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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmässig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewussten Arbeitern aller übrigen Länder.
Die sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloss die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.

Von Fragen, die die weiteren Parteitage beschäftigten, seien genannt der Staatssozialismus, die Stellung der Sozialdemokratie zur Gewerkschaftsbewegung, die Agrarfrage, die Frauenfrage, die Frage der Beteiligung an den preussischen Landtagswahlen, die Zoll- und Handelspolitik, die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei, eine Frage, deren Erörterung durch das Auftreten der Revisionisten notwendig wurde, ferner die Frage der Weltpolitik, der Arbeiterversicherung, der Kommunalpolitik, des politischen Massenstreiks, der Volkserziehung, der Sozialpolitik, die Genossenschaftsfrage, die Alkoholfrage, die Steuerfrage und die Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vom Jahre 1900 ab haben auch wiederholt besondere Frauenkonferenzen getagt, die letzte im Jahre 1911 in Jena. Die Protokolle über die Parteitage, über die Landesversammlungen der Sozialdemokraten in den einzelnen Bundesstaaten, über die Konferenzen der sozialdemokratischen Gemeindevertreter bieten ein Bild von dem regen Leben, das in der Partei herrscht.

Getreu ihren Grundsätzen betätigt sich die Sozialdemokratie auch auf internationalem Gebiet. Auf den internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongressen (1890 in Paris, 1891 in Brüssel, 1893 in Zürich, 1900 in Paris, 1904 in Amsterdam, 1907 in Stuttgart, 1910 in Kopenhagen und 1913 in Basel) war sie vertreten und hat regen Anteil an den Verhandlungen genommen, dem internationalen sozialistischen Bureau in Brüssel ist sie angeschlossen.

Über den augenblicklichen Stand der Bewegung gibt der Bericht an den Parteitag in Jena Auskunft. Hiernach belief sich die Anzahl der organisierten Sozialdemokraten am 31. März 1913 auf 982 850, gegenüber dem 1. Juli 1912 ein Mehr von 12 738. Die. Fortschritte der proletarischen Jugendbewegung lassen sich an dem Abonnentenstand der „Arbeiterjugend“ ermessen, der zurzeit 89 409 beträgt und sich auf mehr als 560 Orte verteilt. Jugendausschüsse bestehen an 655, besondere Jugendheime an 291 Orten. Die Agitation unter den Landarbeitern hat gleichfalls gute Fortschritte gemacht, und ebenso ist über die Frauenbewegung nur Günstiges zu berichten.

In den Landtagen von 22 Bundesstaaten sitzen insgesamt 231 sozialdemokratische Abgeordnete, in 509 Städten und 2973 Landgemeinden zählt die Partei zusammen 11 681 Gemeindevertreter, wozu noch 320 Vertreter im Magistrat, im Stadtrat oder im Gemeindevorstand von 65 Städten und 120 Landgemeinden kommen. Die Zahl der Tageszeitungen beträgt 90. Das Zentralorgan, der „Vorwärts“, lieferte im letzten Jahre 280 000 M., die wissenschaftliche Revue „Die neue Zeit“, das Witzblatt „Der wahre Jakob“ und die Frauenzeitung, die „Gleichheit“, zusammen 100 000 M., die Buchhandlung „Vorwärts“ 20 000 M. als Überschuss an die Parteikasse ab. Dagegen erfordert die „Kommunale Praxis“ Zuschüsse. Vom Parteivorstand ressortiert ein besonderes Pressebureau, das die Parteizeitungen mit Nachrichten versorgt, ein Bildungsausschuss, die Zentralstelle für die arbeitende Jugend und die Parteischule, die bereits ihren sechsten halbjährigen Kursus hinter sich hat. Die Gesamteinnahmen allein bei der Zentralkasse beliefen sieh im letzten Jahre auf 1 469 718 M., die Gesamtausgaben auf 1 075 551 M.

Das Wesen der Sozialdemokratie geht aus der Entstehungsgeschichte der Partei und aus ihrem Programm deutlich hervor. Als Vertreterin einer wirtschaftlich schlecht gestellten und politisch unterdrückten Klasse, für deren soziale Hebung und politische Gleichberechtigung sie kämpft, muss die Sozialdemokratie ihrem innersten Wesen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/69&oldid=- (Version vom 4.9.2021)