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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Europa wenigstens, noch sehr weit entfernt – wird das Parlament entweder, wie ehedem in England, aus den führenden Schichten des Volkes entnommen werden müssen, oder es wird die Kollegialität der Parlamentarier und damit die Würde der Verhandlung durch ihre gesellschaftliche Verschiedenheit ungünstig beeinflusst werden. Man mag das beklagen, aber darf nicht meinen, durch Aenderungen in der Geschäftsordnung in dieser Hinsicht eine wesentliche Besserung zu erzielen. Fehlt es somit dem demokratisch gewählten Parlament an dem erforderlichen demokratischen Unterbau des sozialen Lebens, so fehlt andererseits der Menge die erforderliche politische Einsicht, um das aristokratische Element, das dem parlamentarischen Gedanken innewohnt, genügend zu berücksichtigen. Der Idee nach sollen die vom Volke gewählten Abgeordneten „Auserwählte“ des Volkes sein, Führer im öffentlichen Leben mit Führer-Eigenschaften. Aber die Wahl trägt dem häufig genug keine Rechnung und keine Art der Gestaltung des Wahlrechts, keine Beschränkung der Abstufung kann eine Sicherheit für die politische Reife des Urteils geben. So entstehen Widersprüche zwischen Idee und Wirklichkeit, die um so stärker empfunden werden, je stärker die Idee betont wird.

Man wirft den Parlamenten „Unfleiss“ vor und sucht dem zu begegnen durch Gewährung von Diäten und anderen Vorteilen für parlamentarische Tätigkeit. Jedoch dürften dabei die Symptome mit den Ursachen verwechselt werden und, ob die Bewilligung von Diäten oder gar von Anwesenheitsgeldern gerade zur Hebung des Ansehens des Parlaments das geeignete Mittel ist, darf billig bezweifelt werden, wenn sie auch aus anderen Gründen unvermeidlich sein mag. Als Ursache der Erscheinungen, die man „Unfleiss“ nennt, kommen hauptsächlich zwei Umstände in Betracht:

Zunächst die schon besprochene Entwicklung des Zeitungswesens. Publikum, Regierung und, nicht zuletzt, die Parlamentarier selbst benutzen die Tageszeitungen und Wochenschriften als Sprachrohr. Damit werden viele der im Parlament gehaltenen Reden überflüssig; sie werden nichtsdestoweniger gehalten, aber nicht gehört, sondern gelesen – in der Zeitung. Die Tätigkeit des parlamentarischen Plenums wird zur Zeitvergeudung, die Arbeit in den Kommissionen aber wächst, ohne doch für das Ansehen des Parlamentes in die Wagschale zu fallen.

Hierzu kommt, dass die Aufgaben des Parlamentes und die Leistungsfähigkeit seiner Mitglieder je länger je mehr auseinander gehen. Je mehr Gebiete des bürgerlichen Lebens der Staat in seine Einflusssphäre zieht, je schärfer die Gegensätze der sozialen Gliederung des Volkes hervortreten, je tiefer die Probleme des Volkslebens von der Wissenschaft erfasst werden, um so zahlreicher und um so schwieriger werden die Aufgaben, vor die der Staat und somit das Parlament gestellt wird. Der Einfluss, den das Parlament verfassungsmässig auf ihre Erledigung hat, beschränkt sich zwar auf die Teilnahme an der Gesetzgebung. Aber gerade diese fordert je länger je mehr ein gewisses verwaltungstechnisches, volkswirtschaftliches und juristisches Wissen und Können. Je breiter nun die Volksschichten sind, aus denen das Parlament entnommen wird, desto geringer ist unter den sonstigen gesellschaftlichen Verhältnissen die Zahl derer, die zu gesetzgeberischer Tätigkeit befähigt sind. Zwar können Laien in der Gesetzgebung, wie in der Rechtsprechung erfolgreich wirken, wenn sie mit dem Berufs-Beamten zusammenarbeiten. Indessen weist die Konstruktion des Parlamentarismus denselben Fehler auf wie die der Geschworenengerichte: sie isoliert die Tätigkeit der Laien von der der Beamten, die das Gesetz oder den Spruch vorzubereiten haben.

Um so ungünstiger wirkt, dass, wie schon oben berührt wurde, fast überall das Parlament einer staatsrechtlichen Schrulle zuliebe auf die Gesetzgebung beschränkt und von der Verwaltung ausgeschlossen worden ist, somit also die Wirkung der von ihm erlassenen Befehle nicht aus eigener Anschauung kennen lernt, wenigstens nicht von massgeblicher Stelle aus. Hier dürfte ein weiterer Fehler der Gestaltung des parlamentarischen Lebens, zumal in Deutschland, blossgelegt sein. Wer den wohltätigen Einfluss erkennen will, den die Verbindung von gesetzgebender und verwaltender Tätigkeit auf die Wirksamkeit des Laien-Elements ausübt, der betrachte die

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 381. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/401&oldid=- (Version vom 19.8.2021)