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wie Prozeß reformbedürftig sind, so gebührt jenem der Vorrang. Denn der Prozeß will nur die Wege zur Verwirklichung des materiellen Rechts weisen, diese Wege werden aber von dessen Inhalt vielfältig bedingt oder beeinflußt. Nichts ist also natürlicher als die Folgerung, daß das materielle Recht wenigstens in seinen Grundzügen feststehen muß, bevor man an den Prozeß geht. Dazu kommt, daß eine Neugestaltung des materiellen Rechts immer eingreifende Änderungen des Prozesses – wenn auch nur in der äußeren, nicht wesentlichen Form eines Einführungsgesetzes – nötig macht, so daß, wenn mit der Prozeßordnung angefangen und dann erst zum materiellen Recht übergegangen würde, nach dessen Feststellung sofort wieder eine eingehende Revision des Verfahrens notwendig würde. So wandten sich mit Recht Gesetzgebung und Wissenschaft der Vorbereitung eines neuen Strafgesetzbuchs zu, einer nicht geringeren Aufgabe, als es die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs war. Nach einer länger dauernden wissenschaftlichen und publizistischen Bewegung ist fast das ganze letzte Jahrzehnt der Regierungszeit unseres Kaisers mit Arbeiten zur Lösung jener Aufgabe erfüllt gewesen. Bevor hierauf näher eingegangen werden kann, muß jedoch betrachtet werden, inwieweit während der Berichtsperiode trotz der erwähnten Zurückhaltung das Strafrecht doch durch die Gesetzgebung im einzelnen fortgebildet worden ist.

Strafgesetzbuch.

Zunächst wurde das Strafgesetzbuch durch die Verordnung vom 22. März 1891 (RGBl. S. 21) vom 1. April 1891 ab auf der neu erworbenen Insel Helgoland eingeführt.[1]

Post- und Telegraphenwesen.

War dies nur eine selbstverständliche Erweiterung des Geltungsbereichs, so folgten demnächst wirkliche Änderungen und Ergänzungen. Zunächst auf dem Gebiet des Post- und Telegraphenwesens, indem durch das Gesetz vom 13. Mai 1891 (RGBl. S. 107), einem hervorgetretenen Bedürfnisse entsprechend, dem § 276 StGB. ein zweiter Absatz hinzugefügt wurde, der die wissentliche Wiederverwendung schon einmal verwendeter Post- oder Telegraphenwertzeichen betrifft, während die von der Gefährdung des Telegraphenbetriebes handelnden §§ 317, 318 sachgemäß geändert, und ein neuer § 318a eingestellt wurde, der die Ausdehnung dieser Vorschriften auf gewisse Rohrposts- und Fernsprechanlagen sichert. Außerdem wurde dem § 364 ein mit der Erweiterung des § 276 zusammenhängender zweiter Absatz beigefügt, der sich gegen das Veräußern und Feilhalten der dort erwähnten Wertzeichen wendet, und in den § 367 unter Nr. 5a eine Strafdrohung gegen denjenigen eingeschoben, der bei Versendung oder Beförderung von leicht entzündlichen oder ätzenden Gegenständen durch die Post die deshalb ergangenen Verordnungen nicht befolgt.

Verjährung; Wucher.

Völlig andere Materien betrafen die nächsten Gesetze. Wiederholt hatte es Anstoß erregt, daß die Verfolgung strafbarer Handlungen, die von Mitgliedern des Reichstages oder gesetzgebenden Versammlungen


  1. Auf Grund § 6 Ges. v. 15. Dezbr. 1890 (RGBl. S. 207).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/300&oldid=- (Version vom 31.7.2018)