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eine Minderheit verwandelt. Die Meinungs- und Temperamentsverschiedenheit zwischen Kaiser Wilhelm II. und Bismarck führten zum Bruch und zur Entlassung Bismarcks am 20. März 1890. Die Stellung des zweiten Kanzlers Caprivi war durch die politischen Verhältnisse und den Gegensatz, den Fürst Bismarck scharf herauskehrte und der in Verbindung mit einer Abschwächung der Schutzzollpolitik eine aggressive Strömung in konservative und nationalliberale Kreisen erzeugte politisch so beengt, dass er eine neue Richtung nicht mit Entschiedenheit verfolgen konnte.

Über die taktische Frage, inwieweit unter solchen Umständen und solcher Unsicherheit die freisinnige Partei die Regierung des Reichskanzlers unterstützen könne, entstanden innerhalb der freisinnigen Partei Meinungsverschiedenheiten, zu welchen andere, aus der Zeit vor Vereinigung der beiden Parteien, hinzukamen. Der hochbegabte Abgeordnete Theodor Barth vertrat eine Politik der Annäherung an Caprivi, Eugen Richter mit Recht eine Politik der Reserve. Bei der Beratung über die Modalitäten, unter denen die zweijährige Dienstzeit bei den Fusstruppen eingeführt werden sollte, trennte sich der Abgeordnete Barth mit einigen seiner näheren Freunden von der Mehrheit der Partei. Der von ihm gestellte Abänderungsantrag zum Gesetz, das eine dauernde Heeresvermehrung die zweijährige Dienstzeit aber nur widerruflich einführen wollte, wurde von Caprivi abgelehnt, der, als er in der Folge keine Mehrheit erzielte, den Reichstag am 6. Mai 1892 auflöste. Die Meinungsverschiedenheiten über die angeführte Streitfrage, die einer Lösung vor Beginn des Wahlkampfes erwünscht bedurfte, führten zusammen mit andern Gegensätzen taktischer und persönlicher Art in der erregten Fraktionssitzung unmittelbar nach Reichstagsauflösung zu einer Spaltung der Partei. Es bildeten sich wieder zwei Parteien, die den Namen Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung annahmen. Die erste bestand im wesentlichen aus den Mitgliedern der alten Fortschrittspartei, unter Richter und Schmid-Elberfeld, die zweite aus den Mitgliedern der liberalen Vereinigung unter Schrader und Barth. In dem darauffolgenden Wahlkampf erlitten beide Parteien Verluste. Am 26. Oktober 1894 wurde Caprivi vom Kaiser entlassen.

Die Zeit von 1895 bis 1905 trug unter Hohenlohe und auch anfänglich unter Bülow innerpolitisch einen unbestimmten Charakter. Nach den heissen Kämpfen, und den politischen Erschütterungen der vorangegangenen Zeit, unter der noch aktiven Kritik des Altreichskanzlers Bismarcks, unter den Versuchen Kaiser Wilhelm II. eine neue Politik einzuleiten trat eine gewisse Stimmung des Zuwartens auch im parteipolitischen Leben ein. Die Mitglieder der freisinnigen Volkspartei und der freisinnigen Vereinigung konnten sich nach der entfremdenden Spaltung nur allmählich wieder annähern, trotzdem die unsichere Lage und die vorgeschriebene Politik kritischer Reserve sie sachlich wieder Seite an Seite geführt hatte.

In gleicher Richtung und zwischen den beiden andern freisinnigen Parteien politisch und persönlich vermittelnd war die „deutsche Volkspartei“ tätig. Sie umfasste die demokratischen Liberalen Süddeutschlands und wurde kurzer Hand als Süddeutsche Volkspartei bezeichnet. Die Anfänge der deutschen Volkspartei gehen wie die der Fortschrittspartei zurück bis in die Bewegung des Jahres 1848. Sie reorganisierte sich, nachdem die Reaktionsperiode überwunden war, zunächst anfangs der 60er Jahre zunächst in Württemberg unter Carl Mayer, Julius Haussmann und Ludwig Pfau. Die Konstituierung einer auch andere deutsche Gebiete umfassenden Partei zog sich von 1865 bis 1869 hin. Im September 1868 stellte eine Delegierten-Versammlung zu Stuttgart das Programm der Deutschen Volkspartei fest, das sodann am 12. Oktober 1873 eine Revision und Erweiterung erfuhr. Das Gebiet, aus dem sie sich rekrutierte, war im wesentlichen Süddeutschland. Die Richtung war demokratisch. In den ersten Perioden des Reichstags, nur durch sehr wenige Mitglieder, darunter durch Leopold Sonnemann, den hervorragenden demokratisch und sozialpolitisch gerichteten Gründer der „Frankfurter Zeitung“ vertreten, erhöhte sich deren Zahl 1881 und nach den Septenatswahlen, die sie vorübergehend vollständig verdrängt hatten, noch mehr im Jahr 1890. Führer war schon seit der 70er Jahre Friedrich Payer, der verdienstvolle demokratische Präsident des württembergischen Landtags. 1895 gab sich die Partei auf dem Delegiertentag zu München ein neues Programm, dessen Leitsätze in Anlehnung an das frühere Programm dahin lauteten:

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/55&oldid=- (Version vom 3.9.2021)