Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/403

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Partei einst zusammenführte, auch dauernd den Zusammenhalt begründen müsste. Die beiden grossen Parteien Englands unterscheiden sich nicht eigentlich durch ihr Programm, sondern durch ihren Ursprung aus den beiden grossen Adelsparteien der Tories und Whigs, die ihrerseits auf kirchliche Gegensätze zurückführen. Möge nun auch in der einen heute konservative, in der anderen liberale Elemente überwiegen, mag dort der Gedanke der Weltmacht, hier der des Weltfriedens stärker betont werden – in der Hauptsache handelt es sich doch jetzt wohl um Parteien, die da sind, weil sie da waren, um historische Parteien. Noch ausgeprägter zeigt sich dieser Charakter bei den Parteien der nordamerikanischen Union; sie werden heute nur durch den Trieb nach Macht zusammengehalten und müssen sich jeweils für die Wahlen erst ein Programm in einer „platform“ schaffen, die heute so und morgen so lauten kann.

Das Land der Programm-Parteien ist Deutschland. Fordert der Engländer Treue gegen die Partei, so dass er kaum begreift, wie jemand seine Partei wechseln kann nur, weil er seine Ansichten gewechselt hat, so fordert der Deutsche Prinzipientreue von der Partei und verlässt sie, sobald er meint, dass sie ihren Prinzipien untreu geworden sei, oder, wenn seine Ueberzeugungen sich auch nur um ein geringes von ihrem Programm entfernen. Die Folge ist in Deutschland eine Zerrissenheit des Parteiwesens, wie sie in England nur durch eine Zertrümmerung der historischen Parteien herbeigeführt werden könnte, die einer Revolution gleichkommen würde. Die Eigenart des deutschen Parteiwesens ist nicht selten mit der Kleinstaaterei verglichen worden. Aber es handelt sich bei der Parteizersplitterung doch um mehr als eine blosse Absonderungslust oder, wenn man so will, Eigenbrödelei. Es handelt sich auch um eine Wirkung der deutschen Gründlichkeit und des deutschen Idealismus, der von Gedanken ausgehend die Wirklichkeit zu gestalten sucht. Mag immerhin die Schwäche des deutschen Organisationstalentes sich auch darin offenbaren – es soll doch nicht vergessen werden, dass das deutsche Parteiwesen auf den Kräften beruht, die den preussischen Staat und damit Deutschland neu schufen, als der absolute Staat Bankerott gemacht hatte. Und schliesslich sollte auch darüber kein Zweifel sein, dass in der politischen Idee eine einigende Kraft liegt, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegensätze überwindet und, wenn die Meinungen genügend geklärt sind, zu einer Bildung grosser Parteien da führen kann, wo die Interessen eine Absonderung zu bedingen scheinen.

Man hat versucht, alle Parteiung zurückzuführen auf die Gegensätze „konservativ“ und „liberal“, indem man in dem einen Begriffe die Idee der „Autorität“ mit der Charaktereigenschaft der Beständigkeit suchte, in dem anderen Wort die Idee der „Freiheit“ mit der Eigenschaft der Veränderlichkeit verband. Indessen dürfte Treitschke (Historische und politische Aufsätze III, 584 p.) darin beizustimmen sein, dass diese Versuche der Vereinfachung nicht geglückt sind. Wohl lassen sich in Deutschland zwei grosse Strömungen unterscheiden, die auf die angegebene Art leidlich bezeichnet werden. Aber, weder ist der Gegensatz von Macht und Freiheit ein derart absoluter, dass er eine Vereinigung beider Gedanken ausschlösse, noch ist es im Wesen des Freiheitsgedankens begründet, dass er sich mit Veränderlichkeit des politischen Wollens verbinden müsste.

Es ist aber auch nicht angängig, den Gegensatz der Parteien auf staatsrechtliche Gedanken und staatsrechtliches Wollen allein zu gründen. Neben die im engeren Sinne „politischen“ Ideen treten die religiösen oder, allgemeiner gesprochen, die Kultur-Ideen. Neben die Ideen aber, mit ihnen sich mengend und kreuzend, stellen sich völkische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen.

Dies bedarf noch einer besonderen Betrachtung. Bekanntlich sucht die materialistische Geschichtsauffassung alles politische Geschehen auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Bedürfnisse zurückzuführen. Wie die Geschichte der Staaten so widerlegt die Geschichte der Parteien diese Anschauung auf jeder Seite ihrer Aufzeichnungen. Unrichtig ist schon, dass die gesellschaftlichen oder „Klassen“-Interessen sich notwendig mit wirtschaftlichen Gruppen-Interessen decken; denn es ist schwerlich zu bestreiten, dass die volkswirtschaftlichen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/403&oldid=- (Version vom 20.8.2021)