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bei gegenseitiger völliger Unabhängigkeit, entstandenen österreichischen Entwurf der gegenwärtig der Beschlußfassung im Herrenhause unterliegt, sehr ähnlich.

Seine hauptsächlichen Zugeständnisse an die moderne Schule sind folgende:

1. Vereinfachung des Strafensystems. Es soll nur noch drei Strafarten geben, Zuchthaus, Gefängnis und Haft (§§ 15ff.);
2. Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe und Erleichterung ihrer Entrichtung (§§ 30ff. und die einzelnen Strafdrohungen im besonderen Teil);
3. Einführung der sog. bedingten Verurteilung, im Entwurf „bedingte Strafaussetzung“ genannt (§§ 38–41). Die Hauptgrundzüge sind: Keine Vorbestrafung mit Freiheitsstrafe, keine schwerere Strafe als höchstens 6 Monate Gefängnis oder Haft, Würdigkeit des Verurteilten. Berücksichtigt sollen hauptsächlich Jugendliche werden ohne grundsätzlichen Ausschluß der Erwachsenen; wird der Verurteilte bis zum Ablauf der Bewährungsfrist wegen Verbrechens oder eines vorsätzlichen Vergehen von neuem zu Freiheitsstrafe verurteilt, so fällt die Vergünstigung in der Regel weg[1], hat er ohne neue Verurteilung sich schlecht geführt, so ordnet das Gericht den Wegfall an. Wichtig ist, daß also nicht nur eine neue Bestrafung, sondern auch schlechte Führung des Verurteilten zur Entziehung der Vergünstigung und nachträglichen Vollstreckung der Strafe führt. Gelangt diese demgemäß nicht zum Vollzuge, so gilt sie mit dem Ablauf der Frist als erlassen;
4. Einführung einer Anzahl sogenannter „sichernder Maßnahmen“, die teils neben, teils statt der Strafe eintreten können. Diese sichernden Maßnahmen sind:
a) Unterbringung in ein Arbeitshaus. Diese soll nicht mehr, wie im bisherigen Recht eine Nebenstrafe, sondern eine Maßregel zur Sicherung der Gesellschaft vor dem Arbeitsscheuen und zugleich zu dessen Besserung und nicht mehr auf einzelne Übertretungen und die „Zuhälterei“ beschränkt, sondern „in den im Gesetz besonders bestimmten Fällen“ anwendbar sein, zu denen nach den Vorschlägen im Besonderen Teil unter anderen auch Diebstahl und andere Verbrechen gegen das Eigentum, Kuppelei, Mädchenhandel und gewerbsmäßiges Glückspiel gehören, immer unter der Voraussetzung, daß die strafbare Handlung auf Liederlichkeit oder Arbeitsscheu zurückzuführen ist. Geringfügige Fälle (in denen nicht eine mindestens vierwöchige Gefängnis- oder Haftstrafe verwirkt ist) sind ausgenommen; die Maßregel wird nicht mehr von der Landespolizeibehörde, sondern von dem erkennenden Gericht verhängt, das nach geltendem Recht nur deren Zulässigkeit auszusprechen hat (§ 42);
b) Wirtshausverbot, wenn eine strafbare Handlung auf Trunkenheit zurückzuführen ist; wenn dabei Trunksucht des Täters festgestellt ist, Unterbringung in eine Trinkerheilanstalt. Geringfügige Fälle sind auch hier ausgenommen (§ 43);
  1. Abgesehen von geringfügigen Fällen, in denen das Gericht entscheidet.
  2. Empfohlene Zitierweise:
    Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/311&oldid=- (Version vom 4.8.2020)