CPE Bach – Auszug eines Schreibens

Textdaten
Autor: Carl Philipp Emanuel Bach
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Titel: Auszug eines Schreibens aus – – – vom 27sten Febr. 1788
Untertitel:
aus: Allgemeine deutsche Bibliothek, Band 81, Stück 1, S. 295–303
Herausgeber: Friedrich Nicolai
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Entstehungsdatum: 1788
Erscheinungsdatum: 1788
Verlag: Friedrich Nicolai
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Erscheinungsort: Berlin
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Kurzbeschreibung: Widerlegung der von Charles Burney behaupteten Überlegenheit des Orgelmusikkomponisten Georg Friedrich Händel über Johann Sebastian Bach
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[295]
Auszug eines Schreibens aus – – – vom 27sten Febr. 1788.


Ueber eine Stelle in Hrn. D. Burneys Lebensumständen von Händeln, S. XLVIII. der Eschenburgischen Uebersetzung, muß ich Ihnen doch meine Gedanken sagen.

Auch bin ich des Glaubens, daß er (Händel) in seinen vollen, meisterhaften und herrlichen Orgelfugen, wozu das Thema jedesmal höchst natürlich und gefällig ist, den Frescobaldi, und selbst Johann Sebastian Bach und andere Deutsche übertroffen hat, die in dieser schweren und mühsamen Setzart am berühmtesten sind.[WS 1]

Vergleichungen großer Männer können ungemein lehrreich werden, wenn sie ein Mann unternimmt, der selbst Größe genug hat, ihre Vorzüge zu erforschen, darzustellen und zu beurtheilen. Bey einzeln Meisterstücken berühmter Künstler ist es schon ein schweres Unternehmen, ihren Werth gegen einander genau abzuwägen und richtig zu bestimmen; allein, wie sehr vermehrt sich diese Schwierigkeit, wenn man das ganze Talent zweyer vortrefflichen Künstler neben einander auf die Waage legt? Welche tiefe Kenntniß und welch feines Kunstgefühl in der Sache, worin die Männer groß waren, wird dazu erfordert? De artifice non nisi artifex judicare potest. Also große Genies erkennen keine, als ihres Gleichen für gültige Richter ihrer Verdienste, und zwar namentlich dann, wenn diese beyderseitigen Verdienste einander entgegen gestellt werden. Aber nicht Kunstkenntniß in ihrem ganzen Umfange allein, nicht feiner ächter Geschmack und zartes Gefühl jeder auch versteckten Schönheit sind hier hinreichend. Ohne die strengste Unpartheylichkeit, ohne ehrliche Entsagung aller Vorliebe, ohne festen Vorsatz, gerecht gegen jedes Verdienst zu seyn, wird der Urtheiler Gefahr laufen gänzlich zu irren. Dieser Gefahr bleibt er selbst dann noch ausgesetzt, wenn er nicht alle Akten des Prozesses, den er entscheiden soll, vor sich hat, und genau untersucht; das ist, wenn er ohne alle die vornehmsten Werke der Meister, [296] über die er richten will, zu kennen, sein einseitiges Urtheil spricht. Dabey muß er aber nicht nur Werke von einerley Gattung, sondern auch die Werke aus gleichen Zeiten der Künstler gegen einander stellen, nicht das Jugendwerk, gegen das andre des reifen Alters, nicht das etwa einmal eilfertig und flüchtig gearbeitete Kunststück des einen, gegen das geprüfte, verbesserte des andern. Beyder erkannte Meisterstücke, worin sie die letzte Hand anlegten, müssen mit einander verglichen werden.

Kunstkenntniß und besonders Geschmack wollen wir Hrn. D. Burney einräumen; aber ist er auch unpartheyisch? Kannte er auch alle Werke beyder berühmten Männer, die er vergleichen wollte? Aus S. XLVII. Und XLVIII. sieht man nichts als Partheylichkeit, und von einer nähern Bekanntschaft mit J. S. Bachs Hauptwerken für die Orgel finden wir in Hrn. D. Burneys Schriften keine Spuhren. Auch scheint er nach seinen Reisebeschreibungen zu urtheilen, wenig Erkundigungen über J. S. B. große wundernswürdige Art die Orgel zu spielen, eingezogen zu haben, da doch, als er reiste, noch manche ihres Lehrers nicht unwürdige Schüler, und unter diesen dessen ältester Sohn Wilhelm Friedemann noch lebten. Hätte Hr. Burney irgend eine Idee von der Größe J. S. B. als Meister auf der Orgel, gehabt, er würde solche Männer, die ihm von diesem Ersten aller Orgelspieler nähere Nachricht zu geben vermochten, allenthalben aufgesucht, und sich mit ihnen über einen Gegenstand, der in der Musik Epoche macht, lange unterhalten haben. Allein, ihm war nun einmal Händel der größte Orgelspieler, und wozu sollte er sich denn um die kleinern bekümmern! Daher seine ungerechten schiefen Vergleichungen. Diese zu widerlegen muß ich freylich auch vergleichen; aber, wie ich mir schmeichele, soll dieß mit mehr Unparteylichkeit nach längerer genauern Prüfung, und (was ich gleich Anfangs voraussetze) mit der Erklärung, daß ich Händeln, wo nicht durchgehends als Komponisten für die Instrumentalmusik, doch als Opernkomponisten, und noch mehr als Kirchenkomponisten für einen großen Mann halte, der theoretische Kenntniß, Wissenschaft der Harmonie mit Reichthum der Gedanken, Erfindung, Ausdruck und Gefühl verband, geschehen.

Bach und Händel sind in einem Jahre, nämlich 1685, gebohren, folglich komponirten sie ohngefähr zu gleicher Zeit. Als Opernkomponisten stund damals Händeln noch ein anderer [297] großer Mann, Kaiser, zur Seite, der, beyläufig zu erinnern, wenn es auf Schönheit, Neuheit, Ausdruck und Gefälligkeit des Gesanges ankommt, die Parallele mit Händeln gewiß nicht zu fürchten hätte.

Claviersachen von Bachen, und Händeln erschienen zu gleicher Zeit in den zwanziger Jahren dieses Sekulums im Druck. Aber welche Verschiedenheit! In Händels Suiten ist viel Copie nach der damaligen Art der Franzosen, und nicht viel Verschiedenheit, in Bachs Theilen der Clavierübung ist alles Original und verschieden. Der Gesang der Arien mit Veränderungen in Händels Suiten ist platt und für unsere Zeiten viel zu einfältig; Bachs Arien mit Veränderungen sind noch jetzt gut, sind Original, und werden deswegen nicht leicht veralten. Welcher Reichthum, besonders in Bachs gedruckten Arien mit Veränderungen fürs Clavizimbel mit zwey Manualen! Welche Mannichfaltigkeit! Welche Fertigkeit der Hände und des Vortrages erfordende Kunst!

Der erste Theil von Händels Claviersuiten ist bis auf die Arien sehr gut. Der zweyte Theil soll galanter seyn, aber er ist mehrentheils gemein und elend.

Händels Fugen sind gut, nur verläßt er oft eine Stimme. Bachs Clavierfugen kann man für so viele Instrumente aussetzen, als sie vielstimmig sind; keine Stimme geht leer aus, jede ist gehörig durchgeführt. Händels Fugen erstrecken sich nicht weiter, als höchstens auf vier Stimmen. Bach hat in seinen Sammlungen des so betitelten wohl temperirten Claviers fünfstimmige Fugen, und zwar durch alle vier und zwanzig Thonarten gemacht. Sogar hat man eine Fuge von ihm über das Königlich Preußische Thema mit sechs Stimmen und zwar manualiter. Wenn von harmonischer Kunst die Rede ist, von dem Genie des Meisters, das viele Theile eines großen Werkes erfand, vollkommen ausarbeitete, und zu einem großen schönen Ganzen bildete, und in einander paßte, das Mannichfaltigkeit und simple Größe vereinigte, und zwar so, daß selbst der Liebhaber, der nur einigermaassen die Sprache der Fuge verstand, (andere haben über Fugen kein Urtheil) dadurch entzückt wurde: so zweifele ich, ob je Händels Fugen mit den Bachischen die Vergleichungen aushalten.

Was haben aber Bachs übrige Claviersachen nicht für Vorzüge! Wie viel Leben, Neuheit und gefällige Melodie noch itzt, da alles im Gesange so verfeinert ist! Wie viel Erfindung, [298] welche Mannichfaltigkeit in allerley Geschmack, der kunstreichen und galanten, der gebundenen und freyen Schreibart, wo Harmonie oder Melodie herrscht; dort äußerste Schwierigkeit für Meisterhände, und hier Leichtigkeit, selbst für etwas geübte Liebhaber! Wie viel brave Clavierspieler haben seine Stücke nicht hervorgebracht! War er nicht der Schöpfer einer ganz andern Behandlungsart der Clavierinstrumente? Gab er ihnen nicht vorzüglich Melodie, Ausdruck und Gesang im Vortrage? Er, der tiefste Kenner aller Kontrapunktischen Künste, (und Künsteleyen sogar) wußte der Schönheit die Kunst unterthan zu machen. Und welch eine große Menge von Claviersachen hat er gesetzt!

Aber nun zu den Orgelsachen beyder Meister; denn ihr Orgelspiel können wir doch nun einmal nicht mehr gegen einander aufstellen. Von Bachs großen Schülern sind nur noch wenige übrig, und daß Händel große Orgelspieler gebildet und gezogen habe, davon hat man doch nicht gehört. Also nach ihren Werken müssen sie gerichtet werden.

Wenn wir nun beyder Orgelsachen abwägen, so findet sich zum Vortheil J. S. B. ein himmelweiter Unterschied. Den Beweis dieser Behauptung kann man auch Unkennern ohne Mühe einleuchtend machen.

Man wird doch ohne Widerspruch annehmen dürfen, daß das Pedal der wesentlichste Theil einer Orgel sey, ohne welches sie wenig von dem Majestätischen, Großen, Kraftvollen, das ihr allein vor allen Instrumenten zukömmt, übrig behalten würde. Jeder, der irgend weiß, was Orgel ist, wird das einräumen.

Wie aber, wenn Händel nun gerade das, was die Orgel zur Orgel macht, was sie so hoch empor über alle Instrumente hebt, fast ganz aus der Acht gelassen, selten benutzt hätte? Nicht etwa, weil es ihm schlechterdings am Genie dazu fehlte, sondern weil er nicht geübt darin war, oder wenn er auch als Deutscher Uebung des Pedals hatte, als Engländer sie aufgeben mußte? Daß dieß gerade der Fall bey ihm war, ist keinem Zweifel unterworfen, wenn man weiß, daß in England wenig Orgeln mit dem Pedale sind, und daß man dort sogar es nicht einmal vermißt. Ganz anders in Deutschland; da findet man nicht leicht, auch bey der kleinsten Orgel auf einem Dorfe den Mangel eines Pedals. Orgel ohne Pedal nennt man ein Positiv, und schreibt ihm keinen Werth zu. Daher sind denn auch die guten Organisten [299] in Deutschland von jeher zu Hause gewesen, und wer weiß nicht, was J. S. B.-Werke dazu beytrugen, recht viele und große Orgelspieler zu bilden? Man wird nicht ungerecht seyn, wenn man aus dem gesagten folgert, daß ein Engländer keinen deutlichen Begriff von dem Wahren und Wesentlichen eines Orgelspielers haben könne, und sich also nicht zum Richter über große Orgelspieler aufwerfen müsse. Wie wenig Hr. Burney nun eine Ausnahme mache, wird aus der zuverläßigen Erzählung erhellen, die mir jemand von ihm machte. Als er nämlich in Hamburg war, bat er den Hrn. Capellmeister Emanuel Bach (bekanntlich den Sohn J. Sebastians) in der Michalskirche,[WS 2] die ein neues vortreffliches Werk von Hildebrandt hat, auf der Orgel zu spielen. Da ihm dieser sagte, daß er das Pedal nicht spielen könnte, soll er gelacht und gesagt haben: das Pedal wäre nicht nöthig.

Sonach können die Engländer schwerlich einen rechten Begriff von einem guten Organisten haben; und es wird ihnen übertrieben scheinen, wenn deutsche Musikkenner ihnen sagen, daß ein guter Organist ein großer Mann sey; daß er das schwerste und vollkommenste Instrument spiele, welchem ein völliges Genüge zu thun, ungemeine Talente, Wissenschaft und Uebung erfordert würden. Sonach wird schwerlich ein Engländer J. S. Bachs Orgelsachen auf seiner Insel jemals gehörig haben vortragen hören; denn, diese spielen zu können, was gehört nicht dazu?

In Bachs Orgelsachen kommen mehrentheils, und bey Stücken mit zwey Manualen und Pedal allezeit drey Systeme übereinander vor. Das Pedal ist allezeit vom Manuale frey und eine Stimme für sich. Zuweilen kommen auch zwey obligate Stimmen im Pedal vor. Die linke Hand ist nichts weniger, als Baßspielerin, sie muß alle Fertigkeit und Geläufigkeit der Rechten haben, um die ihr vorgeschriebenen Stimmen, die so oft voll lebhafter Melodie sind, gehörig ausführen zu können.

Nach Beschaffenheit der Registrirung giebt Bach dem Pedal zuweilen die prachtvolle, und dennoch manchmal nicht langsame noch leichte Hauptmelodie, wobey die beyden Hände das Glänzende haben; zuweilen hat es die oberste Mittelstimme, zuweilen die unterste. Alle diese Aufgaben und Veränderungen müssen sich die Hände auch gefallen lassen.

[300] Das Pedal hat zuweilen viel Glänzendes und Geschwindes, welches freylich nur geübte Meister auszuführen im Stande sind, und dergleichen in England wohl nie mag erhört worden seyn. Wenn man nun hinzusetzt, daß Bach nicht allein mit der Feder allen diesen Forderungen ein Genüge gethan habe, sondern auch aus dem Stegereife im Stande war es zu thun, und zwar so regelmäßig als möglich: welche Größe gehört nicht hierzu!

Außer den vielen von J. S. gesetzten, ausgeführten und variirten Chorälen und Vorspielen dazu (auch die finden bey den Engländern wenig Statt, da ihre Art des Kirchengesangs wenig Gelegenheit dazu giebt) außer andern Trios für die Orgel sind besonders 6 dergleichen für zwey Manuale und das Pedal bekannt, welche so galant gesetzt sind, daß sie jetzt noch sehr gut klingen, und nie veralten, sondern alle Moderevoluzionen in der Musik überleben werden. Ueberhaupt genommen, hat noch niemand so viel schönes für die Orgel gesetzt, als J. S. Bach.

Quanz sagt an einem Orte seiner gedruckten Anweisung die Flöte traversier zu spielen, nämlich im XVIII. Hauptstück §. 83.[WS 3] daß unser bewunderungswürdige J. S. Bach in den neuern Zeiten die Kunst die Orgel zu spielen, zu ihrer größten Vollkommenheit gebracht habe. Und Quanz war doch unstreitig Kenner der Kunst und Mann von Geschmack, den er auf langen Reisen durch Deutschland, Italien, Frankreich, Holland und England, wo er alle große Tonkünstler oft hörte, ausgebildet hatte. Namentlich kannte er Händeln sehr genau und verehrte ihn. Quanz war nebst Hassen und der Faustina, welche alle Händeln lange gekannt und oft auf dem Clavier und der Orgel gehört hatten, in Dresden gegenwärtig, als sich J. S. Bach in den Dreyßigern dieses Jahrhunderts vor dem Hofe und vielen Kennern auf der Orgel hören ließ; diese bekräftigten das angeführte Urtheil über ihn, als den ersten und fertigsten aller Orgelspieler und Komponisten für dies Instrument. Dies Urtheil lebt auch noch in dem allgemeinen Rufe in Deutschland und auswärtigen Ländern.

Bey Gelegenheit der Orgelsachen von Händeln, als denen Bachischen entgegen gestellt, läßt sich gar nichts sagen. Sie sind zu sehr verschiedner Art, und können nicht verglichen werden.

[301] Man wird vielleicht sagen, daß Händel dem Geschmacke der Engländer nachgegeben, und die Vorzüge der Orgel, vielleicht sogar aus ökonomischen Gründen, verläugnet habe. Das mag seyn, wenn er zum Beweise in seinem Saul Orgelsolos einmischt, die so dünne gewebt, so zweystimmig klar, und so locker und leicht sind, daß sie von jedem mittelmäßigen Clavierspieler vom Blatte weggespielt werden können, und auf dem kurztönenden Flügel so gute Wirkung thun, als auf der aushaltenden Orgel. Aber sollte Händel auch nicht ein einziges Stück seiner Orgelarbeiten so eingerichtet haben, woraus auch Meister jenseit des Meeres sehen könnten, daß er auch ihrer höhern Kunst gewachsen sey? Sollte er in Deutschland nicht ein einziges der deutschen Orgel würdiges Werk verfertigt und hinterlassen haben? Und unter allen den Händelschen Orgelsachen, die ich kenne, (und ich setze wohlbedächtlich hinzu, was Hr. D. Burney bey Bachen ausläßt: so viel ich ihrer von Händeln auch kenne,) finde ich keines, das die oben an den Bachischen gerühmten Vorzüge hätte. Allenthalben giebt das Pedal Trumpf zu, das ist, es thut nichts weiter, als den Baß verstärken, und kann auch bloß manualiter, ohne daß die Wirkung geschwächt würde, gespielt werden.

Man sehe alle seine gedruckten Orgelconzerte und Orgelfugen. Sollten ungedruckte existiren, die ganz anders gearbeitet wären, so zeige man sie vor; noch hat niemand von unsern ältesten Tonkünstlern sie gesehen, und es wäre sonderbar, wenn Händel gerade seine schlechten Orgelsachen allein hätte drucken lassen. Da alles, was er schrieb, in England in so unzählicher Menge gestochen ist, und so reißend abgieng, sollte er nicht ein Paar Orgelfugen und Conzerte, so, wie sie seyn müssen, in Gesellschaft der leichtern Sachen mit ins Publikum haben bringen können, woraus man den Meister auf der Orgel mit allem seinen Reichthum der Erfindung und Glanz der Kunst hätte erkennen können? Oder war diese große erhabnere Arbeit, diese Bachische Kunst, (welche die alten finstern Grübeleyen mit dem hellern Geschmack und schönern Ausdruck der Neuern so glücklich und unerreichbar vereinte,) war diese selbst des großen Händels Sache nicht? Ein sonderbarer Umstand in seiner Lebensgeschichte macht es wahrscheinlich, daß er sich nicht getrauete, in diesem Stücke gegen J. S. B. aufzukommen. Im ersten Bande von Marpurgs Beyträgen zur Geschichte der Musik, S. 450,[WS 4] ist eine [302] Stelle, welche das bestätigt, nur bedarf sie eines kleinen Kommentars. Die Stelle lautet so: hat nicht ein großer Händel alle Gelegenheiten vermieden, sich mit dem seligen Bach, diesem Phönix im Satze und der Ausführung aus dem Stegereife, zusammenzufinden, und sich mit ihm einzulassen? u. s. w., und der Kommentar ist folgender: Händel ist dreymal aus England in Halle gewesen, das erstemal ungefähr um 1719, das zweytemal in den Dreyßigern, und das letztemal 1752 oder 1753. Beym erstenmale war J. S. B. damals Kapellmeister in Köthen, vier kleine Meilen von Halle. Er erfuhr Händels Anwesenheit in letztgedachtem Orte, sogleich setzte er sich auf die Post, und fuhr nach Halle. Denselben Tag, wie er da ankam, reisete Händel weiter. Beym zweytenmale hatte J. S. B. zum Unglück das Fieber. Weil er nun selbst nach Halle zu reisen außer Stande war, so schickte er sogleich seinen ältesten Sohn, Wilhelm Friedemann, dahin, um Händeln aufs höflichste einzuladen. Friedemann besuchte Händeln, und erhielt zur Antwort, daß er nicht nach Leipzig kommen könnte, und es sehr bedauerte. J. S. B. war nämlich schon damals in Leipzig, auch nur vier Meilen von Halle. – Beym drittenmale war J. S. schon todt. Händel war also nicht so neugierig, wie J. S. B., welcher einmal in seiner Jugend wenigstens 50 Meilen zu Fuße lief, um den berühmten Lübeckschen Organisten Buxtehude zu hören. Um so viel mehr schmerzte es J. S. B., daß er Händeln, diesen wirklich großen Mann, den er besonders hochachtete, nicht persönlich hatte kennen lernen.

Vielleicht fällt aber jemanden hiebey die bekannte Geschichte mit dem nicht ohne Verdienst berühmten französischen Orgelspieler Marchand ein, der nach Dresden kam, um mit Bachen um die Wette zu spielen, und ohne Sieg bescheiden sich in sein Vaterland zurückezog, nachdem der König mit einer großen und glänzenden Gesellschaft beym Marschall Grafen von Flemming deswegen ihn erwartete. Er ließ eine Besoldung von einigen 1000 Thalern im Stiche, und war mit Extrapost fort. Vielleicht hält man daher Bachen für einen herausfordernden musikalischen Renommisten, dem der friedfertige Händel wohl hätte aus dem Wege gehen müssen? Nein, Bach war nichts weniger, als stolz auf seine Vorzüge, und ließ seine Uebermacht niemand empfinden. Im Gegentheil war er ungemein bescheiden, tolerant und sehr höflich [303] gegen andere Tonkünstler. Die Geschichte mit Marchand wurde hauptsächlich durch andere bekannt, er selbst hat sie nur selten erzählt, wenn man in ihn drang. Nur ein Beyspiel zum Beweise seiner Bescheidenheit, wovon ich Zeuge gewesen bin. Bach kriegte einsmals einen Besuch von Hurlebusch, einem Clavier- und Orgelspieler, welcher damals sehr berühmt war. Dieser letztere setzte sich auf Ersuchen an den Flügel; und was spielte er Bachen vor? Eine gedruckte Menuet mit Veränderungen. Hierauf spielte Bach ganz ernsthaft nach seiner Art. Der Fremde von Bachs Höflichkeit und freundlicher Aufnahme durchdrungen, machte Bachs Kindern mit seinen gedruckten Sonaten ein Geschenk, damit sie daraus, wie er sagte, studiren sollten, ohngeachtet Bachs Söhne schon damals ganz andere Sachen zu spielen wußten. Bach lächelte für sich, blieb bescheiden und freundlich.

Dies habe ich dem allzuschneidenden Richterspruche eines nicht allerdings gültigen musikalischen Kritikers entgegen stellen wollen, theils um zu zeigen, daß wir Deutschen ihm das jus de non appellando nicht zugestehen; theils in der Absicht, um ihn und andere Kunstrichter fürs künftige zu warnen, in der Vergleichung berühmter Männer vorsichtiger zu Werke zu gehen; sie nicht von einer Seite gegen einander zu stellen, wo sie nicht zu einander passen; nicht ihnen Vorzüge anzudichten, die sie nicht haben, und bey ihren übrigen Talenten auch allenfalls entbehren können; nicht auf Kosten anderer, eben so entschiedener Verdienste ihren Liebling zu erheben, oder, wenn ja verglichen werden soll, ähnliche Eigenschaften und Verdienste neben einander zu stellen, mit gehöriger Einsicht und richtigem Urtheil sie unpartheiisch zu untersuchen, und dann bescheiden seine Meynung dem Publikum, dem Kenner und Kenner ähnlichem Liebhaber der Kunst vorzulegen. Dann nur können Parallelen berühmter Künstler und Kunstwerke lehrreich seyn.




Zum Text

Der Text erschien anonym; der Musikwissenschaftler Dragan Plamenac hat 1949 nachgewiesen, daß Carl Philipp Emanuel Bach der Verfasser ist.

  • Plamenac, Dragan: New Light on the Last Years of Carl Philipp Emanuel Bach, in: The Musical Quarterly 35.1949, S. 565-587

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Das Zitat in der Vorlage ist nur eingerückt, nicht kursiv gesetzt. Es ist entnommen aus Charles Burney: An account of the Musical Performances in Westminster Abbey and the Pantheon in Commemoration of Handel, 1785, Payne & Robinson. In der Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg: Dr. Karl Burneys Nachricht von Georg Friedrich Händels Lebensumständen, Berlin und Stettin: Fr. Nicolai 1785 heißt es Seite XLVIII: „Auch bin ich des Glaubens, daß die besten von seinen italienischen Opernarien, in Abwechselung der Schreibart und Erfindsamkeit der Begleitung, die Arien aller vorigen und gleichzeitigen Komponisten in ganz Europa übertreffen; daß er in seinen Violinsachen mehr Feuer hat, als Corelli, und mehr Rhythmus, als Geminiani; daß er in seinen vollen, meisterhaften und herrlichen Orgelfugen, wozu das Thema jedesmal höchst natürlich und gefällig ist, den Frescobaldi, und selbst Johann Sebastian Bach, und andre Deutsche übertroffen hat, die in dieser schweren und mühsamen Setzart am berühmtesten sind; und endlich, daß alle einsichtvolle und unbefangne Tonkünstler jeder Nation, wenn sie seine edeln, majestätischen, und oftmals erhabenen vollen Motetten und Chöre in den Oratorien hören oder lesen, willig und entzückt gestehen müssen, daß ihnen nichts ähnliches unter den Arbeiten der größten Meister vorgekommen ist, die seit der Erfindung des Kontrapunkts gelebt haben.“ Google
    Im Original, S. 40–41, lautet die Stelle: „It is my belief, likewise, that the best of his Italian Opera Songs surpass, in variety of style and ingenuity of accompaniment, those of all preceding and cotemporary Composers throughout Europe; that he has more fire, [41] in his compositions for violins, than Corelli, and more rhythm than Geminiani; that in his full, masterly, and excellent organ-fugues, upon the most natural and pleasing subjects, he has surpassed Frescobaldi, and even Sebastian Bach, and others of his countrymen, the moft renowned for abilities in this difficult and elaborate species of composition; and, lastly, that all the judicious and unprejudiced Musicians of every country, upon hearing or perusing his noble, majestic, and frequently sublime FULL ANTHEMS, and ORATORIO CHORUSES, must allow, with readiness and rapture, that they are utterly unacquainted with any thing equal to them, among the works of the greatest masters that have existed since the invention of counterpoint.“ Google
  2. Siehe dazu: Die Begegnung von Burney mit CPE Bach am Dienstag, den 13. Oktober 1772.
  3. Siehe: Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen, S. 328–330 (1752)
  4. Siehe Friedrich Wilhelm Marpurg: Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, Bd.1 (1754), S. 450–451 Commons