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Autor: Conrad Haußmann
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Titel: Der Linksliberalismus
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aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebentes Hauptstück: Die politischen Parteien in Deutschland, 34. Abschnitt, S. 34−43
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[34]
34. Abschnitt.


Der Linksliberalismus.
Von
Conrad Haussmann. M. d. R.,
Rechtsanwalt in Stuttgart.


Literatur: Bearbeiten

L. Bergner, Der alte Harkort. 4. Aufl. Leipzig 1902. –
A. Bernstein, Schulze-Delitzsch Leben, und Wirken, Berlin 1879. –
Verlag der Frankfurter Zeitung: Geschichte der Frankfurter Zeitung 1856 bis 1906 Frankfurt a. M. 1906. –
Oskar Klein-Hattingen, Geschichte des deutschen Liberalismus, 2 Bände, Berlin-Schöneberg, 1911/12. –
Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin-Schöneberg,

[35]

3. Aufl. 1905. Die politischen Parteien, ebendort 3. Aufl. 1910. –
Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878. –
Leopold Freiherr von Hoverbeck, 2 Bände, Berlin I (1897) II 1 (1898) II 2 (1900). –
Martin Philippson, Friedrich III. als Kronprinz und Kaiser, Berlin 1893. Das Leben Kaiser Friedrichs III., 2. Aufl. Wiesbaden 1898. Max von Forckenbeck, Dresden und Leipzig 1898. –
Eugen Richter, Jugenderinnerungen, Berlin 1893. Im alten Reichstag, 2 Bände, Berlin 1894 und 1896. Politisches ABC-Buch, 10 Jahrgänge, der letzte 1903. –
Martin Wenck, Handbuch für liberale Politik, Berlin Schöneberg 1911. –
Conrad Haussmann, Das Arbeitsprogramm der Fortschrittlichen Volkspartei 2. Aufl., Verlagsanstalt „Deutsche Presse“. Berlin 1911. –
Leonhard Müller, Badische Landtagsgeschichte. 4 Bände. Berlin 1900/02. –
K. Schmidt-Buhl, Schwäbische Volksmänner. Vaihingen a/Enz 1907. –
Der bedeutendste Historiker des Linksliberalismus ist Ludolf Parisius. Eine fruchtbare Grundlage bildet auch die Geschichte des Liberalismus von Oscar Klein Hettingen. Für eine genaue Kenntnis der linksliberalen Politik im neuen deutschen Reich ist ein Studium der ABC-Bücher von Eugen Richter, die ein umfassendes Material auf verhältnismässig knappem Raume verarbeitet haben, fast unerlässlich. Eine hervorragendste Zeitschrift des entschiedenen Liberalismus von dauerndem Wert ist die von Theodor Barth herausgegebene Wochenschrift „Die Nation“, 24 Jahrgänge, 1883–1907. Ferner sind zu nennen die „Hilfe“ von Naumann-Berlin im Hilfe-Verlag in die erscheinende Sammlung „Patria“, Bücher für Kultur und Freiheit, 12. Band 1912 und der „März“, Wochenschrift früher Halbmonatschrift München 1907 ff. Eine Sammlung von Heften „Vorkämpfer deutscher Freiheit“ erscheint im Verlag des Nationalvereins München, 1910 f.

Zeitgeschichtliche Entwicklung. Bearbeiten

Der Linksliberalismus, der heute in der Fortschrittlichen Volkspartei als parlamentarische Fraktion und als Partei für ganz Deutschland einheitlich organisiert ist, war während der ersten 40 Jahre nach Gründung des Reichs durch eine Mehrheit von Parteien mit verschiedenen Organisationen und verschiedenen Programmen politisch vertreten. Er hat sich mit den Parlamenten und in den Parlamenten entwickelt, die von derselben Sinnesrichtung geschaffen sind, wie der demokratische Liberalismus selbst. Er hat in den Einzellandtagen Preussens, Badens, Württembergs, Bayerns und anderer Länder sich nachdrücklich und zum Teil glänzend bestätigt und auf das öffentliche Leben Deutschlands schon vor der Gründung des Reichs einen fühlbaren Einfluss ausgeübt. Aber der Linksliberalismus ist eine für eine kurze Betrachtung erfassbare politische Erscheinung und ein einheitlich wirkender Faktor in Deutschland doch erst seit der Existenz des Reichsparlaments geworden. Seine Wiege ist die Paulskirche in Frankfurt. Nach Auflösung des Frankfurter Parlaments flüchtete er in die Landtage, bis der Reichstag seine Wohnstätte geworden ist. Seine Vorgeschichte liegt noch weit über 1848 zurück. Die Ideen des 18. Jahrhunderts, von den führenden Geistern Deutschlands zuerst literarisch aufgenommen und popularisiert, passten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ruckweise den in Deutschlands geschichtlichen Verhältnissen wurzelnden Vorstellungen an. Die Proklamierung der „Menschenrechte“, Stoffe und Strömungen der grossen Revolution in Frankreich waren in die Ideenwelt Deutschlands übergesprungen und weckten die widerstreitendsten Stimmungen. Zuerst Wilhelm von Humboldt und Freiherr von Stein suchten dasjenige herauszuholen, was man in Deutschland zur Grundlage des staatlichen Baues planmässig und weitblickend benutzen konnte. Wilhelm von Humboldt ist der erste grosse Vertreter des politischen Liberalismus als einer staatsumbildenden Macht. Die humane Idee vom Wert des Individuums und der Entfaltung seiner Kräfte war der Ausgangspunkt einer von unten aufbauenden Staatsauffassung geworden. Weil staatlich verwendbare Unterscheidungsmerkmale des individuellen Werts immer schwerer zu finden sind, so musste diese Auffassung zu der Annahme eines Gleichwerts der Staatsbürger gelangen. Dies ist der demokratische Grundgedanke, der zugleich von der christlichen Vorstellung der Brüderlichkeit reichliche Geistesnahrung empfängt. Ebenso begreiflich war es, dass sich dieser neuen Lehre alle die Widerstände entgegenstellten, die umgekehrt eine Konstruktion des Staats von oben, von einer absoluten Spitze herab zum Ausgangspunkt nahmen und in den dieser Auffassung entsprechenden Vorstellungen, Gewohnheiten und Interessen geistig und materiell verankert waren. Der Gang der geschichtlichen und nationalen Entwicklung, die ein straffes Zusammenfassen der Kräfte nach den verderblichen Spaltungen Deutschlands vor allem in der napoleonischen Zeit nötig machte, steigerte, kreuzte und hemmte die liberale und demokratische Entwicklung. Darum ist sie ungleichartig und nicht gradlinig. Die Regierungen des 18. Jahrhunderts brachten der Bewegung, die den Liberalismus erzeugte und ihn als den Träger einer neuen Organisierung [36] bedurfte, Furcht und keine Einsicht entgegen. Der Groll über diese Einsichtslosigkeit und jene Widerstände schuf den Linksliberalismus, d. h. diejenige Form des Liberalismus, die sich gegen die herrschenden Gewalten durchsetzen wollte. Dieser Versuch führte zu dem grossartigen Aufschwung von 1848 und scheiterte an dem Mangel organisatorischer Grundlagen und der Schwierigkeit, eine noch fehlende politische Erziehung in Zeiten höchster Erregung herbeizuführen. Dieser Misserfolg kräftigte die absolutistische Richtung, die es sich deshalb auch nach der Reaktion gestatten konnte, scheinkonstitutionelle Zustände einzuführen. Die Ereignisse von 1866 und die Herstellung der politischen Einigung von Nord- und Süddeutschland im Reich leitete die Entwicklung auf eine neue und einheitliche Grundlage. Die Form und Mittel der Einigung mit ihren grossen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen bedeutete zunächst eine Hemmung für den Linksliberalismus, schon weil sie sich unter einem Staatsmann vollzog, der die geschichtlichen Erfolge seiner Politik auch zu einer Desorganisation des Liberalismus nutzbar machte.

Dies alles erklärt die Schwierigkeit der bisherigen Kämpfe des Linksliberalismus. Dieser halbfertige Zustand und das Ausbleiben eines auf die Volksvorstellung wirkenden Erfolgs ist eine der Ursachen des zeitweise mächtigen Anschwellens anderer Richtungen, die sich nicht wie der Liberalismus vom Mittelpunkt der Staatsidee und des Allgemeinwohles aus orientierten. Dahin gehören das konfessionelle Zentrum, die agrarische Richtung, die Sozialdemokratie, welche die durch die deutsche, wirtschaftliche Entwicklung geschaffene Arbeiterarmee unter der Vorstellung des Klassendrucks zu einer Partei der Arbeiterklasse organisiert und ihre Anhänger durch die Lohnkämpfe und durch die Ideen des demokratischen Liberalismus, übrigens unter gleichzeitiger Bekämpfung desselben, belebt hat.

Dies erschwerte innerlich und äusserlich den Übergang aus halbkonstitutionellen zu konstitutionellen Zuständen, deren Herbeiführung eine Hauptaufgabe des Linksliberalismus bildet.

Die Parteigeschichte Bearbeiten

kann im Rahmen dieses Überblicks nur für die Reichstagsparteien skizziert werden nicht auch für die Parteien in den Einzelländern, obwohl auch sie für die Parteientwicklung, von tiefgreifender Bedeutung waren und noch sind. Die Entwicklung der Parteien vollzieht sich naturgemäss parallel mit der politischen und geschichtlichen Entwicklung selbst, die deshalb zur Darstellung der Parteigeschichte angezogen werden muss.

Die grösste und älteste der drei linksliberalen Parteien war die „Deutsche Fortschritts-Partei“. Sie wurde gegründet 1861, ist 1884 in die „Freisinnige Partei“ aufgegangen, die sich aus der Fortschrittspartei und aus der 1880 durch eine Abzweigung aus der Nationalliberalen Partei hervorgegangenen „Secession“ gebildet hat. Nach der Lösung dieser Verbindung am 6. Mai 1892 nahmen die Mitglieder der Deutschen Fortschrittspartei den Namen Freisinnige Volkspartei an, während die aus der „Sezession“ hervorgegangenen Mitglieder der Freisinnigen Partei nach deren Spaltung den Namen Freisinnige Vereinigung führten. Beide vereinigten sich mit der Deutschen Volkspartei am 6. März 1910 auf Grund eines gemeinsamen Programms und Statuts zu der Fortschrittlichen Volkspartei. In der Entwicklung der Parteien lassen sich, soweit sie für die Reichspolitik und die Reichstagsfraktionen von bestimmender Wichtigkeit wurden, folgende Tatsachen und Abschnitte hervorheben.

Die Fortschrittspartei war am 18. Juni 1861 gegründet worden. Zu ihren Stiftern gehörten die führenden Männer der preussischen Demokratie und des entschiedenen Liberalismus: Waldeck, von Hoverbeck, Virchow, Schulze-Delitzsch, von Forckenbeck. Die Partei übte einen bedeutenden Einfluss auf den öffentlichen Geist und die politische Erziehung aus, vor allem durch die Kämpfe, die sie im preussischen Abgeordnetenhaus zu schlagen hatte. An die Spitze ihres Programms stellte sie 1861 das Verlangen nach einer „festen Einigkeit Deutschlands, welche ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preussens und ohne gemeinsame deutsche Volksvertretung nicht gedacht werden könne.“

Die Partei verfügte 1862 bis 1866 in Verbindung mit der Partei des linken Zentrums über die Mehrheit im preussischen Abgeordnetenhaus und führte gegen das Ministerium Bismarck in den Konfliktsjahren für Aufrechterhaltung der Verfassung, den schweren Kampf, der sich in jener Zeit [37] aus der Militärorganisation entwickelt hatte. Materiell ging der Hauptstreit um die Einführung der zweijährigen Dienstzeit, die von der Fortschrittspartei für möglich, von Bismarck und Roon für unmöglich erklärt wurde und die sich 1893 als durchführbar erwiesen und bewährt hat. Der Konflikt führte zu einer Ablehnung der Mehrforderung für neue Truppenteile, zu einem Budgetlosen Regiment und einer verfassungswidrigen Verwaltung, bis 1866 nach Beendigung des Kriegs das Ministerium Bismarck die Idemnität für die verfassungswidrige Regierung im Landtag nachsuchte. Fürst Bismarck selbst hat am 5. April 1876 im Abgeordnetenhaus gegenüber dem Abgeordneten Virchow ausgesprochen, „ich habe Objektivität genug, um mich in den Ideengang des Abgeordnetenhauses von 1862 bis 1866 vollständig einleben zu können, ich habe die volle Achtung vor der Entschlossenheit, mit der die damalige preussische Volksvertretung das, was sie für Recht hielt, vertreten hat. Daraus mache ich niemand einen Vorwurf. Sie konnten damals nicht wissen, wo meiner Ansicht nach die Politik schliesslich hinausgehen sollte; ich hatte auch keine Sicherheit, dass sie faktisch dahin hinausgehen würde und sie hatten auch das Recht, wenn ich es ihnen hätte sagen können, mir immer noch zu antworten: uns steht das Verfassungsrecht unseres Landes höher als eine auswärtige Politik. Da bin ich weit entfernt gewesen, irgend jemanden einen Vorwurf daraus zu machen oder bin es wenigstens jetzt, wenn auch in der Leidenschaft des Kampfes ich es nicht immer gewesen sein mag.“

Die Leidenschaft jenes Kampfes hat im politischen Leben tiefe Risse erzeugt, nicht nur in Preussen, sondern auch im übrigen Deutschland. Die schroffe Kampfstellung, in welche die Fortschrittspartei hineingedrängt war, hat mit ihren Verbitterungen und Verfolgungen Jahrzehnte hinaus das politische Leben und die Stellung der Parteien belastet.

In Preussen, im Zollparlament und im konstituierenden und dann im neugeschaffenen Reichstag traten die Mitglieder der Fortschrittspartei für eine konstitutionelle Entwicklung für solide Finanzen, für alle liberalen Gesetze insbesondere für die grossen Gesetzgebungswerke ein, welche nach Gründung des Reichs die Einheitlichkeit auf dem Gebiet des Heerwesens, des Zivilstandes, des Münzwesens, des Gerichtswesens, des Gewerberechts und der Presse durchführten. Die Auffassung der Partei, dass die Staatsverwaltung in freierem Gleise geführt und der Individualität politisch, geistig und wirtschaftlich Raum zu fruchtbarer Selbstbetätigung und den Gemeinden Bewegungsfreiheit und Selbstverwaltung gelassen werden müsse, führten unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck häufig zu Zusammenstössen mit diesem. Führer der Fortschrittspartei im Reichstag waren Richter, Hänel und Virchow. Eugen Richter, geboren am 30. Juli 1838 und 1864 aus dem Staatsdienst ausgetreten war 1869 in den preussischen Landtag gewählt, 1871 wurde er Mitglied des konstituierenden Reichstags und blieb als eines seiner allerhervorragendsten Mitglieder im Reichstag bis zu seinem Tod 1906. Richter hat das Gepräge der Fortschrittspartei in deren heissensten Kampfesjahren am reinsten und vollständigsten in sich aufgenommen, und konnte kraft der ausserordentlichen Begabung, die er für den politischen und parlamentarischen Kampf mitbrachte, sein Gepräge wieder in besonders charakteristischem Masse der Partei geben, deren unbestrittener Führer er mehr als 30 Jahre gewesen ist. Die Energie, mit der er seine Überzeugung und die taktischen Richtlinien festhielt, die er zur Verwirklichung des Fortschritts für geboten hielt, gab der von ihm geführten Partei eine grosse Geschlossenheit, weckte aber in Verbindung mit seinem Naturell, das an Energie demjenigen Bismarcks nichts nachgab, besonders heftige Gegnerschaften, die sich in der Folge konzentrisch so verdichteten, dass sowohl von rechts als von links die ausserordentlichen Verdienste, die Richter als wahrhaft staatsmännischer Parlamentarier besass, weitgehend verkannt wurden.

Ende der 70er Jahre hatte Bismarck den Übergang zur Schutzzollpolitik vollzogen, worin die Fortschrittspartei für das auf den Export angewiesene deutsche Wirtschaftsgebiet ernste Gefahren erblickte. Diese Auffassung deckte sich mit den volkswirtschaftlichen Anschauungen eines Teils der der Nationalliberalen Partei, eine Reihe ausgezeichneter Politiker; Bamberger, von Forckenbeck, Stauffenberg, Lasker, Rieckert u. A. im Jahre 1880 „eine Sezession“ vollzogen und eine „liberale Vereinigung“ gebildet hatten. Da diese Sezessionisten auch politisch ausgesprochen liberal und von der Politik Bismarcks im Innern insbesondere von dem sozialdemokratischen Ausnahmegesetz enttäuscht waren, so führte diese Annäherung und weitgehende Übereinstimmung am 5. März 1884 kurz nach Laskers Tod zu einer organischen Verbindung [38] in eine Partei, die den Namen Deutsche freisinnige Partei annahm. Sie umfasste 100 Mitglieder und ihre programmatische Grundlage wurde in 6 Einigungspunkte niedergelegt. Dieselben lauteten:

„1. Entwicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens in gesichertem Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung und durch gesetzliche Organisation eines verantwortlichen Reichsministeriums. Abwehr aller Angriffe auf die Rechte der Volksvertretung, insbesondere Aufrechterhaltung der einjährigen Finanzperiode, der jährlichen Einnahmebewilligung, der Redefreiheit.

2. Wahrung der Rechte des Volkes: Erhaltung des geheimen, allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, Sicherung der Wahlfreiheit, insbesondere auch durch Bewilligung von Diäten; Press-, Versammlungs-, Vereinsfreiheit; Gleichheit vor dem Gesetz ohne Ansehen der Person und der Partei; volle Gewissens- und Religionsfreiheit; gesetzliche Regelung des Verhältnisses zwischen dem Staate und den Religionsgesellschaften unter gleichem Rechte für alle Bekenntnisse.

3. Förderung der bestehenden Volkswohlfahrt auf Grund der bestehenden Gesellschaftsordnung. Bei voller Wahrung der Gleichberechtigung, der Selbsttätigkeit und des freien Vereinigungswesens der arbeitenden Klassen Eintreten für alle auf Hebung derselben fühlenden Bestrebungen, Bekämpfung auch des Staatssozialismus, sowie der auf Bevormundung und Fesselung des Erwerbs- und Verkehrslebens, der Gewerbefreiheit und Freizügigkeit gerichteten Massregeln.

4. Im Steuersystem Gerechtigkeit und Schonung der Volkskraft; Entlastung der notwendigsten Lebensbedürfnisse; keine Zoll- und Wirtschaftspolitik im Dienste von Sonderinteressen; keine Monopole; Gesetzgebung und wirksame Aufsicht des Reiches im Eisenbahnwesen.

5. Erhaltung der vollen Wehrkraft des Volkes; volle Durchführung der allgemeinen Dienstpflicht bei möglichster Abkürzung der Dienstzeit; Feststellung der Friedenspräsenzstärke innerhalb jeder Legislaturperiode. Dies alles zur Befestigung der nationalen Einigung Deutschlands, in Treue gegen den Kaiser und auf dem verfassungsmässigen Boden des Bundesstaates.“

Die Partei, von Richter, Bamberger, Barth, Schmid-Elberfeld, Schräder und Rieckert geführt, von dem Fürsten Bismarck lebhaft befehdet, vertrat dieses Programm in den 80er Jahren nachdrücklich im Parlament; sie wandte sich aus Gründen des konstitutionellen Rechts gegen ein Septennat der Militärausgaben, weil diese siebenjährige Bindung die Dauer der damals dreijährigen Legislaturperioden weit überstieg. Bismarck benützte die Septennatsfrage und die damalige Gereiztheit zwischen Frankreich und Deutschland, um den Reichstag, in dem die ihm zustimmenden Kartellparteien der Konservativen und Nationalliberalen nicht die Mehrheit gehabt hatten, anzugreifen und aufzulösen.

In dem unter der Erregung der nationalistischen Stimmungen neugewählten Reichstag war die freisinnige Partei wesentlich geschwächt eingezogen und Fürst Bismarck hatte für seine Politik nochmals die Mehrheit erlangt. In die Zeit dieser Reichstagsperiode 1887 bis 1890 fiel der Tod Kaiser Wilhelm I. und die Thronbesteigung Kaiser Friedrichs. In den 100 Tagen seiner Regierung gab Kaiser Friedrich durch die Entlassung des konservativen Wahlministers Puttkammer und die Verleihung von Auszeichnungen an Virchow und von Forckenbeck seine Absicht, trotz des energischen Widerstands von Bismarck dahin zu erkennen, dass er mit der Taktik einer Achtung der freisinnigen Politiker gebrochen wissen wolle, und dass er eine andere Stellung für gerechtfertigt und notwendig halte als diejenige, die Fürst Bismarck parteipolitisch forciert hat. Der Tod Kaiser Friedrichs hemmte die natürliche politische Entwickelung, die sich vollzogen haben würde.

Kaiser Wilhelm II. proklamierte die Fortsetzung des alten Kurses. Fürst Bismarck verlangte die Verlängerung des Sozialistengesetzes, das die freisinnige Partei als Ausnahmegesetz und als ein verfehltes Mittel wie in früheren Jahren so auch jetzt wieder ablehnte. Da eine Einigung zwischen Fürst Bismarck und der nationalliberalen Partei über die Dauer der Verlängerung nicht erzielt wurde, so fiel das Sozialistengesetz mangels eines die Verlängerung herbeiführenden Beschlusses des Reichstags.

Aus den unmittelbar hernach stattfindenden Neuwahlen Februar 1890 kehrte die Freisinnige Volkspartei verstärkt zurück. Die Mehrheit für die innere Politik Bismarcks hatte sich in [39] eine Minderheit verwandelt. Die Meinungs- und Temperamentsverschiedenheit zwischen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck führten zum Bruch und zur Entlassung Bismarcks am 20. März 1890. Die Stellung des zweiten Kanzlers Caprivi war durch die politischen Verhältnisse und den Gegensatz, den Fürst Bismarck scharf herauskehrte und der in Verbindung mit einer Abschwächung der Schutzzollpolitik eine aggressive Strömung in konservative und nationalliberale Kreisen erzeugte politisch so beengt, dass er eine neue Richtung nicht mit Entschiedenheit verfolgen konnte.

Über die taktische Frage, inwieweit unter solchen Umständen und solcher Unsicherheit die freisinnige Partei die Regierung des Reichskanzlers unterstützen könne, entstanden innerhalb der freisinnigen Partei Meinungsverschiedenheiten, zu welchen andere, aus der Zeit vor Vereinigung der beiden Parteien, hinzukamen. Der hochbegabte Abgeordnete Theodor Barth vertrat eine Politik der Annäherung an Caprivi, Eugen Richter mit Recht eine Politik der Reserve. Bei der Beratung über die Modalitäten, unter denen die zweijährige Dienstzeit bei den Fusstruppen eingeführt werden sollte, trennte sich der Abgeordnete Barth mit einigen seiner näheren Freunden von der Mehrheit der Partei. Der von ihm gestellte Abänderungsantrag zum Gesetz, das eine dauernde Heeresvermehrung die zweijährige Dienstzeit aber nur widerruflich einführen wollte, wurde von Caprivi abgelehnt, der, als er in der Folge keine Mehrheit erzielte, den Reichstag am 6. Mai 1892 auflöste. Die Meinungsverschiedenheiten über die angeführte Streitfrage, die einer Lösung vor Beginn des Wahlkampfes erwünscht bedurfte, führten zusammen mit andern Gegensätzen taktischer und persönlicher Art in der erregten Fraktionssitzung unmittelbar nach Reichstagsauflösung zu einer Spaltung der Partei. Es bildeten sich wieder zwei Parteien, die den Namen Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung annahmen. Die erste bestand im wesentlichen aus den Mitgliedern der alten Fortschrittspartei, unter Richter und Schmid-Elberfeld, die zweite aus den Mitgliedern der liberalen Vereinigung unter Schrader und Barth. In dem darauffolgenden Wahlkampf erlitten beide Parteien Verluste. Am 26. Oktober 1894 wurde Caprivi vom Kaiser entlassen.

Die Zeit von 1895 bis 1905 trug unter Hohenlohe und auch anfänglich unter Bülow innerpolitisch einen unbestimmten Charakter. Nach den heissen Kämpfen, und den politischen Erschütterungen der vorangegangenen Zeit, unter der noch aktiven Kritik des Altreichskanzlers Bismarcks, unter den Versuchen Kaiser Wilhelm II. eine neue Politik einzuleiten trat eine gewisse Stimmung des Zuwartens auch im parteipolitischen Leben ein. Die Mitglieder der freisinnigen Volkspartei und der freisinnigen Vereinigung konnten sich nach der entfremdenden Spaltung nur allmählich wieder annähern, trotzdem die unsichere Lage und die vorgeschriebene Politik kritischer Reserve sie sachlich wieder Seite an Seite geführt hatte.

In gleicher Richtung und zwischen den beiden andern freisinnigen Parteien politisch und persönlich vermittelnd war die „deutsche Volkspartei“ tätig. Sie umfasste die demokratischen Liberalen Süddeutschlands und wurde kurzer Hand als Süddeutsche Volkspartei bezeichnet. Die Anfänge der deutschen Volkspartei gehen wie die der Fortschrittspartei zurück bis in die Bewegung des Jahres 1848. Sie reorganisierte sich, nachdem die Reaktionsperiode überwunden war, zunächst anfangs der 60er Jahre zunächst in Württemberg unter Carl Mayer, Julius Haussmann und Ludwig Pfau. Die Konstituierung einer auch andere deutsche Gebiete umfassenden Partei zog sich von 1865 bis 1869 hin. Im September 1868 stellte eine Delegierten-Versammlung zu Stuttgart das Programm der Deutschen Volkspartei fest, das sodann am 12. Oktober 1873 eine Revision und Erweiterung erfuhr. Das Gebiet, aus dem sie sich rekrutierte, war im wesentlichen Süddeutschland. Die Richtung war demokratisch. In den ersten Perioden des Reichstags, nur durch sehr wenige Mitglieder, darunter durch Leopold Sonnemann, den hervorragenden demokratisch und sozialpolitisch gerichteten Gründer der „Frankfurter Zeitung“ vertreten, erhöhte sich deren Zahl 1881 und nach den Septenatswahlen, die sie vorübergehend vollständig verdrängt hatten, noch mehr im Jahr 1890. Führer war schon seit der 70er Jahre Friedrich Payer, der verdienstvolle demokratische Präsident des württembergischen Landtags. 1895 gab sich die Partei auf dem Delegiertentag zu München ein neues Programm, dessen Leitsätze in Anlehnung an das frühere Programm dahin lauteten:

[40]

I. Die deutsche Volkspartei ist eine Partei des politischen Fortschritts; sie bekennt sich zu den demokratischen Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit und verlangt die gleichartige Mitwirkung aller Staatsbürger, bei Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtssprechung, die Durchführung der Selbstregierung des Volks im Staate.
II. Die Volkspartei ist eine Partei der nationalen Gemeinschaft und der bundesstaatlichen Selbstverwaltung. Sie tritt ein für die unverbrüchliche Einheit des deutschen Vaterlandes, wie für die Erhaltung der Selbstständigkeit und die Gleichberechtigung aller deutschen Volksstämme.
III. Die Volkspartei ist eine Partei der sozialen und wirtschaftlichen Reformen. Sie erkennt an, dass die staatlichen und gesellschaftlichen Fragen untrennbar sind, und dass die wirtschaftliche und soziale Hebung der arbeitenden Klassen und die Verwirklichung der politischen Freiheit sich gegenseitig bedingen. Sie erstrebt den friedlichen Ausgleich der sozialen Gegensätze in einer die Freiheit des Einzelnen verbürgenden Gesellschaftsordnung.
IV. Die Volkspartei ist eine Partei des Friedens. Sie erkennt im Krieg und im Militarismus die schwerste Schädigung des Volkswohlstandes, wie der Kultur- und Freiheitsinteressen. Sie erstrebt einen Friedens- und Freiheitsbund der Völker.

Im Reichstag hatte die Politik Bismarcks, welche dazu bestimmt war, den demokratischen Liberalismus in die Opposition zu treiben, die Deutsche Volkspartei an die Seite der Fortschrittspartei und Eugen Richters geführt. Auch in der Zeit nach 1895 ergab sich ein tatsächliches Zusammenarbeiten der Deutschen Volkspartei vor allem Anfang des Jahrhunderts bei dem Kampf gegen den hochschutzzöllnerischen Zolltarif mit der Freisinnigen Volkspartei und mit der Freisinnigen Vereinigung, die aber alle in getrennten Fraktionssitzungen arbeiteten. Ausserhalb des Parlaments vollzog sich dann eine Verschmelzung zwischen der „Freisinnigen Vereinigung“ und der vierten linksliberalen Richtung, der „nationalsozialen Partei“, die von der starken Persönlichkeit Friedrich Naumanns geführt und belebt war. In der Folge aber trat Theodor Barth, der dem Reichstag nicht mehr angehörte, aus der Freisinnigen Vereinigung aus kurz vor seinem Tode 1908, der zwei Jahre nach dem Tode Eugen Richters eintrat.

In den folgenden Jahren war im Parlament allmählich die Zeit einer Vorherrschaft des Zentrums dadurch eingetreten, dass dieses auf der Mittellinie zwischen der nationalliberalen und konservativen Politik gesetzgeberisch tätig wurde, sie stellte für die so gerichtete Politik eine Mehrheit her und machte sich der Regierung des Kanzlers Hohenlohe und nachher Bülow nützlich, nicht ohne ihre Unentbehrlichkeit durch zeitweiliges Abrücken nach links fühlbar zu machen. Unter dieser Konstellation und unter dem Vorrücken des schutzzöllnerischen Agrariertums, das sich in dem „Bund der Landwirte“ eine scheinbar politisch neutrale Organisation geschaffen hatte und auf die Erhöhung der Lebensmittelzölle drängte, wuchs die Sozialdemokratie immer stärker heran, welche schliesslich 1903 eine Zahl von Mandaten erlangte, die es dem Zentrum als der ziffermässig stärksten Fraktion des Reichstags ermöglichte, auch mit der Sozialdemokratie allein eine Mehrheit zu bilden. Als das Zentrum im Dezember 1906 bei der materiell untergeordneten Frage einer letztmaligen Ausgabe für die Aufstandstruppen in Südwestafrika von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte und die Regierung, mit der in dieser Frage die drei übrigen Parteien, Rechte, Nationalliberale und Linksliberale gestimmt hatten, in die Minderheit versetzt war, löste Fürst Bülow den Reichstag auf. Er schuf damit, zunächst nur für die Wahlen, die über die abgelehnte Forderung entscheiden sollten, eine neue Parteikonstellation. Sie erhielt in den Wahlen tatsächlich die Mehrheit. Nachdem jene Forderung bewilligt war, versuchte Reichskanzler Bülow die halb zufällig entstandene Parteigruppierung der neuen Mehrheitsparteien entsprechend seiner Wahlparole zur Grundlage einer konservativ-liberalen Regierungspolitik zu machen. Die drei Linksliberalen Parteien, die fünfzig Mandate erlangt hatten, schlossen sich in dieser neuen Situation parlamentarisch zu einer Fraktions-Gemeinschaft zusammen und erklärten, jenen Versuch, welcher der Wählerkonstellation entsprach, so lange nicht hindern zu wollen, als die Regierungspolitik dem Liberalismus Vorteile tatsächlich bieten werde. Der Versuch der Blockpolitik des Fürsten Bülow glückte im ersten Jahr bei dem liberalen Reichsvereinsgesetz, das vom Zentrum und von der Sozialdemokratie bekämpft wurde und auch noch im zweiten bei dem konstitutionellen Vorstoss der Novemberdebatte, scheiterte aber im dritten Versuchsjahr an der Reichsfinanzreform, aus welcher Konservative und Zentrum die Reichserbschaftssteuer ausmerzten. Der Nebenzweck ihrer Politik war, den Fürsten Bülow zum Rücktritt zu zwingen. Der „Blau-schwarze Block“, [41] wie die mit 8 Stimmen Sieger gebliebene Vereinigung von Konservativen und Zentrum genannt wurde, war der erste greifbare Ausdruck eines völlig neuen Aufmarsches der Parteien, eines Lagers der Rechten gegenüber einem Lager der Linken. Der neue Reichskanzler Bethmann Hollweg wich in seiner Eröffnungsrede diesem Gedanken aus und proklamierte die Sehnsucht nach einer baldigen Verwischung der Gegensätze, indem er gleichzeitig für die Regierung „die Stellung über den Parteien“ reklamierte.

Die Parteieinigung des Linksliberalismus. Bearbeiten

Die drei freisinnigen Parteien erkannten angesichts dieser Lage die Notwendigkeit engster Geschlossenheit. Sie lösten am 5. März 1910 die einzelnen Parteien formell auf und schufen am 6. März zu Berlin eine einheitliche Partei des Linksliberalismus, die den Namen „Fortschrittliche Volkspartei“ und ein am selben Tage beschlossenes, zuvor von allen einzelnen Parteien genehmigtes Programm und Partei-Statut annahm, auf Grund von Entwürfen, welche die Reichstagsabgeordneten Wiemer, Schrader, Payer und Müller-Meiningen gemeinsam aufgestellt hatten.

Das Organisationsstatut setzt als oberstes Organ der Partei den Parteitag, der aus den Reichstagsabgeordneten, einer Anzahl Landtagsabgeordneter, den Reichstagsabgeordneten der letzten Periode, den Zentralausschussmitgliedern und den Delegierten der Reichstagswahlkreise besteht. Weitere Organe sind der Zentralausschuss und der Geschäftsführende Ausschuss. Die Parteimitgliedschaft setzt Zustimmung zum Programm, Anmeldung und Beitragsleistung voraus. Die Partei gliedert sich in Ortsvereine, Bezirksvereine und Landesverbände, welche selbständige Kompetenzen haben. Für die Entscheidung bei Stichwahlen ist die Parteiorganisation des Wahlkreises zuständig.

Das Programm stellt den Einzelforderungen folgende Leitsätze voran:

Die Partei tritt ein für Schutz und Stärkung des Reiches und die Aufrechterhaltung seiner bundesstaatlichen Grundlagen.
Die Partei fordert die gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürger in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zur Förderung des politischen und sozialen Fortschritts, zur Hebung der Wohlfahrt und Volksbildung, sie bekämpft alle Sonderbestrebungen, die dem Gemeinwohl zuwiderlaufen, und erstrebt den friedlichen Ausgleich der sozialen Gegensätze in einer die Freiheit des einzelnen verbürgenden Gesellschaftsordnung.
Die Partei verpflichtet ihre Mitglieder zu tatkräftiger Mitarbeit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens und erwarte von diesem gemeinsamen und planmässigen Wirken den Ausbau der politischen Freiheit und die für die Gesamtheit unentbehrliche Steigerung des berechtigten Einflusses des deutschen Bürgertums.

Die Einzelforderungen erstrecken sich über das ganze Gebiet der staatlichen Einwirkungsmöglichkeit. Eine Darstellung der leitenden Gedanken habe ich im Auftrag des geschäftsführenden Ausschusses in einer Schrift „Das Arbeitsprogramm der Fortschrittlichen Volkspartei“ versucht. Die Forderungen des Programms, sind von einer sie verbindenden und einheitlichen Staatsauffassung getragen, sie lassen sich unter den Hauptkategorien, die den neun Abschnitten des Programms entsprechen, dahin zusammenfassen:

Der Staat: Gleichheit vor dem Gesetz. Ämter und Stellen. Schutz gegen Laune, Willkür und Amtsmissbrauch. Auswahl nach Tüchtigkeit. Das Wahlrecht, Minderheitsschutz, Wahlfreiheit, Wahlkreiseinteilung. Reichsländische Verfassung. Die Reichsverfassung, konstitutionelle Regierungsweise, Budget- und Gesetzgebungsrecht, Erziehung zur Verantwortlichkeit. Kollegiales und verantwortliches Reichsministerium. Die Unzulänglichkeit des Bundesrats, Vereins-, Versammlungs- und Pressrecht. Hebung der Presse, Selbstverwaltung. Vereinfachung und Verbilligung des Verwaltungsapparates, Fremdenrecht.

Gewissens- und Religionsfreiheit, Schule und Unterricht. Schutz für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, des Gewissens, der Wissenschaft, Forschung und Kunst. Gleichheit der Religionsgesellschaften. Toleranz, Parität, Neutralität und Oberhoheit des Staats. Staatlicher Unterricht. Freiheit des Staats und Freiheit der Kirchen, Trennung ihrer Gebiete, Verbreitung und Vertiefung der Volksbildung. Keine konfessionelle Trennung in der Schule. Unentgeltlichkeit der Volksschule.

[42] Die Wehrkraft. Planmässige Entwicklung der vollen körperlichen Kraft ohne gefährliches Übermass von Strapazierung oder Drill. Sicherung der vollen Wehrkraft. Keine Luxusausgaben. Keine Bevorzugungen. Dienstzeit nicht länger als nötig auch bei den reitenden Waffen. Reform des Offizierspensionswesens. Scharfblickende Aufsicht wegen Soldatenmisshandlungen. Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit, Reform des Militärstrafrechts. Wirksameres Beschwerderecht.

Rechtspflege. Unparteilichkeit und Wohlwollen. Zweckmässige Ausbildung der Juristen. Mitwirkung der Laien bei der Rechtsprechung. Praktische, gerechte und prompte Rechtspflege. Politische Prozesse und Pressprozesse an die Geschworenen. Reform des Strafrechts, des Strafprozessrechts- und des Strafvollzugswesens. Trennung von Justiz und Verwaltung. Unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Staatshaushalt und Staatslasten. Entschlossene und planvolle Sparsamkeit, keine unverantwortliche Sorglosigkeit und keine ungesunde Anleihewirtschaft, gute Finanzwirtschaft, erträgliche Steuerbelastung und gerechte Steuerverteilung. Schrittweise Herabsetzung der Lebensmittel wie der Industriezölle zur Verminderung der Gefahr einer künstlichen Beteuerung der Lebenshaltung und einer staatlichen Verschiebung der natürlichen Privatwirtschaftsbedingungen. Schutz der deutschen Arbeit durch Ausfuhrermöglichung. Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer. Progressivsteuern als Gebot steuerlicher Gerechtigkeit. Steuerprivilegien auch nicht für die tote Hand.

Soziale Besserstellung: Gesetzgebung, Verwaltung, Selbsthilfe und beruflicher Zusammenschluss in planvoller Wechselwirkung. Humanisierung der Rechtsvorstellungen und des Arbeitsvertrags. Gleichheit vor dem Gesetz und der staatlichen Gewalt. Koalitionsfreiheit, Berufsvereine. Arbeiterschutz, in verdoppeltem Mass für Jugendliche und Frauen. Gewerbeaufsicht, verstärkt durch Beiziehung von Arbeitern und Arbeiterinnen. Tarifverträge. Einigungsämter. Staatsbürgerliche Unabhängigkeit. Bedürfnis der Reichsversicherungsreform. Versicherung der Privatangestellten, Versicherung gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit, Freizügigkeit, Gesundheitspflege, Wohnungspolitik, Verkehrspolitik. Vervollkommnung der Arbeitsordnung in den Betriebswerkstätten, staatliche Musterwerkstätten. Internationale Arbeiterschutzvereinbarungen.

Die Erwerbsstände. Grundsätzliche Gleichstellung von Landwirtschaft, Gewerbe und Handel und gleichmässige planvolle Förderung aller Fachausbildung. Nutzbarmachung aller modernen Hilfsmittel, Anschauungsunterricht, Auskunft und Belehrung, Pflege der Fähigkeiten. Aktivmachung der Selbsthilfe als die beste Staatshilfe. Erleichterung des gewerblichen und des bäuerlichen Kredits. Gewerbefreiheit. Kein Rücksinken in die Zunftkrankheiten. Förderung der Entwicklung von Spezialindustrien für Qualitätswaren und kunstgewerbliche Erzeugnisse, entsprechen der Verfeinerung der Bedürfnisse. Volkswirtschaftlich verständige Aufsicht über Gefängnis- und Militärwerkstättenarbeit. Anteil am Weltverkehr. Verkehrserleichternde Handelsvertragspolitik angesichts ihrer Einwirkung auf Preise und Löhne. Eisenbahn und Eisenbahntarife als Mittel einer einheitlichen wirtschaftlichen Entwicklung. Bedürfnis wachsender Vereinheitlichung der deutschen Eisenbahnverwaltungen. Entwicklung der Wasserstrassen. Vorkehrungen gegen die Gefahr der Ausmündung des Wirtschaftslebens in Kartelle und Monopole. Schutz des soliden Geschäfts gegen die unlauteren Formen des Wettbewerbs, Volkswirtschaftlich einsichtige Regelung des Submissionswesens. Fideikommisseinschränkung zur Beseitigung der in der Bildung von Riesengütern liegenden Gefahren. Innere Kolonisation und Melioration. Schaffung leistungsfähiger Kommunalverbände. Beseitigung der kommunalen Privilegien des Grossgrundbesitzes.

Die Stellung der Frauen. Zulassung der Frauen an allen Schulen und Bildungsstätten, zu allen geeigneten Berufen und Erwerbsmöglichkeiten. Gleichberechtigung in den Reichsversicherungseinrichtungen. Zulassung zur sozialen Fürsorge in den Gemeinden. Teilnahme an dem Versammlungs- und Vereinsleben als Massstab für das Interesse an politischen Angelegenheiten. Schutz des ehelichen Güterrechts und gesetzliche Gewährung eines Anteils an der ehelichen Errungenschaft.

Die Völkerannäherung. Förderung der Bestrebungen auf Annäherung der Völker zu gemeinsamer Kulturarbeit und gleichmässiger Erleichterung der Rüstungslast. Ausbau des Völkerrechts und der internationalen Schiedsgerichtseinrichtungen zum friedlichen Ausgleich [43] entstehender Streitigkeiten. Das friedliche Wachstum Deutschlands und die europäische Interessengemeinschaft. Diplomatenauslese. Politik internationaler Freundschaften unter fester, loyaler und würdiger Wahrung der nationalen Lebensinteressen Deutschlands.

Geschichte und Programm der fortschrittlichen Volkspartei zeigen, dass der Linksliberalismus auch in Deutschland ein Ausdruck der zeitgeschichtlichen Vorwärtsbewegung und die Organisierung der Kräfte ist, die zwischen der nationalliberalen und der sozialdemokratischen Geistesrichtung die dem deutschen Gesamt- und Staatsinteresse dienliche Richtung erkennen, die bei normaler Entwicklung nach Herstellung der inneren und äusseren Einheitlichkeit die Anwartschaft auf eine steigende Beeinflussung der öffentlichen Meinung hat.