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einem Parlament im heutigen Sinne ähnliches bestehen – die Idee des Parlamentes ist darin noch nicht enthalten. Von kaum einer Einrichtung aber gilt so unbestreitbar wie von dieser das Iheringsche Wort, dass der „Zweck der Schöpfer ganzen Rechts“ ist. Zwar in seiner Heimat, in England, hat sich das Parlament aus Einrichtungen des dualistischen Feudalstaates, nicht ohne Kämpfe, aber doch in allmählicher Fort- und Umbildung entwickelt und in den nordamerikanischen Freistaaten hat es sich in den Freiheitskriegen, die das Bürgertum gegen das Mutterland zu führen hatte, wie selbstverständlich herausgebildet. Aber auf dem europäischen Kontinente und wo immer seitdem Parlamente entstanden sind, sind sie ganz und gar Geschöpfe zweckbewussten Wollens der Nationen, Verwirklichungen der „parlamentarischen Idee“. Sie setzte in Frankreich und den ihm nachfolgenden Staaten ein, als das ständische Wesen längst durch die absolute Staatsgewalt überwunden war und setzte sich durch unter heftigen Erschütterungen und Umwälzungen. Verknüpfte sie sich so von vornherein mit der monistischen Staatsauffassung, die jene Zeit beherrschte, so trug sie doch zugleich einen neuen Dualismus in das Staatsleben hinein, indem sie das Parlament der Regierung als Feind gegenüberstellte.

Die Umstände, unter denen ein Staat sich entwickelt hat, wirken aber nicht nur in seinen Einrichtungen nach, sie beherrschen auch die Vorstellungen, mit denen Staatslenker und Staatsbürger diesen Einrichtungen gegenübertreten, noch auf lange Zeit hinaus. Ob eine Staatseinrichtung sich bewährt, das richtet sich in erster Linie nicht danach, wie sie gestaltet ist, sondern danach, in welchem Masse sie Verständnis und Vertrauen bei denen findet, die sie zu gebrauchen haben. Es ist das Schicksal des Parlamentarismus in den kontinentalen Staaten geworden, dass er in ihr Staatsrecht aufgenommen wurde zu einer Zeit, wo man an ein absolut richtiges Recht glaubte und vermeinte, Staaten in der Retorte herstellen zu können. Und so wurde die Geschichte des Parlamentarismus, seit er vom heimatlichen Boden Englands wegverpflanzt war, der Kampf einer „Idee“ mit historisch-gegründeten Mächten, ein Kampf, der in Deutschland noch heute nicht ausgekämpft ist.

Will man den Inhalt dieser Idee feststellen, so wird man sich nicht an die Ausprägung halten dürfen, die sie in dem Staatsrecht des einen oder des anderen Staates erfahren hat. Man kann nicht ohne weiteres behaupten, dass der parlamentarische Gedanke nur in den Staaten mit Parlamentsherrschaft vollständig verwirklicht sei und in solchen, die dem Parlament nicht die herrschende Stellung einräumen, einen unzulänglichen Ausdruck gefunden habe. Denn es fragt sich, ob nicht aus der Staatsverfassung der parlamentarisch regierten und der der monarchisch-konstitutionell regierten Staaten ein einheitlicher Gedanke gefunden werden könne, der als „parlamentarische Idee“ bezeichnet werden darf.

Fast überall, wo Parlamente geschaffen wurden, verknüpfte sich mit ihrer Begründung der Gedanke der „Repräsentation“. Heissen doch die Abgeordneten der Vereinigten Staaten von Amerika geradezu „representatives“, die Belgiens „représentants“. Die Bezeichnung „Volksvertretung“ scheint das Wesen des Parlaments erschöpfend wiederzugeben, so dass es nur allenfalls noch der Frage bedürfte, welche Stellung dieser Volksvertretung im Staate zukommt und zukommen soll.

Indessen liegt die Sache so einfach nicht.

Wer ist das „Volk“, das vom Parlament vertreten wird? Soll es die Menge der Einzelnen sein, die jeweilig einem Staate angehören? So, dass das Volk heute ein anderes wäre als es gestern war und morgen sein wird? Wie wäre dann aber denkbar, dass diese Einzelnen vom Parlament vertreten würden, da doch jedes Parlamentsmitglied alle Einzelnen zu vertreten hätte! Käme mithin als staatsrechtlich vertretbar nur das organisierte Volk, die Volksgemeinschaft in Betracht. Aber damit gewinnt der Begriff der „Volksvertretung“ einen anderen Sinn, als ihm die landläufige Sprachweise beilegt. Denn das organisierte Volk ist im Grunde nichts anderes als der Staat selbst. Gegen die Meinung, dass das Parlament für den Staat als dessen „Organ“ beschliesse, wäre staatsrechtlich nichts einzuwenden. Nur ist es in dieser Beziehung vom Monarchen nicht wesentlich verschieden. Haben doch gerade die bedeutendsten Persönlichkeiten der absoluten Monarchie, Ludwig XIV.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/394&oldid=- (Version vom 19.8.2021)