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bedurfte, Furcht und keine Einsicht entgegen. Der Groll über diese Einsichtslosigkeit und jene Widerstände schuf den Linksliberalismus, d. h. diejenige Form des Liberalismus, die sich gegen die herrschenden Gewalten durchsetzen wollte. Dieser Versuch führte zu dem grossartigen Aufschwung von 1848 und scheiterte an dem Mangel organisatorischer Grundlagen und der Schwierigkeit, eine noch fehlende politische Erziehung in Zeiten höchster Erregung herbeizuführen. Dieser Misserfolg kräftigte die absolutistische Richtung, die es sich deshalb auch nach der Reaktion gestatten konnte, scheinkonstitutionelle Zustände einzuführen. Die Ereignisse von 1866 und die Herstellung der politischen Einigung von Nord- und Süddeutschland im Reich leitete die Entwicklung auf eine neue und einheitliche Grundlage. Die Form und Mittel der Einigung mit ihren grossen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen bedeutete zunächst eine Hemmung für den Linksliberalismus, schon weil sie sich unter einem Staatsmann vollzog, der die geschichtlichen Erfolge seiner Politik auch zu einer Desorganisation des Liberalismus nutzbar machte.

Dies alles erklärt die Schwierigkeit der bisherigen Kämpfe des Linksliberalismus. Dieser halbfertige Zustand und das Ausbleiben eines auf die Volksvorstellung wirkenden Erfolgs ist eine der Ursachen des zeitweise mächtigen Anschwellens anderer Richtungen, die sich nicht wie der Liberalismus vom Mittelpunkt der Staatsidee und des Allgemeinwohles aus orientierten. Dahin gehören das konfessionelle Zentrum, die agrarische Richtung, die Sozialdemokratie, welche die durch die deutsche, wirtschaftliche Entwicklung geschaffene Arbeiterarmee unter der Vorstellung des Klassendrucks zu einer Partei der Arbeiterklasse organisiert und ihre Anhänger durch die Lohnkämpfe und durch die Ideen des demokratischen Liberalismus, übrigens unter gleichzeitiger Bekämpfung desselben, belebt hat.

Dies erschwerte innerlich und äusserlich den Übergang aus halbkonstitutionellen zu konstitutionellen Zuständen, deren Herbeiführung eine Hauptaufgabe des Linksliberalismus bildet.

Die Parteigeschichte

kann im Rahmen dieses Überblicks nur für die Reichstagsparteien skizziert werden nicht auch für die Parteien in den Einzelländern, obwohl auch sie für die Parteientwicklung, von tiefgreifender Bedeutung waren und noch sind. Die Entwicklung der Parteien vollzieht sich naturgemäss parallel mit der politischen und geschichtlichen Entwicklung selbst, die deshalb zur Darstellung der Parteigeschichte angezogen werden muss.

Die grösste und älteste der drei linksliberalen Parteien war die „Deutsche Fortschritts-Partei“. Sie wurde gegründet 1861, ist 1884 in die „Freisinnige Partei“ aufgegangen, die sich aus der Fortschrittspartei und aus der 1880 durch eine Abzweigung aus der Nationalliberalen Partei hervorgegangenen „Secession“ gebildet hat. Nach der Lösung dieser Verbindung am 6. Mai 1892 nahmen die Mitglieder der Deutschen Fortschrittspartei den Namen Freisinnige Volkspartei an, während die aus der „Sezession“ hervorgegangenen Mitglieder der Freisinnigen Partei nach deren Spaltung den Namen Freisinnige Vereinigung führten. Beide vereinigten sich mit der Deutschen Volkspartei am 6. März 1910 auf Grund eines gemeinsamen Programms und Statuts zu der Fortschrittlichen Volkspartei. In der Entwicklung der Parteien lassen sich, soweit sie für die Reichspolitik und die Reichstagsfraktionen von bestimmender Wichtigkeit wurden, folgende Tatsachen und Abschnitte hervorheben.

Die Fortschrittspartei war am 18. Juni 1861 gegründet worden. Zu ihren Stiftern gehörten die führenden Männer der preussischen Demokratie und des entschiedenen Liberalismus: Waldeck, von Hoverbeck, Virchow, Schulze-Delitzsch, von Forckenbeck. Die Partei übte einen bedeutenden Einfluss auf den öffentlichen Geist und die politische Erziehung aus, vor allem durch die Kämpfe, die sie im preussischen Abgeordnetenhaus zu schlagen hatte. An die Spitze ihres Programms stellte sie 1861 das Verlangen nach einer „festen Einigkeit Deutschlands, welche ohne eine starke Zentralgewalt in den Händen Preussens und ohne gemeinsame deutsche Volksvertretung nicht gedacht werden könne.“

Die Partei verfügte 1862 bis 1866 in Verbindung mit der Partei des linken Zentrums über die Mehrheit im preussischen Abgeordnetenhaus und führte gegen das Ministerium Bismarck in den Konfliktsjahren für Aufrechterhaltung der Verfassung, den schweren Kampf, der sich in jener Zeit

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/52&oldid=- (Version vom 3.9.2021)