Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Der Verlust des göttlichen Ebenbildes

« Die ursprüngliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen Friedrich Bauer
Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage
Die dem gefallenen Menschen gebliebenen Kräfte und Reste des göttlichen Ebenbildes »
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II.
Der Verlust des göttlichen Ebenbildes.

 Der Mensch durch seine freie That des göttlichen Ebenbildes verlustig, verfällt der Sünde, dem Tode und der Gewalt des Teufels.


§ 17.
Die gottgewollte Stellung des ersten Menschen zum Bösen und die wirklich gewordene.
 Der Mensch sollte sich bewähren. Deshalb mußte er in die Prüfung. Er mußte seine Schranke als endliches Wesen kennen lernen und sollte sie einhalten. Diese Schranke ist ihm von Gott| gesetzt durch das Verbot Gottes, daß er von dem Baum der Erkenntnis Gutes und Böses nicht essen solle, bei Strafe des Todes, Gen. 2, 16–17. Das Böse kannte der Mensch nur dem Namen nach, es war ihm etwas Fremdes und so, daß die Sünde bloße Möglichkeit ist, hätte es immer sein sollen. Aber er sollte sich freithätig und mit allem Bewußtsein gegen die Sünde entscheiden lernen, damit er sich im Guten befestige; das war Gottes Absicht mit der Prüfung. Es naht ihm aber auch, indem Gott es aus der ebengenannten Absicht zuläßt, die Macht der Sünde und des Bösen, die in der höheren Geisterwelt durch einen Abfall von Gott bereits sich gebildet hatte. In der Schlange redet der Teufel, der oberste der abgefallenen Engel und führt den Menschen in Versuchung durch Lüge und Trug, indem er die verbotene Frucht hinstellt als etwas, was dem Menschen ein ihm noch fehlendes, das höchste Gut bringt, 1. Mos. 3, 1 ff.

 So naht dem Menschen die Versuchung, d. h. die Zumutung, das göttliche Gesetz zu übertreten und zu sündigen. Die verführende Macht der Sünde liegt in dem angenommenen Schein des Guten und in der Verheißung eines zu erwartenden Gutes. Der Verführer wendet sich an den schwächeren Teil, an das Weib, und durch Eva wird Adam verführt, Gen. 3, 6; cf. 1. Tim. 2, 14. Daß die Menschen verführt sind durch eine böse Macht außer ihnen, ist ein sehr wichtiges Moment und unterscheidet die Sünde des Menschen von der Sünde des Satans spezifisch, indem die letztere aus ihm selbst kam durch eigenste Schuld. – Es gibt menschlich Böses und teuflisch Böses (Jak. 3, 15).


§ 18.
Die entscheidende freie That des ersten Menschen. Die Genesis der Sünde. Der Fall und dessen Größe.
 Die Genesis der Sünde ist, daß in dem Menschen die widergöttliche Lust und der Zweifel erweckt wird, durch welchen die Autorität des göttlichen Wortes erschüttert und damit dem Menschen der sittliche Halt entzogen wird. Es wird in dem Menschen, zunächst in dem Weibe, dem der Versuchung zugänglicheren Teile, die Lust erweckt, das Begehren nach einem von Gott verbotenen Gegenstand. Die Lust nämlich spiegelt dem Menschen den Gegenstand seines Verlangens als ein begehrenswürdiges, lockendes und reizendes Gut vor. Mit dem täuschenden Schein eines Gutes, eines Glückes, umkleidet die Lust dem| Menschen das Böse, so daß er nicht wie der Satan das Böse um des Bösen willen, sondern das Böse wegen des ihm vorgespiegelten Scheingutes will und thut. Das ist der Betrug der Sünde, dem der Mensch zugänglich war vermöge seiner sinnlichen Natur. Der Anreiz erfolgt übrigens auf sinnlichem (physischem), psychischem und geistigem Gebiet. Der physische Reiz ist ausgedrückt mit den Worten: „Das Weib schaute an, daß von dem Baum gut zu essen wäre.“ Das ist der niederste Sinnenreiz, der somatische Reiz der Lüsternheit. Auch ein sinnlicher Reiz, aber psychischer Art geht von dem Anblick der Frucht aus. Sie war „lieblich anzusehen“. Der Anreiz auf pneumatischem Gebiet ist ausgedrückt mit den Worten: „Weil er klug machte.“ Es ist der Reiz des Hochmuts; denn ein gottgleiches Wissen hatte die Schlange als Frucht und Folge des Genusses der verbotenen Speise in Aussicht gestellt. Der grobsinnliche, der psychische und der pneumatische Reiz ist es, der in seinem Zusammenwirken die Lust im Menschen wachruft. Man sieht hier deutlich den Betrug der Sünde. Es wird dem Menschen ein Scheingut, ein Glück vorgegaukelt, welches eben doch nichts, als ein satanisches Blendwerk ist; denn sowie die Lust gebüßt ist, so zerrinnt das satanische Blendwerk, dem Menschen gehen die Augen auf, und es kommt über ihn Scham und Reue. Die Lust ist der eine treibende Faktor der Sünde. Gegen die Lust soll dem Menschen als Damm dienen das Verbot, das Wort Gottes. Aber nun sehen wir, wie der Teufel geschäftig ist, diesen Damm zu durchbrechen, zu untergraben, indem er Zweifel erweckt, sowohl an der Wahrheit, als am Ernst des göttlichen Gebots und seiner Drohung: „Sollte Gott gesagt haben?“ „Ihr werdet mit Nichten des Todes sterben.“ Es wird sowohl die Wahrheit, als die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes hier in Zweifel gestellt. Ja, auch seine Güte wird dem Menschen verdächtigt. Die Schlange stellt das Verbot hin als einen Ausfluß göttlichen Neides; vgl. das heidnische φθονερὸν τὸ θεῖον, als ob Gott dem Menschen das Glück nicht gönnte, welches ihm durch den Genuß der Frucht reifen würde. Das ist der Weg, den der Versucher einschlägt, um den Damm wegzuspülen, der das Austreten der Begierden hindert, und das ist es, was bei jeder Sünde der innere Hergang ist. Die Lust reizt, da fällt das Gebot in das Gewissen; da beredet sich der Mensch, Gott werde es nicht so ernst nehmen, einmal ist keinmal; da kommt dieser satanische Gedanke, warum Gott dem Menschen versagt und nicht gönnt, was seinem Fleisch lieb und angenehm wäre. Und| wenn der Glaube an das Wort Gottes erschüttert ist, so fällt dem Menschen der einzige Halt hin und dann ist kein Aufhalten mehr; dann gebiert die Lust, nachdem sie empfangen hat, die sündige That. (Die Aufeinanderfolge der einzelnen Momente war nach der Erzählung der Genesis bei der ersten Sünde, im Gegensatz zur jetzigen Sachlage, die umgekehrte; sie begann mit dem Zweifel an Gott und seiner Güte.)

 Größe des Falls. Wenn man freilich den ersten Menschen wie ein Kind ansieht, dann begreift sich’s, weshalb man die erste Sünde in eine Reihe stellt mit der Naschhaftigkeit eines Kindes. Es gilt, hier eine menschenwürdigere Betrachtung anzustellen. Wir müssen bedenken, daß das Verbot, von der Frucht dieses Baumes zu essen, für den Menschen die einzige für ihn gezogene Schranke war. Mithin konzentriert sich bei ihm die ganze Möglichkeit sittlichen Verhaltens in dies einzige Gebot Gottes; das war sein ganzes Gesetz. Wenn wir das bedenken, dann tritt uns schon die Größe des Falls entgegen. Es ist die widergöttliche Selbstbestimmung des Menschen in dem entscheidenden Fall, in der einzigen Probe, die ihm gestellt wurde. Aber es stellt sich die Größe der Sünde noch deutlicher heraus, wenn wir bedenken, was alles in dieser That Adams lag. Sie war:

 1. eine That des Unglaubens; denn der Mensch glaubt dem Versucher, der Schlange, mehr als Gott;

 2. eine That des Ungehorsams, der direkten Entgegensetzung des menschlichen Willens gegen den göttlichen, eine direkt widergöttliche Selbstbestimmung des Menschen;

 3. eine That des schnöden Undanks. So lohnt der Mensch die Güte Gottes, die er so reichlich erfahren hat, die ihn in den Garten Eden gesetzt hatte, der ausgestattet war mit aller Fülle irdischer Güter. Furcht Gottes, Glaube an Gott, Liebe zu Gott: das alles hat er verleugnet, indem er diese Sünde beging, und so ist sie freilich groß und schwer.


§ 19.
Die unmittelbaren Folgen des Falles für den ersten Menschen. Die Reaktion der göttlichen Gerechtigkeit.

 Sie bestehen:

 I. In sittlichen Folgen:

a) negativ in dem Verlust des göttlichen Ebenbilds, nämlich des Besitzes der Heiligkeit, Wahrheit und Seligkeit, die in der Gemeinschaft Gottes bestand;|
b) positiv in der sittlichen Umwandlung der menschlichen Natur zum Schlechteren.

 II. In äußerlichen Straffolgen, in denen sich die göttliche Gerechtigkeit kundgibt, die Reaktion gegen die Sünde. Solche sind:

a) der Tod als Spitze aller Übel, wozu dann alles Leiden gerechnet wird;
b) beim Mann die Mühe des Schaffens, beim Weib die Wehen der Geburt, und
c) die Vertreibung aus dem Paradiese.

 Die unmittelbaren Folgen des Falles sind:

 I. a) Der Verlust des göttlichen Ebenbildes, nicht nach der substantiellen Seite, wozu auch die religiöse und ethische Anlage gehört, sondern nach der ethischen Beschaffenheit. Die Unschuld ist verloren samt allen obenbezeichneten ethischen Eigenschaften. Damit ist auch das Verhältnis zu Gott alteriert, seine beseligende Gemeinschaft verloren. Ferner ist die rechte Freiheit, d. h. die Kraft, den Willen wie vordem zum Guten zu gebrauchen, verloren. Desgleichen ist er auch aus der Wahrheit gefallen und hat die rechte Erkenntnis verloren. Die Folgen zeigen sich unmittelbar darin, daß die Scham eintritt, Gen. 3, 7: „Da wurden ihrer beiden Augen aufgethan etc.,“ vgl. 2, 25: „Sie waren beide nackend, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.“ Die Scham ist das in Verlegenheit bringende Gefühl leiblicher Blöße, das seinen Grund hat in der sittlichen Blöße. Die Feigenblätter, später Kleider (3, 21) sind das mangelhafte Surrogat des ursprünglichen Schmuckes der Unschuld und Gerechtigkeit, da der Mensch sich vor Gott und seinesgleichen sehen lassen durfte wie er war. Eine unmittelbare Folge ist auch die Furcht, die auf der Entfremdung von Gott durch das Gefühl der Schuld ruht, und Schutz vor Gott und seinem Angesicht im geheimen Versteck sucht, Gen. 3, 8–10. In dieser Furcht vor Gott nimmt er, als ihn Gott aus seinem Versteck hervorholt, seine Zuflucht zur Unredlichkeit und zeigt eben damit an, daß er aus der Wahrheit gefallen ist. Die erste sittliche That vollbringt er erst wieder auf Grund seines Glaubens an die Verheißung.

 Doch beweisen diese eintretenden Gemütsbewegungen die noch vorhandenen Wirkungen des Gewissens, also die sittliche Natur und noch vorhandene sittliche Beschaffenheit des gefallenen Menschen. Sie sind der Widerschein von dem ursprünglichen Adel der menschlichen Natur und eine von Gott geordnete Schutzwehr gegen das weitere Vordringen| der Sünde, und zugleich Anknüpfungspunkt für die erlösende Gnade.

 b) Die sittliche Umwandlung der menschlichen Natur durch Einwohnung der Sünde in ihr (Röm. 7, 17), die zum Gesetz wird und in den Gliedern (des Leibes) ihren Sitz und ihre erste Wirkung hat und von da aus auf den Willen zu wirken sucht (Röm. 7, 23). Durch die erste Sünde ist der Zustand des Menschen ein sündhafter geworden, was die Schrift mit „Sünde haben“ bezeichnet, 1. Joh. 1, 8, im Gegensatz dazu „Sünde thun“, 1. Joh. 3, 4. Matth. 15, 19: „Aus dem Herzen kommen arge Gedanken etc.“ Das folgt mit Naturnotwendigkeit (necessitate physica); das kann der Mensch nun nicht wehren, weil seine Natur sündig ist und die in ihm wohnende Sünde immer thätig ist. Aber er kann ihr, d. h. dem groben Ausbruch des ihm innewohnenden Bösen in der Thatsünde mit seinem Personwillen entgegentreten und muß den Willen der sündigen Natur nicht erfüllen („Laß du ihr nicht ihren Willen,“ Gen. 4, 7). Hier steht der Mensch am Anfang der Sünde und es eröffnet sich vor ihm eine Stufenleiter des Bösen bis zur Ähnlichkeit mit dem Satan („Wer Sünde thut, ist vom Teufel und wird ein Kind des Teufels,“ 1. Joh. 3, 8. 10). Daraus erklärt sich, daß auch dem gefallenen Menschen noch die Wahl bleibt, der Sünde sich völlig zu ergeben oder mit ihr im Kampfe zu bleiben. Darum gibt es in der gefallenen Menschheit Gute und Böse.

 II. a) An den Folgen der Sünde erscheint die sittliche Weltordnung Gottes, d. h. die Folgen sind von Gott geordnet und ruhen auf ewigen Gesetzen, d. h. in den sittlichen Eigenschaften und in dem Wesen Gottes. Seine Heiligkeit reagiert gegen die Sünde und erweist sich als Gerechtigkeit, teils um sich eine Genugthuung zu verschaffen, teils um der Sünde einen mächtigen Damm entgegenzusetzen. Dazu gehört, daß die Sünde, einmal geschehen, nicht ungeschehen gemacht werden kann, sondern sich fort und fort erzeugt, im Menschen selber wie eine ansteckende Krankheit wirkt, und in dem Verhältnis des Menschen zu Gott eine Spannung erzeugt, die als Schuld empfunden wird. Dazu gehört aber vor allem die Genugthuung, die in der positiv geordneten Strafe liegt. Der Grundsatz aber lautet: „Der Tod ist der Sünde Sold,“ Röm. 6, 33; „Welches Tages du davon issest, sollst du des Todes sterben,“ 1. Mos. 2, 17. Der Tod| aber ist zunächst der leibliche Tod, welcher die Scheidung der Seele vom Leibe bewirkt. Dann aber ist der Tod die Summe aller Übel.

 b) Was über den gefallenen Menschen weiter verhängt worden ist, das ist die Erdennot, die er als Strafe der Sünde zu tragen hat, 1. Mos. 3, 19 (worin der Tod, die Spitze und das Ende aller Übel, sich im voraus ankündigt). Der Mann soll sich nähren mit beschwerlicher Arbeit, im Schweiß seines Angesichts soll er sein Brot essen. Das Weib soll viel Wehe haben bei der Geburt und viel zu tragen haben in ihrer Unterwürfigkeit unter den Mann, Gen. 3, 16–19. Der Tod ist in die gesamte, auch in die unvernünftige Kreatur eingedrungen, weil sie um des Menschen willen den Fluch trägt: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen etc.,“ 1. Mos. 3, 17, vgl. Röm. 8, 20. Die Natur bringt Schädliches hervor und Hinderliches: „Dornen und Disteln soll er dir tragen,“ schädliche und giftige Tiere, die ursprünglich nicht so waren, cf. Jes. 11, 6–9, d. h. als schädliche, wenn auch an sich da.

 c) Zu den positiven Strafbestimmungen für die ersten Menschen gehört auch die Vertreibung aus dem Paradies; denn dies birgt den Baum des Lebens mit seinen Früchten, die Speise der Unsterblichkeit. Er sieht sich ausgeschlossen und ins Elend verwiesen. Die Erde ist in ein Jammer- und Thränenthal verwandelt. Der Weg zum Paradies ist verschlossen und verwahrt durch einen Cherub mit dem bloßen hauenden Schwert. Der Eingang ins Paradies und zum ewigen Leben muß auf anderem Wege erst wieder erschlossen werden. Es bleibt dem menschlichen Geschlechte nichts als die Erinnerung und die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies (cf. das Weihnachtslied: Heut schließt er wieder auf die Thür zum schönen Paradies etc.). Doch liegt in den Strafen allen zugleich eine Wohlthat für die sündigen Menschen. Der Genuß vom Lebensbaume würde sein Elend verewigen; der Tod macht demselben ein Ende, wenn die Seele gerettet ist. In der Arbeit und Not, im Wehe und Kreuz ist ein Segen eingeschlossen; die Arbeit und das Wehe des Lebens schlägt das üppige Sündenleben nieder. Der Mensch lernt sich als einen Fremdling auf Erden erkennen und wird vor irdischer Gesinnung bewahrt. Die Not treibt ihn zu Gott und weckt die Sehnsucht nach dem ewigen Leben.

 Anm. Was der oberflächlichen Betrachtungs- und rationalistischen Denkweise am allerschwersten eingehen will, ist die Thatsache, daß durch den Sündenfall eine sittliche Änderung der menschlichen Natur vor sich gegangen sei. Wie| kann, so sagt die pelagianische Denkweise des Menschen, ein einzelner Akt eine totale Veränderung, eine Korruption des menschlichen Wesens zur Folge haben? Da ist zu entgegnen, daß es ja auch schon auf dem Gebiet der menschlichen Freiheit, des liberum arbitrium, Handlungen gibt, welche im Gebrauch, resp. Mißbrauch der Freiheit begangen, einen Zustand herbeiführen, den zu ändern nicht mehr in des Menschen Macht liegt. Z. B. die Gesundheit kann einer durch einen leichtsinnigen Akt auf einmal zerrütten, ja zerstören, oder einer, der sich frevelhaft in einen Sumpf stürzte, kann sich nicht mehr heraushelfen. (Esau verlor durch eine einzige Handlung das Recht der Erstgeburt.) Dasselbe findet statt an der moralischen Seite des Menschen. Wer in eine Versuchung eingewilligt hat, hat dadurch den Schaden, daß er sich eine Schwächung seiner moralischen Persönlichkeit zuzieht, die bleibend ist. Das war auch bei dem ersten Menschen der Fall. Da das Wesen des Menschen ein einheitliches ist, so ist dieser Zustand auch auf die Nachkommen übergegangen.
 Sodann ist vor allem zu bedenken, daß die Aufgabe des ersten Menschen war, das Ebenbild Gottes rein und ungetrübt zu bewahren, und daß eben damit, daß er dies nicht that, die Gottesebenbildlichkeit ihm verloren ging. Der Mensch hatte das Vermögen, zu bleiben, was er durch Gottes Gnade war; aber er ist es nicht geblieben, und so ist es faktisch unmöglich, daß er jetzt selber wieder werden könnte, was er durch Gottes schöpferische Gnade war. Was durch einen schöpferischen Akt gegeben war, konnte nur durch eine Neuschöpfung und Neugeburt wiederhergestellt werden.
 Daß aber in der That eine Umänderung erfolgte, davon ist die Scham ein Beweis; denn diese Scham, die wir als Folge der Sünde anzusehen haben, deutet darauf hin, daß mit der geistleiblichen Natur des Menschen eine Veränderung vor sich gegangen ist; und, was gewiß ein schlagender Beweis für diese Behauptung ist: wir bemerken an dem Versuchen des ersten Menschenpaares, die Schuld der Sünde von sich abzuwälzen, ja Gott als Urheber der Sünde gewissermaßen hinzustellen, daß die Menschen von dem Geist der Lüge durch den Vater der Lüge bedenklich infiziert worden sind. Auf die erste Frage Gottes: „Adam, wo bist du?“ erfolgte nicht die richtige, sondern nur eine halbe Antwort: „Ich hörte deine Stimme etc.“, so daß Gott sein Gewissen erst schärfen muß.


§ 20.
Die Erbsünde. Die allgemeinen Folgen des Sündenfalles für das ganze menschliche Geschlecht.
 Die Folgen, welche der Sündenfall gehabt hat, sind solche, welche nicht nur die ersten, sondern alle Menschen ohne Unterschied betreffen, „die natürlich geboren werden“ (Conf. Aug. II). Es sind im wesentlichen dieselben wie bei den ersten Menschen, nämlich der Verlust des göttlichen Ebenbildes mit der oben bezeichneten Beschränkung. Was von Seth gesagt wird: „Adam zeugte einen Sohn,| der seinem Bilde (in dem gefallenen Zustand) ähnlich war“ (Gen. 5, 3), gilt nun von allen Menschen. Sie tragen alle das Bild des ersten Adam, 1 Kor. 15, 49, und leben als seine Kinder sein Leben.

 Ebenso haben alle Menschen den sündhaften Zustand überkommen, und zwar durch die Zeugung. Bei ihnen ist er Erbsünde (peccatum originale); Ps. 51, 7; Joh. 3, 6; Eph. 2, 3. Die Fortpflanzung der Sünde erfordert die Annahme, daß Leib und Seele sich fortpflanzen (Traducianismus, nicht Creatianismus). Dazu kommt noch der Umstand, daß der sündhafte Zustand bei ihnen nicht Folge ihrer eigenen, sündhaften That ist, sondern Folge einer fremden That, der That der ersten Eltern. Daher auch bei den Nachkommen fremde Schuld, Erbschuld (imputatio peccati adamitici). Diese Zurechnung erscheint insofern der göttlichen Weltordnung entsprechend, als man den organischen Zusammenhang der einzelnen Menschen mit ihrem natürlichen Haupt, Adam, ins Auge faßt und das ganze Geschlecht als eine Einheit ansieht, wie es die Schrift betrachten lehrt, Röm. 5, 12 ff.; Matth. 23, 34–39; Deut. 31, 21, und wenn man hinzunimmt, daß infolge der natürlichen Inhärenz der Sünde sich jeder Mensch des sündigen Zustandes als seines eigenen bewußt wird und sich, obgleich er als die Ursache die erste Sünde ansehen muß, nicht unschuldig weiß, weil er den eigenen sündigen Zustand als die Quelle aller andern Sünden, die er thut, erkennt. Alles andere hat der Mensch von Gott; die Sünde ist ihm eigen. Sofern der Mensch ihm selbst lebt, soweit sein Eigenleben geht, soweit reicht die Verderbnis der Sünde.

 Unter Sünde haben wir aber alles zu verstehen, was Gott mißfällt und seinem Gesetz zuwider ist, also nicht bloß, wie die römische Kirche lehrt, die mit vollem Willen und vollem Bewußtsein vollzogenen widergöttlichen Akte, sondern auch die unbewußten unwillkürlichen Äußerungen der verderbten Natur und selbst den sündlichen Zustand (abgesehen von den daraus entsprungenen Äußerungen und Willensakten), den wir von Geburt her haben. Wir nennen ihn Erbsünde. Die Erbsünde ist nicht des Menschen Substanz geworden; aber sie ist auch nicht ein bloß äußerlich anhaftender Makel, sondern sie ist eine Verderbnis der menschlichen Natur, welche tief eingedrungen ist in dieselbe und so mit ihr verwachsen ist, daß man die Sünde quasi seine andere Natur nennen könnte, und welche ihm so lange und so fest anhängt, daß sie beim Christen nur der Tod scheiden kann;| Röm. 7, 17. 24; Hebr. 12, 1. Dieses Verhältnis der Erbsünde zur Natur des Menschen hat etwas Accidentielles. Aber der Ausdruck ist durchaus nicht zureichend. Das Verhältnis ist so einzigartig, daß die gewöhnlichen Kategorien nicht hinreichen.
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 Die Erbsünde besteht aus zwei Stücken, dem Erbmangel (s. o.), dem Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit, Röm. 7, 18 (defectus) und der Erblust (carnalis concupiscentia, affectus), Röm. 7, 23; Jak. 1, 14. Der Mensch ist in seinem jetzigen Zustand „Fleisch“, Joh. 3, 6; cf. Gen. 6, 3. Darunter wird in der Schrift die Leiblichkeit des Menschen, ferner die menschliche Natur in ihrer leiblichen Erscheinung, auch abgesehen von der Sünde (1. Joh. 4, 2), und endlich wird in den obigen Stellen die sündhaft beschaffene menschliche Natur bezeichnet, welche zugleich eine die Person bestimmende Macht hat; Röm. 7, 18: „Ich weiß, daß in mir, d. i. in meinem Fleische (soweit ich dem Einfluß der sündlichen Natur ausgesetzt bin), wohnt nichts Gutes.“ Es ist die Bezeichnung des natürlichen Menschen, der eben σαρκικός, wie ψυχικός (s. o.) heißt. Wiewohl der Sitz der Sünde in dem widergöttlichen Triebleben des Menschen ist, in seiner leiblichen und seelischen Natur, so ist das Personenleben mit den höheren Kräften in diesem Zustande, wenn auch nicht unbedingt und in allen Fällen, der Natur dienstbar, daher von einem „Willen des Fleisches“ (Eph. 2, 3) und einer fleischlichen Gesinnung (Vernunft νοῦς), Kol. 2, 18; cf. Röm. 8, 5–7 die Rede ist. Das Gesetz in den Gliedern diktiert, was der Wille wollen und die Vernunft denken soll, Röm. 7, 23 („es nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern“). Es ist demnach die Erbsünde eine solche tiefe Verderbnis unser Natur, daß sie nichts unberührt gelassen hat. Unsere Erkenntnis ist verfinstert und entbehrt des Lichts in göttlichen Dingen, 1. Kor. 2, 14; dem Willen fehlt die Kraft zum göttlichen Guten, dagegen ist er leicht zu allem Bösen geneigt. „Das Gute, das ich will etc.,“ Röm. 7, 19. Doch darf die tiefe und gründliche Verderbnis der menschlichen Natur samt der Person, also des ganzen Menschen, soweit sie ihm angeboren ist, von der Luther mit Recht sagt, daß sie tiefer sei, als daß sie ein Mensch erfassen und ergründen könne (Jer. 17, 9–10), daß sie aufs Wort hin geglaubt werden müsse, nicht anders gefaßt werden als eine Disposition zu allen möglichen, auch den schwersten Sünden, nicht als ein Verderben, das keiner Steigerung fähig wäre, im Gegenteil, es gibt eine| Entwicklung des Sündenlebens, das sich in ungeahnte Satanstiefen verlieren kann (2. Thess. 2). Die verkehrte Natur des Menschen ist voll Verlangen Leibes und der Seele nach Dingen, die überhaupt und eben jetzt zu gewähren wider den Willen Gottes ist (Begehrlichkeit – Lüsternheit, 10. Gebot), und darin liegt eine beständige Versuchung, die von der eigenen Natur des Menschen ausgeht, abgesehen von der Versuchung des Teufels und der Welt (Jak. 1, 14). Willigt der Mensch ein, läßt er sich fangen, so ist die Lust befruchtet, es wird aus der erblichen eine wirkliche Lust (1. Kor. 10, 6), aus welcher die Thatsünde geboren wird als eine Frucht. Solche Thatsünden können auch innerlich verborgen bleiben im Herzen, sie müssen nicht immer äußerlich in Erscheinung treten in Worten und Werken. Daraus ist die Stelle Luthers in den schmalkaldischen Artikeln (Pars III, Art. I, § 2) von den Früchten der Erbsünde zu verstehen (cf. auch Matth. 15, 19: aus dem Herzen kommen arge etc. etc.). Auch unbewußt, wie z. B. im Schlafe, äußert sich die sündhafte Natur; oder auch in wachen Zuständen, ohne daß es der Mensch merkt, wie bei seiner Eigenart, bei seinen Temperamentssünden, daher die unzählige Menge der verborgenen Sünden, Ps. 19.
 Anm. Wie groß und tief die Verderbnis ist, kann man auch daraus erkennen, daß sie hinreicht, uns vor Gott verdammt zu machen, Eph. 2, 3: „Wir waren Kinder des Zorns von Natur“; cf. Aug. Art. II, wo auch die Notwendigkeit der Wiedergeburt daraus gefolgert wird.
 Die Erbsünde findet sich bei allen Menschen, die natürlich geboren werden und ist bei allen Menschen das gleiche Verderben; Röm. 3, 23. Da aber jeder Mensch eine Natur hat, und eine Person ist, die sich von den andern unterscheidet, so gestaltet sich die Erbsünde in jedem Menschen zugleich individuell und so, daß diese oder jene Mängel des Guten, diese oder jene Neigung zum Bösen auch in gewissem Maße leiblich sich forterbt wie eine Krankheit. Wir haben oben behauptet: Sünde befasse auch den sündlichen Zustand selber, abgesehen von den daraus entsprungenen Äußerungen und Willensakten (Sünde „haben“ 1. Joh. 1, 8; 3, 4 im Unterschied von Sünde „thun“). Daß es sündliche Zustände gibt, wird wohl von niemand bestritten, und diese sündlichen Zustände sind wirklich Sünde, da sie die Frucht eines lang fortgesetzten Sündigens sind, des Lasters, sonst könnte man nicht von einem lasterhaften Zustand reden (habitus acquisitus, zugezogen, habitus naturalis, angeboren)[.] Ein Säufer ist ein Säufer, auch wenn er nicht in der Ausübung seines Lasters begriffen ist. Von den pelagianisierenden Richtungen wird nur geleugnet, daß auch der Zustand Sünde sei, welchen wir mit dem Wort Erbsünde zu bezeichnen pflegen, also bei Kindern, die relativ unschuldig sind, während doch von den Vertretern| dieser Richtung nicht geleugnet wird, was selbst die Heiden anerkannten, daß alle Menschen eine Neigung zum Bösen haben; Ovid sagt: Nitimur in vetitum semper cupimusque negata: wir streben immer nach dem Verbotenen und begehren immer Verbotenes. Allein, wenn nach 1. Joh. 3, 4 alles, was dem Gesetz Gottes widerspricht, Sünde ist, so auch der gottwidrige Zustand. Und damit stimmt auch Eph. 2, 3. Diesen verderbten Zustand haben wir aber durch Geburt. Wenn die Rationalisten die allgemeine Neigung zum Bösen aus den überwiegenden bösen Beispielen erklären wollen, so ist zwar zuzugeben, daß die Tradition des Bösen (1. Petr. 1, 18) eine außerordentliche Macht ist, aber warum die Menschen im allgemeinen dem bösen Beispiel lieber folgen, als dem guten, und woher die „überwiegenden bösen Beispiele“ kommen, d. h. die Herrschaft des Bösen, das in der Welt ist, das ist damit nicht erklärt. Man wird schließlich auf diesem Weg dahingedrängt, daß man eine ursprüngliche Anlage zu dem Bösen in den Menschen setzt, also die Ursache der Sünde dem Schöpfer zuschreibt. (Eine Anlage zur Sünde ist selbst schon Sünde im Keim, wie die Anlage zu einer Krankheit die Krankheit selbst in ihren Anfängen ist.)

 Wie die Sünde zu allen Menschen durchgedrungen ist, so auch der Tod; Röm. 5, 12: „Wie durch einen Menschen die Sünde ist etc.“, der Tod ist aber die Strafe für die Sünde, Röm. 6, 23, und zwar nicht bloß der Sünde, welche Übertretung eines positiven Gebots ist, wie Adams Sünde war, sondern auch des sündigen Zustandes (die Kinder die frühzeitig sterben) und der daraus hervorgehenden Thatsünden vor der Gesetzgebung. „Der Tod herrschte von Adam bis Mose auch über die, die nicht gesündigt haben, mit gleicher Übertretung wie Adam“, Röm. 5, 14. Dies ist ein thatsächliches Zeugnis der göttlichen Gerechtigkeit wider die Sünde. Der Tod darf nicht als eine natürliche Erscheinung betrachtet werden, wie die Rationalisten thun, wiewohl eine Wahrheit in dem Satze ist, daß der Mensch von Natur sterblich ist; 1. Kor. 15, 45–47.



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