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Autor: Hermann Lucas
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Titel: Das Strafrecht
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Drittes Buch, S. 28 bis 44
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[283]
Das Strafrecht
Von Ministerialdirektor a. D., Wirklichem Geheimem Rat Dr. Lucas


Bei dem Regierungsantritt unseres Kaisers stand die juristische Welt unter dem Zeichen der Ausarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und, nachdem dieses zustande gebracht war, unter demjenigen der reichs- und landesrechtlichen Einführungs- und Ausführungsgesetze. Es war natürlich, daß daneben weder die Gesetzgebung noch die Öffentlichkeit sich viel mit dem Strafrecht beschäftigen konnten, zumal das Strafgesetzbuch vom 16. Mai 1871 damals noch nicht gerade als veraltet galt, und überall die Einsicht herrschte, daß gleichzeitige Reformversuche auf dem strafrechtlichen Gebiete vom Übel und undurchführbar wären. Diejenigen, welche schon damals solche Reformen als notwendig bezeichneten, und es fehlte nicht an solchen, nahmen sie nur für die Zukunft in Aussicht. Desto lebhafter und verbreiteter setzten diese Forderungen ein, nachdem im Beginn des neuen Jahrhunderts durch den Abschluß der Umgestaltung des bürgerlichen Rechts die Bahn für das Strafrecht wieder frei geworden war. Gerade aber dieses eifrige Verlangen nach einer ähnlich durchgreifenden Umarbeitung auch des Strafrechts, nach einer „Reformation an Haupt und Gliedern“ mußte auf dem Gebiet der Gesetzgebung einstweilen mit Notwendigkeit zu dem nämlichen Ergebnis führen, wie vorher die Zusammenfassung aller Kräfte in der Richtung auf ein anderes Ziel: nämlich zur Zurückstellung aller nicht besonders dringlichen Änderungen in Einzelnheiten. Denn eine jede solche Änderung konnte in einem gewissen Umfange der künftigen allgemeinen Neuordnung vorgreifen und sie beeinträchtigen. So erklärt es sich, daß auch in dieser bis auf die Gegenwart reichenden Periode, ebenso wie in der vorigen, die Zahl der wirklich zustande gekommenen Gesetze auf dem Gebiete des Strafrechts nur mäßig, und daß diese selbst nicht gerade von grundlegender Bedeutung sein konnten.

Eigentümlicherweise wandten sich die praktischen Reformbestrebungen, obwohl die Strafprozeßordnung das neuere Gesetz war, zunächst nicht dem materiellen Recht, sondern dem Prozeß zu, in dem man Mängel gefunden zu haben glaubte, deren Beseitigung keinen Aufschub duldete. Wie diese Bestrebungen, trotz mancher gelungener Verbesserungen im einzelnen, bisher noch nicht zum Ziele geführt haben, wird nachher bei Betrachtung des Strafprozesses näher geschildert werden.

Es war nicht die Erkenntnis der großen Schwierigkeiten einer grundlegenden Änderung des formalen Rechts allein, die bald sowohl das öffentliche Interesse als auch die Tätigkeit der Regierung auf die Reform des materiellen Strafrechts hinlenkten, sondern es war eigentlich die Vernunft der Sache selbst. Denn wenn sowohl materielles Recht, [284] wie Prozeß reformbedürftig sind, so gebührt jenem der Vorrang. Denn der Prozeß will nur die Wege zur Verwirklichung des materiellen Rechts weisen, diese Wege werden aber von dessen Inhalt vielfältig bedingt oder beeinflußt. Nichts ist also natürlicher als die Folgerung, daß das materielle Recht wenigstens in seinen Grundzügen feststehen muß, bevor man an den Prozeß geht. Dazu kommt, daß eine Neugestaltung des materiellen Rechts immer eingreifende Änderungen des Prozesses – wenn auch nur in der äußeren, nicht wesentlichen Form eines Einführungsgesetzes – nötig macht, so daß, wenn mit der Prozeßordnung angefangen und dann erst zum materiellen Recht übergegangen würde, nach dessen Feststellung sofort wieder eine eingehende Revision des Verfahrens notwendig würde. So wandten sich mit Recht Gesetzgebung und Wissenschaft der Vorbereitung eines neuen Strafgesetzbuchs zu, einer nicht geringeren Aufgabe, als es die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs war. Nach einer länger dauernden wissenschaftlichen und publizistischen Bewegung ist fast das ganze letzte Jahrzehnt der Regierungszeit unseres Kaisers mit Arbeiten zur Lösung jener Aufgabe erfüllt gewesen. Bevor hierauf näher eingegangen werden kann, muß jedoch betrachtet werden, inwieweit während der Berichtsperiode trotz der erwähnten Zurückhaltung das Strafrecht doch durch die Gesetzgebung im einzelnen fortgebildet worden ist.

Strafgesetzbuch.

Zunächst wurde das Strafgesetzbuch durch die Verordnung vom 22. März 1891 (RGBl. S. 21) vom 1. April 1891 ab auf der neu erworbenen Insel Helgoland eingeführt.[1]

Post- und Telegraphenwesen.

War dies nur eine selbstverständliche Erweiterung des Geltungsbereichs, so folgten demnächst wirkliche Änderungen und Ergänzungen. Zunächst auf dem Gebiet des Post- und Telegraphenwesens, indem durch das Gesetz vom 13. Mai 1891 (RGBl. S. 107), einem hervorgetretenen Bedürfnisse entsprechend, dem § 276 StGB. ein zweiter Absatz hinzugefügt wurde, der die wissentliche Wiederverwendung schon einmal verwendeter Post- oder Telegraphenwertzeichen betrifft, während die von der Gefährdung des Telegraphenbetriebes handelnden §§ 317, 318 sachgemäß geändert, und ein neuer § 318a eingestellt wurde, der die Ausdehnung dieser Vorschriften auf gewisse Rohrposts- und Fernsprechanlagen sichert. Außerdem wurde dem § 364 ein mit der Erweiterung des § 276 zusammenhängender zweiter Absatz beigefügt, der sich gegen das Veräußern und Feilhalten der dort erwähnten Wertzeichen wendet, und in den § 367 unter Nr. 5a eine Strafdrohung gegen denjenigen eingeschoben, der bei Versendung oder Beförderung von leicht entzündlichen oder ätzenden Gegenständen durch die Post die deshalb ergangenen Verordnungen nicht befolgt.

Verjährung; Wucher.

Völlig andere Materien betrafen die nächsten Gesetze. Wiederholt hatte es Anstoß erregt, daß die Verfolgung strafbarer Handlungen, die von Mitgliedern des Reichstages oder gesetzgebenden Versammlungen [285] der Bundesstaaten begangen waren, nicht stattfinden konnte, weil während der Dauer der verfassungsmäßigen Immunität der Beschuldigten die Verjährung sich vollendete. Um diesem Übelstande zu begegnen, wurde durch Gesetz vom 26. März 1893 (RGBl. S. 133)[2] der § 69 StGB. geändert durch Aufnahme des jetzigen Satzes 1: „Die Verjährung ruht während der Zeit, in welcher auf Grund gesetzlicher Vorschrift die Strafverfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.“ Dasselbe Jahr brachte noch zwei andere, ungleich wichtigere Neuerungen und zwar durch die Gesetze vom 19. Juni 1893, betr. Ergänzung der Bestimmungen über den Wucher (RGBl. S. 197) und vom 3. Juli 1893 gegen den Verrat militärischer Geheimnisse (RGBl. S. 205). Das zuletzt genannte wird hier später bei Erwähnung der sog. Nebengesetze besprochen werden. Durch das erste wurde das am 24. Mai 1880 erlassene Gesetz gegen den Wucher (RGBl. S. 109), das sich als unzulänglich erwiesen hatte, in wirksamer Weise ergänzt, und zwar durch Änderung der §§ 302 a, 302 d[3] und durch Neueinstellung des gegen den Sachwucher gerichteten § 302 e StGB. Im Zusammenhange hiermit wurde in den § 367 unter Nummer 16 eine Blankettstrafdrohung gegen denjenigen eingefügt, der den polizeilichen Anordnungen über das Abhalten von öffentlichen Versteigerungen und über das Verabfolgen geistiger Getränke vor und bei öffentlichen Versteigerungen zuwiderhandelt. Denn die Erfahrung hatte gezeigt, daß eine dem Wucher verwandte Ausbeutung nicht selten durch die angedeuteten Mittel bewirkt oder versucht wurde.

Zeitlich folgte durch das Gesetz vom 12. März 1894 (RGBl. S. 259) die Einstellung einer neuen Nummer 10 in den § 361, die den säumigen Unterhaltspflichtigen unter gewissen Voraussetzungen bestrafen will, eine sozialpolitisch wichtige Vorschrift, die aber nach Ansicht vieler jetzt noch einer weiteren Ausgestaltung bedarf.

Die durch das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom 18. August 1896 (RGBl. S. 604) Artikel 34 angeordneten und mit diesem am 1. Januar 1900 in Kraft gesetzten Änderungen des Strafgesetzbuches enthielten nur die notwendigen Folgerungen aus der Umgestaltung des bürgerlichen Rechts und sollen daher hier nicht im einzelnen aufgezählt werden.

Nur einer kurzen Erwähnung bedarf ferner eine geringfügige Milderung des § 316 Abs. 1 StGB. (fahrlässige Gefährdung eines Eisenbahntransports) durch alternative Zulassung von Geldstrafe[4], sowie die erfolgte Aufhebung einiger Bestimmungen des Strafgesetzbuchs durch § 108 des Gesetzes über die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12. Mai 1901 (RGBl. S. 139)[5] und durch die Maß- und Gewichtsordnung vom 30. Mai 1908 (RGBl. S. 349)[6]. [286]

„lex Heinze.“

Von einschneidender Bedeutung war dagegen das durch Gesetz vom 25. Juni 1900 (RGBl. S. 301) endlich erfolgte Zustandekommen der sog. „lex Heinze“, durch welche wichtige und von vielen Seiten lange erwünschte Ergänzungen und Verschärfungen des Rechts auf dem Gebiete der Delikte gegen die Sittlichkeit eingeführt wurden. Die §§ 180, 181, 184, 362 wurden geändert, die §§ 181a, 184a, 184b neu geschaffen. Von diesen Neuerungen soll hier nur an die hervortretendsten erinnert werden, nämlich an die Einreihung der vom Ehemann in bezug auf die Ehefrau verübten Kuppelei unter die Verbrechensfälle (§ 181), die Strafbarmachung der Zuhälterei (§ 181a) und das Einschreiten gegen unzüchtige oder doch das Schamgefühl gröblich verletzende Schriften, Abbildungen oder Darstellungen (§§ 184ff.). Obwohl gerade um die zuletzt erwähnten Vorschläge damals im Reichstag und in der Presse ein heftiger Kampf stattgefunden hat, hat die Folgezeit doch gelehrt, daß, von einigen Einzelheiten abgesehen, das Richtige getroffen und einem wirklichen Bedürfnis genügt worden ist. Das zeigt sich auch darin, daß sowohl der nachher näher zu betrachtende Vorentwurf, wie auch der neueste Kommissionsentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch diese Vorschriften nicht nur aufrechterhalten, sondern zum Teil sogar noch verschärfen wollen. Besonders hinsichtlich des Zuhältertums ist ein solcher Wunsch auch in der Bevölkerung vielfach laut geworden. Ist auch dieses wichtige und in seinen Wirkungen verdienstvolle Gesetz formell aus der Initiative des Reichstages hervorgegangen (Antrag Graf Hompesch und Genossen, Nr. 834 der Drucks. d. R.-T.), so gebührt die Urheberschaft doch insofern der Regierung, als der nicht ohne ihr Vorwissen und ihre Zustimmung gestellte Antrag bekanntlich nur die schon wiederholt eingebrachte, jedoch bis dahin nicht zur Verabschiedung gelangte Vorlage der verbündeten Regierungen im wesentlichen wiederholte.

Majestätsbeleidigung.

Auch ein recht wichtiges Gesetz ist das zeitlich folgende vom 17. Februar 1908 (RGBl. S. 25), betreffend die Bestrafung der Majestätsbeleidigung. Durch dieses Gesetz wurde, abgesehen von der Einführung einer ganz kurzen (sechsmonatigen) Verjährungsfrist, der Tatbestand dieses Vergehens für alle Fälle (§§ 95, 97, 99, 101 StGB.) dahin geändert, daß die Strafbarkeit nur eintritt, wenn die Beleidigung in der Absicht der Ehrverletzung, böswillig und mit Überlegung begangen ist. Seinen Ursprung hatte dieses Gesetz in einem Erlasse des Kaisers als König von Preußen vom 27. Januar 1907, in welchem der Justizminister beauftragt worden war, in solchen Fällen, in denen sich jemand „bloß aus Unverstand, Übereilung oder sonst ohne bösen Willen“ einer Majestätsbeleidigung schuldig gemacht haben werde, fortlaufend wegen Ausübung des Begnadigungsrechts zu berichten. Diese hochherzige Initiative des Monarchen selbst, die mit vollem Recht bezweckte, die Bestrafungen wegen leichteren und nach den Umständen allenfalls verzeihlichen Fällen von Majestätsbeleidigung auszuschließen oder zu mildern, gab demnächst den Anlaß zu einer dasselbe Ziel verfolgenden Gesetzesvorlage an Bundesrat und Reichstag, die schließlich nach mehrfachen Änderungen in der eben erwähnten Gestalt zustande kam. [287] Ob die Fassung des so entstandenen neuen Gesetzes glücklich ist, muß bezweifelt werden. Daß derjenige milder oder auch gar nicht bestraft werden soll, der bloß aus Unverstand, Übereilung oder sonst ohne bösen Willen eine majestätsbeleidigende Handlung begangen hat, wie es in dem Gnadenerlaß hieß, wird jedermann billigen. Etwas wesentlich anderes aber ist es, wenn, wie das demnächst entstandene Gesetz will, zur Strafbarkeit dem Täter nachgewiesen werden muß, daß er sowohl in der Absicht der Ehrverletzung, als auch böswillig, als auch mit Überlegung gehandelt hat. Diese in dem Gesetz enthaltene Häufung der Erfordernisse schießt über das Ziel hinaus, da selbst in den schweren Fällen der Nachweis des Zusammentreffens aller drei Voraussetzungen kaum zu führen, überdies der Begriff der Böswilligkeit ein schwankender und nicht völlig klar bestimmbarer ist. So ist denn die beabsichtigte Einschränkung tatsächlich eine zu große geworden, und die Möglichkeit einer Bestrafung auch wegen grober und recht frevelhafter Majestätsbeleidigungen so erschwert, daß mit Recht behauptet werden kann, der Rechtsschutz der deutschen Monarchen gegenüber Ehrverletzungen sei geringer geworden, als der jedes Privatmannes. Zwar hat ihnen das Gesetz in seinem letzten Absatz die Beantragung einer Verfolgung wegen gewöhnlicher Beleidigung nach dem 14. Abschnitt des Strafgesetzbuchs offen gelassen. Dieser Weg steht jedoch nur theoretisch offen, in der Wirklichkeit ist er verschlossen. Denn Stellung des Strafantrages, Auferlegung der Kosten im Falle der Zurücknahme, Wahrheitsbeweis, Straflosigkeit im Falle der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193), Retorsion und Kompensation, endlich gewisse prozessuale Eigentümlichkeiten bei gewöhnlichen Beleidigungsprozessen, sind alles Einrichtungen und Vorschriften, deren Anwendung auf einen Monarchen mit dessen Stellung unvereinbar ist. Deshalb ist praktisch der Satz richtig, daß der Rechtsschutz des Landesherrn hier geringer geworden ist, als der jedes Staatsbürgers. Daß dies aber eine Unbilligkeit ist und in einem monarchischen Staatswesen zu Unzuträglichkeiten führen kann, sollte auch der zugeben, der mit Recht ein Gegner von unnötigen Prozessen wegen Majestätsbeleidigung ist. Aus diesen Gründen ist es zu begrüßen, daß die Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs zu einem neuen Strafgesetzbuch beschlossen hat, in dem Entwurf wenigstens das „böswillig“ zu streichen. Auch das Erfordernis der Überlegung sollte gestrichen werden. Dann bliebe allein übrig die auf Ehrverletzung gerichtete Absicht. Diese aber rechtfertigt auch allein völlig die Strafbarkeit, denn es ist nicht einzusehen, welche Gründe rechtlicher oder moralischer Natur den grundsätzlich vor Strafe schützen sollen, dessen Wille direkt darauf gerichtet war, den Herrscher in seiner Ehre zu verletzen. Auch dann bleibt ein Mehr von Erfordernissen gegenüber der gewöhnlichen Beleidigung, denn diese setzt nicht jene Absicht voraus, sondern läßt das Bewußtsein der Beleidigung im Sinne des eventuellen Dolus genügen. Auch dann also ist die Verfolgbarkeit der Majestätsbeleidigung tatsächlich mehr eingeschränkt, als die der gewöhnlichen Beleidigung, aber in einer erträglichen, ja billigenswerten Weise. Und den Entschuldigungsgründen, die aus der Art des besonderen Falles heraus auch dem absichtlichen Beleidiger zur Seite stehen können, kann – wenigstens für die Zukunft – durch die später zu besprechende allgemeine Vorschrift des Entwurfs über die „besonders leichten Fälle“ Rechnung getragen werden. Ja in dieser Vorschrift, deren innere Berechtigung [288] und deren Segen, wenn sie Gesetz geworden sein wird, erst in der späteren Praxis recht hervorleuchten werden, liegt gerade die einzig richtige Handhabe zur Lösung des Problems, welches das Gesetz von 1908 auf einem unrichtigen Wege – durch übermäßige Einengung des Tatbestandes – zu lösen bestrebt war.

Strafgesetznovelle von 1912.

In ahnlicher Weise mit grundsätzlicher Billigung im großen und ganzen, jedoch mit Bedenken in Einzelheiten, muß man der neuesten, sehr bedeutsamen Novelle zum Strafgesetzbuch gegenüberstehen, welche das Gesetz vom 19. Juni 1912 (RGBl. S. 395) gebracht hat. Auch diese Novelle ist bekanntlich formell, ebenso wie die „lex Heinze“, aus einem von der Regierung angenommenen Initiativantrag (Wellstein und Genossen) hervorgegangen, beruht aber materiell auf einer bis dahin nicht verabschiedeten Regierungsvorlage, aus welcher der Initiativantrag die streitig gebliebenen Punkte (Beleidigung und Erpressung) weggelassen hatte. Sie betrifft die verschiedensten Gegenstände im Strafgesetzbuch, nämlich die §§ 114 (Beamtennötigung), 123 (Hausfriedensbruch), 136 (Siegelbruch), 137 (Arrestbruch), 223a (sog. qualifizierte Körperverletzung), 235 (sog. Kinderraub), 239 Abs. 1 (Freiheitsberaubung), 248a (Diebstahl und Unterschlagung), 264a (Betrug), 288 Abs. 1 (Vollstreckungsvereitelung), 327 Abs. 1, 328 Abs. 1 (Verletzung von Absperrungsmaßregeln usw.), 355 (Verletzung des Telegraphengeheimnisses), 369 Abs. 1 (eine polizeiliche Bestimmung gegen Schlosser), und 370 Ziffer 5 (sog. Mundraub). Man hat das Strafgesetzbuch daraufhin durchgesehen, welche seiner Paragraphen einer Änderung noch vor der allgemeinen Revision bedürfen. Der leitende Gesichtspunkt ist dabei offenbar vorwiegend der gewesen, welche Bestrebungen aus sozialen Rücksichten zu mildern sind.[7] Soweit diese Milderungen die Strafen betreffen, insbesondere die häufige Einsetzung von wahlweise zugelassener Geldstrafe, sind sie durchaus zu billigen, ebenso die Umgestaltung des § 123 StGB., und der neue Abs. 2 des § 223a, der die Strafe der qualifizierten Körperverletzung androht, wenn gegen eine noch nicht 18 Jahre alte oder wegen Gebrechlichkeit oder Krankheit wehrlose Person, die der Fürsorge oder Obhut des Täters untersteht oder seinem Hausstande angehört oder die der Fürsorgepflichtige der Gewalt des Täters überlassen hat, eine Körperverletzung mittels grausamer oder boshafter Behandlung begangen wird. Diese Neuerungen werden sich ohne Zweifel als sehr nützlich erweisen. Gegenstand der oben erwähnten Bedenken ist jedoch die Ausgestaltung, welche die §§ 248a und 264a und namentlich der erstgenannte erhalten haben. – Dieser bestimmt bekanntlich in den hier erheblichen ersten beiden Absätzen:

„Wer aus Not geringwertige Gegenstände entwendet oder unterschlägt, wird mit Geldstrafe bis zu 300 M. oder mit Gefängnis bis zu 2 Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig.“

Der hierin liegende schöne soziale Gedanke: Der Arme, der aus Not sich geringfügiger Eigentumsvergehen schuldig macht, soll mild bestraft werden, ist berechtigt und [289] allgemeiner Zustimmung sicher. Es fragt sich nur, ob er in dem rasch zustande gekommenen Gesetz in den richtigen Grenzen verwirklicht ist. In dieser Hinsicht ist folgendes zu betonen. Zunächst: ein gewaltiger Prozentsatz aller Diebstähle wird „aus Not“, d. h. aus wirtschaftlicher Bedrängnis, begangen. Diese Erfahrungstatsache kennzeichnete einmal ein alter, erfahrener Praktiker durch den Ausspruch: „Wer Geld hat, stiehlt nicht.“ Ähnlich steht es mit der Unterschlagung. Natürlich gibt es auch genug andere Fälle. Aber die große Zahl der Entwendungen aus Not läßt sich nicht bestreiten, und vielleicht beinahe ebenso groß ist die Zahl derjenigen, in denen die Not ohne Möglichkeit der Widerlegung wenigstens behauptet wird. Auch diese Fälle fallen aber unter das Gesetz. Ferner ist nicht zu leugnen, daß wohl die Mehrzahl aller Diebstähle sogenannte „kleine“ Diebstähle sind, die an Gegenständen von „geringem Wert“ begangen werden, wobei noch die Unbestimmtheit und Dehnbarkeit dieses Begriffes in Betracht kommt.[8] Ist demnach das Anwendungsfeld des neuen Paragraphen ein sehr weites, so dürfte es auch nicht wesentlich eingeschränkt werden durch das Erfordernis, daß die wirtschaftliche Bedrängnis der Beweggrund zur Tat gewesen sein muß. Denn dies wird regelmäßig angenommen werden müssen, wo nicht besondere Umstände auf einen anderen Beweggrund hinweisen. Bei dem unzweifelhaft sehr großen Umfang, in dem also durch das neue Gesetz die Energie der Strafandrohung gegen den Diebstahl geschwächt wird, und den insbesondere Landwirte, Kaufleute, industrielle Unternehmungen und andere Gewerbebetriebe bald empfindlich kennen lernen dürften, werfen sich unwillkürlich folgende Fragen auf:

1. War es richtig, auf die Verschuldung der Not durch den Täter keine Rücksicht zu nehmen? Auch Träge, Liederliche, Arbeitsscheue, Landstreicher, ja gewohnheits- oder gewerbsmäßige Diebe, befinden sich oft in Not. Sollen diese alle der weitgehenden Milde teilhaftig werden? Oder kann von der Rechtsprechung eine Ausscheidung solcher vom Gesetz nicht ausgeschiedenen Fälle erwartet werden?
2. War es zweckmäßig, das Objekt der Tat auf alle Gegenstände von geringem Wert zu erstrecken, statt es, wie der Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch tut, auf Nahrungs- und Genußmittel und Gegenstände des wirtschaftlichen Gebrauchs oder Verbrauchs, oder in ähnlicher Weise zu beschränken?[9]
3. Ist es zu billigen, daß der Versuch im ganzen Bereich des Paragraphen nicht strafbar ist?[10]
4. War es richtig, hier den Rückfall, und sei er noch so oft wiederholt, nicht als strafschärfend zu berücksichtigen, ebensowenig irgendwelche erschwerende Umstände?
5. Ist das Antragserfordernis überall im ganzen Umfang des Gesetzes beizubehalten?

[290]

6. Ist es nicht nötig, das Gesetz in ein richtiges Verhältnis zu den Feld- und Forstdiebstahlsgesetzen zu bringen? Denn für diese gilt der Paragraph jetzt nicht, obwohl gerade diese Entwendungen am häufigsten aus Not begangen werden. Für deren gewöhnliche, leichtere Fälle mag man freilich wegen der geringen Strafdrohung ein Bedürfnis verneinen können, obgleich auch da der Unterschied der Notwendigkeit eines Antrags eine Rolle spielt. Bei den schwereren Fällen der Feld- und Forstentwendung steht aber jetzt die Sache so, daß sie, wenn sie aus Not verübt sind, schwerer bedroht sind, als selbst der bisherige schwere Diebstahl, der unter § 248 a fällt.

Auf alle diese Fragen wird die Zukunft eine Antwort finden müssen, geeignetenfalls durch eine Änderung des Gesetzes, die juristisch keine Schwierigkeiten machen würde. Daß ein Teil der hervorgehobenen Bedenken auch gegenüber dem neuen § 264 a gilt, versteht sich von selbst. Endlich zeigt schon das Urteil des RG. Entsch. XLVI., 376, daß die neue Fassung auch des § 3705 StGB. nicht einwandfrei ist.

Nebengesetzgebung.

Viel öfter und mannigfacher hat während der Berichtsperiode die sogenannte Nebengesetzgebung in das Gebiet des Strafrechts eingegriffen. Weil diese Gesetze aber fast durchweg ihren Schwerpunkt in ganz anderen Gebieten haben und nur durch die herkömmliche und freilich meist auch notwendige Ausstattung mit einigen Strafdrohungen in den Bereich des Strafrechts übergreifen, sollen sie hier nicht alle im einzelnen aufgezählt, sondern der Darstellung bei denjenigen Materien überlassen werden, zu denen sie ihrem Hauptinhalt nach gehören. Nur an die strafrechtlich wichtigsten von ihnen sei hier erinnert. Es sind, von 1888 angefangen

a) von Reichsgesetzen

Reichsgesetze.

außer vielen wichtigen Novellen zu früheren Gesetzen:[11] das Patentgesetz vom 7. April 1891 (RGBl. S. 79), das Telegraphengesetz vom 6. April 1892 (RGBl. S. 467) mit der Novelle vom 7. März 1908 (RGBl. S. 79), das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen vom 12. Mai 1894 (RGBl. S. 441), das Börsengesetz vom 22. Juni 1896/8. Mai 1908 (RGBl. 1896 S. 157, 1908 S. 183), das Gesetz, betr. die Pflichten der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere vom 5. Juli 1896 (RGBl. S. 183), das Gesetz, betr. das Auswanderungswesen vom 9. Juni 1897 (RGBl. S. 463), das Hypothekenbankgesetz vom 13. Juli 1899 (RGBl. S. 375), das Gesetz, betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 (RGBl. S. 306), das Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12. Mai 1901 (RGBl. S. 139), die Urheberrechtsgesetze von 1901 und 1907 (RGBl. 1901 S. 217, 227, 1907 S. 7), die verschiedenen Steuergesetze, das Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908 (RGBl. S. 151), das Weingesetz vom 7. April 1909 (RGBl. S. 393), das Gesetz, betr. den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. Mai 1909 (RGBl. S. 437), das Münzgesetz [291] vom 1. Juni 1909 (RGBl. S. 507), das Gesetz über die Sicherung der Bauforderungen vom 1. Juni 1909 (RGBl. S. 449), das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 7. Juni 1909 (RGBl. S. 499), das Viehseuchengesetz vom 26. Juni 1909 (RGBl. S. 519) und die Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 (RGBl. S. 509).

b) von preußischen Landesgesetzen:

Preuß. Landesgesetze.

außer einer Anzahl von Steuergesetzen das wichtige Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 (GS. S. 264), das Gesetz vom 29. August 1904, betr. das Spiel in außerpreußischen Lotterien (GS. S. 255), die Jagdordnung vom 15. Juli 1907 (GS. S. 207) und das Gesetz vom 19. Juli 1911, betr. die Losgesellschaften, die Veräußerung von Inhaberpapieren mit Prämien und den Handel mit Lotterielosen (GS. S. 175).[12]

Aus diesen Beispielen, die noch vermehrt werden könnten, sieht man, wie vielseitig auch das Strafrecht durch die gewaltige Arbeit der Spezialgesetzgebung unter der Regierung unseres Kaisers berührt worden ist. In der Natur der Sache liegt es, daß an dieser Gesetzproduktion, die manchem vielleicht schon als eine zu starke erscheinen kann, die aber jedenfalls von großer Rührigkeit und dem lebhaften Streben nach Fortschritt zeugt, die Reichsgesetzgebung den Löwenanteil hatte und haben mußte. Von ihren Hervorbringungen sind unter der großen Zahl der angeführten Beispiele aber noch drei nicht genannt, sondern der gesonderten Aufführung vorbehalten worden, weil sie im wesentlichen rein strafrechtlichen Inhalts sind. Dies sind die Gesetze, betr. die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit vom 9. April 1900 (RGBl. S. 228), welches einen Ersatz für die von der Rechtsprechung angenommene Unanwendbarkeit der Vorschriften gegen Diebstahl und Unterschlagung auf die Entwendung von elekrischem Strom usw. geschaffen hat[13], das Gesetz, betr. die Bestrafung des Sklavenraubes und des Sklavenhandels vom 28. Juli 1895 (RGBl. S. 425[14]) und das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juli 1893 (RGBl. S. 205), das zuerst den dringend notwendigen Schutz gegen feindliche und vaterlandsverräterische Ausspähung brachte. Daß dieser Schutz, so gutes er geleistet, doch nicht genügt hat, und daß gegenwärtig dem Reichstage ein neuer Entwurf vorliegt[15], der zum Ersatze des bisherigen Gesetzes bestimmt ist und es sehr erheblich ausbauen und verschärfen will, ist bekannt.

Reform des Strafgesetzbuchs.

Kann man hiernach auch auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung von Regsamkeit und von vielen Fortschritten während der letzten 25 Jahre reden, so wurde doch, wie schon eingangs erwähnt, bald die eigentliche Signatur dieser Zeit die Vorbereitung umfassender [292] Neuordnungen sowohl des Prozesses wie des materiellen Strafrechts. In beiden Richtungen ist das Ziel jetzt noch nicht erreicht, die später näher zu betrachtende Strafprozeßreform stockt sogar zurzeit. Die Reform des materiellen Strafrechts ist dagegen im Fluß und hat bedeutsame Schritte vorwärts getan. Auch sie ist jetzt noch bloß in der Vorbereitung. Es ist aber schon ein Erfolg, die Lösung einer so schwierigen und für das Volksleben wie für die Staatsordnung so wichtigen Aufgabe erheblich gefördert zu haben. Denn die Geschichte fast aller solcher großen Gesetzgebungen zeigt einen langsamen, von Stufe zu Stufe fortschreitenden Werdegang. Gutes und Nützliches hat darum schon derjenige geschaffen, der diesen Werdegang hervorgerufen, beeinflußt und vorwärts gebracht hat, mag auch die Krönung des Werkes durch die Verabschiedung des Gesetzes noch ausstehen. Das gilt selbst für den unglücklichen Fall des Nichtzustandekommens, denn die Bewegung nach einem neuen Strafrecht wird nicht aufhören, und auch der, dem erst später dessen Verwirklichung gelingt, wird auf den Schultern derjenigen stehen, die jetzt vorgearbeitet haben. Endlich ist aber auch kein Anlaß zu der Besorgnis, daß die unter dem Schutze unseres jetzigen Kaisers begonnenen und rüstig fortgesetzten Arbeiten nicht in naher Zukunft zu einem glücklichen Abschluß führen sollten.

Darum ist es am Platze, hier bei der Feststellung des während seiner Regierung Geleisteten auch dieser Reformarbeiten näher zu gedenken.

Nachdem der Juristentag im September 1902 die Inangriffnahme von Vorarbeiten für eine allgemeine Revision des Strafgesetzbuchs einstimmig gefordert hatte, beschloß der damalige Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding, zunächst eine wissenschaftliche Grundlage für eine solche Revision zu schaffen. Teils auf seine Anregung, teils aus eigenem Antrieb bildete sich ein Kreis von Rechtsgelehrten – und zwar fast ausschließlich von Universitätslehrern – um in einem großen Sammelwerk das Material aus dem In- und Ausland zusammenzustellen, zu sichten, zu verarbeiten, kritisch zu beleuchten und womöglich daran bestimmte gesetzgeberische Vorschläge zu knüpfen. So entstand von 1905 bis 1909 das 15 Bände umfassende Sammelwerk: „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform“, Berlin bei Liebmann, welches eine erschöpfende Fülle von Material in systematisch geordneten, vergleichend und kritisch vorgehenden Einzeldarstellungen enthält, wie sie in dieser Vollständigkeit und Übersichtlichkeit wohl noch nie einem Gesetzgeber zur Vorbereitung und Erleichterung seiner Arbeit geboten worden ist.

Vorentwurf.

Während dieses große Werk noch in den ersten Stadien seines Erscheinens war, hatte in Preußen im Justizministerium ein Wechsel stattgefunden. Dem neuen Justizminister Dr. Beseler erschien das bisherige Vorgehen zu langsam; er hielt für notwendig, sogleich zur Aufstellung eines vorläufigen, für die Regierungen nicht bindenden Entwurfes zu schreiten, und zwar unter tunlichster Benutzung der inzwischen immer weiter erscheinenden „Vergleichenden Darstellung“. Unter Billigung des Kaisers und nach Zustimmung der Reichsjustizverwaltung und des schon damals zugezogenen Kgl. Bayerischen Justizministers wurde so verfahren, und es [293] trat zufolge Anordnung des Reichsjustizamts am 1. Mai 1906 in diesem Amte eine freie Kommission von praktischen Juristen mit dem Auftrage zusammen, einen formulierten Vorentwurf zu einem neuen Deutschen Strafgesetzbuch nebst Begründung auszuarbeiten.

Die Verfasser.

Der Kommission gehörten an:

1. der Verfasser dieses Abschnitts als Vorsitzender,
2. der Wirkl. Geheime Oberregierungsrat und vortragende Rat im Reichsjustizamt Dr. von Tischendorf als Stellvertreter des Vorsitzenden,
3. der Preußische Geheime Oberjustizrat und vortragende Rat im Justizministerium Dr. Schulz,
4. der Reichsgerichtsrat (anfänglich noch Preuß. Kammergerichtsrat) Ditzen,
5. der Bayerische Oberlandesgerichtsrat (jetzt Ministerialrat im Staatsministerium der Justiz) Dr. Meyer.

Im Juli 1908 trat an Stelle des behinderten Geheimrats Dr. v. Tischendorf der damalige Geheime Regierungsrat und vortragende Rat im Reichsjustizamt Dr. Joël und im Herbst 1908 an Stelle des erkrankten Geheimrats Dr. Schulz der Preußische Kammergerichtsrat Dr. Kleine in die Kommission ein, während um Neujahr 1909 der Reichsgerichtsrat Ditzen, der seine Stelle in Leipzig antreten mußte, durch den Preußischen Kammergerichtsrat Oelschlaeger ersetzt wurde. Am 22. April 1909 hielt die Kommission ihre letzte Sitzung und überreichte demnächst den fertigen Entwurf mit einer eingehenden Begründung dem Reichsjustizamt. Auf dessen Anordnung wurde er im Herbst 1909 unter dem Titel „Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission“, durch den Druck veröffentlicht, und zwar die Begründung in zwei Bänden (Berlin bei Guttentag). Hiermit wurde er der öffentlichen Kritik übergeben, die in reichem Maße an ihm geübt worden ist.

Der Umfang.

Der Vorentwurf beschränkte sich im wesentlichen auf den Bereich des geltenden Strafgesetzbuchs. Die vielfach, besonders von wissenschaftlicher Seite, erhobene Forderung nach möglichst umfänglicher Einarbeitung auch der sogenannten Nebengesetze lehnte er als unerfüllbar und unzweckmäßig ab, weil diese Gesetze meist an sich nicht strafrechtliche Materien beträfen, denen nur einige Strafbestimmungen angeschlossen seien, die nicht aus ihrem natürlichen Zusammenhange mit den anderen dortigen Vorschriften gerissen werden dürften, ohne in große Schwierigkeiten und Unklarheiten zu geraten. Auch wo die Einarbeitung hiernach wegen der vorzugsweise strafrechtlichen Natur der betreffenden Gesetze an sich möglich sei, sei mit großer Vorsicht zu prüfen, ob diese Vorschriften in das Strafgesetzbuch gehörten. Denn dieses sei nirgends eine Sammlung aller bestehenden strafgesetzlichen Vorschriften, sondern enthalte überall nur deren Kern, neben welchem eine Menge anderer, also sondergesetzlicher Bestimmungen beständen, die mit besonderen Bedürfnissen von Staat oder Gesellschaft zusammenhingen und nicht in demselben [294] Sinne gemeines Strafrecht seien. In das Strafgesetzbuch gehörten nur jene den Kern betreffenden Vorschriften. So gelangte der Vorentwurf dazu, überhaupt nur zwei Nebengesetze einzubeziehen, nämlich dasjenige gegen den Verrat militärischer Geheimnisse, das mit einigen Änderungen in den Abschnitt über Landesverrat aufgenommen wurde, und das Gesetz, betr. die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit, das durch eine Bestimmung des Begriffs „bewegliche Sache“ entbehrlich werden sollte. Auch die Strafbestimmungen über den Bankerott usw. beließen die Verfasser des Vorentwurfs in der Konkursordnung, weil es nicht angemessen sei, diese durch Übernahme jener Strafvorschriften in das Strafgesetzbuch zu zerreißen, eine Revision dieser Strafvorschriften zurzeit nicht notwendig sei und wenn sie notwendig werden würde, zweckmäßig nur im Zusammenhange mit der des ganzen Konkursverfahrens erfolgen könne.

Eine zweite, vom Vorentwurf nicht erfüllte Forderung vieler Reformfreunde ist die Ausscheidung der Übertretungen und überhaupt der gesamten sogenannten polizeilichen Strafgesetze aus dem Strafgesetzbuch. Diese Ausscheidung hält der V. E. für kaum möglich, weil der Begriff des sog. polizeilichen Unrechts nicht klar zu bestimmen und von den Rechtsdelikten abzugrenzen sei, sowie für unzweckmäßig, weil diese Ausscheidung, die übrigens auch in den Nebengesetzen vorgenommen werden müßte, gleichzeitig die Schaffung eines Reichs-Polizei-Strafgesetzbuches voraussetze, der sich die größten, kaum zu überwindenden Schwierigkeiten entgegenstellen würden. Daher würde durch Erfüllung jener Forderung die ganze Reform nur gefährdet, jedenfalls aber stark verzögert und erschwert werden.

Der Inhalt.

Was den Inhalt des Vorentwurfs anbetrifft, so knüpft er, wie in der Einleitung ausdrücklich betont ist, an die historische Entwicklung an. „Ein Strafgesetzbuch aus der Rechtsphantasie heraus schaffen zu wollen, wäre geradezu ein schwerer Mißgriff. Auf beinahe keinem Gebiet ist die Anknüpfung an die historische Entwicklung ein so dringendes Erfordernis, wie hier, wo es sich einerseits um die schwersten gesetz-Eingriffe des Staates in das Leben der Bürger, andererseits um den Schutz von Staat und Bevölkerung handelt. Wie die gesamte menschliche Entwicklung, so schreitet auch das Recht nicht sprungweise, sondern schrittweise und stufenweise vorwärts. Wer sich vermessen wollte, dieses natürliche Gesetz nicht zu beachten, würde den sicheren Boden unter den Füßen verlieren und ein Strafrecht schaffen, das vielleicht überhaupt nicht, oder nur für eine ferne Zukunft, jedenfalls aber nicht für die Gegenwart, für die er schaffen soll, brauchbar und möglich wäre. Der Entwurf hält es daher für seine richtig verstandene Aufgabe, in strenger Anknüpfung an das historisch Gewordene das allgemeine Strafrecht auf diejenige Stufe zu heben, die nach den jetzt herrschenden Überzeugungen als die nächst höhere anzusehen ist“[16].

Diese nächst höhere Stufe erblickt der Entwurf in einer Verschmelzung des bisherigen Rechts mit einer Anzahl von Forderungen der modernen Schule. Er will also ein Kompromiß und ist bekanntlich in dieser Hinsicht dem ziemlich gleichzeitig, jedoch [295] bei gegenseitiger völliger Unabhängigkeit, entstandenen österreichischen Entwurf der gegenwärtig der Beschlußfassung im Herrenhause unterliegt, sehr ähnlich.

Seine hauptsächlichen Zugeständnisse an die moderne Schule sind folgende:

1. Vereinfachung des Strafensystems. Es soll nur noch drei Strafarten geben, Zuchthaus, Gefängnis und Haft (§§ 15ff.);
2. Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe und Erleichterung ihrer Entrichtung (§§ 30ff. und die einzelnen Strafdrohungen im besonderen Teil);
3. Einführung der sog. bedingten Verurteilung, im Entwurf „bedingte Strafaussetzung“ genannt (§§ 38–41). Die Hauptgrundzüge sind: Keine Vorbestrafung mit Freiheitsstrafe, keine schwerere Strafe als höchstens 6 Monate Gefängnis oder Haft, Würdigkeit des Verurteilten. Berücksichtigt sollen hauptsächlich Jugendliche werden ohne grundsätzlichen Ausschluß der Erwachsenen; wird der Verurteilte bis zum Ablauf der Bewährungsfrist wegen Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehen von neuem zu Freiheitsstrafe verurteilt, so fällt die Vergünstigung in der Regel weg[17], hat er ohne neue Verurteilung sich schlecht geführt, so ordnet das Gericht den Wegfall an. Wichtig ist, daß also nicht nur eine neue Bestrafung, sondern auch schlechte Führung des Verurteilten zur Entziehung der Vergünstigung und nachträglichen Vollstreckung der Strafe führt. Gelangt diese demgemäß nicht zum Vollzuge, so gilt sie mit dem Ablauf der Frist als erlassen;
4. Einführung einer Anzahl sogenannter „sichernder Maßnahmen“, die teils neben, teils statt der Strafe eintreten können. Diese sichernden Maßnahmen sind:
a) Unterbringung in ein Arbeitshaus. Diese soll nicht mehr, wie im bisherigen Recht eine Nebenstrafe, sondern eine Maßregel zur Sicherung der Gesellschaft vor dem Arbeitsscheuen und zugleich zu dessen Besserung und nicht mehr auf einzelne Übertretungen und die „Zuhälterei“ beschränkt, sondern „in den im Gesetz besonders bestimmten Fällen“ anwendbar sein, zu denen nach den Vorschlägen im Besonderen Teil unter anderen auch Diebstahl und andere Verbrechen gegen das Eigentum, Kuppelei, Mädchenhandel und gewerbsmäßiges Glückspiel gehören, immer unter der Voraussetzung, daß die strafbare Handlung auf Liederlichkeit oder Arbeitsscheu zurückzuführen ist. Geringfügige Fälle (in denen nicht eine mindestens vierwöchige Gefängnis- oder Haftstrafe verwirkt ist) sind ausgenommen; die Maßregel wird nicht mehr von der Landespolizeibehörde, sondern von dem erkennenden Gericht verhängt, das nach geltendem Recht nur deren Zulässigkeit auszusprechen hat (§ 42);
b) Wirtshausverbot, wenn eine strafbare Handlung auf Trunkenheit zurückzuführen ist; wenn dabei Trunksucht des Täters festgestellt ist, Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt. Geringfügige Fälle sind auch hier ausgenommen (§ 43);

[296]

c) Aufenthaltsbeschränkung neben schweren Strafen, wenn anzunehmen ist, daß der Aufenthalt des Verurteilten an bestimmten Orten mit einer besonderen Gefahr für einen anderen oder für die öffentliche Sicherheit verbunden sein würde. Das Gericht erkennt nur auf die Zulässigkeit, die Landespolizeibehörde entscheidet über die Anwendung (§ 53). Das Institut der Polizeiaufsicht fällt dafür weg;
d) Unterbringung von wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochenen oder außer Verfolgung gesetzten oder wegen geminderter Zurechnungsfähigkeit milder bestraften Personen in eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert. Die Unterbringung ordnet das Gericht an (§ 65);
e) in gewissem Sinne gehört hierher auch die Anordnung von Erziehungs- und Besserungsmaßregeln, besonders der Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt, gegenüber kriminell gewordenen Jugendlichen, die nunmehr nicht bloß im Falle der Freisprechung wegen mangelnder Einsicht, sondern auch im Falle der Verurteilung, und zwar neben oder statt der Strafe, unter gewissen Voraussetzungen zulässig werden soll (§ 69 Abs. 2);
5. die Anerkennung der bloß geminderten Zurechnungsfähigkeit als gesetzlichen Grundes für Anwendung eines milderen Strafrahmens (§§ 63 Abs. 2, 76);
6. die Einführung der Rehabilitation in der Form der Wiedereinsetzung in die verlorenen Rechte (§ 50) und der Löschung der Bestrafung in dem Strafregister und den sonstigen amtlichen Strafverzeichnissen auf Grund längerer guter Führung (§§ 51, 52);
7. gesetzliche Festlegung der Regeln der subjektiven Verschuldung, einschließlich des Rechtsirrtums und unter Ausschluß der bloß objektiven Erfolgshaftung (§§ 58 bis 62);
8. allgemeine Bestrafung des Rückfalls und des gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Verbrechertums (§§ 87–89);
9. Beschränkung der Möglichkeit einer Unterbrechung der Verjährung (§§ 95, 98).

Verschiedene hier einschlägige Neuerungen im Besonderen Teil bei den Tatbeständen der einzelnen Delikte sollen, weil nicht von allgemeiner Bedeutung, hier nicht aufgezählt werden; erinnert sei beispielsweise an die Abschaffung der absoluten Strafdrohung beim Morde.

Diese Zugeständnisse erschöpfen zwar keineswegs die Forderungen der modernen Schule; immerhin aber sind sie bedeutungsvoll genug, um den entschiedenen Widerspruch des unbedingten Klassizismus hervorzurufen. Dieser ist daher auch nicht ausgeblieben. Die große Mehrheit der Kritiken hat sich dagegen dahin entschieden, daß der Vorentwurf im ganzen und großen auf dem richtigen Wege sei. Dies zeigt sich ferner auch in der Übereinstimmung mit dem österreichischen Entwurf und mit der zweiten Kommission, die den nachher näher zu erwähnenden revidierten Entwurf ausarbeitet. Endlich wird es durch die Erwägung bewiesen, daß die Gedanken, die der Entwurf von der neuen Schule übernimmt, als solche anzusehen sind, die sich durchgesetzt haben. An [297] solchen Gedanken, deren Verwirklichung beinahe einhellig von der „öffentlichen Meinung“ verlangt wird, kann der Gesetzgeber unmöglich vorübergehen, selbst wenn er sich die Bedenken nicht verhehlt, die gegen einzelne von ihnen erhoben werden können. Denn das Recht soll der Ausdruck der überwiegenden Volksüberzeugung sein, und diese steht jetzt unzweifelhaft auf Seiten jener Neuerungen. Schließlich ist diesen zum Teil durch den bisherigen Rechtszustand auch schon vorgearbeitet, so der bedingten Verurteilung durch die „bedingte Begnadigung“, die sich bewährt hat. Soweit Erfahrungen aber noch nicht in gleichem Maße vorliegen, wird der Versuch mit dem allgemein Verlangten gemacht werden müssen. Die Zukunft wird dann lehren, ob das Richtige getroffen ist.

Im übrigen enthält der Vorentwurf eigentlich nur eine Revision des geltenden Rechtes auf dessen Grundlage. Aber sowohl die Tatbestände, wie die Strafdrohungen bemüht er sich, freier und elastischer zu gestalten und die bisherige weitgehende Kasuistik tunlichst zu beseitigen, ohne andererseits in den gegenteiligen Fehler zu großer Unbestimmtheit zu verfallen. Eine überaus wichtige und wenn sie Gesetz wird, sicherlich segensreiche Neuerung von allgemeiner Bedeutung bringt er in dem Abschnitt „Strafbemessung“ durch die Einführung von Sondervorschriften für „besonders leichte“ und „besonders schwere“ Fälle. Niemals, auch bei sorgfältigster Formulierung der einzelnen Tatbestände läßt es sich ausschließen, daß Fälle zur Aburteilung kommen, die nur äußerlich, nicht aber dem Geiste nach, unter das Gesetz fallen, Fälle, an die der Gesetzgeber bei Bemessung seiner Strafandrohung nicht gedacht hat oder die er wegen ihrer eigenartigen, besonderen Lage nicht hat berücksichtigen können. Für diese Fälle kann auch die leichteste gesetzlich für das in Betracht kommende Delikt angedrohte Strafe zu hart sein, beispielsweise, wenn dies nur Gefängnisstrafe mit Ausschluß milderer Strafarten ist. Derartige Bestrafungen, deren Herbeiführung nach dem Legalitätsprinzip nicht immer vermieden werden kann, haben schon öfters in der Öffentlichkeit Anstoß erregt, weil sie als unbillig empfunden wurden. Für solche Fälle trifft nun der Vorentwurf Vorsorge, indem er in § 83 bestimmt:

„In besonders leichten Fällen darf das Gericht die Strafe nach freiem Ermessen mildern und, wo das ausdrücklich zugelassen ist, von einer Strafe überhaupt absehen.
Ein besonders leichter Fall liegt vor, wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat unbedeutend sind, und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheint, so daß die Anwendung der ordentlichen Strafe des Gesetzes eine unbillige Härte enthalten würde.“

Als Gegenstück kennt der Entwurf in § 84 natürlich auch „besonders schwere“ Fälle. Ein solcher liegt vor, „wenn die rechtswidrigen Folgen der Tat ungewöhnlich bedeutend sind, und der verbrecherische Wille des Täters ungewöhnlich stark und verwerflich erscheint“. Aber während bei den besonders leichten Fällen die Milderung bei allen Arten von strafbaren Handlungen einzutreten hat, sobald die Voraussetzungen des § 83 Abs. 2 gegeben sind[18], und während Art und Grad der Milderung ganz dem Ermessen des Richters überlassen sind, darf ein „besonders schwerer“ Fall einen härteren Strafrahmen [298] nur auf Grund besonderer gesetzlicher Bestimmung begründen. § 84 Abs. 1 V. E. drückt dies so aus:

„Soweit besonders schwere Fälle auf die Bestimmung der Art oder der gesetzlichen Grenzen der Strafe von Einfluß sind, ist dies im Gesetz[19] ausdrücklich vorgesehen.“

Diese verschiedene Behandlung ist kriminalpolitisch wohl begründet, denn in der Zulassung von Milderungen kann man grundsätzlich weiter gehen, mehr in die Hände des Richters legen, als in der Zulassung von Schärfungen. Auch bestehen nach dem V. E. noch erschwerende Umstände mit selbständig konstruiertem Tatbestande, ja sogar solche mit kasuistischer Formulierung, so daß die „besonders schweren“ Fälle mehr nur eine ergänzende Rolle spielen und da einzutreten haben, wo erfahrungsgemäß ein Bedürfnis nach größerer Strenge für besonders geartete Fälle sich herausstellt, formulierte erschwerende Umstände jedoch entweder im Gesetz nicht vorgesehen sind oder auf den Fall nicht zutreffen. Auf diese Weise ermöglicht es z. B. der Vorentwurf, besonders erhebliche Diebstähle und Veruntreuungen (man denke z. B. an den Bankbeamten Bruning und an Millionenunterschlagungen untreuer Bankiers und Kassenbeamter) ohne Rücksicht auf das Vorliegen kasuistischer Erschwerungsgründe mit der wohlverdienten Zuchthausstrafe zu treffen und so eine schon lange empfundene Schwäche des bisherigen Gesetzes zu beseitigen. Denn es ist absurd, daß dieses den Dieb, der eine Kleinigkeit durch Benutzung eines zufällig in seinem Besitz befindlichen passenden Schlüssels gestohlen hat, wenn mildernde Umstände nicht vorliegen, mit Zuchthaus bestraft, den untreuen Kassierer aber, der auf raffinierte Weise mit Millionen durchgegangen ist, nur mit Gefängnis bedroht.

Der Schwerpunkt der wichtigen Neuerung liegt indessen nicht in den „besonders schweren“, sondern in den „besonders leichten“ Fällen, die endlich dem Strafrecht die erforderliche Elastizität und Anpassung an die Billigkeit bringen werden. Es ist schwer begreiflich, wie man gerade diesen großen Vorzug des Entwurfs von manchen Seiten hat verkennen und wie man von der Gefahr richterlicher Willkür und von übergroßen Anforderungen an die Tüchtigkeit der Richter hat sprechen können. Denn eine wohl erwogene, sorgfältig abgegrenzte Bestimmung des Begriffs ist im Entwurf da, die einen Mißbrauch ausschließt. Ob die Folgen der Tat unbedeutend sind, und der verbrecherische Wille des Täters nur gering und nach den Umständen entschuldbar erscheint, und ob dies beides bewirkt, daß die ordentliche Strafe des Gesetzes unbillig hart erscheint, kann jeder verständige und billig denkende Mensch beurteilen, und solche Menschen sind unsere Richter, auch die Laienrichter. Es ist also nicht nur kein Mißbrauch zu besorgen, sondern durch den Vorschlag wird geradezu einem lange empfundenen Bedürfnisse genügt, das Recht mit der Billigkeit in Einklang zu bringen. Die Ermächtigung, in solchen besonders leichten Fällen von Strafe ganz abzusehen, die noch am ehesten Bedenken erregen könnte, ist vom Entwurf nur unter der Voraussetzung zugelassen, daß es bei den einzelnen Tatbeständen ausdrücklich gestattet ist, und dies ist im Besonderen Teil nur sparsam und bei dazu geeigneten Delikten geschehen, z. B. bei der Beleidigung. Vor allem aber ist es geschehen bei den Übertretungen, wo ein dringendes Bedürfnis besteht. Und hierin [299] liegt zugleich materiell die einzig richtige Beseitigung der oft beklagten Mängel des Legalitätsprinzips, dessen Durchbrechung auf prozessualem Gebiet großen Bedenken und Schwierigkeiten – auch politischer Art – begegnen wird. Denn es versteht sich von selbst und ist auch in der Begründung ausdrücklich ausgesprochen, daß nach dem Vorentwurf auch die Verfolgung unterbleiben kann, wenn die Strafverfolgungsbehörde einen „besonders leichten“ Fall annimmt, in welchem es nach dem Gesetz für das betreffende Delikt gestattet ist, von Strafe ganz abzusehen.

Gegenentwurf.

Nachdem der Vorentwurf veröffentlicht und länger als Jahresfrist der öffentlichen Kritik ausgesetzt gewesen war, erschien ein von vier Rechtslehrern, den Professoren DDr. Kahl, v. Liszt, v. Lilienthal und Goldschmidt verfaßter Gegenentwurf, der den Vorentwurf zwar auch zur Grundlage nimmt, ihn jedoch erheblich umgestalten will, unter anderem durch Einbeziehung sehr zahlreicher Nebengesetze, Erlaß eingehender Strafvollzugsvorschriften, Verallgemeinerung der Strafrahmen für mildernde und für erschwerende Umstände usw.

Revidierter Vorentwurf.

Zufolge Verfügung des Staatssekretärs des Reichsjustizamts trat endlich am 4. April 1911 in diesem Amte eine größere Kommission von praktischen Juristen und Rechtslehrern mit dem Auftrage zusammen, unter Zugrundelegung des Vorentwurfs und Berücksichtigung der kritischen Äußerungen zu ihm sowie des Gegenentwurfes einen neuen, revidierten Entwurf aufzustellen. Die aus dem ganzen Reiche ausgewählte Kommission bestand aus 16 ordentlichen und 2 außerordentlichen Mitgliedern.

Kommission.

Die ordentlichen Mitglieder waren der Verfasser dieses Abschnitts als Vorsitzender und folgende Herren:

1. der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat und vortragende Rat im Reichsjustizamt Dr. von Tischendorf als Stellvertreter des Vorsitzenden,
2. der Reichsgerichtsrat Ebermayer,
3. der Preußische Geheime Oberjustizrat und vortragende Rat im Justizministerium Dr. Schulz,
4. der Preußische Senatspräsident des Kammergerichts Geheime Oberjustizrat Dr. Lindenberg,
5. der Bayerische Ministerialrat Dr. Meyer,
6. der Sächsische Oberlandesgerichtsrat, Geheime Justizrat Dr. von Feilitsch,
7. der Württembergische Generalstaatsanwalt von Rupp,
8. der Badische Geheime Rat, Ministerialrat und Oberstaatsanwalt Duffner,
9. der Hessische Landgerichtsdirektor, Geheime Oberjustizrat Dr. Rüster,
10. der Hamburgische Rechtsanwalt, später Oberlandesgerichtsrat Dr. Niemeyer,
11. der Elsaß-Lothringische Rechtsanwalt Dr. Pfersdorff,
12. der Preußische Rechtsanwalt Justizrat Friedmann,

[300]

13. der ordentliche Professor der Rechte an der Universität zu Berlin, Geheimer Justizrat D.Dr. Kahl,
14. der ordentliche Professor der Rechte an der Universität zu Göttingen Dr. von Hippel,
15. der ordentliche Professor der Rechte an der Universität Tübingen Dr. von Frank.

Als außerordentliche Mitglieder sollten nur bei bestimmten Abschnitten mitwirken:

16. der Preußische Geheime Ober-Medizinalrat Professor Dr. Moeli,
17. der Preußische Erste Staatsanwalt (früher Direktor eines großen Berliner Gefängnisses) Dr. Klein.

Die Kommission erfuhr im Laufe der Zeit in ihrem Bestande folgende Veränderungen:

Im März 1912 verstarb der Geheime Oberjustizrat Dr. Schulz; an seine Stelle trat der Geheime Oberjustizrat Cormann aus dem preußischen Justizministerium. Im Juni 1912 übernahm der stellvertretende Vorsitzende Dr. von Tischendorf das Amt als Senatspräsident am Reichsgericht, Mitglied der Kommission wurde statt seiner der Geheime Oberregierungsrat Dr. Joël aus dem Reichsjustizamt, die Stellvertretung im Vorsitz fiel an den Geheimrat Professor D.Dr. Kahl. Mit dem Ablauf des Jahres 1912 schied der Vorsitzende aus Gesundheitsrücksichten aus, zum Vorsitzenden wurde Geheimrat Kahl und zu seinem Stellvertreter Reichsgerichtsrat Ebermayer ernannt.

Die Kommission hat ihre Arbeit Ende September 1913 vollendet. Der von ihr aufgestellte Entwurf ist, abgesehen von den fortlaufenden Mitteilungen, die über ihre Beschlüsse in dem Reichsanzeiger amtlich und in der Deutschen Juristenzeitung durch längere Zeit von dem Vorsitzenden, später von dessen Stellvertreter, gebracht worden sind, noch nicht veröffentlicht. Eine Besprechung im einzelnen ist daher zurzeit hier nicht angezeigt, nur so viel kann gesagt werden, daß sich auch dieser neue, revidierte Entwurf im wesentlichen auf der Grundlage und den Grundsätzen des Vorentwurfs aufbaut mit zahlreichen Änderungen im einzelnen. Unter diesen ist bemerkenswert, daß die Dreiteilung der Strafen in Zuchthaus, Gefängnis und Haft aufgegeben und die letztere in eine custodia honesta, „Einschließung“ genannt, und eine gewöhnliche Haft, die mehr der gegenwärtigen entspricht, zerlegt worden, sowie daß ein besonderer Allgemeiner Teil für Übertretungen geschaffen ist, eine Entschließung, deren Zweckmäßigkeit bezweifelt werden kann. – Nach dem Abschlusse des Kommissionsentwurfes wird dieser den verbündeten Regierungen zu gutachtlicher Äußerung zugehen. Zugleich oder vorher wird eine neue, kleine Kommission zur Ausarbeitung eines Einführungsgesetzes zusammentreten. Erst nach Abschluß auch dieser Arbeiten kann dem Bundesrat und Reichstag eine Vorlage gemacht werden, die dann nach der allgemeinen Hoffnung noch unter der Regierung unseres Kaisers das neue Deutsche Strafgesetzbuch bringen wird.


  1. Auf Grund § 6 Ges. v. 15. Dezbr. 1890 (RGBl. S. 207).
  2. Ursprünglich ein Initiativantrag Rintelen.
  3. Die hauptsächliche Änderung bestand in der Ausdehnung auf „andere zweiseitige Rechtsgeschäfte, welche denselben wirtschaftlichen Zwecken dienen sollen“ (wie Darlehn u. Stundung einer Geldforderung).
  4. Ges. v. 27. Dezbr. 1899 (RGBl. S. 301).
  5. Nr. 9 des § 360, soweit sie sich auf Versicherungsunternehmungen im Sinne jenes Gesetzes bezieht.
  6. § 369 Abs. 1 Nr. 2 u. Abs. 2. Diese Vorschriften sind durch § 22 der Maß- und Gewichtsordnung ersetzt.
  7. Wobei nebenher freilich auch aus gleichen Rücksichten einige wenige Schärfungen stattgefunden haben.
  8. In RG. Entsch. XLVI, 408 ist darüber gehandelt, ob ein mittels Erbrechens von Behältnissen gestohlenes Zwanzigmarkstück ein geringwertiger Gegenstand sei. Vom LG. bejaht, vom RG. verneint.
  9. In dem Falle RG. Entsch. XLVI, 205 handelte es sich um einen an Raub grenzenden Diebstahl in einem Warenhause an einer Handtasche, die eine Frau unter dem Arme trug, begangen von einem Manne, der seit einigen Wochen „ohne ertragbringende Arbeit war“.
  10. In dem Anm. 1 erwähnten Falle war die Tat an sich als unter den Paragraphen fallend angesehen, und es war wegen Straflosigkeit des Versuchs, da es bei einem solchen geblieben war, freigesprochen. Vom RG. zwar nicht gebilligt, jedoch aus anderen, hierher nicht gehörigen Gründen.
  11. Z. B. die zahlreichen Novellen zur Gewerbeordnung, die Novelle zum Postgesetz, zum Bankgesetz, zum Nahrungsmittelgesetz.
  12. Außerdem einige Novellen zu früheren Gesetzen, so zu dem Allgem. Berggesetz v. 24. Juni 1865, neue Fassung v. 14. Juli 1905 (GS. S. 307, Novelle v. 20. Juli 1909 (GS. S. 677).
  13. Ein Gesetz, das jetzt eine Ausdehnung auf andere Kräfte u. Energien finden dürfte.
  14. Das im § 1 Abs. 2 die Todesstrafe androht.
  15. Drucks. Nr. 1003.
  16. Begründung I, Einleitung S. IX.
  17. Abgesehen von geringfügigen Fällen, in denen das Gericht entscheidet.
  18. Auch Verbrechen sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen, und es muß zugegeben werden, daß auch bei ihnen besonders leichte Fälle denkbar sind, wenn sie auch nur selten vorkommen werden.
  19. D. h. bei den einzelnen Tatbeständen.