Bedeutung und Aufgabe der Parlamente. Parteienbildung

Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm von Blume
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Bedeutung und Aufgabe der Parlamente. Parteienbildung.
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, Abschnitt 27, S. 373−385
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[373]
Sechstes Hauptstück.


Der Parlamentarismus.




27. Abschnitt.


Bedeutung und Aufgaben der Parlamente. Parteibildung.
Von
Dr. Wilhelm von Blume,
o. Professor der Rechte an der Universität Tübingen.


Literatur:

Bearbeiten
Dahlmann, Die Politik (2. Aufl.) 1847. –
Waitz, Grundzüge der Politik, 1862. –
Bluntschli, Lehre vom modernen Staat, 3 Bde., 1875–76. –
H. v. Treitschke, Historische and politische Aufsätze, Bd. III, S. 429 fg.; 1886. –
H. v. Treitschke, Politik (Vorlesungen) 1897–98. –
Röscher, Geschichtliche Naturlehre der Monarchie, Aristokratie und Demokratie, 1892. –
v. Holtzendorf, Die Prinzipien der Politik, 2. Aufl., 1879. –
Rehm, Allgemeine Staatslehre; 1899. –
Rich. Schmidt, Allgemeine Staatslehre; 1901, 1903. –
Jellinek, Das Recht des modernen Staats, 1 Bd.: Allgemeine Staatslehre. 2. Aufl.; 1905. –
A. Menger, Neue Staatslehre, 1903. –
Laband, Deutsches Staatsrecht, 4 Aufl., 1901. –
Laband, Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung; im Jahrbuch des öffentl. Rechts 1; 1907. –
Hatschek, Englisches Staatsrecht, 1905. –
Jellinek, Regierung und Parlament, 1909. –
Stier-Somlo, Politik, 11. Aufl., 1911. –
Kindermann, Parteiwesen und Entwicklung, 1907. –
Zischka, Entstehung und Wesen der politischen Parteien, 1911. –
Stillisch, Die politischen Parteien in Deutschland. Bd. I und 11, 1910/11. –
Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens und der modernen Demokratie, 1911. –
Rehm, Deutschlands politische Parteien, 1912. –
Lederer, Das ökonomische Moment und die politische Idee im modernem Parteiwesen (Zeitschr. f. Politik, V, S. 538).

Das Wort „Parlament“ bezeichnet in dem Lande, das ihm seine technische Bedeutung gegeben hat, in England, eigentlich die Staatsorganisation: König, Oberhaus und Unterhaus. Im uneigentlichen, aber landläufigen Sinne, werden darunter die beiden „Häuser“, will sagen: Ratsversammlungen, verstanden, die im Laufe der Jahrhunderte die königliche Macht beschränkt und die Untertanen des Königs zu Bürgern des vereinigten Königreichs gemacht haben. In diesem Sinne ist es in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Mag die Ratsversammlung ein „Kongress“ oder eine „assemblée nationale“, sein, mag sie „Nationalrat“ oder die „Kammern“, „Landtag“ oder „Reichstag“ heissen, mag sie nach dem Einkammer- oder nach dem Zweikammer-System gebildet sein, auf allgemeinen Wahlen oder auf beschränkten Wahlen beruhen – immer handelt es sich um ein Parlament, sofern ein Ausschuss der Bürgerschaft beschliessend teilnimmt an den Geschäften der zentralen Staatsleitung.

Parlamente in diesem Sinne sind denkbar nur in Staaten mit zentralistischer oder, richtiger gesagt, monistischer Struktur. So lange die Staatstätigkeit durch Verträge zwischen dem Fürsten und den Ständen bestimmt wird, mag in der ständischen Vertretung etwas [374] einem Parlament im heutigen Sinne ähnliches bestehen – die Idee des Parlamentes ist darin noch nicht enthalten. Von kaum einer Einrichtung aber gilt so unbestreitbar wie von dieser das Iheringsche Wort, dass der „Zweck der Schöpfer ganzen Rechts“ ist. Zwar in seiner Heimat, in England, hat sich das Parlament aus Einrichtungen des dualistischen Feudalstaates, nicht ohne Kämpfe, aber doch in allmählicher Fort- und Umbildung entwickelt und in den nordamerikanischen Freistaaten hat es sich in den Freiheitskriegen, die das Bürgertum gegen das Mutterland zu führen hatte, wie selbstverständlich herausgebildet. Aber auf dem europäischen Kontinente und wo immer seitdem Parlamente entstanden sind, sind sie ganz und gar Geschöpfe zweckbewussten Wollens der Nationen, Verwirklichungen der „parlamentarischen Idee“. Sie setzte in Frankreich und den ihm nachfolgenden Staaten ein, als das ständische Wesen längst durch die absolute Staatsgewalt überwunden war und setzte sich durch unter heftigen Erschütterungen und Umwälzungen. Verknüpfte sie sich so von vornherein mit der monistischen Staatsauffassung, die jene Zeit beherrschte, so trug sie doch zugleich einen neuen Dualismus in das Staatsleben hinein, indem sie das Parlament der Regierung als Feind gegenüberstellte.

Die Umstände, unter denen ein Staat sich entwickelt hat, wirken aber nicht nur in seinen Einrichtungen nach, sie beherrschen auch die Vorstellungen, mit denen Staatslenker und Staatsbürger diesen Einrichtungen gegenübertreten, noch auf lange Zeit hinaus. Ob eine Staatseinrichtung sich bewährt, das richtet sich in erster Linie nicht danach, wie sie gestaltet ist, sondern danach, in welchem Masse sie Verständnis und Vertrauen bei denen findet, die sie zu gebrauchen haben. Es ist das Schicksal des Parlamentarismus in den kontinentalen Staaten geworden, dass er in ihr Staatsrecht aufgenommen wurde zu einer Zeit, wo man an ein absolut richtiges Recht glaubte und vermeinte, Staaten in der Retorte herstellen zu können. Und so wurde die Geschichte des Parlamentarismus, seit er vom heimatlichen Boden Englands wegverpflanzt war, der Kampf einer „Idee“ mit historisch-gegründeten Mächten, ein Kampf, der in Deutschland noch heute nicht ausgekämpft ist.

Will man den Inhalt dieser Idee feststellen, so wird man sich nicht an die Ausprägung halten dürfen, die sie in dem Staatsrecht des einen oder des anderen Staates erfahren hat. Man kann nicht ohne weiteres behaupten, dass der parlamentarische Gedanke nur in den Staaten mit Parlamentsherrschaft vollständig verwirklicht sei und in solchen, die dem Parlament nicht die herrschende Stellung einräumen, einen unzulänglichen Ausdruck gefunden habe. Denn es fragt sich, ob nicht aus der Staatsverfassung der parlamentarisch regierten und der der monarchisch-konstitutionell regierten Staaten ein einheitlicher Gedanke gefunden werden könne, der als „parlamentarische Idee“ bezeichnet werden darf.

Fast überall, wo Parlamente geschaffen wurden, verknüpfte sich mit ihrer Begründung der Gedanke der „Repräsentation“. Heissen doch die Abgeordneten der Vereinigten Staaten von Amerika geradezu „representatives“, die Belgiens „représentants“. Die Bezeichnung „Volksvertretung“ scheint das Wesen des Parlaments erschöpfend wiederzugeben, so dass es nur allenfalls noch der Frage bedürfte, welche Stellung dieser Volksvertretung im Staate zukommt und zukommen soll.

Indessen liegt die Sache so einfach nicht.

Wer ist das „Volk“, das vom Parlament vertreten wird? Soll es die Menge der Einzelnen sein, die jeweilig einem Staate angehören? So, dass das Volk heute ein anderes wäre als es gestern war und morgen sein wird? Wie wäre dann aber denkbar, dass diese Einzelnen vom Parlament vertreten würden, da doch jedes Parlamentsmitglied alle Einzelnen zu vertreten hätte! Käme mithin als staatsrechtlich vertretbar nur das organisierte Volk, die Volksgemeinschaft in Betracht. Aber damit gewinnt der Begriff der „Volksvertretung“ einen anderen Sinn, als ihm die landläufige Sprachweise beilegt. Denn das organisierte Volk ist im Grunde nichts anderes als der Staat selbst. Gegen die Meinung, dass das Parlament für den Staat als dessen „Organ“ beschliesse, wäre staatsrechtlich nichts einzuwenden. Nur ist es in dieser Beziehung vom Monarchen nicht wesentlich verschieden. Haben doch gerade die bedeutendsten Persönlichkeiten der absoluten Monarchie, Ludwig XIV. [375] und Friedrich der Grosse, sich durchaus als Repräsentanten ihres Staates, ja als dessen Beamte bezeichnet. Folglich ist es staatsrechtlich unmöglich, einen Gegensatz zwischen „Regierung“ und „Volksvertretung“ zu konstruieren.

Und doch lebt ein solcher Gegensatz im Volksbewusstsein. Nur handelt es sich dabei nicht um die staatsrechtliche Stellung, sondern um die Bestellung des Parlamentes. Ueberall geht es, ganz oder wenigstens zum Teil, aus Wahlen hervor. Durch die Wahl bringt der wahlberechtigte Teil des „Volkes“, d. h. der jeweils vorhandenen Menge der Staatsbürger, seinen Willen zum Ausdruck. Die Zusammensetzung des Parlaments ist Ausdruck des „Volkswillens“, richtiger des Willens der Wählerschaft, so wie er sich in einem bestimmten Augenblick gestaltet hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Parlament allerdings scharf von jeder Regierung, die nicht aus Volkswahlen hervorgeht, mag sie nun Monarchie oder was immer sonst sein (Wo aber, wie in den Vereinigten Staaten, auch der Präsident durch das Volk gewählt wird, da beruht der Unterschied der beiden Arten der „Repräsentanten“ lediglich auf ihrer staatsrechtlichen Aufgabe.) „Volksvertretung“ soll also soviel heissen wie „vom Volke bestellte Vertretung des Staates“. Man hat dies (so Jellinek, Allgemeine Staatslehre) auf die Weise staatsrechtlich verwerten wollen, dass man sagte, das Parlament sei nur sekundäres Organ des Staates, primäres sei das Volk, das sich des Parlamentes als eines Organs bediene. Aber hierbei wird doch wohl verkannt, dass es im staatsrechtlichen Sinne eben nicht das Volk, sondern die Wählerschaft ist, die das Parlament bestellt und dass nicht die Handlungen des Parlamentes, sondern seine Mitglieder durch die Wahl bestimmt werden.

Macht man mit dem Gedanken, dass das Parlament das Volk vertrete, Ernst, so kommt man notwendig zum „imperativen Mandat“, d. h. zu der Forderung, dass der gewählte Parlamentarier seine Handlungen nach den Weisungen richte, die seine Wählerschaft bei der Wahl oder nach der Wahl ihm erteilte. Einen solchen gebundenen Auftrag hatte der landständische Abgeordnete, der einen Verband, eine Gemeinde durch Wahrnehmung ihrer Interessen in der Ständeversammlung zu vertreten hatte. Die Beseitigung des imperativen Mandates bedeutete daher in der englischen Parlamentsgeschichte ein unfehlbares Zeichen dafür, dass sich das Parlament aus einer ständischen Vertretung zu einem Organ des englischen Staates ausgewachsen hatte. In der deutschen Verfassung aber bezeichnet die Gebundenheit der Bundesrats-Bevollmächtigten das föderative, die Entschlussfreiheit der Reichstagsabgeordneten das unitarische Wesen der Staatseinrichtung. Nicht den Willen der Wählerschaft, sondern den Staatswillen bringt das Parlament durch seine Beschlüsse zum Ausdruck. „Les membres de l’assemblée nationale“ heisst es in der französischen Verfassung von 1848 (Art. 34) „sont représentants de la France entière.“ Auch mögen zum Belege die prächtigen Worte dienen, mit denen die Stein’sche Städteordnung in § 110 Abs. 2 den Stadtverordneten ihre Stellung bezeichnet:

„Das Gesetz und die Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Ueberzeugung und ihre Ansicht vom gemeinen Besten der Stadt ihre Instruktion, ihr Gewissen aber die Behörde, der sie deshalb Rechenschaft abzulegen haben. Sie sind im vollsten Sinne Vertreter der ganzen Bürgerschaft, mithin so wenig Vertreter des einzelnen Bezirkes, der sie gewählt hat, noch einer Korporation, Zunft usw., zu der sie zufällig gehören.“

Die beiden Gedanken: „Der Wille der Wählerschaft kommt in der Bestellung der Parlamentsmitglieder zum Ausdruck“ und: „Das Parlament bringt den Willen des organisierten Volkes, d.h. des Staates, zum Ausdruck“ machen zusammen die „parlamentarische Idee“ aus.

„Der eine Bestandteil der Freiheit ist, abwechselnd zu regieren und regiert zu werden, der andere: zu leben nach eigenem Belieben.“ Das Parlament ist bestimmt, den ersten der beiden Aristotelischen Bestandteile der Freiheit zu verwirklichen. Es ist eine Form der Selbstregierung der Regierten. Wo eine unmittelbare Teilnahme der Regierten an der Regierung wegen der Grösse des Staatswesens unmöglich ist, da bleibt nur übrig [376] einen Ausschuss der Bürgerschaft als Organ des Staates zu bestellen und allenfalls für besonders schwerwiegende Entscheidungen die „Urabstimmung“ (das „Referendum“) vorzubehalten.

Der Einfluss, den der parlamentarische Gedanke auf die Geschicke der Völker gehabt hat, die Rechtsform, in der er verwirklicht wurde, war selbstverständlich verschieden je nach dem Boden, auf den er fiel. Während in einigen Staaten das Parlament zur Herrschaft gelangt ist, hat es sich in anderen Staaten mit einer bescheideneren Rolle begnügen müssen, so, dass man die Staaten mit parlamentarischem System in parlamentarisch- und monarchisch-konstitutionell-regierte scheiden kann. Aber nur eine Staatstheorie, die das Erbe der Doktrinäre des 18. Jahrhunderts sine beneficio inventarii angetreten hat, kann vermeinen, in der einen oder der anderen Staatsform das „an sich richtige“ System erblicken zu müssen. Lässt sich zugunsten des englischen Parlamentarismus anführen, dass er den Dualismus des Beamtentums und des Bürgertums in einer höheren Einheit auflöst, so ist auf der anderen Seite leicht zu sehen, dass ein Parlament, das die Ernennung der Beamten entscheidend beeinflusst, weniger zu ihrer Kontrolle geeignet ist als ein Parlament, das nur Kontrollorgan ist.

Im übrigen handelt es sich bei der Staatenbildung nicht um Kunst-Produkte, sondern um Ergebnisse des Ringens sozialer Kräfte, die sich unter dem Einfluss von Land, Abstammung und Nachbarschaft gebildet haben. So muss denn das Bild des Parlamentarismus in England notwendig ein ganz anderes sein als in Deutschland.

Man wird, um die Staatsform, in der das Parlament zur Geltung kommt, politisch beurteilen zu können, nicht eine staatsrechtliche Konstruktion verwenden dürfen, die mit dem Begriffe der „höchsten Gewalt“ operiert. Ist doch in England – wenigstens nach der in der deutschen Staatsrechtlehre überwiegenden Auffassung – Träger der höchsten Gewalt immer noch der König, obwohl der Wille des Parlaments durchaus den Staat beherrscht. Man wird, um die in einem Staate wirksamen Kräfte richtig einzuschätzen, unterscheiden müssen zwischen dem gesetzten Rechte und der tatsächlichen Uebung, welch’ letztere sich als Gewohnheitsrecht niederschlägt, wenn sie ein Menschenalter überdauert hat. Oder ist das Recht des englischen Königs, die Minister zu ernennen, ist sein Recht des „assent“ zu Parlamentsbeschlüssen – das fälschlich sogenannte „Vetorecht“ – heute mehr als ein „nudum jus“, ein Recht zu handeln ohne das Recht der Entschliessung? Wohl ist der König für die englische Staatsmaschine unentbehrlich; – hat man doch eben deshalb seinerzeit Karl II. zurückberufen – aber ebenso unentbehrlich ist der Wollsack und die Perücke des Sprechers. Mögen nun auch die dem Könige verbliebenen Rechte einem klugen und tatkräftigen Monarchen immer noch Gelegenheit zur Entfaltung eines grossen Einflusses geben – dass der eigentliche Herrscher Gross-Britanniens das Parlament, und zwar seit der Veto-Bill das Unterhaus ist, wird nicht wohl bestritten werden können; dass dieser Herrscher von der Wählerschaft bestellt wird, macht seine Schwäche aus, und dass der König ihn entlassen kann, indem er das Parlament auflöst und an die Wählerschaft appelliert, scheint die Stärke des Königtums zu sein.

Aber die diese Entlassung herbeiführen, sind in Wahrheit die Minister, und ihre Partei ist es, auf deren Stärke sie dabei rechnen. So erscheint über dem Parlament als letzte kontrollierende Instanz das Volk, richtiger: die Wählerschaft, noch richtiger: die Partei. Bei der Betrachtung des Parteiwesens wird diese Erkenntnis noch zu verwerten sein.

Was Deutschland betrifft, so ist im Reiche schon deshalb eine parlamentarische Regierung von Staatsrechts wegen unmöglich, weil sie die Grundlagen des Reiches vernichten würde. Denn ein vom Parlament regiertes Reich würde ein Einheitsstaat sein; der föderative Charakter des Reichs fordert, dass die „verbündeten Regierungen“ die Leitung des Staates behalten.

Es kommt hinzu, dass Bismarcks Staatskunst in die Verfassung noch eine zweite Sicherung einfügte, indem er den Reichskanzler nur als preussischen Bevollmächtigten im Bundesrat teilnehmen lässt – neben dem föderalistischen ein partikularistisches Hindernis einer Parlamentsregierung.

[377] In den deutschen Einzelstaaten aber, zumal in Preussen, haben die Monarchie und das von ihr geschaffene Beamtentum ihre Fähigkeit zur Regierung in schwierigen Zeiten so überzeugend erwiesen, dass der Wunsch nach einer parlamentarischen Regierung zwar nicht geschwunden, aber erheblich abgeschwächt worden ist. Hierzu hat zweifellos die Erkenntnis beigetragen, dass in manchen parlamentarisch-regierten Staaten Günstlingswesen, Bestechlichkeit und Missbrauch der Amtsgewalt einen Umfang angenommen haben, der die verderblichen Wirkungen absolutistischer Regierungen in jeder Hinsicht erreicht. Sind es hier die Höflinge, so sind es dort die Parlamentarier selber, die an der Korruption teilnehmen, und die Beamtenschaft ist in den Staaten mit hochentwickelter Parlamentsherrschaft so wenig gegen Bestechlichkeit gefeit wie in den Despotieen des Orients. Ja, das Parlament wird möglicherweise ebenso von der Beamtenschaft beherrscht wie ein unfähiger Monarch – ist doch der Ausgang der Wahlen stets auch von der Gunst der Beamten abhängig. Und „eine Hand wäscht die andere“; auch in der Politik.

Zugunsten der konstitutionellen Verfassung, die das Parlament an der Regierung teilnehmen, aber nicht schlechthin regieren lässt, spricht in erster Linie der Umstand, dass bei dieser Verfassung die wichtigste Funktion des Parlaments: die einer Kontrolle der Regierung unzweifelhaft am besten zur Geltung kommt. Dies bedarf noch einer genaueren Betrachtung.

Gegen den Gedanken des Parlamentarismus sind mancherlei Bedenken erhoben worden. Sie richten sich zunächst gegen seinen ersten Bestandteil, der, wie wir feststellten, die Wahl zum Parlament als Ausdruck des Willens der Wählerschaft betrachtet. Auch, wenn man den vergeblichen Versuch aufgibt, in der Wahl zum Parlament den „Willen des Volkes“ finden zu wollen, bleibt doch unbestreitbar, dass diese Wahl nur unvollkommen sich eignet, den Willen der Wählerschaft zu bekunden.

Zunächst ist ein Mangel, dass nicht die gesamte Wählerschaft zu Worte kommt, da ja stets von ihr ein Teil sich der Wahl enthält. Dem könnte man entgegnen, dass, wer nicht wählt, nicht zähle. Aber weiter ist zu berücksichtigen, dass immer nur die Mehrheit zur Geltung kommt. Und wendet man gegen dies Bedenken ein, dass doch der Wille einer Vielheit immer nur ein Mehrheitswille sein könne, so bleibt jedenfalls unbestreitbar, dass infolge der Gruppierung, die die Wählerschaft zu Wahlzwecken erfahren muss, bei jedem Wahlsystem eine Minderheit künstlich in eine Mehrheit verwandelt werden kann. Vor allem aber: der Wille dieser Wählerschaft wird ja nicht erzeugt durch Austausch der Gedanken unter denen, die an der Willensbildung teilnehmen, sondern er wird in Wählergruppen erzeugt. Je nach der Vorbereitung der Wahl und nach den äusseren Umständen, unter denen sie sich vollzieht, ist daher die Entschliessung der Wähler an den verschiedenen Orten ganz verschiedenen Einflüssen ausgesetzt. Es fehlt der Willensbildung ganz und gar die Einheitlichkeit, die bei einer Urabstimmung in der Volksversammlung eines kleinen Staates durch die Einheit der Handlung gewährleistet ist. Man kommt mithin, wenn man in der Wahl des Parlaments eine Willenskundgebung der Wählerschaft sehen will, ohne Fiktionen nicht aus.

Indessen wird man dem parlamentarischen Gedanken nicht gerecht, wenn man die Funktionen des Parlamentes nicht berücksichtigt. Das Parlament soll als Ausschuss der Bürgerschaft des Staates an der Bildung des Staatswillens teilnehmen. Das ist der zweite Bestandteil des parlamentarischen Gedankens. Für eine Staatsauffassung, die nicht vom Einzelnen sondern vom Gemeinwesen ausgeht, wird die Richtigkeit dieses Gedankens nicht durch den Hinweis auf die „natürlichen Rechte“, noch auch durch eine Aufzählung der Leistungen des Einzelnen nachgewiesen werden können, sondern lediglich durch eine Prüfung der Vorteile, die dem Gemeinwesen aus der Einrichtung erwachsen.

Zwei Aufgaben des Parlaments wird man dabei in den Vordergrund stellen müssen:

1. Das Parlament ist die Stelle, wo die gemeinsamen Interessen aller Staatsbürger zur Geltung, die einander entgegenstehenden zum Ausgleich kommen sollen. Man hat wohl, um die Mängel der Einrichtung des [378] Parlamentes darzutun, die Unmöglichkeit betont, dass das Parlament die Interessen des gesamten Volkes wahrnehme. Aber derartiges wird im Ernste auch vom Parlament gar nicht verlangt. Nur, dass das Parlament dem Gemeinwohl diene, ist die Forderung. Dass es ein Gemeinwohl gibt, ist nicht zu leugnen, da es einen Staat gibt. Nur ergibt es sich nicht dadurch, dass die einander widerstreitenden Einzelinteressen wahrgenommen, sondern dadurch, dass sie ausgeglichen werden, so zwar, dass der Einzelne, was er opfert, vergütet sieht durch die Möglichkeit des Lebens in der Gemeinschaft. Dass dieser Ausgleich nicht ohne Kampf stattfindet, liegt in der Mangelhaftigkeit menschlicher Einsicht begründet. Endet er mit der Unterdrückung der einen Partei, so entspricht dies nicht dem Grundgedanken des Rechts, sondern lediglich dem kurzsichtigen Egoismus. Auch das Parlament ist von Eigennutz und Machtgelüsten nicht frei. Aber, dass die Art seiner Bestellung den Ausgleich hindert, statt ihn zu fördern, wird man nicht behaupten können. Mag der Parlamentarismus Fehlerquellen aufweisen – der Gedanke, einen Ausschuss der Bürgerschaft an der Staatslenkung teilnehmen zu lassen, ist so alt wie die europäische Kultur und wird sich behaupten, so lange diese besteht.

Ja, er muss um so mehr an Kraft gewinnen, je schwieriger die Staatsaufgaben werden und je mehr das technisch-durchgebildete Beamtenheer wächst, dessen es zu ihrer Erledigung bedarf. Der Absolutismus des Beamtentums ist fast eine grössere Gefahr als der Absolutismus des Monarchen. Ihm zu begegnen ist 2. die Hauptaufgabe des Parlaments: es ist die Kontrollinstanz für die Bureaukratie.

Es „vertritt“ in dieser Hinsicht das Volk insofern, als es eine Funktion übernommen hat, die in kleineren Staaten das Volk, d. h. die Versammlung der Bürgerschaft, selbst auszuüben in der Lage ist. Das Parlament aber wird seinerseits wieder durch die wahlberechtigte Bürgerschaft kontrolliert, die allerdings ihr Kontrollrecht eben nur in der unvollkommenen Form der Parlamentswahl zur Geltung bringen kann.

Mannigfaltig sind die Formen, in denen der Gedanke der Kontrolle des Beamtentums durch ausgewählte Bürger verwirklicht werden kann. Als eine unvollkommene Form muss heute die Verteilung der Aufgabe des Befehlens zwischen Beamte und Bürger betrachtet werden, wie sie sich in den Geschworenengerichten erhalten hat. Sie wird allmählich verdrängt von einer anderen Form, die Deutschland beispielsweise in den Schöffengerichten und in verschiedenen Verwaltungsbehörden zeigt: die Bildung eines aus Beamten und Bürgern zusammengesetzten Kollegiums. Wo aber die Aufgabe des Befehlens Einzelnen anvertraut werden muss, da ist die kontrollierende Beteiligung der Bürgerschaft nur in der Weise möglich, dass eine besondere Kontrollorganisation geschaffen wird: das Parlament.

Die Montesquieu’sche Lehre von der Gewaltenteilung, die eine Verteilung der gesetzgebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt auf verschiedene Organe forderte, hat bekanntlich dazu geführt, die Kontrolle des Parlaments auf die Gesetzgebung zu beschränken, so zwar, dass in der französischen Verfassung von 1791 die Assemblée nationale geradezu „Corps législatif“ genannt wird und diese Bezeichnung in die meisten der von ihr ausgehenden Verfassungen übergegangen ist. Dem lag unzweifelhaft ein staatsrechtlicher Irrtum zugrunde; denn das englische Parlament war und ist keineswegs auf die Gesetzgebung beschränkt. Aber es handelt sich auch um einen gefährlichen politischen Irrtum. Denn, weder ist mit der Uebertragung der „Legislative“ eine scharfe Abgrenzung der Funktionen des Parlaments gegenüber denen der übrigen Staatsorgane gegeben, noch ist die eigentliche Aufgabe des Parlaments: die Kontrolle der Regierung dadurch irgendwie gekennzeichnet. Die Folge des ersten Mangels war, dass die Verfassungen sich genötigt sahen, ausdrücklich festzustellen, dass Steuern nur im Wege der Gesetzgebung bewilligt werden können und das Budget jährlich durch Gesetz festzustellen ist, womit die Grenze zwar verbessert aber immer noch nicht unbestreitbar gemacht wurde. Auf der anderen Seite hat der Gedanke, dass das Parlament Regierungskontrolle sein solle, zwar in einzelnen Verfassungen dadurch Ausdruck gefunden, dass ihm das Recht der „Enquête“ verliehen wurde (Belgische Verfassung Art. 40; Preussische Verfassung, Art. 82); aber ein solches Recht ist ziemlich wertlos, wenn ihm [379] nicht eine Pflicht des Beamtentums zur Rechenschaftslegung gegenübersteht. Diese Erkenntnis hat in den nicht vom Parlament regierten Staaten die Forderung der „Minister-Verantwortlichkeit“ gezeitigt. Ein sehr unvollkommener Ausdruck eines richtigen Gedankens! Denn nicht darauf kommt es an, dass das Parlament in der Lage ist, einen Minister wegen Bruches der Verfassung in Anklagezustand zu versetzen, sondern darauf, dass ihm die Möglichkeit gegeben ist, den Gang der Staatsgeschäfte ständig zu beobachten und vorkommende Fehler zu rügen.

Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass die parlamentarische Kontrolle, wenn sie engherzig ausgeübt wird, einen lähmenden Einfluss auszuüben vermag, dass sie daher an Stellen und zu Zeiten, wo es auf schnelles und entschlossenes Handeln ankommt, unbedingt ausgeschaltet werden muss. Es wird eben auch hier nicht auf die Gestaltung des Rechtes allein, sondern auch und ganz besonders darauf ankommen, in welchem Sinne es ausgeübt wird. Immerhin wird es förderlich sein, wenn die eigentliche Aufgabe des Parlamentes klar erkannt und scharf betont wird. In diesem Sinne wollte die Stein’sche Städteordnung (§ 126) das Recht der Stadtverordneten-Versammlung gestalten, in diesem Sinne wird das Recht des Parlamentes entwickelt werden müssen, wenn der parlamentarische Gedanke zur vollen Geltung kommen soll.

Es fragt sich aber, ob überhaupt noch mit einer Fortentwicklung der Grundgedanken des Parlamentarismus gerechnet werden kann, da eine vielvertretene pessimistische Auffassung einen allgemeinen Niedergang des Parlamentarismus feststellen zu können glaubt Was ist davon zu halten?

Unbestreitbar ist, dass die Idee der Beteiligung der Regierten an der Regierung einen Siegeszug über die ganze Erde angetreten hat. Waren es bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts nur die europäischen und die von Europa aus besiedelten Staaten, die ihn aufgenommen hatten, so sind seitdem halb-asiatische und ganz-asiatische Staaten in grösserer Zahl gefolgt: Japan, Russland, die Türkei, Persien haben Volksvertretungen erhalten und selbst im Reich der Mitte beginnt der konstitutionelle Gedanke Wurzel zu fassen. Darf nun auch nicht geleugnet werden, dass die Einrichtungen, die er gezeitigt hat, vielfach auf sehr unsicherem Boden stehen und schon durch leichte Erschütterungen umgestürzt werden können, ja, dass manche Parlamente nur eine Karikatur des parlamentarischen Gedankens darstellen, so ist doch unverkennbar, dass die parlamentarische Bewegung räumlich in entschiedenem Vorrücken begriffen ist.

Fragt man ferner, ob das Parlament an Macht zu- oder abgenommen habe, so wird zunächst zu unterscheiden sein zwischen der rechtlichen Stellung und dem tatsächlichen Einfluss, den das Parlament ausübt. Alsdann wird die Antwort nicht absolut, sondern relativ zu geben sein, indem nämlich die Macht des Parlaments mit den anderen im Staate wirksamen Mächten verglichen wird.

Als Gegengewicht des Parlaments kommt zunächst die „Regierung“ in Betracht, will sagen: der nichtparlamentarische Faktor der Regierung. Wo dieser parlamentarisch gebildet, d. h. in seiner Zusammensetzung ganz oder teilweise vom Parlament abhängig ist, da ist für eine weitere Ausbreitung der Macht des Parlaments ihm gegenüber kaum noch Raum vorhanden. Was aber den tatsächlichen Einfluss betrifft, so wird es wesentlich darauf ankommen, welche Persönlichkeit sich in der Regierung neben dem Parlament zur Geltung bringt – die Regierung König Eduards VII. von England bietet nach dieser Richtung des Lehrreichen genug. In den nicht-parlamentarisch regierten Staaten, zumal in Deutschland, ist ein Wachsen des rechtlichen Einflusses der Parlamente in der Gegenwart kaum zu bestreiten. Für Deutschland wird er von Laband’s Autorität (Jahrbuch d. öffentl. Rechts II, 26) bezeugt. Aber einen verfassungsmässigen Niederschlag von grösserer Bedeutung hat diese Strömung nicht gefunden, und, was die tatsächliche Geltung des Parlaments betrifft, so wird diese durch die Entwicklung der Parteiverhältnisse in Deutschland zweifellos nicht günstig beeinflusst.

Der zweite Machtfaktor, der dem Parlament gegenübersteht, ist die nicht selten kurzweg „das Volk“ genannte Wählerschaft. Ihr legitimes Verhältnis zum Parlament wird durch [380] das Wahlrecht bestimmt. Wird dieses demokratischer, so bedeutet das nur eine Veränderung der Machtverteilung innerhalb der Wählerschaft, nicht ihres rechtlichen Einflusses. Wohl aber wird die Macht der Wählerschaft durch eine Abkürzung der Wahlperioden gemehrt, durch eine Verlängerung gemindert; sie wird ferner gesteigert durch imperatives Mandat, geschwächt dadurch, dass die Entschliessung den Abgeordneten freigegeben wird. In diesen Beziehungen hat sich in neuerer Zeit das Verhältnis eher zugunsten des Parlamentes verschoben. Dagegen bedeutet es allerdings eine erhebliche Minderung der rechtlichen Stellung des Parlaments, wenn die Verfassungen dazu übergehen, die Urabstimmung (das Referendum) als Mittel zur Bildung des Staatswillens aufzunehmen. So konnte die konservative Partei in England auf den Gedanken kommen, die Einführung des Referendums vorzuschlagen, um dadurch den Machtzuwachs des Unterhauses auszugleichen. Obwohl dieser politische Schachzug in England einstweilen noch keine Ergebnisse gehabt hat, wird doch gesagt werden dürfen, dass der Gedanke der unmittelbaren Beschlussfassung der Bürgerschaft den demokratisierenden Tendenzen der Zeit entspricht, und dass von dieser Seite dem parlamentarischen Gedanken eine nicht geringe Gefahr droht.

Bedeutsamer als die etwaige Möglichkeit einer Schwächung der rechtlichen Macht des Parlaments gegenüber der Wählerschaft ist die unbestreitbare Tatsache, dass der tatsächliche Einfluss, den das Parlament auf die Bildung der Volksstimmung ausübt, das Ansehen, das es in der öffentlichen Meinung geniesst, in neuerer Zeit zu sinken begonnen hat. Nach dieser Richtung hat zunächst die Entwicklung des Zeitungswesens einen Einfluss geübt. Ist dieses eine „Grossmacht“ im öffentlichen Leben geworden, so hat es dadurch die Machtstellung des Parlamentes notwendig vermindert – was einst durch die Vermittlung des Parlaments am sichersten und nachdrücklichsten zur Geltung gebracht wurde, wird heute ebensogut, ja besser durch die Zeitung denen vorgehalten, die es angeht. Aber, auch wenn man vom Einfluss des Zeitungswesens absieht, bleibt noch genug, was dem Ansehen des Parlamentes abträglich ist.

Unvermeidlich war ja, dass die überschwenglichen Hoffnungen, die man bei der Geburt der Volksvertretungen für ihre Zukunft hegte, im Laufe der Zeit bedeutend herabgedrückt wurden. Die Erkenntnis, dass nicht die Staats-Einrichtung an sich, sondern die Art, wie sie gebraucht wird, für das Glück der Völker entscheidend ist, musste notwendig die Meinung derer ablösen, die von einer Aenderung der Gesetzgebung alles erwarteten. Andererseits hat man eingesehen, dass nicht nur die Zwangs-Organisation des Staates, sondern auch freiwillig gebildete Verbände von allerlei Art an der Gestaltung des sozialen Lebens mitzuwirken haben und bei nicht wenigen hat diese Einsicht zu einer Nichtachtung des staatlichen und damit auch des parlamentarischen Wirkens geführt.

Aber es handelt sich doch wohl um mehr als um eine blosse Ernüchterung der Verehrer des parlamentarischen Gedankens; es scheint sich vielmehr eine tiefgehende Unzufriedenheit mit dem Wirken der Parlamente herauszubilden. Und zwar eine Unzufriedenheit, die ganz ebenso in parlamentarisch regierten Demokratien wie in konstitutionellen Monarchien, in Staaten mit allgemeinem gleichem wie in solchen mit beschränktem Wahlrecht sich geltend macht, also weder auf Ohnmacht des Parlaments gegenüber dem anderen Faktor der Regierung noch auf den Mangel einer volkstümlichen Basis des Parlaments zurückgeführt werden kann. Vielmehr dürften andere ungünstige Umstände sich vereinigen, um das Bild des Parlamentarismus zu entstellen.

Vor allem: man wirft den Parlamenten Mangel an Würde und Mangel an Pflichtgefühl vor. Beides nicht ganz mit Unrecht. Es lohnt sich wohl, den Ursachen dieser Erscheinung nachzugehen und zu prüfen, ob Mittel zur Abhilfe gegeben sind. Was zunächst das äussere Gebaren des Parlamentes und der Parlamentarier betrifft, so muss es notwendig auf die Formen, in denen der Verkehr in einem Kollegium sich bewegt, ungünstig wirken, wenn die Mitglieder den verschiedensten Gesellschafts- und Bildungsschichten entstammen. Ein wahrhaft gedeihliches Zusammenwirken ist nur bei unbedingter gegenseitiger Achtung möglich. So lange nun das gesellschaftliche Leben nicht demokratisiert ist – und davon ist es, in [381] Europa wenigstens, noch sehr weit entfernt – wird das Parlament entweder, wie ehedem in England, aus den führenden Schichten des Volkes entnommen werden müssen, oder es wird die Kollegialität der Parlamentarier und damit die Würde der Verhandlung durch ihre gesellschaftliche Verschiedenheit ungünstig beeinflusst werden. Man mag das beklagen, aber darf nicht meinen, durch Aenderungen in der Geschäftsordnung in dieser Hinsicht eine wesentliche Besserung zu erzielen. Fehlt es somit dem demokratisch gewählten Parlament an dem erforderlichen demokratischen Unterbau des sozialen Lebens, so fehlt andererseits der Menge die erforderliche politische Einsicht, um das aristokratische Element, das dem parlamentarischen Gedanken innewohnt, genügend zu berücksichtigen. Der Idee nach sollen die vom Volke gewählten Abgeordneten „Auserwählte“ des Volkes sein, Führer im öffentlichen Leben mit Führer-Eigenschaften. Aber die Wahl trägt dem häufig genug keine Rechnung und keine Art der Gestaltung des Wahlrechts, keine Beschränkung der Abstufung kann eine Sicherheit für die politische Reife des Urteils geben. So entstehen Widersprüche zwischen Idee und Wirklichkeit, die um so stärker empfunden werden, je stärker die Idee betont wird.

Man wirft den Parlamenten „Unfleiss“ vor und sucht dem zu begegnen durch Gewährung von Diäten und anderen Vorteilen für parlamentarische Tätigkeit. Jedoch dürften dabei die Symptome mit den Ursachen verwechselt werden und, ob die Bewilligung von Diäten oder gar von Anwesenheitsgeldern gerade zur Hebung des Ansehens des Parlaments das geeignete Mittel ist, darf billig bezweifelt werden, wenn sie auch aus anderen Gründen unvermeidlich sein mag. Als Ursache der Erscheinungen, die man „Unfleiss“ nennt, kommen hauptsächlich zwei Umstände in Betracht:

Zunächst die schon besprochene Entwicklung des Zeitungswesens. Publikum, Regierung und, nicht zuletzt, die Parlamentarier selbst benutzen die Tageszeitungen und Wochenschriften als Sprachrohr. Damit werden viele der im Parlament gehaltenen Reden überflüssig; sie werden nichtsdestoweniger gehalten, aber nicht gehört, sondern gelesen – in der Zeitung. Die Tätigkeit des parlamentarischen Plenums wird zur Zeitvergeudung, die Arbeit in den Kommissionen aber wächst, ohne doch für das Ansehen des Parlamentes in die Wagschale zu fallen.

Hierzu kommt, dass die Aufgaben des Parlamentes und die Leistungsfähigkeit seiner Mitglieder je länger je mehr auseinander gehen. Je mehr Gebiete des bürgerlichen Lebens der Staat in seine Einflusssphäre zieht, je schärfer die Gegensätze der sozialen Gliederung des Volkes hervortreten, je tiefer die Probleme des Volkslebens von der Wissenschaft erfasst werden, um so zahlreicher und um so schwieriger werden die Aufgaben, vor die der Staat und somit das Parlament gestellt wird. Der Einfluss, den das Parlament verfassungsmässig auf ihre Erledigung hat, beschränkt sich zwar auf die Teilnahme an der Gesetzgebung. Aber gerade diese fordert je länger je mehr ein gewisses verwaltungstechnisches, volkswirtschaftliches und juristisches Wissen und Können. Je breiter nun die Volksschichten sind, aus denen das Parlament entnommen wird, desto geringer ist unter den sonstigen gesellschaftlichen Verhältnissen die Zahl derer, die zu gesetzgeberischer Tätigkeit befähigt sind. Zwar können Laien in der Gesetzgebung, wie in der Rechtsprechung erfolgreich wirken, wenn sie mit dem Berufs-Beamten zusammenarbeiten. Indessen weist die Konstruktion des Parlamentarismus denselben Fehler auf wie die der Geschworenengerichte: sie isoliert die Tätigkeit der Laien von der der Beamten, die das Gesetz oder den Spruch vorzubereiten haben.

Um so ungünstiger wirkt, dass, wie schon oben berührt wurde, fast überall das Parlament einer staatsrechtlichen Schrulle zuliebe auf die Gesetzgebung beschränkt und von der Verwaltung ausgeschlossen worden ist, somit also die Wirkung der von ihm erlassenen Befehle nicht aus eigener Anschauung kennen lernt, wenigstens nicht von massgeblicher Stelle aus. Hier dürfte ein weiterer Fehler der Gestaltung des parlamentarischen Lebens, zumal in Deutschland, blossgelegt sein. Wer den wohltätigen Einfluss erkennen will, den die Verbindung von gesetzgebender und verwaltender Tätigkeit auf die Wirksamkeit des Laien-Elements ausübt, der betrachte die [382] Organisation unserer Kommunalverbände, zumal unserer Gemeinden, und ihre Leistungen. Es war unter den vielen glücklichen Gedanken des Freiherrn vom Stein einer der glücklichsten, dass er das Laien-Element nicht nur in der Stadtverordnetenversammlung, sondern auch im Magistrat zur Geltung kommen liess, der Stadtverordnetenversammlung dazu der Kontrolle der gesamten Verwaltung übergab und schliesslich für besondere Verwaltungszwecke besondere Verwaltungsdeputationen vorsah, in denen Magistrat, Stadtverordnete und Bürger zusammenwirken sollen. Möglich, dass der parlamentarische Gedanke diese Richtung einschlägt, wenn erst die Vorurteile, die hüben und drüben von der Entstehungszeit des Parlamentarismus her bestehen, im Laufe der weiteren Entwicklung ausgeschaltet sein werden.

Von entscheidender Bedeutung für die Zukunft des Parlaments ist die Entwicklung der Parteibildung.

Es wäre das Ideal eines Parlaments, das keine Parteien enthielte, in dem sich vielmehr die Gruppen für und gegen eine Meinung nur nach freier, wohlgegründeter Ueberzeugung von Fall zu Fall bildeten. Es ist das Schicksal der Parlamente, dass sie ohne Parteien nicht sein können, ja, dass eine erfolgreiche Parlamentstätigkeit überhaupt erst möglich ist, wenn das Parteileben eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht hat.

Jede Vereinigung, in der Interessen und Meinungen durch Mehrheitsbeschlüsse zur Geltung gebracht oder zum Schweigen verurteilt werden, wird nach kurzer Zeit des Bestehens sich in ständige Gruppen ordnen, die einander gegenübertretenden Parteien. Sie können lose oder festgefügt sein – immer bilden sie Sonderbünde mit Eigenleben, Körper im Körper des Staates, Kommunalverbandes, Parlamentes oder wo immer sie leben mögen. Was sie unentbehrlich macht für das öffentliche Leben, ist, dass in ihnen die Meinungen geklärt, die Interessen ausgeglichen werden, ehe diese in dem grösseren Verbande aufeinanderstossen, dass sie die Streiterscharen ordnen zu einem Kampfe um die Hauptfragen unter Beiseitestellung der trennenden Nebenpunkte. So machen sie aus einem Getümmel ein Gefecht und ermöglichen, dass ein ehrenhafter Kampf zu einem ehrenvollen Frieden führe. Aber gross ist auch die Gefahr der Parteiung. Denn nur zu leicht beginnen Parteien sich als Selbstzweck zu betrachten, während sie doch nur Mittel zum Zweck des Ausgleiches der Meinungen und Interessen in dem Verbande sind, der sie umschliesst. Solche Parteien kämpfen nicht mehr um des Friedens, sondern um des Kampfes willen, sie suchen nicht mehr den Vorteil des Gemeinwesens, sondern nur den ihrer Mitglieder, sei es auch auf Kosten des Gemeinwesens. Und so zerstören sie den Körper, in dem sie wohnten, und damit sich selbst.

Alles Parteiwesen ist auf Kampf abgestellt. Aber falsch wäre es, darin seinen Fehler zu sehen. Solange nicht die Vernunft die Menschen und Völker zum Richtigen leitet, wird der Kampf nicht entbehrt werden können als Mittel zur Selbstbehauptung. Und in jedem Falle ist der öffentliche Parteikampf – mögen dabei auch Hiebe fallen und Güter zerstört werden – dem „versteckten Ränkespiel vorzuziehen, das die Machthaber unfreier Staaten umschlingt“ (Treitschke). Nur muss von ihm verlangt werden, dass er „fair“ sei, dass er sich in den Formen des Anstandes und der Achtung vor dem Gegner vollzieht und, dass er nicht ein Beutezug sei, sondern ein Kampf um die Durchsetzung des eigenen Willens.

Die einfachste Art der Parteibildung ist der Anschluss an führende Persönlichkeiten ohne Rücksicht auf bestimmte Ziele. Solche Gefolgschaften werden häufig der Anfang der Parteibildung sein in Staaten und Parlamenten, denen noch die leitenden Gedanken und ausgeprägten Gruppeninteressen fehlen – die Namen der Parteien im Parlament der Paulskirche legen dafür Zeugnis ab. Aber auch ein entwickeltes Staats- und Parlamentsleben wird nicht selten Parteien zeigen, deren Programm einfach ein Name ist, oder die, trotz eines sachlichen Programms, im Grunde genommen reine Führer-Parteien sind. Dass sie es sind, enthüllt sich allerdings nicht selten erst dann, wenn sie den Führer verlieren und alsobald zusammenbrechen.

Auch andere Parteien können selbstverständlich der Führung nicht entbehren; aber, was ihnen den Halt gibt, ist entweder die Gemeinschaft der Interessen oder die Gemeinschaft der Ueberzeugungen oder beides. Nur wäre es unrichtig zu meinen, dass, was die [383] Partei einst zusammenführte, auch dauernd den Zusammenhalt begründen müsste. Die beiden grossen Parteien Englands unterscheiden sich nicht eigentlich durch ihr Programm, sondern durch ihren Ursprung aus den beiden grossen Adelsparteien der Tories und Whigs, die ihrerseits auf kirchliche Gegensätze zurückführen. Möge nun auch in der einen heute konservative, in der anderen liberale Elemente überwiegen, mag dort der Gedanke der Weltmacht, hier der des Weltfriedens stärker betont werden – in der Hauptsache handelt es sich doch jetzt wohl um Parteien, die da sind, weil sie da waren, um historische Parteien. Noch ausgeprägter zeigt sich dieser Charakter bei den Parteien der nordamerikanischen Union; sie werden heute nur durch den Trieb nach Macht zusammengehalten und müssen sich jeweils für die Wahlen erst ein Programm in einer „platform“ schaffen, die heute so und morgen so lauten kann.

Das Land der Programm-Parteien ist Deutschland. Fordert der Engländer Treue gegen die Partei, so dass er kaum begreift, wie jemand seine Partei wechseln kann nur, weil er seine Ansichten gewechselt hat, so fordert der Deutsche Prinzipientreue von der Partei und verlässt sie, sobald er meint, dass sie ihren Prinzipien untreu geworden sei, oder, wenn seine Ueberzeugungen sich auch nur um ein geringes von ihrem Programm entfernen. Die Folge ist in Deutschland eine Zerrissenheit des Parteiwesens, wie sie in England nur durch eine Zertrümmerung der historischen Parteien herbeigeführt werden könnte, die einer Revolution gleichkommen würde. Die Eigenart des deutschen Parteiwesens ist nicht selten mit der Kleinstaaterei verglichen worden. Aber es handelt sich bei der Parteizersplitterung doch um mehr als eine blosse Absonderungslust oder, wenn man so will, Eigenbrödelei. Es handelt sich auch um eine Wirkung der deutschen Gründlichkeit und des deutschen Idealismus, der von Gedanken ausgehend die Wirklichkeit zu gestalten sucht. Mag immerhin die Schwäche des deutschen Organisationstalentes sich auch darin offenbaren – es soll doch nicht vergessen werden, dass das deutsche Parteiwesen auf den Kräften beruht, die den preussischen Staat und damit Deutschland neu schufen, als der absolute Staat Bankerott gemacht hatte. Und schliesslich sollte auch darüber kein Zweifel sein, dass in der politischen Idee eine einigende Kraft liegt, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegensätze überwindet und, wenn die Meinungen genügend geklärt sind, zu einer Bildung grosser Parteien da führen kann, wo die Interessen eine Absonderung zu bedingen scheinen.

Man hat versucht, alle Parteiung zurückzuführen auf die Gegensätze „konservativ“ und „liberal“, indem man in dem einen Begriffe die Idee der „Autorität“ mit der Charaktereigenschaft der Beständigkeit suchte, in dem anderen Wort die Idee der „Freiheit“ mit der Eigenschaft der Veränderlichkeit verband. Indessen dürfte Treitschke (Historische und politische Aufsätze III, 584 p.) darin beizustimmen sein, dass diese Versuche der Vereinfachung nicht geglückt sind. Wohl lassen sich in Deutschland zwei grosse Strömungen unterscheiden, die auf die angegebene Art leidlich bezeichnet werden. Aber, weder ist der Gegensatz von Macht und Freiheit ein derart absoluter, dass er eine Vereinigung beider Gedanken ausschlösse, noch ist es im Wesen des Freiheitsgedankens begründet, dass er sich mit Veränderlichkeit des politischen Wollens verbinden müsste.

Es ist aber auch nicht angängig, den Gegensatz der Parteien auf staatsrechtliche Gedanken und staatsrechtliches Wollen allein zu gründen. Neben die im engeren Sinne „politischen“ Ideen treten die religiösen oder, allgemeiner gesprochen, die Kultur-Ideen. Neben die Ideen aber, mit ihnen sich mengend und kreuzend, stellen sich völkische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen.

Dies bedarf noch einer besonderen Betrachtung. Bekanntlich sucht die materialistische Geschichtsauffassung alles politische Geschehen auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Bedürfnisse zurückzuführen. Wie die Geschichte der Staaten so widerlegt die Geschichte der Parteien diese Anschauung auf jeder Seite ihrer Aufzeichnungen. Unrichtig ist schon, dass die gesellschaftlichen oder „Klassen“-Interessen sich notwendig mit wirtschaftlichen Gruppen-Interessen decken; denn es ist schwerlich zu bestreiten, dass die volkswirtschaftlichen [384] Interessen der Fabrikarbeiter mit denen der Fabrikunternehmer identisch sind, während ihre Klassen-Interessen auseinandergehen. Oder, um ein bekanntes Bild zu gebrauchen: Sie kämpfen gemeinschaftlich um den Futterplatz, aber sie bestreiten einander den Futteranteil. Es ist vollends unrichtig, dass alle Parteipolitik lediglich Interessenpolitik sei. Sie war es nicht, als die heutigen Parteien sich bildeten und ist es auch heute nicht, wo die Interessengegensätze an Schärfe ständig zunehmen.

Aber nicht zu bestreiten ist, dass die Kämpfe der Bevölkerungsklassen und der wirtschaftlichen Gruppen den alten Parteien Englands wie den jüngeren Parteien des Kontinents, insbesondere Deutschlands, gefährlich werden. Und nicht nur den Parteien, sondern dem Staate. Denn, indem sie die bestehenden Parteien zu zersetzen und wirtschaftliche Interessenparteien zu bilden streben, schaffen sie Organisationen, deren Kämpfe ihr Ziel nicht im Gemeinwohl, sondern lediglich in der Niederwerfung des Gegners und der Behauptung des eigenen Interesses des Siegers haben.

Damit aber vergiften sie das parteipolitische Leben. Der Hass ist stets ein übler Berater, auch in der Politik. Gegensätze der Ideen können keinen Parteihass erzeugen; wo dieser sich zeigt, stecken persönliche Feindschaften der Führer oder völkische, gesellschaftliche, wirtschaftliche Reibungen dahinter. Die persönlichen und sozialen Gegensätze, aus denen die alten englischen Parteien entstanden, waren in England überwunden; daher dort die guten Sitten des politischen Kampfes, die erst in neuester Zeit zu schwinden beginnen. In Deutschland beginnen erst jetzt die alten Wunden des Parteikampfes zu vernarben und schon droht der Klassenkampf, schon drohen die wirtschaftlichen Interessengegensätze neues Gift hineinzuträufeln.

Und wie den Parteien, so droht dem Staate Gefahr, wenn diese Strömungen die Oberhand im politischen Leben gewinnen. Staatsfeindlich ist eine Partei nicht schon deshalb, weil sie die gegenwärtige Staatsverfassung bekämpft – denn mehr oder minder wünscht jede Partei den Staat in ihrem Sinne umzuformen; staatsfeindlich ist vielmehr eine Partei dann, wenn sie – offen oder versteckt – ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl das Interesse einer Gruppe oder Klasse zu verwirklichen strebt. Denn sie setzt sich in Widerspruch zu den Grundgedanken des Staates.

Zwar wird, wie schon oben gesagt wurde, auch in einer Gemeinschaft das Leben sich nicht ohne Kämpfe abspielen, ja oft der Kampf erst das rechte Leben hervorrufen. Aber in einer Rechtsgemeinschaft, in einem Staate kann der Kampf niemals die Unterwerfung des Gegners unter das eigene Interesse, sondern nur die Beugung seines Willens zum Zwecke des Ausgleiches der beiderseitigen Interessen haben. Ein Kampf, der die Vernichtung des Gegners zum Ziel hat, ist Krieg, auch wenn er nicht mit blanker Waffe, sondern mit wirtschaftlichen Mitteln ausgefochten wird. Der Krieg aber zwischen Gruppen der Bürgerschaft eines Staates ist Bürgerkrieg.

Nur dann werden die historischen und die staatsidealistischen Parteien sich behaupten können, wenn es ihnen gelingt, in sich die Gegensätze der völkischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen zu vereinigen und auszugleichen. Dies kann ihnen aber nicht glücken, wenn sie sich bald dem einen, bald dem anderen Interesse unterwerfen, sondern nur dann, wenn sie sich zum Schiedsrichter über die streitenden Interessen machen. Sind sie dazu nicht imstande, so haben sie ihre Rolle ausgespielt, mit ihnen aber auch das Parlament, in dessen Leben sie Ordnung brachten. Versagen die Parteien und versagt das Parlament, so werden andere Kräfte den Staat zu retten suchen, wie einst der grosse Kurfürst den Eigennutz der Stände und wie vor zwei Jahrtausenden der grosse Cäsar den Eigennutz der Klassen bändigte.

Die Staatsgefährlichkeit der reinen Interessenpartei wurde aus der Eigennützigkeit ihres Wirkens abgeleitet. Dem Staate und dem Parlament gefährlich sind aber auch Parteien mit internationaler Organisation, mag es sich um Bildungen auf kirchlicher oder auf völkischer oder auf gesellschaftlicher oder auf wirtschaftlicher Grundlage handeln. Denn sie mögen wollen oder nicht, sie werden immer wieder dahin getrieben, ihre Zwecke nicht [385] innerhalb des Staates, sondern unter Beiseiteschiebung der Gemeininteressen der Nation zu verwirklichen. Zwar darf die Meinung, dass der Staat alle Interessen in sich verschlösse, heute als überwunden gelten. Aber unvereinbar mit dem Wesen des Staates ist es, dass eine Partei solche Fragen, die der Staat in den Bereich seiner Gesetzgebung zieht, durch internationale Verbindungen zu erledigen trachtet und damit Angehörigen fremder Staaten Einfluss auf die Geschicke des eigenen Staates verschafft. Mögen sich die Völker über die Grenzen des Staates hinweg die Bruderhand reichen – Parlamentsparteien haben wie die Beamten des Staates dem Staate zu dienen – und nur dem Staate.