Geschichte des Parlamentarismus in England

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Autor: Wolfgang Michael
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Titel: Geschichte des Parlamentarismus in England
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Sechstes Hauptstück: Der Parlamentarismus, Abschnitt 28, S. 385−392
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[385]
28. Abschnitt.


a) Geschichte des Parlamentarismus in England.
Von
Von Universitätsprofessor Dr. Wolfgang Michael, Freiburg (Baden).


Literatur: Bearbeiten

Allgemeine historische Darstellungen:
Cobbett’s Parliamentary History of England from the Norman Conquest, in 1066, to the year 1803. 36 Bände. London 1806–20; daran anschliessend:
Hansard’s Parliamentary Debates 1803 ff
(die regelmässige, heute noch fortgesetzte, parlamentarische Berichterstattung, aber ohne offiziellen Charakter, umfasst bereits mehrere tausend Bände);
Journals of the House of Lords (von 1509 an);
Journals of the House of Commons (von 1547 an).
Diese beiden Sammlungen haben offiziellen Charakter, geben aber nur den äusseren Gang der Verhandlungen wieder, keine Rednernamen und keine Reden;
G. B, Smith, History of the English Parliament. Lond. 1892. 2 Bde.;
Gneist, Gesch. u. heutige Gestalt der engl. Kommunalverfassung oder des Selfgovernment. 2 Bde. 2. Aufl. Berl. 1863;
Ders., Engl. Verfassungsgeschichte Berl. 1882;
Ders., das engl. Parlament in tausendjährigen Wandlungen Berl. 1886;
Büdinger, Vorlesungen üb. Engl. Verfassungsgesch. Wien 1880.
J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis z. Regierungsantritt der Königin Victoria. Münch. u. Berl. 1913.
Darstellungen des gegenwärtigen Zustandes mit Berücksichtigung der historischen Entwickelung:
Blackstone, Commentaries on the laws of England. Oxford 1765–69 u. oft neu aufgelegt. Bd. I;
Todd, Parliamentary Government in England. 3. Aufl. Lond. 1893. 2 Bde. Deutsch. Berlin 1869.71. 2 Bde.;
Anson, The Law and Custom of the Constitution. Part. 1. Parliament. 4. Aufl. Oxford 1911;
Fischel, die Verfassung Englands. 2. Aufl. Berl. 1864;
Hatschek, Englisches Staatsrecht. 2 Bde. Tübingen 1905/06;
J. Redlich, Recht u. Technik des englischen Parlamentarismus, Leipz. 1905;
S. Low, The Governance of England. Deutsch v. Hoops, Tübingen 1908.
Für einzelne Perioden:
The Parliamentary or Constitutional History of England. 24 vols. (wichtig für das 17. Jahrhundert);
Thom. May, The History of the Parliament which began Nov. 3, 1640 (das lange Parlament) 1854;
Debates of the House of Commons from 1667 to 1694, coll. bg. A. Grey. 10 voLs.;
Cavendish, Debates (1768–71), 2 vols. 1841–43;
Stubbs, Constitutional History of England (Mittelalter) 3 Bde. 5. Aufl. 1896;
H. Hallam, Constitutional History of England from the accession of Henry VII. to the death of George II. Lond. 1827, 2 Bde., u. oft neu aufgelegt;
W. Rothschild, der Gedanke der geschriebenen Verfassung in der engl. Revolution, Tüb. u. Leipz. 1903;
W. Michael, Engl Gesch. im 18 Jahrhundert I 1896;
Ders, Walpole als Premierminister (Hist. Zeitschr. 104);
Ders., Die Krisis in Engl, in hist. Beleuchtung (Die Woche, 1910, No. 10);
E. May, The constitutional History of England (1760–1860), 2 vols. 1861.
W. Parow, Die engl. Verfassung seit 100 Jahren und die gegenwärtige Krisis, Berlin 1911.
Für das Oberhaus:
Pike, Constitutional History of the House of Lords., Lond. 1894.
Für das Unterhaus:
J. H. B. Masterman, The House of Commons, Lond. 1908;
Porritt, The unreformed House of Commons, 2 vols. 1903;
Sussmann, Das Budgetprivileg des Hauses der Gemeinen, 1909.
Für die Parteien:
M. Toyras Rapin, Dissertation sur les Whigs et les Torys, Haye 1717;
(Lord Bolingbroke) A dissertation upon Parties. 2d ed., Lond. 1735;
G. W. Cooke, History of Party, 3 vols. London, 1836–7;
A. Merkel, Fragmente zur Sozialwissenschaft Strassbg. 1898;
Delbrück, Whigs u. Tories (Hist. u. pol. Aufsätze II):
C. B. R. Kent, The early History of the Tories (1660–1702), Lond. 1908;
J. A. Roebuck, History of the Whig Ministry of 1830, 2 vols., Lond. 1852;
Lord, Development of Parties during Queen Anne (Roy.Hist. Soc. Transactions XIV 1900);
Winstanley, Personal and Party Government (1760–66), Cambr. 1910.

[386]

Für das Kabinet:
W. M. Torrens, History of Cabinets (1688–1760), Lond. 1894;
Blauvelt, The Development of Cabinet Government in England, New York 1902;
E. Jenks, Parliamentary England. The evolution of the Cabinet Svstem, Lond. 1903:
W. Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England (Zeitschr. f. Politik, VI. 4. 1913).

Seit den Tagen Voltaires u. Montesquieus hat England als das Musterland des Parlamentarismus gegolten. Seine Institutionen sind von allen zivilisierten Staaten, so wie sie für einen jeden am besten zu passen schienen, nachgeahmt worden, oder sie haben doch als das grosse Vergleichsobjekt allen vor Augen gestanden. Zweikammersystem, gewählte Volksvertretung, die Rechte der Steuerbewilligung, der Gesetzgebung, der Kontrolle der Verwaltung sind heute bei fast allen Kulturnationen heimisch geworden.

Was aber Englands parlamentarische Institutionen vor allen übrigen voraushaben, das ist die Würde, die eine vielhundertjährige Geschichte ihnen verleiht. Denn hier und hier allein sind sie organisch entstanden, sind sie mit der Nation gross geworden und sind in jeder Gestalt der Ausdruck der politischen Anschauungen ihrer Epoche gewesen.

In der angelsächsischen Landesversammlung oder dem witenagemôt wird man einen Vorläufer des englischen Parlaments kaum erblicken können. Weder hat man es in dieser Versammlung der Grossen mit einer gewählten Volkvertretung, noch mit einem festen Kreise von Geburtsaristokraten zu tun. Es gibt ebensowenig einen bestimmten Geschäftskreis wie eine Regel für die Häufigkeit oder auch nur die Notwendigkeit der Berufung. Wer dennoch von einer Übereinstimmung mit parlamentarischen Institutionen reden möchte, wird sie in der hier schon vorhandenen Verwirklichung des germanischen Gedankens finden, die grossen Angelegenheiten der Gesamtheit nicht der Entscheidung des einen, dem man als dem Könige gehorcht, allein zu überlassen, sondern einen Kreis von Volksgenossen zur Mitwirkung heranzuziehen.

Mit der normannischen Eroberung (1066) sinkt der angelsächsische Staat in Trümmer und auch die alte Rolle des witenagemôt ist ausgespielt. Der Eroberer errichtet jenen anglo-normannischen Lehnstaat, in welchem neben den abgestuften Abhängigkeiten der Lehnsträger, wie sie auf dem Festlande bestanden und in dem Bilde der Lehnspyramide charakterisiert zu werden pflegen, noch die direkte Abhängigkeit aller vom Könige, dem sie 1086 alle huldigen, zum Grundsatz erhoben wird. Die der Krone damit gegebene Möglichkeit einer durchgreifenden Herrschaft, der Verfügung über die gesamte Wehr- und Finanzkraft des Landes, begründete auf hundert Jahre hinaus einen Zustand absoluter Regierung, innerhalb welcher für eine Körperschaft mit parlamentarischen Rechten und Funktionen kein Raum war. Die Hoftage, welche der König nunmehr zu berufen pflegt, können allenfalls als Fortsetzung der angelsächsischen Witenagemôte erscheinen, haben aber keine regelmässige Beschlussfassung, also auch nicht ein Recht auf Gesetzgebung, Steuerbewilligung oder eine andere Seite parlamentarischer Betätigung. Erst ein Jahrhundert nach der Eroberung wurden unter Heinrich II., dem ersten Plantagenet, wieder Versammlungen der Grossen des Reiches berufen, welche Beschlüsse – die sogenannten Assisen – fassen, wenn auch ohne jede feste Regel. Unter seinem Sohne Johann ohne Land entstand sodann die Magna Charta. Es war ein zwischen dem Könige und den rebellierenden grossen Baronen geschlossener Vertrag, aus dessen reichem und mannigfachem Inhalt hier nur das eine hervorgehoben sein mag, dass darin von zwei Steuergattungen, dem Hilfsgeld (auxilium) und dem Schildgeld (scutagium) gesagt wird, der König solle sie im allgemeinen nicht anders als nach erfolgter Zustimmung einer allgemeinen Reichsversammlung erheben dürfen. Zu dieser Reichsversammlung (Commune consilium regni) sollen die Prälaten und die grösseren weltlichen Barone durch königliches Schreiben persönlich berufen werden, die kleineren durch kollektive Ladung von seiten der Sheriffs. Auf Grund dieser Verschiedenheit der Ladung von zwei verschiedenen Körperschaften wie Oberhaus und Unterhaus reden zu wollen, wäre zwar verfehlt, aber die Bedeutung dieser Anordnungen, insbesondere des feierlich verkündeten Prinzips der Steuerbewilligung, ist für die Geschichte der parlamentarischen Institutionen in England darum nicht geringer. Die Magna Charta ist bis zum Ende des Mittelalters nicht weniger als 38 mal bestätigt worden. Sie ist Anstoss und Richtschnur der ferneren Entwicklung geworden, wenigstens in dem Sinne, als sich die oberen Stände für sich wie für andere Volksklassen gegenüber der monarchischen Gewalt ihr Selbstbestimmungsrecht nicht mehr nehmen liessen. Dasselbe 13. Jahrhundert, [387] dem schon die Magna Charta angehört, hat auch das Parlament in seiner späteren Zusammensetzung entstehen sehen.

Zu den Baronen, d.h. den hohen Adligen, welche zu beratenden, beschliessenden und bewilligenden Versammlungen seit langem berufen zu werden pflegten, treten schrittweise die Elemente hinzu, welche nachmals das Unterhaus gebildet haben. 1213, also zwei Jahre vor der Magna Charta, wurden zu einer grossen Versammlung neben den Baronen vier „kluge Leute“ aus jeder Grafschaft als Vertreter derselben entboten. 1254 führt das Geldbedürfnis der Krone zu der Anordnung, dass zu einer in Westminster abgehaltenen Versammlung, ausser dem hohen Adel, je zwei Ritter aus den Grafschaften erscheinen sollen, um dem Könige die nötigen Geldbewilligungen zu machen. Ausdrücklich wird vorgeschrieben, dass die Ritter durch Wahl von seiten der Grafschaft zu ernennen sind. Wie hier die Vertreter des flachen Landes, so kommen ferner 1265 Abgeordnete der Städte hinzu. Zwar handelt es sich dieses Mal um ein von dem siegreichen Führer der Revolution Simon von Montfert berufenes Parlament. 30 Jahre nachher aber, 1295 beruft König Eduard I. das sogenannte Musterparlament, in dem alle die genannten Gruppen, nämlich hoher Adel und hohe Geistlichkeit, je 2 Ritter aus allen Grafschaften und je 2 Abgeordnete aus den Städten sich zusammenfinden, womit nun die normale Zusammensetzung der Parlamente für die Folgezeit gegeben ist. Dass sowohl in bezug auf die Grafschaftsvertreter wie auf die Städteabgeordneten eine Anknüpfung an Organe der lokalen Selbstverwaltung vorliegt, welche jetzt zur politischen Vertretung des Landes herangezogen werden, mag nur beiläufig erwähnt sein. Hier kommt es vor allem auf die Tatsache an, dass durch diese Entwicklung das Parlament zu einer Vertretung des gesamten Volkes geworden ist. Zugleich tritt jetzt der Unterschied hervor zwischen denjenigen, welche aus eigenem persönlichen Rechte, die Geistlichen durch ihr Amt, die hohen Adligen durch ihre Geburt, dem Parlamente angehören und den Vertretern der Grafschaften und Städte, welche als die gewählten Repräsentanten des Volkes erscheinen. Jene schliessen sich später im Oberhause oder dem Hause der Lords zusammen, diese im Unterhause oder dem Haus der Gemeinen. Diese Zweiteilung ist freilich erst allmählich erfolgt, sie ist erst unter Eduard III., also im 14. Jahrhundert, zur festen Regel geworden. Auch ist sie nicht etwa um des Prinzips des Zweikammersystems willen gewählt worden, dessen Vorzüge noch von niemandem geahnt wurden und sich erst im Lauf der historischen Entwicklung des englischen Parlamentarismus der Welt offenbart haben.

Die Frage ist natürlich, woher die Mitglieder des Unterhauses das Verständnis, wir würden sagen, die politische Reife zur Lösung der ihnen obliegenden Aufgaben schöpften. Bei der Steuerbewilligung, welche vorläufig die Hauptsache blieb, kam es auf ein richtiges Urteil über die Bedürfnisse der Regierung auf der einen und die Steuerkraft des Landes auf der anderen Seite an. Bald kam aber noch ein gewisser Einfluss auf den Gang der Regierung hinzu, welchen die Kommunen in der Form von Petitionen ausübten, von deren Annahme seitens des Königs sie die Steuerbewilligung abhängig zu machen pflegten. Aus dem Recht, Petitionen zu überreichen, entwickelte sich aber der regelmässige Anteil des Unterhauses an der Gesetzgebung. Dass nun die Vertreter der Grafschaften und die Städteabgeordneten diesen hohen Aufgaben gewachsen waren, verdankte man den Erfahrungen, welche sie, wie schon erwähnt, im Kreise der lokalen Verwaltung gewonnen hatten. So wurde die altberühmte englische Selbstverwaltung, das „selfgovernment“, die Vorschule des englischen Parlamentarismus.

Zusammensetzung und Wirkungskreis des Parlaments haben im Lauf der folgenden Jahrhunderte weit weniger gewechselt als seine tatsächliche Macht. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war diese Macht bedeutend genug; sie hatte ihren Grund darin, dass das durch Usurpation emporgekommene Haus Lancaster am Parlamente seine beste Stütze besass. In der Zeit der Rosenkriege sank es herab zum Werkzeug der durch den Sieg auf dem Schlachtfelde jeweils zur Herrschaft gelangten Dynastie. Noch geringer war seine Bedeutung in der Epoche der Tudors. Die Könige und Königinnen aus diesem Hause haben, gestützt auf das Vertrauen, welches das Volk ihnen entgegentrug, fast absolut regiert. Sie haben zudem die Kunst besessen, sich ausserparlamentarische Einnahmen in solcher Höhe zu verschaffen, dass sie, von dringenden Fällen abgesehen, der Bewilligungen des Parlaments entraten konnten. So war im 16. Jahrhundert die Monarchie und nicht das Parlament der führende Faktor im Staatsleben. Dieses folgt gleichsam von fern den grossen Bewegungen im [388] staatlichen, kirchlichen, wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, aber es führt sie nicht an, es ist nicht ihr Träger, es gibt dem Willen der Herrscher nur den gesetzlichen Ausdruck. Nur so wird der Gang der Reformation in England verständlich. Der wunderliche Zickzackkurs, den die Kirchenpolitik der Tudors beschreibt – das Parlament folgt ihm durch all seine Inkonsequenzen hindurch.

Dabei haben die Tudors sich wohl gehütet, den historischen Rechten des Parlaments zu nahe zu treten. Gesetzgebung, Steuerbewilligung, bis zu einem gewissen Grade sogar Kontrolle der Verwaltung übt es aus. Es streitet erfolgreich für die Redefreiheit, für die persönliche Unantastbarkeit seiner Mitglieder. Aber freilich, in dem England Elisabeths spielt nicht das Parlament die führende Rolle. Von der Königin selbst strahlt aller Glanz der Epoche aus. Sie gibt den grossen Staatsmännern die Richtung ihres Handelns. Howard und Drake schlagen die Schlachten der Königin. Selbst die nationale Dichtung gibt, so gut in Spencers Feenkönigin, wie in den Dramen Shakespeares, verhüllt und unverhüllt, eine Verherrlichung der Monarchie.

Auf das Zeitalter Elisabeths folgt der Verfall der Monarchie unter den Stuarts, folgt die Revolution des 17. Jahrhunderts. Sie ist auch an dieser Stelle insofern zu berücksichtigen, als sie der Tendenz der Stuarts, die Regierung des Landes absolutistisch zu gestalten, erfolgreich entgegengetreten ist und der künftigen Weiterentwicklung des Parlamentarismus in England die Bahn frei gemacht hat. Auf verfassungsgeschichtlichem Gebiete hat die Revolution nicht viel Dauerndes hinterlassen, aber einzelne reformatorische Gedanken treten doch auf, die zwar zusammen mit den staatlichen Bildungen dieser Epoche zunächst wieder verschwinden, aber dennoch in späteren Zeiten neu ergriffen und verwirklicht worden sind.

In dem über kirchliche wie politische Fragen entstandenen Konflikt zwischen Krone und Parlament haben Jakob I. und Karl I. zu dem Mittel gegriffen, so oft und so lange wie möglich ohne Parlament zu regieren. Ja, Karl I. scheint, dem Beispiel Frankreichs folgend, wo seit 1614 die Generalstände nicht mehr berufen wurden, daran gedacht zu haben, durch die einfache Nichtberufung das Parlament ganz zu beseitigen. Es gelang nicht. Elf Jahre lang, von 1629–1640 hat er ohne Parlament regiert. Dann sieht er sich gezwungen, zur Deckung der Ausgaben, die ein Krieg in Schottland ihm verursacht, von neuem parlamentarische Bewilligungen zu begehren. Der nun ausbrechende Konflikt zwischen König und Parlament führt zum Bürgerkriege, zum Untergange des Königs, zur Verkündung der Republik. Mit dem Königtum war auch das Haus der Lords gefallen. Das Unterhaus allein blieb übrig und bildete die Regierung des Landes. Ein aus seiner Mitte gewählter Staatsrat führte die Exekutive. Neben ihm standen etliche Ausschüsse für besondere Aufgaben der Regierung. So schien der Sieg der Revolution die Aufrichtung einer reinen Parlamentsherrschaft zur Folge zu haben.

Und doch war dies nur das Zerrbild eines parlamentarischen Systems. Von den vor acht Jahren gewählten Mitgliedern des Unterhauses war nur noch ein kleiner Rest übrig geblieben. Viele waren freiwillig ausgeschieden, viele vor dem Beginn des Königsprozesses gewaltsam ausgeschlossen worden, Nachwahlen nur in geringem Masse erfolgt. Von einer wirklichen Volksvertretung konnte hier nicht mehr die Rede sein, eher von der Oligarchie einer Schar ehrgeiziger Männer, die zwar den monarchischen Absolutismus erfolgreich bekämpft und sich um die auswärtige Stellung Englands grosse Verdienste erworben hatten, nun aber den Besitz der Macht nicht fahren lassen wollten. Da sind es die siegreiche Armee des Bürgerkrieges und ihr grosser Führer Oliver Cromwell gewesen, die ihrer Herrschaft ein Ende machten. Er treibt sie mit schmähenden Worten auseinander, und wie er selber später sagen durfte: „kein Hund hat nach ihnen gebellt.“ Auf die Herrschaft des langen Parlaments folgte die Militärdiktatur. Cromwell regiert als Lord Protector mit dem „Instrument of Government“, der einzigen geschriebenen Verfassung, welche England jemals besessen hat. Auch die Rechte des Parlaments waren darin fixiert, und weit genug war ihr Umfang bemessen. Cromwell hat in der Tat auch Parlamente berufen, aber sie stehen ihm wie Scheinwesen gegenüber. Schon nach dem Wahlmodus konnten sie nicht als wirkliche Volksvertretungen gelten. Und so oft sie von den ihnen durch das „Instrument“ zuerkannten Rechten Gebrauch machen wollten, wurden sie von dem Protektor nach Hause geschickt. Als er endlich zufolge der „Humble Petition and Advice“, einer Weiterentwickelung des „Instrument of Government“, dem Parlamente auch wieder ein Oberhaus hinzufügte, während er selbst die Stellung und fast auch die Ehren eines Monarchen genoss, so hat er damit die Rückkehr zur Monarchie selbst vorbereitet.

[389] Sie ist 1660, 2 Jahre nach seinem Tode, erfolgt. Aber die wiederhergestellten Stuarts vermögen sich nicht lange zu behaupten. Jakob II. wird 1688 durch „die glorreiche Revolution“ vertrieben. Die Krone wird seiner Tochter Maria und ihrem Gatten Wilhelm von Oranien gemeinsam übertragen. Als eine Bedingung ihrer Erhebung mussten sie 1689 der berühmten „Bill of Rights“, der Erklärung der Rechte, ihre Zustimmung erteilen. Von diesem Tage an herrschte in England das konstitutionelle Königtum. Die Autorität des Parlaments wurde in weitem Umfange aufgerichtet. Sein Recht der Gesetzgebung wird feierlich anerkannt, der König darf nicht mehr, wie Jakob II. es getan, von den Gesetzen dispensieren. Ebenso wird das Recht der Steuerbewilligung sichergestellt. Ohne Zustimmung des Parlaments darf in Friedenszeiten keine stehende Armee unterhalten werden. Die Mitglieder des Unterhauses sollen frei gewählt werden; ihre Rede, ihre Debatten dürfen nicht angefochten werden ausserhalb des Parlaments.

Auf der Grundlage der „Erklärung der Rechte“ ist allmählich auch das sogenannte parlamentarische System, die reine Parlamentsherrschaft erwachsen. Zu dieser Entwicklung trugen noch verschiedene Umstände bei. Zunächst ist das Aufkommen der beiden Parteien, der Whigs und Tories, zu bemerken. Aus den Gegensätzen des Bürgerkrieges hervorgegangen, vertraten die Whigs das Recht des Widerstandes und ein freies Kirchentum, die Tories das Prinzip des passiven Gehorsams und der Treue zur Staatskirche, also die einen die grösseren parlamentarischen Rechte, die andern ein stärkeres Königtum. Seither haben freilich die Prinzipien und Programme der beiden Parteien oft gewechselt. Man erkennt allenfalls in den heutigen Liberalen und Konservativen (Unionisten) noch die Nachfolger der ehemaligen Whigs und Tories. Für die Technik des Parlamentarismus aber tritt die Bedeutung der Programme zurück hinter der Tatsache, dass es überhaupt zwei Parteien sind, die miteinander um die Herrschaft im Parlamente ringen. Wenn es auch noch bis tief ins 18. Jahrhundert hinein zum guten Ton gehört, ihr Vorhandensein zu beklagen, als ob die Einheit der Nation dadurch verloren sei, so verschwinden sie doch nicht mehr. Für den Souverän folgt daraus die Notwendigkeit, sich mit derjenigen Partei ins Einvernehmen zu setzen, welche die Mehrheit im Unterhause besitzt. Insofern er sich allmählich gezwungen sieht, mit der Zusammensetzung seiner Ministerien der wechselnden Übermacht der einen oder der anderen Partei im Parlamente zu folgen, erhält man nun das Bild von Whig- und Toryministerien. Wilhelm III. (1688 bis 1702) und Königin Anna (1702–1714) haben es gelegentlich noch mit gemischten Ministerien versucht. Mit der Thronbesteigung des Hauses Hannover (1714) wird das Parteikabinett die Regel.

Um dieselbe Zeit wirken zwei Umstände auf die Schwächung der Monarchie hin, insofern sie nicht schon an sich als ein Zeichen ihrer Schwäche zu gelten haben. Der erste betrifft den Anteil der Krone an der Gesetzgebung. Nach der Verfassung wird eine in beiden Häusern des Parlaments angenommene Vorlage erst durch die Zustimmung des Königs zum Gesetz. Diese Zustimmung ist zum letztenmal 1708 von der Königin Anna versagt worden, seither niemals wieder. Damit schied die Krone zwar nicht rechtlich, aber doch tatsächlich aus der Reihe der gesetzgebenden Faktoren aus, deren es fortan nur noch zwei gab, nämlich die beiden Häuser des Parlaments. In zweiter Linie ist hier von der veränderten Stellung des Kabinetts zu reden. Dieses war im 17. Jahrhundert entstanden als der Kreis der höchsten Staatsbeamten, welche regelmässig unter dem Vorsitz des Souveräns die wichtigsten Staatsangelegenheiten zu entscheiden pflegten. Das Kabinett war (und ist noch heute) eine von der Verfassung nicht vorgesehene Behörde, von deren Existenz die Gesetzgebung nur einmal, im Jahre 1701, Notiz nahm, um sie in der „Act of Settlement“, welche das Haus Hannover zur Thronfolge berief, förmlich abzuschaffen. Der König sollte sich, war die Meinung, von dem gesetzlich anerkannten Privy Council beraten lassen, nicht aber von einem willkürlich zusammengesetzten Kollegium von Staatsbeamten. 1706 aber ward diese Bestimmung wieder aufgehoben und damit das Kabinett zwar nicht gesetzlich anerkannt, aber auch nicht mehr gesetzlich verboten.

Aber nun entzog sich das Kabinett selbst allmählich der persönlichen Leitung des Souveräns. Unter Königin Anna (1702–1714) geschieht es häufig, dass sich die Mitglieder des Kabinetts auch in Abwesenheit der Herrscherin versammeln. Sie werden dann meist als „Committee of Council“ bezeichnet. Sie arbeiten den eigentlichen Kabinettssitzungen vor, d. h. sie erwägen das Für und Wider der Beschlüsse, die zu fassen sie der Königin im Kabinette empfehlen wollen. Unter Georg I. (1714–1727) ist es zunächst nicht anders. Auch er hat in den ersten Jahren seiner Regierung die Minister im Kabinette um sich versammelt. Doch es geschieht allmählich seltener, und von regelmässigen [390] Kabinettssitzungen, unter dem Vorsitz des Souveräns, kann wohl zum letztenmale im Sommer 1717 gesprochen werden. Von nun an erfolgen sie nur ausnahmsweise, um bald völlig zu verschwinden. Der ohne den König tagende Ministerrat hat den Namen wie die Geschäfte des Kabinetts an sich genommen. Das Bestreben der Minister, sich in ihrer Amtsführung der regelmässigen Kontrolle des Souveräns zu entziehen, hat gesiegt. Dieses Bestreben aber entsprang dem Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlamente. Der Monarch kann die Minister nur entlassen, das Parlament aber droht mit Anklage und Hinrichtung. So wird das Kabinett selbständiger, es erhält eine Art Mittelstellung zwischen dem Monarchen und dem Parlament, vom Monarchen abhängig, aber dem Parlamente verantwortlich.[1]

Mit dem Ausscheiden des Souveräns aus dem Kabinett hängt auch das Aufkommen des Premierministers zusammen. Er tritt gewissermassen in die Lücke ein, die der Monarch im Kabinett hinterlassen hat. Die erste grosse Persönlichkeit, mit der das Amt diese Bedeutung erhielt, war Robert Walpole. Seine Ministerlaufbahn (1721–42) ist auch für die Geschichte des Parlamentarismus von höchster Bedeutung. Er hat energisch das Prinzip vertreten, dass das Kabinett mit der Mehrheit des Unterhauses im Einvernehmen stehen, d. h. nur aus Mitgliedern der herrschenden Partei zusammengesetzt sein müsse. Er selbst legt als Mitglied des Unterhauses (er ist der erste leitende Staatsmann, dem der Ehrenname „der grosse Commoner“ verliehen wurde) diesem in allen wichtigen Fällen den Standpunkt der Regierung persönlich dar. Er ist Meister der Debatte, er versäumt keine wichtige Sitzung, er lebt recht eigentlich im Parlamente.

Und doch steht er diesem wie der Vertreter fremder Interessen gegenüber. Die Minister sind noch nicht die Vertrauensmänner des Parlaments, sondern die Diener der Krone. Indem der König den fähigsten Mann im Parlament für sich gewonnen hat, hat er ihn an ein, dem Parlamente fremdes Interesse, gefesselt. Der Minister sucht und findet die Stütze seiner Macht am Thron des Königs, nun aber liegt ihm die Aufgabe ob, sich die Mitarbeit des Parlaments zu sichern, um regieren zu können. Auf seine grosse Whigmajorität darf Walpole sich nicht schlechthin verlassen. Spaltungen treten ein. Wiederholt verbindet sich ein starker Flügel mit der Gegenpartei, die Opposition droht oft übermächtig zu werden. Der Minister arbeitet mit allen Mitteln der Überredung, der Agitation, er wirkt durch die Presse. Aber das alles genügt nicht immer. Er greift noch zu einem anderen Mittel, der Korruption. Walpole hat die sicherlich verwerfliche Praxis, die Unterhausmitglieder zu bestechen, zwar nur übernommen, wie sie auch mit seinem Rücktritt nicht verschwand, aber er gilt nun einmal als ihr typischer Vertreter. In Wahrheit hat er stets nationale Politik getrieben, England ist unter seiner friedlichen Regierung reich und mächtig geworden. Das grössere Odium liegt auf seiten der Bestochenen. Für den Minister ist die Korruption nur das letzte Mittel, um der Herr im Parlamente zu bleiben. In der Geschichte des Parlamentarismus aber bezeichnet sie diejenige Periode, in welcher das Kabinett, oder man sage die Krone, noch ihre eigene Politik verfolgt, ohne aber die Mitarbeit des zu politischer Selbständigkeit gelangten Parlaments entbehren zu können. Sie sichert sich diese Mitarbeit durch die Korruption.

Das Bild ändert sich, als 1756 der ältere William Pitt ins Ministerium eintritt. Er ist der erste grosse Minister, der, durch das Vertrauen des Volks emporgehoben, vom Parlamente aus dem Könige aufgezwungen wird. Man hat es so ausgedrückt: Walpole war dem Volke vom Könige gegeben worden, Pitt ward dem Könige durch das Volk gegeben. Mit seiner Erhebung war das Prinzip des reinen Parlamentarismus zum Siege gelangt, und es hat sich, wenn wir von den episodenhaften Versuchen, der Krone wieder stärkeren Einfluss im politischen Leben zu sichern, absehen, fortan stets behauptet. Die beiden Parteien der Whigs und Tories stehen einander nunmehr als Regierung und Opposition gegenüber. Diejenige von ihnen, welche im Unterhause die Mehrheit hat, gibt alle Entscheidungen im Hause, insbesondere aber besetzt sie alle politischen Ämter, bildet also allein die Regierung, d. h. mit völligem Ausschluss der Gegenpartei. Diese ist zur Rolle des Zuschauers verurteilt, aber nicht des untätigen Zuschauers. Denn obwohl sie in der Gesetzgebung wie in der Exekutive nichts entscheiden kann, an der letzteren überhaupt gar keinen Anteil besitzt, so ist ihre Tätigkeit gleichwohl noch bedeutend, die Rolle, die sie zu spielen hat. noch wichtig genug. Denn sie ist [391] die Opposition. Sie hat als solche die Aufgabe, die Massregeln der Regierung und die von der Majorität beschlossenen Gesetze zu kontrollieren, zu kritisieren, zu bekämpfen. Sie muss immer so tun, als ob bei ihr das Interesse der Nation viel besser aufgehoben sein würde, als bei den gegenwärtigen Machthabern. Sie darf freilich auch nicht zu viel versprechen, nicht einen Zukunftsstaat malen, in dem alle Wünsche erfüllt sind, denn sie kann in jedem Augenblick, d. h. durch jede Neuwahl zu dem Rollentausch gezwungen werden, den herbeizuführen ihr vornehmstes Bestreben war. Ist das geschehen, so besitzt sie nun selbst die Majorität, bestimmt den Charakter der Gesetzgebung, besetzt mit ihren eigenen Leuten die Ministerposten und muss dem Lande zeigen, wie weit sie fähig ist, ihre Versprechungen wahr zu machen. Die Opposition kämpft mit allen Mitteln, sie droht im 18. Jahrhundert mit der Ministeranklage, im 19. mit dem Tadelsvotum, aber sie versucht nicht, die Regierung wirklich lahm zu legen. Denn beiden Parteien gemeinsam ist der starke, über jeden Zweifel erhabene Patriotismus des Engländers, beide sind sie schlechthin national, beide stehen sie auf dem Boden der Monarchie, überhaupt der Verfassung.

Mit diesem System trat England in das 19. Jahrhundert ein. In der Zusammensetzung des Unterhauses hat sich seither vieles geändert. Die Union mit Irland (1801), welche erst durch die Katholikenemanzipation von 1829 ihre volle Bedeutung für das Parlament erhielt, brachte 100 irische Abgeordnete ins Unterhaus, d. h. eine starke Gruppe mit einseitig irischen und damit teilweise unenglischen Interessen und Gesichtspunkten. Die stärkste Umgestaltung erfuhr aber die Zusammensetzung des Unterhauses durch die Parlamentsreform von 1832. Im 18. Jahrhundert hatte auch das Unterhaus einen stark aristokratischen Charakter gehabt. Es gab eine grosse Zahl kleiner Wahlflecken, deren Vertreter tatsächlich durch den Grundherrn einfach ernannt wurden. So rechnete man sich aus, dass von den 658 Mitgliedern des Unterhauses 300 unter dem Einflusse von Lords des Oberhauses, 171 unter dem anderer Landedelleute, 16 unter dem dsr Krone und nur 171 frei gewählt wurden. Jene Wahlflecken, die sogenannten rotten boroughs, waren zuzeiten in Menge von der Krone kreiert worden, während andererseits grosse städtische Zentren, wie Manchester und Birmingham, gar keine Vertretung im Parlamente besassen. Die hierin liegenden Ungleichheiten nahm man jetzt nicht mehr so gleichmütig hin, wie in früherer Zeit, wo man fand, dass es weniger auf die Zusammensetzung des Parlaments ankomme, als auf den Geist, der in ihm walte, und als Wellington noch 1830 erklärte, er würde, wenn er ein Parlament für irgendein Land einzurichten hätte, sich genau nach dem Vorbild des englischen richten, da befand er sich nicht mehr in Übereinstimmung mit der Volksmeinung. Die 1832 durchgeführte Parlamentsreform bestand also zunächst in einer Neuordnung der Wahlkreise, aber zugleich ward in den Wahlbezirken der Kreis der Wähler erweitert, so dass nunmehr die breiten Mittelklassen im Unterhause ausschlaggebend wurden. Noch zweimal ward das Wahlrecht zum Unterhause reformiert, nämlich 1867 und ferner durch die Gesetzgebung von 1884 und 85. Es ist immer weiteren Kreisen der Bevölkerung verliehen worden, sodass England heute von unserem System des allgemeinen gleichen Wahlrechts nicht mehr weit entfernt ist. Diese Reformen haben bereits zur Demokratisierung des Unterhauses viel beigetragen und werden noch ferner dahin wirken.

Eine andere Wirkung des Eindringens neuer Elemente besteht in der Auflösung des alten Parteischemas. Es gibt nicht mehr zwei, sondern, wenn man auch nur die Hauptgruppen der Iren und der Arbeitervertreter als besondere Parteien gelten lässt, deren vier. Immerhin wirken Tradition und Praxis dahin, dass durch feste Allianzen zwischen den verschiedenen Parteien doch wieder die alte Zweiheit von Regierung und Opposition zum Vorschein kommt, so dass an der hergebrachten Technik des Parlamentarismus auch heute nicht so viel geändert erscheint, wie manche glauben. Anders steht es freilich mit der Frage, wie weit durch diese Allianzen die ursprünglichen Programme der führenden Parteien auf jeder Seite verschoben werden können. Es braucht nur daran erinnert zu werden, wie gegenwärtig (1911) die liberale Regierung zum Teil die Politik der Iren besorgt, nur weil sie ohne diese nicht besitzen würde, was der Engländer „a working majority“ nennt.

Zum Schlusse noch ein Wort über das Oberhaus. Es hat sich trotz der oft ausgesprochenen Forderung nach einer Reform, bis in die allerneueste Zeit, in seiner historischen Stellung behauptet. Als gesetzgebender Faktor stand es mit gleichem Rechte neben den Commons. Nur gegenüber solchen Vorlagen (den sogenannten money bills), welche Finanzfragen betreffen, war durch die Praxis der Jahrhunderte zuerst ein Vorstimmrecht, dann ein Alleinbewilligungsrecht der Gemeinen [392] entstanden. Seitdem die Lords auch in einer solchen Frage im Jahre 1860 noch einmal eine selbständige Stellung eingenommen hatten, wurde es üblich, das gesamte Budget eines Jahres zu einer einzigen Vorlage zu formulieren, die dann, meinte man, vom Oberhause notwendigerweise angenommen werden müsse. Allerdings galt dabei die Voraussetzung, dass diese Vorlagen auch nur Finanzfragen, nicht aber andere Gegenstände der Gesetzgebung enthalten sollten. Das sogenannte „tacking“ war verpönt.

Aus dieser Frage ergab sich der gewaltige Streit zwischen den beiden Häusern, der im Jahre 1911 zu vorläufigem Abschlusse gekommen ist. Die Lords unterfingen sich, das Budget des Jahres 1909 abzulehnen. In den darin enthaltenen neuen Besteuerungsmethoden, welche in das soziale Leben der Nation tief eingriffen, erblickten sie das ungeheuerlichste Beispiel des tacking, das die Geschichte kenne. Der darüber entbrannte Streit zeitigte die Parlamentsbill des Jahres 1911, welche dem Oberhause nicht nur alles Recht in Finanzfragen abschnitt, sondern ihm für jegliche Gesetzgebung nur noch ein aufschiebendes Veto beliess. Zum Gesetz ist diese Vorlage nur dadurch geworden, dass die Regierung die königliche Prärogative anrief und einen ungeheuren Pairsschub ankündigte, falls die Lords die Vorlage nicht in allen Hauptpunkten unverändert annähmen. Die Zukunft wird lehren, ob es bei diesem Sturze der oberen Kammer sein Bewenden haben wird, oder ob die Konservativen, wenn sie von neuem zur Regierung gelangt sind, das Haus der Lords, wie sie schon erklären, in seine althistorischen Rechte wieder einsetzen werden.





  1. Die bisher herrschende (auch von mir noch in der 1. Auflage dieses Handbuches vertretene) Auffassung, dass die Unkenntnis der englischen Sprache den König aus dem Kabinette getrieben habe, ist nach meiner neuesten Untersuchung (Zeitschrift für Politik VI. 4. 1913) nicht mehr haltbar.