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nach demokratisch sein, and zwar radikal-demokratisch. Gleichzeitig muss sie für weitgehende Eingriffe der öffentlichen Gewalten in die freie Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu Gunsten der wirtschaftlich Schwächeren eintreten, wie sie das besonders in den Parlamenten, vor allem bei Beratung der Arbeiterschutzgesetze, von jeher getan hat.

Das politische Ziel ergibt sich aus dem Vorhergehenden von selbst: eine radikale Demokratie, also eine Demokratie ohne jede Beschönigung, eine Staatsverfassung auf republikanischer Grundlage. Ueber die Einzelheiten einer solchen Verfassung, ob Republik nach französischem Muster mit einem Präsidenten an der Spitze, oder nach schweizerischem Muster mit einem Bundesrat, oder wie sonst, hat die Partei noch nie Gelegenheit gehabt, offiziell ihre Ansichten zu entwickeln. Aus leicht erklärlichen Gründen. Die unmittelbaren politischen Kampfziele können nicht nach dem Belieben von Parteien gewählt werden, sie resultieren vielmehr aus der gesamten Gestaltung der politischen Verhältnisse. Nach Lage der Dinge aber ist in Deutschland, speziell in Preussen, eine Parteistellung im politischen Kampf: hie Republikaner – hie Monarchisten! vorläufig ausgeschlossen. Hier handelt es sich zunächst lediglich um eine stärkere Demokratisierung unserer gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, um ihre Durchdringung mit demokratischem Geiste. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass als weiteres Ziel die völlige demokratische Verfassung auf republikanischer Grundlage mit aller Klarheit und Deutlichkeit hingestellt wird.

Auch auf wirtschaftlichem Gebiete erschöpft sich die unmittelbare Tätigkeit zwar in dem Kampf um eine Besserung der Lage der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gesetzgebung – nicht nur der Industriearbeiter, sondern aus dem Wesen der Partei folgt der Versuch der Einbeziehung aller schlechtgestellten Klassen, vor allem auch der Landarbeiter in die Reihen der Partei. Dieser unmittelbare Tageskampf kann selbstredend kein endgültiges Ziel sein, das eine Partei als ihr Ideal bezeichnet und für das sie Kämpfer aus allen Klassen werben kann. Ebensowenig kann sie als Ziel die Errichtung einer neuen Klassenherrschaft, etwa die Herrschaft der Klasse der Industriearbeiter oder der Arbeiter schlechtweg aufstellen. Ziel der Sozialdemokratie ist vielmehr die Schaffung eines Zustandes, in welchem die Klassengegensätze überhaupt verschwunden sind. Die Partei erstrebt daher die Ueberwindung der Klassengegensätze durch Aufhebung der Klassen selbst. Mit der völligen politischen Gleichberechtigung muss Hand in Hand gehen eine Beseitigung der verschiedenen Klassen und damit eine vollständige Beseitigung der wirtschaftlichen Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. An die Stelle der Warenproduktion, der Produktion der Verbrauchsgüter als Waren für den Markt, soll eine sozialistische Produktion treten, in welcher alle Güter als Verbrauchsgüter hergestellt werden und die den Gegensatz zwischen den um Lohn arbeitenden Proletariern und den am Verkauf der Waren interessierten Unternehmern beseitigt.

Charakteristisch für die sozialdemokratische Partei ist das Bewusstsein ihrer eigenen historischen Bedingtheit, wie überhaupt der historischen Bedingtheit aller politischen und wirtschaftlichen Zustände. Die Partei stellt ihre Ziele nicht als willkürliche auf, die zu einer beliebigen Zeit ersonnen und verwirklicht werden können, sie ist vielmehr von einer Entwicklung des Menschengeschlechts im Sinne einer aufsteigenden Kultur überzeugt in dem Sinne, dass nicht nur die Kultur selbst immer mehr verfeinert wird, sondern dass vor allem der Genuss der Kulturgüter über immer breitere Massen sich erstreckt. Die Träger dieser Aufwärtsentwicklung der Menschheit sind von jeher die Unterdrückten genesen, deren Kampf daher stets auch ein Kampf für die Förderung der allgemeinen Kultur war. So ist es auch heute, und deshalb ist gerade die sozialdemokratische Partei diejenige, die den Kampf für die allgemeinen Kulturinteressen führt. Aus der jeweils erreichten Entwicklungsstufe ergeben sich mit innerer Notwendigkeit die Aufgaben, die erfüllt werden müssen, um zu einer höheren Kulturstufe emporzusteigen. Deshalb glaubt die Partei, ihre Ziele nicht nach Willkür gesetzt zu haben, sondern sie sucht sie aus dem allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsgang zu erschliessen, und in dem Eintreten für diese Ziele glaubt sie den notwendigen Entwicklungsgang zu befördern und zu beschleunigen.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/70&oldid=- (Version vom 4.9.2021)