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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

verknüpft, Gefahren, denen nur opfermütige und von der Heiligkeit ihrer Sache durchdrungene Männer sich zu unterziehen imstande sind. Mit allen Mitteln wurde der „Sozialdemokrat“ in Deutschland verfolgt, mit den schwersten Strafen wurde seine Verbreitung geahndet, aber ungeachtet aller Gefahren wurde er Woche für Woche über die Grenze geschmuggelt und mit einem wahren Heisshunger von den Parteigenossen verschlungen. Welcher Verbreitung sich das Blatt erfreute, erhellt am besten daraus, dass es nicht nur seine Herstellungskosten deckte, sondern noch reichliche Mittel zu Agitationszwecken abwarf. Auch sonst liess es die Partei an der Herausgabe aufklärender Schriften über den Sozialismus nicht fehlen; besonders hervorzuheben ist die in Zürich erschienene „Sozialdemokratische Bibliothek“, eine Sammlung von Abhandlungen, die während des Ausnahmegesetzes und nachher ungeheuer viel zur Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Arbeitern beigetragen haben.

Der erste Kongress der Partei nach Erlass des Sozialistengesetzes tagte vom 20. bis 23. August 1880 auf Schloss Wyden in der Nähe von Ossingen im Kanton Zürich. Der Ort der Tagung dieses sowie aller übrigen Kongresse unter dem Ausnahmegesetz blieb trotz der vorherigen Ankündigung, dass ein Kongress abgehalten werde, stets tiefes Geheimnis, vor allem erfuhr die Polizei niemals etwas davon. Der wichtigste Beschluss des Wydener Kongresses, der von 56 Teilnehmern – in ihrer überwiegenden Mehrzahl aus Deutschland, aber auch Vertretern der deutschen Sozialisten in der Schweiz, in Frankreich und Belgien sowie von je zwei österreichischen und schweizerischen Parteigenossen – besucht war, war die Streichung des Wortes „gesetzlich“ aus dem zweiten Absatz des Gothaer Programms. Die Gegner der Sozialdemokratie und eine Reihe von Staatsanwälten zogen aus der Streichung dieses Wortes den Schluss, damit sei ausgesprochen, dass die Partei in Zukunft nur noch mit ungesetzlichen und revolutionären Mitteln ihre Ziele zu erstreben suchen werde. Auf dem Kongress selbst wurde von den Rednern, welche für den Antrag sprachen, ausgeführt, dass es nach der Art und Weise, wie das Sozialistengesetz gehandhabt werde, einfach ein Widersinn wäre, das Wort „gesetzlich“ im Programm stehen zu lassen. Die Partei sei tatsächlich ausserhalb des Gesetzes gestellt und für vogelfrei erklärt, und was von der Partei ausgehe, werde verfolgt. Unter solchen Umständen sei die Erklärung, nur mit gesetzlichen Mitteln wirken zu wollen, entweder eine der Partei unwürdige Heuchelei oder aber, wenn man das Wort ernst nehmen wolle, ein Verzicht auf jede selbständige Aktion und sozialdemokratische Propaganda.[1]

Schon der nächste Kongress (29. März bis 2. April 1883 in Kopenhagen) zeigte, dass die Partei die Schlappen, die ihr das Sozialistengesetz beigebracht hatte, überwunden hatte. Der dritte und letzte Kongress unter dem Ausnahmegesetz (2. bis 6. Oktober 1887 in St. Gallen) beauftragte Auer, Bebel und Liebknecht mit der Durcharbeitung des Parteiprogramms. Der Entwurf sollte in allen seinen Teilen in der sozialistischen Presse zur Besprechung kommen, zur Abstimmung sollte der hieraus sich ergebende Entwurf auf dem nächsten Parteitage gelangen. Wie wenig sich die Sozialdemokratie durch die Verfolgungen und Drangsalierungen der Behörden entmutigen liess, zeigt die Schlussrede des Vorsitzenden Paul Singer, der der festen Zuversicht Ausdruck gab, „dass die Partei in Deutschland trotz aller Bedrückungen unentwegt vorwärts marschieren werde und dass keine Macht der Erde imstande sei, den befreienden Ideen der Sozialdemokratie sich mit Aussicht auf Erfolg entgegenzustellen“. Das war nicht die Sprache von Besiegten, nicht die Sprache von Leuten, die vor dem Feinde kapitulieren, sondern die Sprache von Männern, die gewillt sind, den Kampf bis zu Ende zu führen.

Es liegt kein Grund vor, zu leugnen, dass die Partei im ersten Jahre des Ausnahmegesetzes vor dem Zusammenbruch stand, dass es einer Riesenarbeit und grosser Hingebung bedurft hat, um sie wieder aufzurichten. Aber die Mühe, deren sich so mancher brave Parteigenosse unterzog, wurde herrlich belohnt, fester und fester schlossen sich die Reihen der


  1. Nach 10 Jahren, Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/66&oldid=- (Version vom 4.9.2021)