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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Für das Kabinet:
W. M. Torrens, History of Cabinets (1688–1760), Lond. 1894;
Blauvelt, The Development of Cabinet Government in England, New York 1902;
E. Jenks, Parliamentary England. The evolution of the Cabinet Svstem, Lond. 1903:
W. Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England (Zeitschr. f. Politik, VI. 4. 1913).

Seit den Tagen Voltaires u. Montesquieus hat England als das Musterland des Parlamentarismus gegolten. Seine Institutionen sind von allen zivilisierten Staaten, so wie sie für einen jeden am besten zu passen schienen, nachgeahmt worden, oder sie haben doch als das grosse Vergleichsobjekt allen vor Augen gestanden. Zweikammersystem, gewählte Volksvertretung, die Rechte der Steuerbewilligung, der Gesetzgebung, der Kontrolle der Verwaltung sind heute bei fast allen Kulturnationen heimisch geworden.

Was aber Englands parlamentarische Institutionen vor allen übrigen voraushaben, das ist die Würde, die eine vielhundertjährige Geschichte ihnen verleiht. Denn hier und hier allein sind sie organisch entstanden, sind sie mit der Nation gross geworden und sind in jeder Gestalt der Ausdruck der politischen Anschauungen ihrer Epoche gewesen.

In der angelsächsischen Landesversammlung oder dem witenagemôt wird man einen Vorläufer des englischen Parlaments kaum erblicken können. Weder hat man es in dieser Versammlung der Grossen mit einer gewählten Volkvertretung, noch mit einem festen Kreise von Geburtsaristokraten zu tun. Es gibt ebensowenig einen bestimmten Geschäftskreis wie eine Regel für die Häufigkeit oder auch nur die Notwendigkeit der Berufung. Wer dennoch von einer Übereinstimmung mit parlamentarischen Institutionen reden möchte, wird sie in der hier schon vorhandenen Verwirklichung des germanischen Gedankens finden, die grossen Angelegenheiten der Gesamtheit nicht der Entscheidung des einen, dem man als dem Könige gehorcht, allein zu überlassen, sondern einen Kreis von Volksgenossen zur Mitwirkung heranzuziehen.

Mit der normannischen Eroberung (1066) sinkt der angelsächsische Staat in Trümmer und auch die alte Rolle des witenagemôt ist ausgespielt. Der Eroberer errichtet jenen anglo-normannischen Lehnstaat, in welchem neben den abgestuften Abhängigkeiten der Lehnsträger, wie sie auf dem Festlande bestanden und in dem Bilde der Lehnspyramide charakterisiert zu werden pflegen, noch die direkte Abhängigkeit aller vom Könige, dem sie 1086 alle huldigen, zum Grundsatz erhoben wird. Die der Krone damit gegebene Möglichkeit einer durchgreifenden Herrschaft, der Verfügung über die gesamte Wehr- und Finanzkraft des Landes, begründete auf hundert Jahre hinaus einen Zustand absoluter Regierung, innerhalb welcher für eine Körperschaft mit parlamentarischen Rechten und Funktionen kein Raum war. Die Hoftage, welche der König nunmehr zu berufen pflegt, können allenfalls als Fortsetzung der angelsächsischen Witenagemôte erscheinen, haben aber keine regelmässige Beschlussfassung, also auch nicht ein Recht auf Gesetzgebung, Steuerbewilligung oder eine andere Seite parlamentarischer Betätigung. Erst ein Jahrhundert nach der Eroberung wurden unter Heinrich II., dem ersten Plantagenet, wieder Versammlungen der Grossen des Reiches berufen, welche Beschlüsse – die sogenannten Assisen – fassen, wenn auch ohne jede feste Regel. Unter seinem Sohne Johann ohne Land entstand sodann die Magna Charta. Es war ein zwischen dem Könige und den rebellierenden grossen Baronen geschlossener Vertrag, aus dessen reichem und mannigfachem Inhalt hier nur das eine hervorgehoben sein mag, dass darin von zwei Steuergattungen, dem Hilfsgeld (auxilium) und dem Schildgeld (scutagium) gesagt wird, der König solle sie im allgemeinen nicht anders als nach erfolgter Zustimmung einer allgemeinen Reichsversammlung erheben dürfen. Zu dieser Reichsversammlung (Commune consilium regni) sollen die Prälaten und die grösseren weltlichen Barone durch königliches Schreiben persönlich berufen werden, die kleineren durch kollektive Ladung von seiten der Sheriffs. Auf Grund dieser Verschiedenheit der Ladung von zwei verschiedenen Körperschaften wie Oberhaus und Unterhaus reden zu wollen, wäre zwar verfehlt, aber die Bedeutung dieser Anordnungen, insbesondere des feierlich verkündeten Prinzips der Steuerbewilligung, ist für die Geschichte der parlamentarischen Institutionen in England darum nicht geringer. Die Magna Charta ist bis zum Ende des Mittelalters nicht weniger als 38 mal bestätigt worden. Sie ist Anstoss und Richtschnur der ferneren Entwicklung geworden, wenigstens in dem Sinne, als sich die oberen Stände für sich wie für andere Volksklassen gegenüber der monarchischen Gewalt ihr Selbstbestimmungsrecht nicht mehr nehmen liessen. Dasselbe 13. Jahrhundert,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/406&oldid=- (Version vom 21.8.2021)