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aus der Militärorganisation entwickelt hatte. Materiell ging der Hauptstreit um die Einführung der zweijährigen Dienstzeit, die von der Fortschrittspartei für möglich, von Bismarck und Roon für unmöglich erklärt wurde und die sich 1893 als durchführbar erwiesen und bewährt hat. Der Konflikt führte zu einer Ablehnung der Mehrforderung für neue Truppenteile, zu einem Budgetlosen Regiment und einer verfassungswidrigen Verwaltung, bis 1866 nach Beendigung des Kriegs das Ministerium Bismarck die Idemnität für die verfassungswidrige Regierung im Landtag nachsuchte. Fürst Bismarck selbst hat am 5. April 1876 im Abgeordnetenhaus gegenüber dem Abgeordneten Virchow ausgesprochen, „ich habe Objektivität genug, um mich in den Ideengang des Abgeordnetenhauses von 1862 bis 1866 vollständig einleben zu können, ich habe die volle Achtung vor der Entschlossenheit, mit der die damalige preussische Volksvertretung das, was sie für Recht hielt, vertreten hat. Daraus mache ich niemand einen Vorwurf. Sie konnten damals nicht wissen, wo meiner Ansicht nach die Politik schliesslich hinausgehen sollte; ich hatte auch keine Sicherheit, dass sie faktisch dahin hinausgehen würde und sie hatten auch das Recht, wenn ich es ihnen hätte sagen können, mir immer noch zu antworten: uns steht das Verfassungsrecht unseres Landes höher als eine auswärtige Politik. Da bin ich weit entfernt gewesen, irgend jemanden einen Vorwurf daraus zu machen oder bin es wenigstens jetzt, wenn auch in der Leidenschaft des Kampfes ich es nicht immer gewesen sein mag.“

Die Leidenschaft jenes Kampfes hat im politischen Leben tiefe Risse erzeugt, nicht nur in Preussen, sondern auch im übrigen Deutschland. Die schroffe Kampfstellung, in welche die Fortschrittspartei hineingedrängt war, hat mit ihren Verbitterungen und Verfolgungen Jahrzehnte hinaus das politische Leben und die Stellung der Parteien belastet.

In Preussen, im Zollparlament und im konstituierenden und dann im neugeschaffenen Reichstag traten die Mitglieder der Fortschrittspartei für eine konstitutionelle Entwicklung für solide Finanzen, für alle liberalen Gesetze insbesondere für die grossen Gesetzgebungswerke ein, welche nach Gründung des Reichs die Einheitlichkeit auf dem Gebiet des Heerwesens, des Zivilstandes, des Münzwesens, des Gerichtswesens, des Gewerberechts und der Presse durchführten. Die Auffassung der Partei, dass die Staatsverwaltung in freierem Gleise geführt und der Individualität politisch, geistig und wirtschaftlich Raum zu fruchtbarer Selbstbetätigung und den Gemeinden Bewegungsfreiheit und Selbstverwaltung gelassen werden müsse, führten unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck häufig zu Zusammenstössen mit diesem. Führer der Fortschrittspartei im Reichstag waren Richter, Hänel und Virchow. Eugen Richter, geboren am 30. Juli 1838 und 1864 aus dem Staatsdienst ausgetreten war 1869 in den preussischen Landtag gewählt, 1871 wurde er Mitglied des konstituierenden Reichstags und blieb als eines seiner allerhervorragendsten Mitglieder im Reichstag bis zu seinem Tod 1906. Richter hat das Gepräge der Fortschrittspartei in deren heissensten Kampfesjahren am reinsten und vollständigsten in sich aufgenommen, und konnte kraft der ausserordentlichen Begabung, die er für den politischen und parlamentarischen Kampf mitbrachte, sein Gepräge wieder in besonders charakteristischem Masse der Partei geben, deren unbestrittener Führer er mehr als 30 Jahre gewesen ist. Die Energie, mit der er seine Überzeugung und die taktischen Richtlinien festhielt, die er zur Verwirklichung des Fortschritts für geboten hielt, gab der von ihm geführten Partei eine grosse Geschlossenheit, weckte aber in Verbindung mit seinem Naturell, das an Energie demjenigen Bismarcks nichts nachgab, besonders heftige Gegnerschaften, die sich in der Folge konzentrisch so verdichteten, dass sowohl von rechts als von links die ausserordentlichen Verdienste, die Richter als wahrhaft staatsmännischer Parlamentarier besass, weitgehend verkannt wurden.

Ende der 70er Jahre hatte Bismarck den Übergang zur Schutzzollpolitik vollzogen, worin die Fortschrittspartei für das auf den Export angewiesene deutsche Wirtschaftsgebiet ernste Gefahren erblickte. Diese Auffassung deckte sich mit den volkswirtschaftlichen Anschauungen eines Teils der der Nationalliberalen Partei, eine Reihe ausgezeichneter Politiker; Bamberger, von Forckenbeck, Stauffenberg, Lasker, Rieckert u. A. im Jahre 1880 „eine Sezession“ vollzogen und eine „liberale Vereinigung“ gebildet hatten. Da diese Sezessionisten auch politisch ausgesprochen liberal und von der Politik Bismarcks im Innern insbesondere von dem sozialdemokratischen Ausnahmegesetz enttäuscht waren, so führte diese Annäherung und weitgehende Übereinstimmung am 5. März 1884 kurz nach Laskers Tod zu einer organischen Verbindung

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/53&oldid=- (Version vom 3.9.2021)