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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

das Wahlrecht bestimmt. Wird dieses demokratischer, so bedeutet das nur eine Veränderung der Machtverteilung innerhalb der Wählerschaft, nicht ihres rechtlichen Einflusses. Wohl aber wird die Macht der Wählerschaft durch eine Abkürzung der Wahlperioden gemehrt, durch eine Verlängerung gemindert; sie wird ferner gesteigert durch imperatives Mandat, geschwächt dadurch, dass die Entschliessung den Abgeordneten freigegeben wird. In diesen Beziehungen hat sich in neuerer Zeit das Verhältnis eher zugunsten des Parlamentes verschoben. Dagegen bedeutet es allerdings eine erhebliche Minderung der rechtlichen Stellung des Parlaments, wenn die Verfassungen dazu übergehen, die Urabstimmung (das Referendum) als Mittel zur Bildung des Staatswillens aufzunehmen. So konnte die konservative Partei in England auf den Gedanken kommen, die Einführung des Referendums vorzuschlagen, um dadurch den Machtzuwachs des Unterhauses auszugleichen. Obwohl dieser politische Schachzug in England einstweilen noch keine Ergebnisse gehabt hat, wird doch gesagt werden dürfen, dass der Gedanke der unmittelbaren Beschlussfassung der Bürgerschaft den demokratisierenden Tendenzen der Zeit entspricht, und dass von dieser Seite dem parlamentarischen Gedanken eine nicht geringe Gefahr droht.

Bedeutsamer als die etwaige Möglichkeit einer Schwächung der rechtlichen Macht des Parlaments gegenüber der Wählerschaft ist die unbestreitbare Tatsache, dass der tatsächliche Einfluss, den das Parlament auf die Bildung der Volksstimmung ausübt, das Ansehen, das es in der öffentlichen Meinung geniesst, in neuerer Zeit zu sinken begonnen hat. Nach dieser Richtung hat zunächst die Entwicklung des Zeitungswesens einen Einfluss geübt. Ist dieses eine „Grossmacht“ im öffentlichen Leben geworden, so hat es dadurch die Machtstellung des Parlamentes notwendig vermindert – was einst durch die Vermittlung des Parlaments am sichersten und nachdrücklichsten zur Geltung gebracht wurde, wird heute ebensogut, ja besser durch die Zeitung denen vorgehalten, die es angeht. Aber, auch wenn man vom Einfluss des Zeitungswesens absieht, bleibt noch genug, was dem Ansehen des Parlamentes abträglich ist.

Unvermeidlich war ja, dass die überschwenglichen Hoffnungen, die man bei der Geburt der Volksvertretungen für ihre Zukunft hegte, im Laufe der Zeit bedeutend herabgedrückt wurden. Die Erkenntnis, dass nicht die Staats-Einrichtung an sich, sondern die Art, wie sie gebraucht wird, für das Glück der Völker entscheidend ist, musste notwendig die Meinung derer ablösen, die von einer Aenderung der Gesetzgebung alles erwarteten. Andererseits hat man eingesehen, dass nicht nur die Zwangs-Organisation des Staates, sondern auch freiwillig gebildete Verbände von allerlei Art an der Gestaltung des sozialen Lebens mitzuwirken haben und bei nicht wenigen hat diese Einsicht zu einer Nichtachtung des staatlichen und damit auch des parlamentarischen Wirkens geführt.

Aber es handelt sich doch wohl um mehr als um eine blosse Ernüchterung der Verehrer des parlamentarischen Gedankens; es scheint sich vielmehr eine tiefgehende Unzufriedenheit mit dem Wirken der Parlamente herauszubilden. Und zwar eine Unzufriedenheit, die ganz ebenso in parlamentarisch regierten Demokratien wie in konstitutionellen Monarchien, in Staaten mit allgemeinem gleichem wie in solchen mit beschränktem Wahlrecht sich geltend macht, also weder auf Ohnmacht des Parlaments gegenüber dem anderen Faktor der Regierung noch auf den Mangel einer volkstümlichen Basis des Parlaments zurückgeführt werden kann. Vielmehr dürften andere ungünstige Umstände sich vereinigen, um das Bild des Parlamentarismus zu entstellen.

Vor allem: man wirft den Parlamenten Mangel an Würde und Mangel an Pflichtgefühl vor. Beides nicht ganz mit Unrecht. Es lohnt sich wohl, den Ursachen dieser Erscheinung nachzugehen und zu prüfen, ob Mittel zur Abhilfe gegeben sind. Was zunächst das äussere Gebaren des Parlamentes und der Parlamentarier betrifft, so muss es notwendig auf die Formen, in denen der Verkehr in einem Kollegium sich bewegt, ungünstig wirken, wenn die Mitglieder den verschiedensten Gesellschafts- und Bildungsschichten entstammen. Ein wahrhaft gedeihliches Zusammenwirken ist nur bei unbedingter gegenseitiger Achtung möglich. So lange nun das gesellschaftliche Leben nicht demokratisiert ist – und davon ist es, in

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/400&oldid=- (Version vom 19.8.2021)