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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

einen Ausschuss der Bürgerschaft als Organ des Staates zu bestellen und allenfalls für besonders schwerwiegende Entscheidungen die „Urabstimmung“ (das „Referendum“) vorzubehalten.

Der Einfluss, den der parlamentarische Gedanke auf die Geschicke der Völker gehabt hat, die Rechtsform, in der er verwirklicht wurde, war selbstverständlich verschieden je nach dem Boden, auf den er fiel. Während in einigen Staaten das Parlament zur Herrschaft gelangt ist, hat es sich in anderen Staaten mit einer bescheideneren Rolle begnügen müssen, so, dass man die Staaten mit parlamentarischem System in parlamentarisch- und monarchisch-konstitutionell-regierte scheiden kann. Aber nur eine Staatstheorie, die das Erbe der Doktrinäre des 18. Jahrhunderts sine beneficio inventarii angetreten hat, kann vermeinen, in der einen oder der anderen Staatsform das „an sich richtige“ System erblicken zu müssen. Lässt sich zugunsten des englischen Parlamentarismus anführen, dass er den Dualismus des Beamtentums und des Bürgertums in einer höheren Einheit auflöst, so ist auf der anderen Seite leicht zu sehen, dass ein Parlament, das die Ernennung der Beamten entscheidend beeinflusst, weniger zu ihrer Kontrolle geeignet ist als ein Parlament, das nur Kontrollorgan ist.

Im übrigen handelt es sich bei der Staatenbildung nicht um Kunst-Produkte, sondern um Ergebnisse des Ringens sozialer Kräfte, die sich unter dem Einfluss von Land, Abstammung und Nachbarschaft gebildet haben. So muss denn das Bild des Parlamentarismus in England notwendig ein ganz anderes sein als in Deutschland.

Man wird, um die Staatsform, in der das Parlament zur Geltung kommt, politisch beurteilen zu können, nicht eine staatsrechtliche Konstruktion verwenden dürfen, die mit dem Begriffe der „höchsten Gewalt“ operiert. Ist doch in England – wenigstens nach der in der deutschen Staatsrechtlehre überwiegenden Auffassung – Träger der höchsten Gewalt immer noch der König, obwohl der Wille des Parlaments durchaus den Staat beherrscht. Man wird, um die in einem Staate wirksamen Kräfte richtig einzuschätzen, unterscheiden müssen zwischen dem gesetzten Rechte und der tatsächlichen Uebung, welch’ letztere sich als Gewohnheitsrecht niederschlägt, wenn sie ein Menschenalter überdauert hat. Oder ist das Recht des englischen Königs, die Minister zu ernennen, ist sein Recht des „assent“ zu Parlamentsbeschlüssen – das fälschlich sogenannte „Vetorecht“ – heute mehr als ein „nudum jus“, ein Recht zu handeln ohne das Recht der Entschliessung? Wohl ist der König für die englische Staatsmaschine unentbehrlich; – hat man doch eben deshalb seinerzeit Karl II. zurückberufen – aber ebenso unentbehrlich ist der Wollsack und die Perücke des Sprechers. Mögen nun auch die dem Könige verbliebenen Rechte einem klugen und tatkräftigen Monarchen immer noch Gelegenheit zur Entfaltung eines grossen Einflusses geben – dass der eigentliche Herrscher Gross-Britanniens das Parlament, und zwar seit der Veto-Bill das Unterhaus ist, wird nicht wohl bestritten werden können; dass dieser Herrscher von der Wählerschaft bestellt wird, macht seine Schwäche aus, und dass der König ihn entlassen kann, indem er das Parlament auflöst und an die Wählerschaft appelliert, scheint die Stärke des Königtums zu sein.

Aber die diese Entlassung herbeiführen, sind in Wahrheit die Minister, und ihre Partei ist es, auf deren Stärke sie dabei rechnen. So erscheint über dem Parlament als letzte kontrollierende Instanz das Volk, richtiger: die Wählerschaft, noch richtiger: die Partei. Bei der Betrachtung des Parteiwesens wird diese Erkenntnis noch zu verwerten sein.

Was Deutschland betrifft, so ist im Reiche schon deshalb eine parlamentarische Regierung von Staatsrechts wegen unmöglich, weil sie die Grundlagen des Reiches vernichten würde. Denn ein vom Parlament regiertes Reich würde ein Einheitsstaat sein; der föderative Charakter des Reichs fordert, dass die „verbündeten Regierungen“ die Leitung des Staates behalten.

Es kommt hinzu, dass Bismarcks Staatskunst in die Verfassung noch eine zweite Sicherung einfügte, indem er den Reichskanzler nur als preussischen Bevollmächtigten im Bundesrat teilnehmen lässt – neben dem föderalistischen ein partikularistisches Hindernis einer Parlamentsregierung.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/396&oldid=- (Version vom 19.8.2021)