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Autor: Paul Hirsch
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Titel: Die Sozialdemokratie
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebentes Hauptstück: Die politischen Parteien in Deutschland, 35. Abschnitt, S. 43−54
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[43]
35. Abschnitt.


a) Die Sozialdemokratie.
Von
Paul Hirsch,
Stadtverordneter, M. d. A., Charlottenburg.


Literatur: Bearbeiten

Franz Mehring. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, zweite verbesserte Auflage. Stuttgart 1904.
Geschichte der Sozialdemokratie. – Artikel aus dem Volkslexikon von E. Wurm. Nürnberg 1897.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie. Eine Festschrift der Leipziger Arbeiter zum 23. Mai 1903.
August Bebel. Aus meinem Leben. Stuttgart 1910 und 1911.
Ignaz Auer. Von Gotha bis Wyden. Berlin 1901.
Nach 10 Jahren. Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes. London 1889.
Ferdinand Lassalles Reden und Schriften. Herausgegeben von Ed. Bernstein. Berlin 1893.
Paul Hirsch und Bruno Borchardt. Die Sozialdemokratie und die Wahlen zum deutschen Reichstage. Berlin 1907.
Wilhelm Schröder. Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863 bis 1909.
Die ersten deutschen Sozialistenkongresse. Urkunden aus der Jugendzeit der deutschen Sozialdemokratie. Frankfurt a. M. 1906.
Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage.

Entwicklung. Bearbeiten

Den ersten Ansätzen zur Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei in Deutschland begegnen wir bereits in den Jahren 1848/49. Aber greifbare Gestalt gewannen diese Bestrebungen erst, und in einen bewussten Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien traten die Arbeiter als Klasse erst nach dem Erscheinen des offenen Antwortschreibens von Ferdinand Lassalle an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig im Jahre 1863. Ein Leipziger Komitee, das unter Zustimmung der Fortschrittspartei mit den vorbereitenden Schritten zur Einberufung eines grossen Arbeiterkongresses betraut war, wandte sich, nachdem die Antwort der Führer der Fortschrittspartei, wie sie sich zu der Frage des allgemeinen Wahlrechts stellten, unbefriedigend ausgefallen war, an Lassalle, der besonders durch seinen am 12. April 1862 vor Berliner Arbeitern gehaltenen Vortrag über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen [44] Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, das sogenannte Arbeiter-Programm, unter den Arbeitern bekannt geworden war. Wesentlich durch die Lektüre dieses Vortrages, worin er die Arbeiterklasse als den Fels bezeichnet, auf welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll, wurde das Leipziger Komitee bestimmt, Lassalle zur Abfassung eines Offenen Briefes über die Aufgaben des zu berufenden Arbeiterkongresses aufzufordern. Das Offene Antwortschreiben erschien am 1. März 1863. „Organisieren Sie sich,“ rief Lassalle hier den Arbeitern zu, „als ein allgemeiner deutscher Arbeiterverein zu dem Zweck einer gesetzlichen und friedlichen, aber unermüdlichen, unablässigen Agitation für die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen Ländern. Von dem Augenblicke an, wo dieser Verein auch nur 100 000 deutsche Arbeiter umfasst, wird er bereits eine Macht sein, mit welcher Jeder rechnen muss. Pflanzen Sie diesen Ruf fort in jede Werkstatt, in jedes Dorf, in jede Hütte. Mögen die städtischen Arbeiter ihre höhere Einsicht und Bildung auf die ländlichen Arbeiter überströmen lassen. Debattieren Sie, diskutieren Sie überall, täglich, unablässig, unaufhörlich, wie jene grosse englische Agitation gegen die Korngesetze, in friedlichen, öffentlichen Versammlungen, wie in privaten Zusammenkünften die Notwendigkeit des allgemeinen und direkten Wahlrechts. Jemehr das Echo Ihre Stimme millionenfach widerhallt, desto unwiderstehlicher wird der Druck derselben sein.“ Neben dem Kampf für das allgemeine und direkte Wahlrecht bezeichnete Lassalle als „den einzigen Weg aus der Wüste, der dem Arbeiterstand gegeben ist“, die „freie individuelle Association der Arbeiter, aber die freie individuelle Association ermöglicht durch die stützende und fördernde Hand des Staates“.

Die Bedeutung des Offenen Antwortschreibens fasst Mehring kurz dahin zusammen, dass Lassalle damit dem deutschen Proletariat die Waffen gegeben hat, deren es bedurfte, um seinen historischen Emanzipationskampf zu beginnen. „Nichts falscher als die Behauptung, dass Lassalle die deutsche Arbeiterbewegung aus dem Boden gestampft habe, aber auch nichts ungerechter, als die Behauptung, dass sie in diesem auf lange hinaus entscheidenden Augenblick seiner nicht bedurft habe. Das unbefangene Urteil der Nachwelt kann nur unterschreiben, was Lassalle selbst schon gesagt hat: Die Arbeiterbewegung war da, aber ihr fehlte das theoretische Verständnis und das praktische Losungswort. Beides hat ihr Lassalle gegeben; das ist seine unsterbliche Tat und sein unvergängliches Verdienst“.[1]

Die nächste Folge des Offenen Antwortschreibens war die Gründung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins am 23. Mai 1863, dessen erster Präsident Lassalle wurde. Nach seinem Tode am 30. August 1864 trat Bernhard Becker und später im Jahre 1867 J. B. von Schweitzer, der Redakteur des Vereinsorgans „Der Sozialdemokrat“ an die Spitze des Vereins. Der Einfluss, welchen die Idee, die Arbeiter zur selbständigen Wahrung ihrer Interessen durch eine politische Partei zusammenzufassen, zunächst auf die Beteiligten ausübte, war nur sehr gering. Auf den Generalversammlungen des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins finden wir in den ersten Jahren nur wenige tausende Arbeiter aus verschiedenen Teilen Deutschlands vertreten.

Freilich waren nicht alle, welche die selbständige Vertretung der Arbeiterklasse und die vollständige Umgestaltung der wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben hatten, im Allgemeinen deutschen Arbeiterverein organisiert; seine Mitglieder erstreckten sich vornehmlich auf Norddeutschland und das Rheinland, während die sächsischen und süddeutschen Arbeiter sich vorzugsweise in den sächsischen und süddeutschen Arbeitervereinen organisierten, die sich zunächst noch als zugehörig zur sächsischen und süddeutschen Volkspartei betrachteten, aber durch die natürliche Entwicklung der Dinge ebenfalls auf den Boden gedrängt werden, auf dem der Allgemeine deutsche Arbeiterverein stand: die selbständige politische Vertretung der Arbeiterklasse zu fordern und darzustellen. Auf dem fünften Vereinstag der deutschen Arbeitervereine vom 5. bis 7. September 1868 in Nürnberg wurde in Erwägung,

[45]

„dass alle auf die ökonomische Emanzipation gerichteten Anstrengungen bisher an dem Mangel der Solidarität (Vereinigung) zwischen den vielfachen Zweigen der Arbeit jeden Landes und dem Nichtvorhandensein eines brüderlichen Bandes der Einheit zwischen den arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder gescheitert sind; dass die Emanzipation der Arbeit weiter ein lokales, noch ein nationales, sondern ein soziales Problem (Aufgabe) ist, welches alle Länder umfasst, in denen es moderne Gesellschaft gibt, und dessen Lösung von der praktischen und theoretischen Mitwirkung der vorgeschrittenen Länder abhängt“,

der Anschluss an die Bestrebungen der Internationalen Arbeiter-Association beschlossen. Gleichzeitig gelangte nach lebhaften Auseinandersetzungen mit 69 gegen 46 Stimmen folgendes Programm zur Annahme:

Der zu Nürnberg versammelte fünfte deutsche Arbeitervereinstag erklärt in nachstehenden Punkten seine Übereinstimmung mit dem Programm der Internationalen Arbeiterassoziation:
1. Die Emanzipation (Befreiung der arbeitenden Klassen) muss durch die arbeitenden Klassen selbst erkämpft werden. Der Kampf für die Emanzipation der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Monopole, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
2. Die ökonomische Abhängigkeit des Mannes der Arbeit von dem Monopolisten (dem ausschliesslichen Besitzer) der Arbeitswerkzeuge bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, des sozialen Elends, der geistigen Herabwürdigung und der politischen Abhängigkeit.
3. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.

Zum Präsidenten wurde August Bebel gewählt.

Beide Richtungen der Arbeiterbewegung hatten sich bereits an den Wahlen zum konstituierenden Reichstag im Februar 1867 und zum norddeutschen Reichstag im August 1867 beteiligt. Bei den Wahlen zum konstituierenden Reichstag entfielen auf den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein rund 40 000 Stimmen, ohne dass es ihm gelang, ein Mandat zu erobern, während die sächsische Volkspartei, deren Kern die sächsischen Arbeitervereine bildeten, und die sich am 19. August 1866 in Chemnitz konstituiert hatte, mit etwa 18 000 Wählerstimmen in Glauchau–Meerane Bebel und in Zwickau–Crimmitschau Schraps, beide allerdings erst in der Stichwahl, durchbrachte. Bei den Wahlen zum norddeutschen Reichstag wurden 7 Kandidaten der Arbeiterpartei gewählt, und zwar für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein von Schweitzer in Elberfeld–Barmen und Reincke in Lennep–Mettmann, für die sächsischen Arbeitervereine Bebel in Glauchau–Meerane, Schraps in Zwickau–Crimmitschau, Wilhelm Liebknecht in Stollberg–Schneeberg, Dr. Götz in Leipzig-Land und Försterling in Chemnitz. Auf den Streit zwischen beiden Richtungen einzugehen würde zu weit führen. Man kann die Differenzpunkte in Anlehnung an Mehring[2] wohl am besten so präzisieren, dass, nachdem in der Schlacht bei Königgrätz die eisernen Würfel zu Gunsten Preussens gefallen waren, der Allgemeine deutsche Arbeiterverein die nunmehr geschaffene Sachlage annahm, nicht mit irgend welcher Anerkennung, geschweige denn Begeisterung, sondern als den Abschluss einer historischen Entwicklung, die sich nicht mehr rückgängig machen lasse, die auch das Proletariat annehmen müsse, nicht als einen Boden, auf dem es sich einrichten könne, sondern als einen Platz, von dem aus es nunmehr den Kampf um seine Emanzipation führen müsse, wohingegen die sächsische Volkspartei die durch den Krieg geschaffenen Zustände unversöhnlich zu bekämpfen, die gross-deutsch-demokratische Einheitstendenz ungeschmälert aufrecht zu erhalten und die Zusammenberufung eines konstituierenden Parlaments zu erstreben beschloss, das von allen deutschen Staaten mit Einschluss Deutsch-Oesterreichs zu beschicken sei. In diesem Beschluss lag nach Mehring der Schwerpunkt des Chemnitzer Programms, das sich in seiner politisch sozialen Forderungen sonst nahe mit dem Programm des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins berührte, wenn es auch nicht so prinzipiell sozialistisch war.

[46] Mit dem Verhalten Schweitzers unzufrieden, erliessen hervorragende Mitglieder des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, darunter Wilhelm Bracke, Wilhelm Klees und Theodor York am 22. Juni 1869 einen Aufruf zur Beschickung eines grossen allgemeinen Kongresses zur wirklichen Vereinigung aller Sozialdemokraten Deutschlands. Wie Bebel in seinen Lebenserinnerungen mitteilt, hatten auch er und Liebknecht an der Besprechung, die der Veröffentlichung des Aufrufs voranging, mitgewirkt; die beiden unbestrittenen Führer der späteren sozialdemokratischen Partei Deutschlands haben also schon damals alles zur Einigung der Arbeiter getan. Vierzehn Tage später erschien ein zweiter Aufruf von Sozialisten der verschiedensten Richtung mit der Ankündigung, dass der Einigungskongress am 7. August 1869 in Eisenach zusammen treten werde. Hier wurde am 8. August 1869 die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit einem Programm beschlossen, welches als Ziel die Einrichtung des freien Volksstaates hinstellte und folgende Grundsätze proklamierte:

1. Die heutigen politischen and sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der grössten Energie zu bekämpfen.
2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.
4. Die politische Freiheit ist die unentbehrlichste Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin unzertrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.
5. In Erwägung, dass die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, gibt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen ermöglicht, seinen Einfluss für das Wohl der Gesamtheit geltend zu machen.
6. In Erwägung, dass die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfasst, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiter-Assoziation, sich deren Bestrebungen anschliessend.

Organ der Partei wurde der „Volksstaat“, das bis dahin von Wilhelm Liebknecht redigierte „Demokratische Wochenblatt“.

Auf die Dauer konnten die beiden Gruppen nicht getrennt bleiben, die Gegensätze, die zum Teil in Personen begründet waren, mussten sich abschleifen, und die Verfolgungen der Regierung, die sich in gleicher Weise gegen die Lassalleaner wie gegen die Eisenacher richteten, taten das übrige zur Annäherung. Von Schweitzer hatte, nachdem der „Sozialdemokrat“ am 30. April 1871 eingegangen war, am 30. Juni desselben Jahres das Präsidium des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins niederlegt. Bald darauf trat er aus dem Verein aus, die Erbitterung gegen ihn nahm solche Dimensionen an, dass eine am 22. Mai 1872 in Berlin abgehaltene Generalversammlung ihn als Regierungsagenten hinstellte, der die Arbeiterbewegung zu spalten und aufzuhalten gesucht habe, und den Beschluss fasste, ihn gegebenenfalls nicht wieder in den Verein aufzunehmen. Unter seinem Nachfolger Wilhelm Hasenclever hörten die Kämpfe mit den Eisenachern zunächst noch nicht auf. Aber politische Differenzpunkte zwischen den beiden Gruppen bestanden so gut wie nicht mehr, an Stärke waren sie fast gleich, und so konnte denn – gefördert durch die Aera Tessendorf, des Berliner Staatsanwalts, der im Sommer 1874 die vorläufige Schliessung sowohl des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins als auch der Berliner Mitgliedschaft der Eisenacher Partei verfügte – der endliche Zusammenschluss nur noch eine Frage der Zeit sein. Während die Frankfurter Generalversammlung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins 1873 über einen Antrag auf Anbahnung einer Vereinigung der beiden Fraktionen mit allen gegen die zwei Stimmen der Antragsteller zur Tagesordnung [47] übergegangen war, stimmten auf der Generalversammlung zu Hannover im Jahre 1874 bereits 19 von 69 Delegierten für einen Antrag, der die Notwendigkeit einer Vereinigung aller sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands betont, wenn er auch von bestimmten Vorschlägen absah, solange nicht „der Kongress der Eisenacher konstatiert, dass auch er eine Einigung aufrichtig anstrebt“. Nachdem dann der Kongress der Eisenacher in Coburg (18–21. Juli 1874) erklärt hatte, dass er der Einigung der beiden deutschen Arbeiterfraktionen geneigt sei, bot im Herbst desselben Jahres Wilhelm Tölcke namens des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins den Eisenachern die Hand zur Versöhnung, und so trat denn nach vertraulichen Vorbesprechungen und nach Veröffentlichung eines Programm- und Organisationsentwurfs vom 22. bis 27. Mai 1875 der Vereinigungskongress in Gotha zusammen. Das hier beschlossene Programm lautet in seinem grundsätzlichen Teile:

1. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, d. h. allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemässen Bedürfnissen.
In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.
Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsvertrages.
Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.
2. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.
Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewusst und entschlossen, alle Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen.
Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfange ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.

Die Organisation der Partei wurde so gestaltet, dass an die Spitze ein fünfköpfiger Vorstand mit dem Sitz in Hamburg und eine siebengliedrige Kontrollkommission mit dem Sitz in Leipzig trat. In den Vorstand wurden drei Lassalleaner und zwei Eisenacher gewählt, und zwar Hasenclever als erster, Hartmann als zweiter Vorsitzender, Auer und Derossi als Schriftführer, Geib als Kassierer. Vorsitzender der Kontrollkommission wurde Bebel. In Konfliktsfällen zwischen beiden Körperschaften sollte ein Ausschuss von 18 Mitgliedern aus verschiedenen Orten Deutschlands die Entscheidung treffen. Die höchste Instanz bildete der Kongress. Als offizielles Parteiorgan bestanden „Volksstaat“ und „Neuer Sozialdemokrat“ vorläufig nebeneinander; beide Blätter wurden auf dem nächsten Kongress, der vom 19. bis 23. August 1876 gleichfalls in Gotha tagte, zu einem einheitlichen Organ „Vorwärts“ verschmolzen. Erscheinungsort des Blattes war Leipzig, zu Redakteuren wurden Liebknecht und Hasenclever ernannt. Im ganzen verfügte die Partei damals über 23 Blätter, von denen 2, die Berliner Freie Presse und das Hamburg-Altonaer Volksblatt, täglich erschienen. Bis zum nächsten Kongress, der im Jahre 1877 wiederum in Gotha zusammentrat, hatte sich die Zahl der politischen Blätter auf 41 vermehrt, darunter 13 täglich erscheinende. Dazu kam das Unterhaltungsblatt „Neue Welt“, und am 1. Oktober 1877 erschien auch die erste Nummer einer wissenschaftlichen Parteizeitschrift unter dem Namen „Die Zukunft“.

Auch bei den Reichstagswahlen war die Zahl der für die Sozialdemokratie abgegebenen Stimmen und die Zahl der sozialdemokratischen Mandate von Jahr zu Jahr gestiegen. Als die vereinigte Partei zum erstenmal an die Wahlurne trat, am 10. Januar 1877, brachte [48] sie es auf 493 000 Stimmen gegen 352 000 im Jahre 1874. Das bedeutet eine Vermehrung um 40%, während die Bevölkerungsziffer um noch nicht 4% und die Zahl der Wahlberechtigten nur um 4,7% gestiegen war. Mehr als der zwanzigste Teil aller Wahlberechtigten hatten ihre Stimmen für die Kandidaten der Sozialdemokratie abgegeben, von denen 7 im ersten, und 5 weitere im zweiten Wahlgang gewählt wurden. Bei der vorangegangenen Wald hatte die Sozialdemokratie es nur auf 9 Mandate gebracht.

So waren alle Vorbedingungen für eine gedeihliche Weiterentwicklung der Partei gegeben, als plötzlich ein Ereignis eintrat, das die Entwicklung zwar nicht aufhalten konnte, ihr aber doch zunächst wenigstens schwere Hemmnisse in den Weg legte. Schon vor den Wahlen des Jahres 1877 hatte die Regierung beim Reichstage anlässlich der Reform des Strafgesetzbuches eine Gesetzesbestimmung beantragt, durch welche mit Gefängnis bedroht werden sollte, „wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung gegeneinander öffentlich aufreizt oder wer in gleicher Weise die Institute der Ehe, der Familie und des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift angreift“. Der Reichstag hatte die Bestimmung einmütig abgelehnt. Als nun am 11. Mai 1878 in Berlin Unter den Linden ein Klempnergeselle Hödel in dem Augenblick, als der Kaiser vorüberfuhr, einige Revolverschüsse abgab, die als ein Attentat gegen das Staatsoberhaupt ausgelegt wurden, benutzte Bismarck die Gelegenheit, dem Reichstage noch in demselben Monat einen „Gesetzentwurf zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen“ zu unterbreiten, der neben anderen drakonischen Massnahmen gegen die Sozialdemokratie dem Bundesrat die Ermächtigung geben sollte, Druckschriften und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie verfolgen, zu verbieten, der ferner der Polizei das Recht gab, Versammlungen zu verbieten oder aufzulösen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, dass sie Zielen der Sozialdemokratie dienen sollen. Das Gesetz sollte sofort in Kraft treten, seine Geltungsdauer war auf drei Jahre berechnet. Ob Hödel wirklich ein Attentat gegen Wilhelm I. beabsichtigt hatte, oder ob er nicht vielmehr, wie er behauptete, sich selbst hat erschiessen wollen, um dadurch die Aufmerksamkeit des Kaisers auf das Elend der Massen zu lenken, bleibe dahingestellt. So viel aber ist sicher, dass er mit der sozialdemokratischen Partei nicht das allergeringste zu tun hatte, als Anhänger Stöckers vielmehr ein fanatischer Gegner der Sozialdemokratie war. Bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Reichstage liess die sozialdemokratische Fraktion durch den Mund Liebknechts folgende Erklärung abgeben:

„Der Versuch, die Tat eines Wahnwitzigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung geschlossen ist, zur Ausführung eines lange vorbereiteten Reaktionsstreichs zu benutzen, um die „moralische Urheberschaft“ des noch unerwiesenen Mordattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwälzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffasst, richtet sich selbst so vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen, dass wir, die Vertreter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands uns zu der Erklärung gedrungen fühlen:
Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Debatte des dem Reichstag heute vorliegenden Ausnahmegesetzes teilzunehmen und werden uns durch keinerlei Provokationen, von welcher Seite sie kommen mögen, in diesem Entschluss erschüttern lassen. Wohl aber werden wir uns an der Abstimmung beteiligen, weil wir es für unsere Pflicht halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die Volksfreiheit das unsrige beizutragen, indem wir unsere Stimmen in die Wagschale werfen. Falle die Entscheidung des Reichstages aus, wie sie wolle, die deutsche Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgung gewöhnt, blickt weiteren Kämpfen mit jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die das Bewusstsein einer guten und unbesiegbaren Sache verleiht.“

Der Gesetzentwurf fand nicht die Zustimmung des Reichstages, er wurde am 24. Mai 1878 gegen die Stimmen der Konservativen und der beiden Nationalliberalen Beseler und von Treitschke abgelehnt. Wenige Tage darauf, am 2. Juni, erfolgte das Attentat Nobilings auf den deutschen Kaiser. Obwohl Nobiling in der Sozialdemokratie vollständig unbekannt war und den sogenannten besten Kreisen angehörte, und obwohl man niemals erfahren hat, was ihn zu dem Attentat veranlasste, machte Bismarck auch für dies Attentat ohne weiteres die Sozialdemokratie verantwortlich. Der Reichstag, der sich seinen Bestrebungen nicht willfährig genug gezeigt hatte, wurde unbekümmert darum, dass sich jetzt auch die nationalliberalen [49] Abgeordneten und die nationalliberale Presse für ein Ausnahmegesetz erklärten, am 11. Juni aufgelöst und die Neuwahlen auf den 30. Juli festgesetzt. Trotz eines mit beispielloser Verhetzung gegen die Sozialdemokraten geführten Wahlkampfes – wurden doch die Sozialdemokraten mit den verruchtesten Mördern auf eine Stufe gestellt – erlitt die Partei doch nur eine geringe Einbusse an Stimmen, die Zahl derselben sank von 493 000 auf 437 000 und die Zahl der Mandate von 12 auf 9. Im übrigen wies der neue Reichstag in seiner Zusammensetzung eine solche Veränderung auf, dass Bismarck erreicht hatte, was er wollte; er konnte je nachdem eine konservativ-nationalliberale oder eine konservativ-ultramontane Mehrheit bilden. Sofort bei seinem Zusammentritt legte die Regierung dem Reichstage den Entwurf eines „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vor, der an Schärfe den abgelehnten Entwurf weit übertraf. Verlangte er doch das Verbot von Vereinen, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken! Des weiteren sah er die Auflösung aller sozialdemokratischen Versammlungen, ja sogar von vornherein ihr Verbot vor, und ebenso das Verbot aller sozialdemokratischen Schriften. Auf die Uebertretung des Gesetzes stand schwere Strafe. Das schlimmste aber war, dass nach dem Entwurf die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes und in Verbindung damit die Ausweisung sozialdemokratischer Agitatoren zulässig war. Der Entwurf wurde mit unwesentlichen Aenderungen und unter Beschränkung seiner Geltungsdauer auf 2½ Jahre mit 221 gegen 149 Stimmen am 19. Oktober 1878 angenommen und bereits 2 Tage darauf am 21. Oktober als Gesetz verkündet.

Zwölf Jahre lang hat die deutsche Sozialdemokratie unter dem Ausnahmegesetz gestanden, das zwar ursprünglich nur bis zum 31. März 1881 Geltung hatte, dann aber von Periode zu Periode verlängert wurde. Eine Zeit der schwersten Verfolgungen brach über die Partei und ihre Mitglieder herein, fast die gesamte sozialistische Literatur wurde unterdrückt, Versammlungen wurden planmässig verboten, Vereine sowohl politischer als gewerkschaftlicher Art wurden aufgelöst, über Berlin und andere Grossstädte wurde der Belagerungszustand verhängt. Zahllos waren die Ausweisungen, unerhört hart die Bestrafungen, kurz und gut, das Gesetz wurde in der denkbar schärfsten Form ausgelegt, Tausende von Existenzen wurden vernichtet. In folgenden Zahlen spiegelt sich die Leidensgeschichte der Sozialdemokratie unter dem Ausnahmegesetz wieder: Nach einer ungefähren Statistik waren unter dem Sozialistengesetze 1300 periodische oder nichtperiodische Druckschriften und 332 Arbeiterorganisationen der einen oder anderen Art verboten worden. Ausweisungen aus den Belagerungsgebieten waren gegen 900 erfolgt, von denen über 500 die Ernährer von Familien betroffen hatten; auf Berlin fielen 293, auf Hamburg 311, auf Leipzig 164, auf Frankfurt 71, auf Stettin 53, auf Spremberg 1; in Offenbach hatte sich die hessische Regierung an der Ausweisung nicht ortsangehöriger Reichsbürger genügen lassen. Die Höhe gerichtlich verhängter Freiheitsstrafen belief sich auf etwa 1000 Jahre, die sich auf 1500 Personen verteilten. Mehring[3], dem wir diese Angaben entnehmen, fügt hinzu: „Wenn alle diese Ziffern noch nicht entfernt an die Wirklichkeit heranreichten, so gaben sie auch an und für sich nur ein ganz ungenügendes Bild von der Fülle des vernichteten Menschenglückes und Menschenlebens, von den zahllosen Märtyrern, die durch kapitalistische oder polizistische Drangsalierungen von ihrem armen Herde vertrieben, ins Elend der Verbannung gejagt, in ein frühes Grab gestürzt worden waren.“

Der Schlag traf die Partei unvorbereitet, aber schon nach einem Jahre hatte sie sich soweit wieder erholt, dass sie im Auslande ein Blatt „Sozialdemokrat“ ins Leben rufen konnte, dessen erste Nummer am 28. September 1879 in Zürich erschien. Im Jahre 1888 wurde die Redaktion, da die Leiter des Blattes infolge des Drucks, den die deutsche Regierung auf die schweizerischen Behörden ausübte, aus der Schweiz ausgewiesen wurden, nach London verlegt. Die Verbreitung des „Sozialdemokrat“ war mit grossen Gefahren [50] verknüpft, Gefahren, denen nur opfermütige und von der Heiligkeit ihrer Sache durchdrungene Männer sich zu unterziehen imstande sind. Mit allen Mitteln wurde der „Sozialdemokrat“ in Deutschland verfolgt, mit den schwersten Strafen wurde seine Verbreitung geahndet, aber ungeachtet aller Gefahren wurde er Woche für Woche über die Grenze geschmuggelt und mit einem wahren Heisshunger von den Parteigenossen verschlungen. Welcher Verbreitung sich das Blatt erfreute, erhellt am besten daraus, dass es nicht nur seine Herstellungskosten deckte, sondern noch reichliche Mittel zu Agitationszwecken abwarf. Auch sonst liess es die Partei an der Herausgabe aufklärender Schriften über den Sozialismus nicht fehlen; besonders hervorzuheben ist die in Zürich erschienene „Sozialdemokratische Bibliothek“, eine Sammlung von Abhandlungen, die während des Ausnahmegesetzes und nachher ungeheuer viel zur Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Arbeitern beigetragen haben.

Der erste Kongress der Partei nach Erlass des Sozialistengesetzes tagte vom 20. bis 23. August 1880 auf Schloss Wyden in der Nähe von Ossingen im Kanton Zürich. Der Ort der Tagung dieses sowie aller übrigen Kongresse unter dem Ausnahmegesetz blieb trotz der vorherigen Ankündigung, dass ein Kongress abgehalten werde, stets tiefes Geheimnis, vor allem erfuhr die Polizei niemals etwas davon. Der wichtigste Beschluss des Wydener Kongresses, der von 56 Teilnehmern – in ihrer überwiegenden Mehrzahl aus Deutschland, aber auch Vertretern der deutschen Sozialisten in der Schweiz, in Frankreich und Belgien sowie von je zwei österreichischen und schweizerischen Parteigenossen – besucht war, war die Streichung des Wortes „gesetzlich“ aus dem zweiten Absatz des Gothaer Programms. Die Gegner der Sozialdemokratie und eine Reihe von Staatsanwälten zogen aus der Streichung dieses Wortes den Schluss, damit sei ausgesprochen, dass die Partei in Zukunft nur noch mit ungesetzlichen und revolutionären Mitteln ihre Ziele zu erstreben suchen werde. Auf dem Kongress selbst wurde von den Rednern, welche für den Antrag sprachen, ausgeführt, dass es nach der Art und Weise, wie das Sozialistengesetz gehandhabt werde, einfach ein Widersinn wäre, das Wort „gesetzlich“ im Programm stehen zu lassen. Die Partei sei tatsächlich ausserhalb des Gesetzes gestellt und für vogelfrei erklärt, und was von der Partei ausgehe, werde verfolgt. Unter solchen Umständen sei die Erklärung, nur mit gesetzlichen Mitteln wirken zu wollen, entweder eine der Partei unwürdige Heuchelei oder aber, wenn man das Wort ernst nehmen wolle, ein Verzicht auf jede selbständige Aktion und sozialdemokratische Propaganda.[4]

Schon der nächste Kongress (29. März bis 2. April 1883 in Kopenhagen) zeigte, dass die Partei die Schlappen, die ihr das Sozialistengesetz beigebracht hatte, überwunden hatte. Der dritte und letzte Kongress unter dem Ausnahmegesetz (2. bis 6. Oktober 1887 in St. Gallen) beauftragte Auer, Bebel und Liebknecht mit der Durcharbeitung des Parteiprogramms. Der Entwurf sollte in allen seinen Teilen in der sozialistischen Presse zur Besprechung kommen, zur Abstimmung sollte der hieraus sich ergebende Entwurf auf dem nächsten Parteitage gelangen. Wie wenig sich die Sozialdemokratie durch die Verfolgungen und Drangsalierungen der Behörden entmutigen liess, zeigt die Schlussrede des Vorsitzenden Paul Singer, der der festen Zuversicht Ausdruck gab, „dass die Partei in Deutschland trotz aller Bedrückungen unentwegt vorwärts marschieren werde und dass keine Macht der Erde imstande sei, den befreienden Ideen der Sozialdemokratie sich mit Aussicht auf Erfolg entgegenzustellen“. Das war nicht die Sprache von Besiegten, nicht die Sprache von Leuten, die vor dem Feinde kapitulieren, sondern die Sprache von Männern, die gewillt sind, den Kampf bis zu Ende zu führen.

Es liegt kein Grund vor, zu leugnen, dass die Partei im ersten Jahre des Ausnahmegesetzes vor dem Zusammenbruch stand, dass es einer Riesenarbeit und grosser Hingebung bedurft hat, um sie wieder aufzurichten. Aber die Mühe, deren sich so mancher brave Parteigenosse unterzog, wurde herrlich belohnt, fester und fester schlossen sich die Reihen der [51] überzeugten Sozialdemokraten, und sobald man sich von dem ersten Schreck erholt hatte, stiegen auch wieder die bei den Reichstagswahlen abgegebenen Stimmen, die bei der ersten Wahl unter dem Ausnahmegesetz im Jahre 1881 auf 312 000 gesunken waren. Man darf aber nicht vergessen, dass die Wahlbeteiligung eine verhältnismässig schwache war, und dass zweifellos ein Teil der für den Sozialismus bereits gewonnenen Arbeiter durch die beständigen Verfolgungen und fortgesetzten Drohungen eingschüchtert wurden und deshalb von der Wahlurne fernblieben. Trotz des Stimmenrückgangs errang die Partei im Jahre 1881 13 Mandate, allerdings erst in den Stichwahlen, von denen eins unbesetzt bleiben musste, da Liebknecht doppelt gewählt war und in der Nachwahl das Mandat für Mainz verloren ging. Glänzend war der Wahlsieg im Jahre 1884, wo es die Sozialdemokratie auf 550 000 Stimmen und 24 Mandate brachte, von denen sie neun sofort in der Hauptwahl eroberte. Bei den Septennatswahlen des Jahres 1887 stieg die Stimmenzahl auf 763 000, aber trotzdem verlor die Partei mehr als die Hälfte ihrer Mandate, sie brachte in der Hauptwahl nur sechs und in den Stichwahlen nur fünf Kandidaten durch.

Inzwischen war das Sozialistengesetz wiederholt, zuletzt bis zum 30. September 1890 verlängert worden. Im Winter 1889/90 verlangte Bismarck vom Reichstage das Erlöschen des Gesetzes als Ausnahmegesetz und seine Umgestaltung zu einem dauernden ordentlichen Gesetze. Die Mehrheit des Reichstages war bereit, ihm zu folgen, doch verlangten die Nationalliberalen gewisse Milderungen, vor allem die Streichung der Ausweisungsbefugnis der Polizei. Hierfür waren die Konservativen nicht zu haben, sie stimmten, da die Nationalliberalen in der zweiten Lesung ihren Willen durchgesetzt hatten, nunmehr gegen das ganze Gesetz, das somit am 25. Januar 1890 abgelehnt wurde. Bei den Wahlen, die bald darauf, am 20. Februar 1890 stattfanden, erwies sich die Sozialdemokratie als stärkste politische Partei Deutschlands. Der Erfolg kam selbst den Parteigenossen überraschend, die Stimmenzahl hatte sich fast verdoppelt, sie war von 763 000 auf 1 427 000 emporgeschnellt und betrug 14,1% aller Wahlberechtigten. Ja, von denen, die ihr Wahlrecht ausgeübt hatten, hatten sogar 19,7%, fast der fünfte Teil, für die sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt. Die Zahl der errungenen Mandate allerdings stand zu der Stimmenzahl in keinem Verhältnis, denn während das Zentrum mit 1 340 000 Stimmen 106 Mandate erhielt und auf die beiden konservativen Parteien mit 1 370 000 Stimmen 93 Mandate entfielen, wurden die fast 1½ Millionen sozialdemokratischen Wähler nur durch 35 Abgeordnete vertreten, von denen 20 ohne Stichwahl den Sieg errangen. Vier Wochen nach den Wahlen, am 20. März 1890, reichte Bismarck sein Entlassungsgesuch ein, und an eine Verlängerung des Sozialistengesetzes dachte niemand mehr, sodass es im September 1890 ohne weiteres erlosch.

Während der nächsten zwei Jahrzehnte zeigte die Sozialdemokratie ein gleichmässiges unaufhaltsames Fortschreiten. Im Jahre 1893 errang sie bei der 1 787 000 Stimmen 44, im Jahre 1898 bei 2 107 000 Stimmen 56 und im Jahre 1903 bei mehr als 3 Millionen Stimmen 81 Mandate, davon 56 sogleich in der Hauptwahl. Im Jahre 1907 sank die Zahl ihrer Mandate zwar auf 43, aber die Zahl der für die Partei abgegebenen Stimmen war auf 3¼ Millionen gestiegen, die Kandidaten der Sozialdemokratie hatten mehr Stimmen auf sich vereinigt als die irgend einer anderen Partei. Allerdings war die Stimmenzunahme nicht eine so grosse wie in früheren Jahren, aber die Niederlage von 1907, wenn man in dem Wahlausfall durchaus eine Niederlage erblicken will, wurde reichlich wettgemacht durch die Erfolge bei den Nachwahlen, wo es der Sozialdemokratie gelang, eine Reihe von Kreisen zu erobern, die noch niemals in ihrem Besitz gewesen waren, und durch das Resultat der Wahlen zum Preussischen Landtag im Jahre 1908, wo zum erstenmal Vertreter der Sozialdemokratie in das Preussische Abgeordnetenhaus einzogen. Mehr als ausgeglichen wurde der Misserfolg von 1907 bei den Wahlen des Jahres 1912, wo die Sozialdemokratie mit 110 Abgeordneten, die 4¼ Millionen Stimmen auf sich vereinigt hatten, als stärkste Partei in den Reichstag zog. Auch die Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften in anderen Bundesstaaten fielen recht günstig aus.

An Versuchen zur Unterdrückung der Sozialdemokratie hat es auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes nicht gefehlt, nur glaubte man jetzt auf Grund des gemeinen Rechtes vorgehen zu sollen. Der erste Versuch dieser Art war die dem Reichstage im Jahre 1894 unterbreitete Umsturzvorlage, zu deren Begründung der damalige Reichskanzler Fürst Hohenlohe [52] ausführte: „Ob das Ausnahmegesetz gute oder geringe Wirkung gehabt hat, lasse ich dahingestellt. Man hat es wieder fallen lassen, und die gegen die Monarchie, die Religion und alle Grundlagen unserer Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen konnten ungehindert ihren Fortgang nehmen; dem kann der Staat nicht untätig zusehen. Wir suchen die Abhilfe nicht in einem Ausnahmegesetz, aber in einer Verschärfung und Ergänzung der Bestimmungen des gemeinen Rechts.“ Der Reichstag lehnte die Vorlage ab. Der nächste gesetzgeberische Versuch war die sogenannte Zuchthausvorlage, die dem Reichstage am 1. Juni 1899 unterbreitet wurde, aber gleichfalls nicht die Zustimmung der Mehrheit fand. Schon vorher war ein Versuch der preussischen Regierung im Jahre 1897, das damalige preussische Vereinsgesetz zu verschärfen und es zu einem Kampfgesetz gegen die Sozialdemokratie zu gestalten, gescheitert.

Über die Entwicklung der Sozialdemokratie seit dem Fall des Sozialistengesetzes geben Auskunft die Berichte, die der Parteivorstand alljährlich an den Parteitag erstattet. Auf dem ersten Parteitag zu Halle 1890 konstituierte sich die Partei als „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“. Auf dem Erfurter Parteitag 1891 schuf sie sich ihr Programm, das bis zum heutigen Tage unverändert geblieben ist, das sogenannte Erfurter Programm, dessen prinzipiellen Teil wir im Wortlaut folgen lassen:

Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismässig kleinen Zahl von Kapitalisten und Grossgrundbesitzern werden.
Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Grossbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Grossgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten – Kleinbürger, Bauern – bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz, des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung.
Immer grösser wird die Zahl der Proletarier, immer massenhafter die Armee der überschüssigen Arbeiter, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt und das gemeinsame Merkmal aller Industrieländer ist.
Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft erheben und den Beweis liefern, dass die Produktivkräfte der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.
Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter – Kapitalisten, Grossgrundbesitzer – in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum, und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, dass der Grossbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.
Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht blos des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben.
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.
Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Partei.

[53]

Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmässig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewussten Arbeitern aller übrigen Länder.
Die sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloss die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.

Von Fragen, die die weiteren Parteitage beschäftigten, seien genannt der Staatssozialismus, die Stellung der Sozialdemokratie zur Gewerkschaftsbewegung, die Agrarfrage, die Frauenfrage, die Frage der Beteiligung an den preussischen Landtagswahlen, die Zoll- und Handelspolitik, die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei, eine Frage, deren Erörterung durch das Auftreten der Revisionisten notwendig wurde, ferner die Frage der Weltpolitik, der Arbeiterversicherung, der Kommunalpolitik, des politischen Massenstreiks, der Volkserziehung, der Sozialpolitik, die Genossenschaftsfrage, die Alkoholfrage, die Steuerfrage und die Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vom Jahre 1900 ab haben auch wiederholt besondere Frauenkonferenzen getagt, die letzte im Jahre 1911 in Jena. Die Protokolle über die Parteitage, über die Landesversammlungen der Sozialdemokraten in den einzelnen Bundesstaaten, über die Konferenzen der sozialdemokratischen Gemeindevertreter bieten ein Bild von dem regen Leben, das in der Partei herrscht.

Getreu ihren Grundsätzen betätigt sich die Sozialdemokratie auch auf internationalem Gebiet. Auf den internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongressen (1890 in Paris, 1891 in Brüssel, 1893 in Zürich, 1900 in Paris, 1904 in Amsterdam, 1907 in Stuttgart, 1910 in Kopenhagen und 1913 in Basel) war sie vertreten und hat regen Anteil an den Verhandlungen genommen, dem internationalen sozialistischen Bureau in Brüssel ist sie angeschlossen.

Über den augenblicklichen Stand der Bewegung gibt der Bericht an den Parteitag in Jena Auskunft. Hiernach belief sich die Anzahl der organisierten Sozialdemokraten am 31. März 1913 auf 982 850, gegenüber dem 1. Juli 1912 ein Mehr von 12 738. Die. Fortschritte der proletarischen Jugendbewegung lassen sich an dem Abonnentenstand der „Arbeiterjugend“ ermessen, der zurzeit 89 409 beträgt und sich auf mehr als 560 Orte verteilt. Jugendausschüsse bestehen an 655, besondere Jugendheime an 291 Orten. Die Agitation unter den Landarbeitern hat gleichfalls gute Fortschritte gemacht, und ebenso ist über die Frauenbewegung nur Günstiges zu berichten.

In den Landtagen von 22 Bundesstaaten sitzen insgesamt 231 sozialdemokratische Abgeordnete, in 509 Städten und 2973 Landgemeinden zählt die Partei zusammen 11 681 Gemeindevertreter, wozu noch 320 Vertreter im Magistrat, im Stadtrat oder im Gemeindevorstand von 65 Städten und 120 Landgemeinden kommen. Die Zahl der Tageszeitungen beträgt 90. Das Zentralorgan, der „Vorwärts“, lieferte im letzten Jahre 280 000 M., die wissenschaftliche Revue „Die neue Zeit“, das Witzblatt „Der wahre Jakob“ und die Frauenzeitung, die „Gleichheit“, zusammen 100 000 M., die Buchhandlung „Vorwärts“ 20 000 M. als Überschuss an die Parteikasse ab. Dagegen erfordert die „Kommunale Praxis“ Zuschüsse. Vom Parteivorstand ressortiert ein besonderes Pressebureau, das die Parteizeitungen mit Nachrichten versorgt, ein Bildungsausschuss, die Zentralstelle für die arbeitende Jugend und die Parteischule, die bereits ihren sechsten halbjährigen Kursus hinter sich hat. Die Gesamteinnahmen allein bei der Zentralkasse beliefen sieh im letzten Jahre auf 1 469 718 M., die Gesamtausgaben auf 1 075 551 M.

Das Wesen der Sozialdemokratie geht aus der Entstehungsgeschichte der Partei und aus ihrem Programm deutlich hervor. Als Vertreterin einer wirtschaftlich schlecht gestellten und politisch unterdrückten Klasse, für deren soziale Hebung und politische Gleichberechtigung sie kämpft, muss die Sozialdemokratie ihrem innersten Wesen [54] nach demokratisch sein, and zwar radikal-demokratisch. Gleichzeitig muss sie für weitgehende Eingriffe der öffentlichen Gewalten in die freie Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu Gunsten der wirtschaftlich Schwächeren eintreten, wie sie das besonders in den Parlamenten, vor allem bei Beratung der Arbeiterschutzgesetze, von jeher getan hat.

Das politische Ziel ergibt sich aus dem Vorhergehenden von selbst: eine radikale Demokratie, also eine Demokratie ohne jede Beschönigung, eine Staatsverfassung auf republikanischer Grundlage. Ueber die Einzelheiten einer solchen Verfassung, ob Republik nach französischem Muster mit einem Präsidenten an der Spitze, oder nach schweizerischem Muster mit einem Bundesrat, oder wie sonst, hat die Partei noch nie Gelegenheit gehabt, offiziell ihre Ansichten zu entwickeln. Aus leicht erklärlichen Gründen. Die unmittelbaren politischen Kampfziele können nicht nach dem Belieben von Parteien gewählt werden, sie resultieren vielmehr aus der gesamten Gestaltung der politischen Verhältnisse. Nach Lage der Dinge aber ist in Deutschland, speziell in Preussen, eine Parteistellung im politischen Kampf: hie Republikaner – hie Monarchisten! vorläufig ausgeschlossen. Hier handelt es sich zunächst lediglich um eine stärkere Demokratisierung unserer gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, um ihre Durchdringung mit demokratischem Geiste. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass als weiteres Ziel die völlige demokratische Verfassung auf republikanischer Grundlage mit aller Klarheit und Deutlichkeit hingestellt wird.

Auch auf wirtschaftlichem Gebiete erschöpft sich die unmittelbare Tätigkeit zwar in dem Kampf um eine Besserung der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebung – nicht nur der Industriearbeiter, sondern aus dem Wesen der Partei folgt der Versuch der Einbeziehung aller schlechtgestellten Klassen, vor allem auch der Landarbeiter in die Reihen der Partei. Dieser unmittelbare Tageskampf kann selbstredend kein endgültiges Ziel sein, das eine Partei als ihr Ideal bezeichnet und für das sie Kämpfer aus allen Klassen werben kann. Ebensowenig kann sie als Ziel die Errichtung einer neuen Klassenherrschaft, etwa die Herrschaft der Klasse der Industriearbeiter oder der Arbeiter schlechtweg aufstellen. Ziel der Sozialdemokratie ist vielmehr die Schaffung eines Zustandes, in welchem die Klassengegensätze überhaupt verschwunden sind. Die Partei erstrebt daher die Ueberwindung der Klassengegensätze durch Aufhebung der Klassen selbst. Mit der völligen politischen Gleichberechtigung muss Hand in Hand gehen eine Beseitigung der verschiedenen Klassen und damit eine vollständige Beseitigung der wirtschaftlichen Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. An die Stelle der Warenproduktion, der Produktion der Verbrauchsgüter als Waren für den Markt, soll eine sozialistische Produktion treten, in welcher alle Güter als Verbrauchsgüter hergestellt werden und die den Gegensatz zwischen den um Lohn arbeitenden Proletariern und den am Verkauf der Waren interessierten Unternehmern beseitigt.

Charakteristisch für die sozialdemokratische Partei ist das Bewusstsein ihrer eigenen historischen Bedingtheit, wie überhaupt der historischen Bedingtheit aller politischen und wirtschaftlichen Zustände. Die Partei stellt ihre Ziele nicht als willkürliche auf, die zu einer beliebigen Zeit ersonnen und verwirklicht werden können, sie ist vielmehr von einer Entwicklung des Menschengeschlechts im Sinne einer aufsteigenden Kultur überzeugt in dem Sinne, dass nicht nur die Kultur selbst immer mehr verfeinert wird, sondern dass vor allem der Genuss der Kulturgüter über immer breitere Massen sich erstreckt. Die Träger dieser Aufwärtsentwicklung der Menschheit sind von jeher die Unterdrückten genesen, deren Kampf daher stets auch ein Kampf für die Förderung der allgemeinen Kultur war. So ist es auch heute, und deshalb ist gerade die sozialdemokratische Partei diejenige, die den Kampf für die allgemeinen Kulturinteressen führt. Aus der jeweils erreichten Entwicklungsstufe ergeben sich mit innerer Notwendigkeit die Aufgaben, die erfüllt werden müssen, um zu einer höheren Kulturstufe emporzusteigen. Deshalb glaubt die Partei, ihre Ziele nicht nach Willkür gesetzt zu haben, sondern sie sucht sie aus dem allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsgang zu erschliessen, und in dem Eintreten für diese Ziele glaubt sie den notwendigen Entwicklungsgang zu befördern und zu beschleunigen.





  1. Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie.
  2. Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie.
  3. Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 4.
  4. Nach 10 Jahren, Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes.