kunstvolle Anlage und Ausführung mehr oder weniger vermissen. Luther arbeitete – abgesehen von jener Uebersetzung und etwa einigen Liedern – eigentlich nie als Schriftsteller in unserem Sinne. Ihn erfüllte bei der Abfassung seiner Zeit- und Streitschriften – denn das waren sie ja fast alle – die Sache, um die es sich jedes Mal handelte, so übermächtig, daß er in großer Erregtheit seine Gedanken niederschrieb, ohne lange zu disponiren, umzugestalten und an der Form zu feilen; es scheint sogar, daß er von vielen seiner Schriften nicht einmal eine ordentliche Correctur besorgte, sodaß manche Stellen in vollem Dunkel schweben.

Das ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß er selbst seinen meisten Schriften keinen bleibenden literarischen Werth zuschrieb und überhaupt der Meinung war, „viele Bücher machen nicht gelehrt, viel Lesen auch nicht, sondern gute Dinge, und diese oft lesen, so wenig ihrer auch sind, das macht gelehrt und fromm dazu. Aller Lehrer Schriften sollten nur eine Zeit lang gelesen werden, um dadurch in die heilige Schrift zu kommen“. Sein geschriebenes Wort sollte lediglich dem Augenblicke dienen und nicht im Sinne der Humanisten ein bleibendes, zierliches Denkmal seiner künstlerischen und gelehrten Bildung, seines Geschmackes und seines Wissens sein.

Deshalb ist es ihm zu glauben, daß er es ungern sah, daß man 1539 auf eine Gesammtausgabe seiner Schriften hinarbeitete. Schließlich hat er es freilich eingesehen, daß er das zu verhindern kein Recht habe, er hat sogar eine Vorrede dazu geschrieben, sich aber um das Weitere offenbar nicht gekümmert. Aus dieser Vorrede, voll des köstlichsten Humors und der feinsten Ironie, mag hier eine überaus charakteristische Stelle folgen:

„Da ich’s nun nicht wehren kann und man meine Bücher, mir zu geringer Ehre! sammeln will, tröste ich mich deß, daß mit der Zeit meine Bücher doch werden im Staube vergessen sein – sonderlich, wo ich durch Gottes Gnade etwas Gutes geschrieben habe! ‚Non ero melior patribus meis‘ – ich werde nicht besser sein, als meine Väter (1 Kön. 19, 4). Das andere wird wohl noch am längsten bleiben! Es ist gute Hoffnung, sonderlich weil es hat angefangen zu schneien und zu regnen mit Büchern und Meistern, von denen schon so viele vergessen daliegen und verwesen, die freilich gehofft, sie würden ewiglich aus dem Markte feil sein und die Kirche meistern.“

Vom Jahre 1520 an ist Luther noch fünfundzwanzig Jahre an der Spitze der deutschen Reformbewegung gestanden. Aber wenn dieselbe bis dahin ganz und gar mit seiner persönlichen Geschichte zusammenfiel, so wird sie doch nun mehr und mehr zu einer tiefgreifenden Bewegung des ganzen deutschen Volkes. Am Fuße der Wartburg war gleichsam der stürmische, Alles mit sich reißende Bergstrom, der von den Schloßthüren in Wittenberg ausgegangen war und Aller Augen auf sich gezogen und Hunderte und Tausende mit sich gerissen hatte, plötzlich unter der Erde verschwunden. Aber bald sah man rechts und links an allen Orten neue Quellen und Bäche desselben Wassers entspringen und weiter stürmen und selbst in dem von Luther befreiten Wittenberg so mächtig überschäumen, daß er eiligst wiederkehren mußte, um den verderblichen Uebereifer mit allem Ansehen seiner Person und aller Kraft und Besonnenheit seines Geistes wieder einzudämmen.

Die Geschichte dieser fünfundzwanzig Jahre ist deshalb nicht mehr in der einfachen Form der Lebensbeschreibung des einen Reformators darzustellen. Hier aber, wo es sich nicht um eine Darstellung der Reformation selbst, sondern nur um ein Charakterbild des Reformators zu seinem Jubelfeste handelt, können wir uns von nun an um so kürzer fassen.

Bis zum Tag von Worms hatte sich die ganze Reformbewegung so ausschließlich an die Person Luther’s geheftet, daß Aller Augen und Ohren nur auf ihn gerichtet waren. Sein Streit mit Rom war gleichsam ein Schauspiel, an dem man mit tiefinnerlicher Bewegung, aber doch eigentlich nur als eifriger Zuschauer Antheil nahm. Jetzt aber war Luther mit einem Male von der Bühne abgetreten: da mußte ein Jeder mehr an sich, an seine Stellung zur Sache selbst denken und es immer mißlicher empfinden, daß man zwar evangelisch dachte und glaubte, aber seinen Glauben noch ganz in den altgewohnten römischen Formen äußerte. Dieser Widerspruch konnte auf die Dauer unmögljch bestehen. So machten denn in Wittenberg Luther’s Klosterbrüder den Anfang einer praktischen Reform, indem sie zunächst das Klostergelübde nicht nur theoretisch für hinfällig erklärten, sondern auch zum größeren Theil (dreizehn Brüder) in das bürgerliche Leben zurücktraten. Die Zurückgebliebenen aber gingen an die Reform des Gottesdienstes, indem sie den Meßgottesdienst einstellten, worauf die Studenten sogar nicht ohne die Theilnahme einzelner Lehrer auch in den anderen Kirchen die Abhaltung der Messe mit Gewalt verhinderten; Andere aber räumten tumultuarisch die Heiligenbilder aus den Kirchen, und mit dem Neujahr 1522 führte Dr. Karlstadt unter dem Zuströmen von Tausenden an die Stelle der lateinischen Messe erstmals das deutsche Abendmahl ein, legte dem Rath und der Universität eine evangelische Gemeinde-Ordnung vor und verlobte sich mit einer ehrbaren Jungfrau. Diese Wittenberger Vorgänge wiederholten sich aber gar bald auch an anderen Orten.

Um so eifriger aber regten sich nun auch die Gegner dieser

[736]

1. Ansicht der Stadt von der Südseite. 2. Das Luther-Denkmal auf dem Marktplatz. 3. Monument Friedrich’s des Weisen in der Schloßkirche. 4. Schloß (jetzt Citadelle) und Schloßkirche. 5. Das Augustinerkloster, Luther’s Wohnung. 6. Der Marktplatz mit Rathhaus, Luther- und Melanchthon-Denkmalen und der Stadtkirche. 7. Luther’s Wohnstube im Augustinerkloster. 8. Luther’s Sanduhr für die Kanzel und sein Trinkkrug. 9. Die Luther-Eiche, die Stelle vor dem Elsterthor bezeichnend, wo die Verbrennung der Bannbulle geschah.

Neuerungen. Ein großer Theil der Bevölkerung hatte sich bisher wenig oder gar nicht um den „theologischen Streit“ bekümmert. Jetzt aber nahm man ihnen ihren alten Gottesdienst, ihre Heiligen und Bilder mit Gewalt, störte ihre alte, liebe Gewohnheit und erklärte dem „Glauben ihrer Väter“, dem Glauben der „katholischen Christenheit der ganzen Welt“ den Krieg! So mußte eine ernste Opposition erwachen: jedes Kloster, jede Facultät, jedes Collegium in der Gemeinde zerfiel in zwei Heerlager. Jeder wurde gezwungen, Partei zu nehmen. Viele innerlich Gleichgültige schürten doch schadenfroh die Zwietracht, und von außen her stürmten die Regierungen auf den Kurfürsten ein, daß er solche Neuerungen nicht dulde, und das um so heftiger, als jetzt [737] auch die überspannten und aufrührerischen Zwickauer Propheten auftraten und Viele von denen, die einer ruhigen Reform von oben her geneigt gewesen wären, völlig scheu machten. Mehrere Fürsten riefen ihre Söhne und Verwandten von der Universität Wittenberg zurück, Herzog Georg von Sachsen machte seinem kurfürstlichen Vetter die heftigsten Vorwürfe, und selbst das Reichsregiment führte eine drohende Sprache gegen Friedrich den Weisen, der, wiewohl er sich bisher allezeit treu und wohlwollend, aber auch vorsichtig und klug erwiesen hatte, doch auch verstimmt war über die tumultuarischen Scenen und die wachsenden Schwierigkeiten seiner Lage.

[751] Luther war schon im November 1521 einmal als Edelmann im Wappenrocke und dichtem Vollbart in Wittenberg gewesen, und eilte jetzt im März 1522, von Melanchthon bestürmt, trotz Acht und Bann den Freunden zu Hülfe. Damals schrieb er noch von der Wartburg aus dem Kurfürsten, der ihm in ehrenhaftester Weise allen „möglichen“ Schutz zusagte, das kindlich-stolze Glaubenswort:

„Ich komme in einem gar viel höheren Schutz und habe nicht im Sinn, von Euren Kurfürstlichen Gnaden Schutz zu begehren. Ja, ich halte, ich wollte E. K. F. G. mehr schützen, als sie mich schützen können.“

Luther, dessen Seele jetzt ganz erfüllt war von dem hohen Geist und den idealen Wahrheiten des Neuen Testaments, dessen Uebersetzung er eben vollendet hatte, wagte auch diesen Kampf im [752] festen Glauben an die unüberwindliche Siegeskraft des Wortes der göttlichen Wahrheit und bestieg in Wittenberg sofort unter dem Zuströmen alles Volkes die Kanzel und hielt acht Tage hinter einander vor halb Wittenberg jene gewaltigen Zeitpredigten, die wir noch besitzen und die zu den glänzendsten Zeugnissen seines Geistes gehören. Bald war die Versöhnung, der Friede hergestellt, und nur Karlstadt, der sich persönlich tief verletzt fühlte, zog bald darauf hinweg, um Luther später durch bittere Händel zu kränken.

In einer jener Reden hat Luther seinen Glauben an die Macht des Wortes der Wahrheit in den herrlichen Worten ausgesprochen:

„Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Papst, dem Ablaß und allen Papisten entgegengestanden: aber mit keiner Gewalt, mit keinem Frevel, mit keinen Stürmen; sondern ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich gar nichts dazu gethan. Dieses Wort, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philippo (Melanchthon) und Amsdorf getrunken habe, oder bin guter Dinge gewest, hat so viel zuwege gebracht, daß das Papstthum so schwach und unmächtig geworden ist, daß ihm noch nie ein Fürst oder Kaiser so viel hat abbrechen können. Ich hab’s nicht gethan, das Wort, von mir gepredigt oder geschrieben, hat allein das Alles ausgerichtet. Was meint Ihr wohl, daß der Teufel denken wird, wenn man solch Ding will mit Rumor ausrichten? Er sitzt hinter der Hölle und denkt: das ist ein Spiel für mich, an dem ich meine Freude habe, mir wird ein Theil aus dieser Beute wohl zufallen! Summa summarum: Predigen will ich’s, schreiben will ich’s, aber dringen mit Gewalt will ich Niemand; denn der Glaube will willig und ungenöthigt sein und ich soll Niemand mit den Haaren davon- oder dazuziehen und kann keinen gen Himmel treiben oder mit Knitteln den Himmel zuschlagen.“

Das Luther-Denkmal in Worms: Luther-Kopf von Rietschel.
Nach einer Photographie im Verlage von Hermann Krone in Dresden.

Luther stellte nun freilich auch einige Neuerungen wieder ab, aber im Ganzen blieb doch das Meiste davon bestehen und breitete sich immer weiter in den deutschen Landen aus. So z. B. wurden überall die Klöster immer leerer, und zwei Jahre nach Luther’s Rückkehr war neben ihm nur noch der Prior im Wittenberger Augustinerkloster übrig geblieben, und als auch dieser, der zwecklosen Verwaltung des Klostergutes müde, davonging und Luther nun dem Kurfürsten die Schlüssel des Klosters überbrachte, überließ ihm Friedrich der Weise das Kloster als Wohnung, und Luther führte dann im Sommer 1525, nachdem er schon 1524 sein Ordenskleid abgelegt hatte, Katharina von Bora als seine Gattin in die ehemaligen Klosterräume und gestaltete sie zum ersten deutschen Familienpfarrhaus um.

Schon von der Wartburg aus hatte Luther über den Verwirklichungseifer der Wittenberger geschrieben: „Guter Gott, die werden auch noch den Mönchen Eheweiber geben; doch mir werden sie keine Frau aufdrängen.“ Aber bald drängte er selbst Viele zum Heirathen und nur von sich meinte er, wer den Ketzertod jeden Augenblick zu erwarten habe, solle nicht freien. Doch schrieb er im Jahre 1525, wenn der Kurfürst wolle, daß er auch in dieser Sache „zum Exempel vorhertrabe“, so wolle er auch freien, da er doch im Sinne habe, im Ehestand zu sterben, zum Zeugniß, daß er den von Gott gefordert erachte, wenn es auch nur eine Josephs-Ehe (Matth. 1, 25) sei, die etwa auf dem Todbette geschlossen würde.

Aber als Luther im Juni 1525 damit umging – so erzählt ein Zeitgenosse – die gewesene Klosterjungfrau Katharina von Boren (sie war aus einer verarmten adeligen Familie) für einen Pfarrer Dr. Glatz zu freien, kam dieselbe zu Amsdorf und bat ihn, er möge doch Luther von diesem Vorhaben abbringen. Wenn er (Amsdorf) oder Luther um sie gefreit hätten, hätte sie sich nicht geweigert, aber den Dr. Glatz könne sie nicht nehmen.

Luther sagte später: „Damals hatte ich meine Käthe nit lieb, denn ich hatte sie im Verdacht, als wäre sie stolz und hoffärtig,“ aber als er jetzt diese Aeußerung von Amsdorf erfuhr und ihm hinterbracht wurde, daß einer der juristischen Professoren gesagt habe: „Wenn dieser Mönch ein Weib nimmt, so wird alle Welt und der Teufel selber lachen und er wird sein ganzes bisheriges Werk zu nichte machen,“ so entschloß er sich plötzlich, „der Welt zu Trutz und seinem Vater zu Willen“ Katharina bei ihrem Wort zu nehmen. Er hat am 13. Juni um sie geworben, und als Katharina, die zuerst nicht wußte, ob es Ernst oder Spaß sei, ihm willig ihre Hand zusagte, sorgte Luther, daß sie ihm schon Tags darauf von Bugenhagen angetraut wurde. Vierzehn Tage später wurde dann nachträglich das feierliche Hochzeitsfest gehalten, bei dem freilich sogar ein Melanchthon fehlte, weil auch er diesen Schritt für höchst bedenklich hielt. Luther’s „Käthe“, die er wohl auch seine Domina oder auch „den Herm Käthe“ nennt, ist eine tüchtige und energische Frau gewesen und hat den großen Haushalt so umsichtig geleitet, daß den vier Kindern, die von sechsen den Vater überlebten, ein kleines Landgut und bescheidenes Vermögen hinterblieb. Luther’s Ehe aber ist ein Vorbild deutschen Familienglücks und deutscher Familienfreuden geworden, und als edle Zier galt in diesem Hause das deutsche Lied in Ton und Wort. In diesem Kreise ließ der alternde Luther seinem reichen und derben Humor, zuweilen auch seiner „Lust am Fabuliren“ freien Lauf, und aus diesem letzteren Grunde, wie auch um des oft gar geringen Geistes der zahlreich ihm zuströmenden Gäste willen, darf man die von eben diesen gesammelten „Tischreden Luther’s“ nur mit Vorsicht und Auswahl benutzen.

Das Jahr 1525 sollte aber auch in Betreff der socialen Frage des Mittelalters zu den verfrühten, gewaltthätigen und deshalb erfolglosen Lösungsversuchen des Bauernkriegs führen. Schon in den Kindertagen Luther’s hatten Bauernaufstände längs des Rheins gewüthet, kurz vor seinem öffentlichen Auftreten war in Württemberg der „Bund des armen Conrad“ niedergeschlagen worden. Aber jetzt drohte die Flamme wieder in neuer und viel furchtbarerer Lohe aufzuschlagen und, was für Luther sehr bedenklich [753] war, der Aufruhr redete in der Sprache der Luther-Schriften und formulirte seine Forderungen mit den Worten der deutschen Luther-Bibel! Das zeigte sich augenscheinlich in den „Zwölf Artikeln der Bauernschaft“, die ein Prädikant in Waldshut verfaßt hat und die bald das Programm der ganzen Bewegung geworden sind. Gegen sie hat Luther eine „Ermahnung zum Frieden“ geschrieben. Er hält dem Adel seine Sünden vor, denn Niemand Anderem als den Fürsten und Herren, sonderlich den blinden Bischöfen und tollen Pfaffen habe man diesen Unrath zu verdanken. Er habe wohl andere Artikel in seinem Buch an den christlichen Adel gestellt, „aber weil Ihr die habt in den Wind geschlagen, müßt Ihr nun solche eigennützige Artikel hören und leiden und geschieht Euch eben recht, als denen nicht zu rathen ist.“

Aber auch den Bauern erklärte er, daß ihre Forderungen über alles gerechte Maß hinausgehen, und selbst wenn sie gegründet wären, so sei es nicht Recht, daß sie dieselben stellten „mit dem Schwert in der Faust“. Das sei auf keinen Fall christlich. „Darum lasse ich Euere Sache sein, möget Ihr thun und lassen, was Euch Gott nicht wehrt. Aber den christlichen Namen, den christlichen Namen sage ich Euch, den lasset stehen und machet den nicht zum Schmiddeckel Eueres ungeduldigen, unchristlichen Vornehmens; den will ich Euch nicht lassen, noch gönnen, sondern mit Schrift und Wort Euch abreißen nach meinem Vermögen, so lange sich eine Ader regt in meinem Leibe.“

Das Luther-Denkmal in Worms: Luther-Kopf von Donndorf.
Nach einer Photographie im Verlage von Hermann Krone in Dresden.

Und zum Schluß sagt er:

„Da es zwischen den Herren und Bauern also steht, so sind beide gleich unchristlich, darum werden sich beide aufreiben und Gott wird einen Buben mit dem andern stäuben.“

Als es dann zu dem furchtbaren Blutbade kam, in dem die tolle Wuth der Bauern die langjährige Tyrannei ihrer Herren durch empörende Grausamkeit und barbarische Verwüstung zu vergelten suchte und alles, was Wohlstand, Bildung, Kunst und Wissenschaft hieß, wie von wilden Wogen weggeschwemmt zu werden drohte – da hat Luther jenes fulminante Büchlein: „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ ausgehen lassen, in dem er von den Fürsten ein einiges, rasches, muthiges und unverzagtes Niederwerfen des Ausstandes forderte.

Seine Meinung aber hat er später in einer Rechtfertigungsschrift jenes harten und von der Nachwelt viel getadelten Büchleins drastisch dahin ausgedrückt:

„Ich habe Beides besorget: würden die Bauern Herren, so würd der Teufel Abt werden, würden aber die Tyrannen Herren, so würd seine Mutter Abtissin sein.“

Man hat oft gesagt, mit dem Jahre 1525 sei Luther ein Anderer geworden, aber das gilt von ihm nur, soweit es überhaupt von seinem ganzen Volke behauptet werden kann. Das Jahr 1525 war eben ein furchtbarer Hagelsturm, der über die erste frische Frühlingszeit der national-religiösen Reform unseres Vaterlandes hereinbrach. Was das Jahr 1849 für das ihm folgende Jahrzehnt gewesen ist – und das weiß Jeder, der die fünfziger Jahre denkend mit erlebte – das ist seiner Zeit das Jahr 1525 für unser Volk gewesen. Von nun an fiel freilich die Reformation, wenigstens nach ihrer nationalen und politischen Seite hin, bald ganz in die Hände der Fürsten und Diplomaten, und die bisherigen theologischen Führer kehren aus den großen Kämpfen der Reichstage auf ihre lateinischen Lehrstühle und in die engen Studirstuben zurück, viele mit der ernsten Absicht, dogmatische Versöhnungs- und Ausgleichsprojecte zu ersinnen. In diese Zeit des ersten Niedergangs der protestantischen Bewegung fällt auch der bittere Abendmahlsstreit und das Marburger Gespräch mit Zwingli (1529).




Nach dem Bauernkrieg hat Luther noch zwanzig Jahre in Wittenberg als Reformator und Ordner des protestantischen Kirchenwesens, als Lehrer, Kämpfer und Hüter des evangelischen Glaubens, als Visitator der sächsischen Kirche, als Gründer der deutschen Schule gewirkt. Er hat in seinem Katechismus mit genialem Geist ein kurzes Volkslehrbuch geschaffen, von dessen kühner Einfachheit noch heute viel zu lernen wäre, und schon dreihundert Jahre vor Einführung des „Schulzwanges“ das helle Wort geschrieben:

„Kann die Obrigkeit die Unterthanen zwingen, daß sie müssen Spieß und Büchse tragen zum Kriegführen, wie viel mehr kann und soll sie die Eltern zwingen, daß sie ihre Kinder zur Schule halten, weil hier ein ärgerer Krieg vorhanden ist mit dem Teufel, der damit umgeht, daß er Städte und Fürstenthümer will so heimlich aussaugen und von tüchtigen Personen leer machen, bis er den Kern ausgebohrt und die ledige Hülle zurückgelassen hat von unnützen Leuten, mit denen er spielen und gaukeln könne, wie er will.“

Am 5. Mai 1525 starb Friedrich der Weise. Sein Bruder und Nachfolger, Johann der Beständige, blieb Luther treu zugethan, wie auch dessen Sohn, Johann Friedrich, der von 1532 an regierte. Luther äußerte sich damals:

„Mit Herzog Friedrich ist die Weisheit, mit Herzog Hansen die Frömmigkeit gestorben, und nun hinfort wird der Adel regieren, so Weisheit und Frömmigkeit hinweg ist. Sie wissen, daß mein junger Herr einen eigenen Sinn hat und nicht viel auf die Schreibfedern giebt, das gefällt ihnen wohl.“

Doch hat sich nachher auch Johann Friedrich „der Großmüthige“ als ein gewissenhafter, frommer und treuer Fürst bewährt, wenn er auch beschränkteren Geistes war als sein Vorgänger. Es ist bekannt, wie nach vielen Wechselfällen Karl V. endlich mit Frankreich und mit Rom Frieden schloß und im Jahre 1530 nach seiner durch den Papst in Bologna vollzogenen Kaiserkrönung mit dem Entschlusse über die Alpen kam, in Deutschland endlich Ordnung zu schaffen, die Abgewichenen zum Glauben zurückzuführen und die Einheit der Kirche wieder herzustellen. Kurfürst Johann hatte sofort alle seine Theologen nach Torgau bestellt, wo sie die Artikel aufsetzten, „von denen man nicht weichen könne“. Dann waren sie über Coburg, wo Luther, der Geächtete und Gebannte, auf der sicheren Veste „in der Region der Vögel“ zurückbleiben mußte, zum Augsburger Reichstage gezogen, wo [754] Dr. Eck eine Disputation über ein Büchlein vorschlug, in dem er mehr als 400 Ketzereien aus Luther’s Schriften zusammengestellt hatte. Der Kaiser zog am 15. Juni mit großem Pompe ein; vor der Stadt segnete der päpstliche Nuntius die Versammlung, die mit Ausnahme der protestantischen Fürsten niederknieete, doch als im Dome ein zweites Niederknieen stattfand, sah man den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen allein stehend über die Menge ragen; da erhob sich auch wieder der Markgraf von Brandenburg, der schon in Speyer die Protestation mit unterzeichnet hatte.

Der Kaiser aber ließ dann Abends die Drei mit dem Lüneburger Herzog zu sich rufen und verbot ihnen durch seinen ebenfalls anwesenden deutschredenden Bruder, den König Ferdinand, ihre mitgebrachten Theologen predigen zu lassen. Im Namen der Ueberraschten und Erschreckten antwortete darauf der Landgraf von Hessen, daß doch ihre Prediger nichts Böses oder Neues predigten, sondern allein das Wort Gottes, wie es die alten christlichen Lehrer ausgelegt und geschrieben hätten. Da erglühte des Kaisers Antlitz vor Zorn, und kurz erklärte er, er werde das Predigen nicht dulden. Darauf aber brach der Markgraf hervor:

„Ehe ich mir das Wort Gottes nehmen lasse und meinen Glauben verleugne, will ich lieber jetzt gleich niederknieen und mir den Kopf abhauen lassen.“

Betroffen rief der deutsche Kaiser, der der deutschen Sprache fast gar nicht mächtig war: „Nit Kopf ab, lieber Fürst, nit Kopf ab.“

Nochmals erklärten sie, sie könnten von ihren Predigern nicht lassen, nochmals versicherte Ferdinand, der Kaiser, dem es Gewissenssache sei, werde es durchaus nicht leiden, da erklärte auch der Landgraf:

„Kaiserlicher Majestät Gewissen ist nicht Herr und Meister über unser Gewissen.“

Darauf gingen sie mit einem Tage Bedenkzeit davon.

Das war die Lage des Jahres 1530. Es schien Alles verloren! Man hatte mit Rom jede mögliche Verständigung gesucht und zog sich auch jetzt in der Augsburgischen Confession, die nicht aus Luther’s Geist noch aus seiner Feder stammt, auf das Aeußerste zurück, sodaß Luther schrieb, so sanft und leise hätte er freilich nicht treten können; Melanchthon aber, der Verfasser der Confession, seufzte:

„Wollte Gott, daß wir den Frieden erhielten, wäre es auch um noch härtere Bedingungen als diese.“

Ja noch in letzter Stunde faßte dieser ängstliche Gelehrte den Arm des Kurfürsten, als derselbe die Confession unterschreiben wollte, und meinte, die Fürsten sollten nicht so viel wagen, sondern nur die Theologen unterschreiben lassen. Weil aber Johann ihm antwortete: „Ich will thun, was recht ist, unbekümmert um meinen Fürstenhut,“ hat sich Luther über diese „Confession der Fürsten“ höchst erfreut ausgesprochen, ein Wort, das „bekenntnißtreue“ Theologen auf das Schriftstück der „Augsburger Confession“ zu beziehen wagen, weil sie die letztere mit Vorliebe gern als das Grundbekenntniß der gesammten protestantischen Kirche bezeichnen. Luther saß unterdessen auf der Veste Coburg, schrieb Gutachten und Flugschriften in Menge und übersetzte neben den Psalmen und Propheten auch die Fabeln des Aesop! Ueber seine Ausschließung vom Reichstage weiß er sich mit etwas satirischem Humor zu trösten, indem er an seine „lieben Tischgenossen in Wittenberg“ schreibt:

„Ihr wißt, daß wir nicht auf den Reichstag gen Augsburg ziehen; wir sind aber wohl auf einen andern Reichstag kommen. Es ist ein Rübfeld gleich an unserm Fenster hinunter, wie ein kleiner Wald, da haben die Dohlen und Krähen einen Reichstag hingelegt, da ist ein solch Zu- und Abreiten, ein solch Geschrei Tag und Nacht, als wären sie alle trunken, voll und toll. Es sind große, mächtige Herren; was sie aber beschließen, weiß ich noch nicht. So viel ich aber von einem Dolmetscher vernommen, haben sie einen gewaltigen Zug und Streit vor wider Weizen, Gerste, Hafer und allerlei Korn und Getreide und wird Mancher dabei Ritter werden und große Thaten thun. So sitzen wir hier auch im Reichstage, hören und sehen, wie die Fürsten und Herrn ritterlich schwänzen, den Schnabel wischen und die Wehr stürzen, daß sie siegen und Ehr einlegen wider Korn und Malz. Wir wünschen ihnen Glück und Heil, daß sie allzumal an einem Zaunstecken gespießt wären.“

In diesem Schlußworte ist am besten die Stimmung ausgedrückt, in welcher sich Luther damals der Gesellschaft, die auf dem Augsburger Reichstage versammelt war, gegenüber befand. Damals schrieb Luther auch das bekannte köstliche Briefchen an seinen vierjährigen Sohn Hänschen und ließ eine ernste, geistesfrische und hohe Schrift „an die in Augsburg versammelten Prediger“ ausgehen, in welcher er sich selbst an den großen Tagen der Vergangenheit erquickt, die zahlreichen Früchte, die weitgreifenden Folgen seiner Reformation darlegt und dieselbe noch einmal mit aller Hoheit und Kühnheit seiner besten Tage rechtfertigt. Je freudiger er der Vergangenheit gedenkt, um so kühler, ja fast gleichgültig sieht er dem Treiben der Gegenwart zu, von der er nicht viel mehr erwartet als den Anfang eines langsamen Zerfalles: denn er weiß Keinen, dem er so recht trauen, auf den er so recht bauen könnte für die Zeit, da er selbst nicht mehr da sei.

Und er hatte wohl Recht, denn damals konnte Melanchthon, zwölf Tage nach der Ueberreichung der von ihm verfaßten Augsburgischen Confession, dem römischen Cardinal Campegius schreiben:

„Wir haben keine von der römischen Kirche verschiedene Lehre, wir sind auch bereit derselben zu gehorchen, wenn sie nur nach ihrer Gnade, welche sie stets gegen alle Menschen gebraucht hat, einiges Wenige übersieht oder fahren läßt, was wir nicht mehr ändern können, wenn wir es auch ändern wollten.“

Das war freilich nicht des Mannes Geist, von dem einer seiner Schüler Namens Spangenberg schrieb:

„Wenn ich den Dr. Martin Luther durch Wittenberg gehen sah, dünkte mich’s, als sähe ich ein wohlgerüstet Streitschiff, das unter die Feinde auf dem ungestümen Meer dieser Welt, unter die Papisten, Juden, Schwärmer und Rottengeister getrost und unverzagt hineinsetzet, alles verjagt und erlegt, und in fröhlichem Triumph den Sieg herwieder brächte.“

So ging die frohe freudige Jugendzeit der Reformation bereits vor Luther’s Tode zu Ende, und er selbst, von Leiden geplagt, grämlich, zänkisch und eigensinnig, wie es zuweilen des übermüdeten Alters Art ist, ging sichtlich seinem leiblichen Zerfall entgegen. Und so starb er schließlich alt und elend auf einer Reise nach Mansfeld, in seinem Geburtsort Eisleben, am 18. Februar 1546. Aber ein dauernd wirksames Leben führte er von da an bis heute in der dankbaren Erinnerung der deutschen Nation, und wird es führen, so lang „die deutsche Zunge klingt“. Wenn auch seine Schriften – was nicht so sein sollte – thatsächlich nur noch von Wenigen gelesen werden, so ist doch sein Charakterbild, seine Geschichte so fest und scharf in die ehernen Tafeln der deutschen Geschichte eingegraben, daß auch die gehässigste Polemik sein Andenken nicht dauernd schänden kann.

Wie sehr unser Luther einem Jeden, der ihm näher tritt, das Herz abgewinnt, hat Gustav Freytag in dem wahren Worte ausgesprochen:

„Manches an ihm erscheint fremd und unhold, so lange man ihn aus der Ferne betrachtet, aber dieses Menschenbild hat die merkwürdige Eigenschaft, immer größer und liebenswerther zu werden, je näher man herantritt.“


  1. Der in den Gassen Eisenachs als armer Schüler mit herumsingende kleine Martin ist ein von den Luther-Malern oft behandelter Gegenstand; eine als Modell längst vollendete Statue dieses Currentschülers harrt noch ihrer Aufstellung.
    Die Redaction.
  2. Vergleiche: Luther’s Reformationsvermächtniß an uns und unsere Zeit. Vortrag zur Luther-Feier des vierzehnten deutschen Protestantentages von Emil Zittel. Berlin 1883. Haack.
  3. Nach einem Berichte aus dem Jahre 1581 hätten die Schlußworte Luther’s gelautet: „Die Concilien können und haben geirrt: das liegt am Tage und ich will’s beweisen. Gott, kumm mir zu Hilf, Amen! Da bin ich.“ (Evangelische Ausgabe. Band 64. Teile 383.)