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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

überzeugten Sozialdemokraten, und sobald man sich von dem ersten Schreck erholt hatte, stiegen auch wieder die bei den Reichstagswahlen abgegebenen Stimmen, die bei der ersten Wahl unter dem Ausnahmegesetz im Jahre 1881 auf 312 000 gesunken waren. Man darf aber nicht vergessen, dass die Wahlbeteiligung eine verhältnismässig schwache war, und dass zweifellos ein Teil der für den Sozialismus bereits gewonnenen Arbeiter durch die beständigen Verfolgungen und fortgesetzten Drohungen eingschüchtert wurden und deshalb von der Wahlurne fernblieben. Trotz des Stimmenrückgangs errang die Partei im Jahre 1881 13 Mandate, allerdings erst in den Stichwahlen, von denen eins unbesetzt bleiben musste, da Liebknecht doppelt gewählt war und in der Nachwahl das Mandat für Mainz verloren ging. Glänzend war der Wahlsieg im Jahre 1884, wo es die Sozialdemokratie auf 550 000 Stimmen und 24 Mandate brachte, von denen sie neun sofort in der Hauptwahl eroberte. Bei den Septennatswahlen des Jahres 1887 stieg die Stimmenzahl auf 763 000, aber trotzdem verlor die Partei mehr als die Hälfte ihrer Mandate, sie brachte in der Hauptwahl nur sechs und in den Stichwahlen nur fünf Kandidaten durch.

Inzwischen war das Sozialistengesetz wiederholt, zuletzt bis zum 30. September 1890 verlängert worden. Im Winter 1889/90 verlangte Bismarck vom Reichstage das Erlöschen des Gesetzes als Ausnahmegesetz und seine Umgestaltung zu einem dauernden ordentlichen Gesetze. Die Mehrheit des Reichstages war bereit, ihm zu folgen, doch verlangten die Nationalliberalen gewisse Milderungen, vor allem die Streichung der Ausweisungsbefugnis der Polizei. Hierfür waren die Konservativen nicht zu haben, sie stimmten, da die Nationalliberalen in der zweiten Lesung ihren Willen durchgesetzt hatten, nunmehr gegen das ganze Gesetz, das somit am 25. Januar 1890 abgelehnt wurde. Bei den Wahlen, die bald darauf, am 20. Februar 1890 stattfanden, erwies sich die Sozialdemokratie als stärkste politische Partei Deutschlands. Der Erfolg kam selbst den Parteigenossen überraschend, die Stimmenzahl hatte sich fast verdoppelt, sie war von 763 000 auf 1 427 000 emporgeschnellt und betrug 14,1% aller Wahlberechtigten. Ja, von denen, die ihr Wahlrecht ausgeübt hatten, hatten sogar 19,7%, fast der fünfte Teil, für die sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt. Die Zahl der errungenen Mandate allerdings stand zu der Stimmenzahl in keinem Verhältnis, denn während das Zentrum mit 1 340 000 Stimmen 106 Mandate erhielt und auf die beiden konservativen Parteien mit 1 370 000 Stimmen 93 Mandate entfielen, wurden die fast 1½ Millionen sozialdemokratischen Wähler nur durch 35 Abgeordnete vertreten, von denen 20 ohne Stichwahl den Sieg errangen. Vier Wochen nach den Wahlen, am 20. März 1890, reichte Bismarck sein Entlassungsgesuch ein, und an eine Verlängerung des Sozialistengesetzes dachte niemand mehr, sodass es im September 1890 ohne weiteres erlosch.

Während der nächsten zwei Jahrzehnte zeigte die Sozialdemokratie ein gleichmässiges unaufhaltsames Fortschreiten. Im Jahre 1893 errang sie bei der 1 787 000 Stimmen 44, im Jahre 1898 bei 2 107 000 Stimmen 56 und im Jahre 1903 bei mehr als 3 Millionen Stimmen 81 Mandate, davon 56 sogleich in der Hauptwahl. Im Jahre 1907 sank die Zahl ihrer Mandate zwar auf 43, aber die Zahl der für die Partei abgegebenen Stimmen war auf 3¼ Millionen gestiegen, die Kandidaten der Sozialdemokratie hatten mehr Stimmen auf sich vereinigt als die irgend einer anderen Partei. Allerdings war die Stimmenzunahme nicht eine so grosse wie in früheren Jahren, aber die Niederlage von 1907, wenn man in dem Wahlausfall durchaus eine Niederlage erblicken will, wurde reichlich wettgemacht durch die Erfolge bei den Nachwahlen, wo es der Sozialdemokratie gelang, eine Reihe von Kreisen zu erobern, die noch niemals in ihrem Besitz gewesen waren, und durch das Resultat der Wahlen zum Preussischen Landtag im Jahre 1908, wo zum erstenmal Vertreter der Sozialdemokratie in das Preussische Abgeordnetenhaus einzogen. Mehr als ausgeglichen wurde der Misserfolg von 1907 bei den Wahlen des Jahres 1912, wo die Sozialdemokratie mit 110 Abgeordneten, die 4¼ Millionen Stimmen auf sich vereinigt hatten, als stärkste Partei in den Reichstag zog. Auch die Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften in anderen Bundesstaaten fielen recht günstig aus.

An Versuchen zur Unterdrückung der Sozialdemokratie hat es auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes nicht gefehlt, nur glaubte man jetzt auf Grund des gemeinen Rechtes vorgehen zu sollen. Der erste Versuch dieser Art war die dem Reichstage im Jahre 1894 unterbreitete Umsturzvorlage, zu deren Begründung der damalige Reichskanzler Fürst Hohenlohe

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/67&oldid=- (Version vom 4.9.2021)