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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Parlamentes darzutun, die Unmöglichkeit betont, dass das Parlament die Interessen des gesamten Volkes wahrnehme. Aber derartiges wird im Ernste auch vom Parlament gar nicht verlangt. Nur, dass das Parlament dem Gemeinwohl diene, ist die Forderung. Dass es ein Gemeinwohl gibt, ist nicht zu leugnen, da es einen Staat gibt. Nur ergibt es sich nicht dadurch, dass die einander widerstreitenden Einzelinteressen wahrgenommen, sondern dadurch, dass sie ausgeglichen werden, so zwar, dass der Einzelne, was er opfert, vergütet sieht durch die Möglichkeit des Lebens in der Gemeinschaft. Dass dieser Ausgleich nicht ohne Kampf stattfindet, liegt in der Mangelhaftigkeit menschlicher Einsicht begründet. Endet er mit der Unterdrückung der einen Partei, so entspricht dies nicht dem Grundgedanken des Rechts, sondern lediglich dem kurzsichtigen Egoismus. Auch das Parlament ist von Eigennutz und Machtgelüsten nicht frei. Aber, dass die Art seiner Bestellung den Ausgleich hindert, statt ihn zu fördern, wird man nicht behaupten können. Mag der Parlamentarismus Fehlerquellen aufweisen – der Gedanke, einen Ausschuss der Bürgerschaft an der Staatslenkung teilnehmen zu lassen, ist so alt wie die europäische Kultur und wird sich behaupten, so lange diese besteht.

Ja, er muss um so mehr an Kraft gewinnen, je schwieriger die Staatsaufgaben werden und je mehr das technisch-durchgebildete Beamtenheer wächst, dessen es zu ihrer Erledigung bedarf. Der Absolutismus des Beamtentums ist fast eine grössere Gefahr als der Absolutismus des Monarchen. Ihm zu begegnen ist 2. die Hauptaufgabe des Parlaments: es ist die Kontrollinstanz für die Bureaukratie.

Es „vertritt“ in dieser Hinsicht das Volk insofern, als es eine Funktion übernommen hat, die in kleineren Staaten das Volk, d. h. die Versammlung der Bürgerschaft, selbst auszuüben in der Lage ist. Das Parlament aber wird seinerseits wieder durch die wahlberechtigte Bürgerschaft kontrolliert, die allerdings ihr Kontrollrecht eben nur in der unvollkommenen Form der Parlamentswahl zur Geltung bringen kann.

Mannigfaltig sind die Formen, in denen der Gedanke der Kontrolle des Beamtentums durch ausgewählte Bürger verwirklicht werden kann. Als eine unvollkommene Form muss heute die Verteilung der Aufgabe des Befehlens zwischen Beamte und Bürger betrachtet werden, wie sie sich in den Geschworenengerichten erhalten hat. Sie wird allmählich verdrängt von einer anderen Form, die Deutschland beispielsweise in den Schöffengerichten und in verschiedenen Verwaltungsbehörden zeigt: die Bildung eines aus Beamten und Bürgern zusammengesetzten Kollegiums. Wo aber die Aufgabe des Befehlens Einzelnen anvertraut werden muss, da ist die kontrollierende Beteiligung der Bürgerschaft nur in der Weise möglich, dass eine besondere Kontrollorganisation geschaffen wird: das Parlament.

Die Montesquieu’sche Lehre von der Gewaltenteilung, die eine Verteilung der gesetzgebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt auf verschiedene Organe forderte, hat bekanntlich dazu geführt, die Kontrolle des Parlaments auf die Gesetzgebung zu beschränken, so zwar, dass in der französischen Verfassung von 1791 die Assemblée nationale geradezu „Corps législatif“ genannt wird und diese Bezeichnung in die meisten der von ihr ausgehenden Verfassungen übergegangen ist. Dem lag unzweifelhaft ein staatsrechtlicher Irrtum zugrunde; denn das englische Parlament war und ist keineswegs auf die Gesetzgebung beschränkt. Aber es handelt sich auch um einen gefährlichen politischen Irrtum. Denn, weder ist mit der Uebertragung der „Legislative“ eine scharfe Abgrenzung der Funktionen des Parlaments gegenüber denen der übrigen Staatsorgane gegeben, noch ist die eigentliche Aufgabe des Parlaments: die Kontrolle der Regierung dadurch irgendwie gekennzeichnet. Die Folge des ersten Mangels war, dass die Verfassungen sich genötigt sahen, ausdrücklich festzustellen, dass Steuern nur im Wege der Gesetzgebung bewilligt werden können und das Budget jährlich durch Gesetz festzustellen ist, womit die Grenze zwar verbessert aber immer noch nicht unbestreitbar gemacht wurde. Auf der anderen Seite hat der Gedanke, dass das Parlament Regierungskontrolle sein solle, zwar in einzelnen Verfassungen dadurch Ausdruck gefunden, dass ihm das Recht der „Enquête“ verliehen wurde (Belgische Verfassung Art. 40; Preussische Verfassung, Art. 82); aber ein solches Recht ist ziemlich wertlos, wenn ihm

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/398&oldid=- (Version vom 19.8.2021)