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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

nicht eine Pflicht des Beamtentums zur Rechenschaftslegung gegenübersteht. Diese Erkenntnis hat in den nicht vom Parlament regierten Staaten die Forderung der „Minister-Verantwortlichkeit“ gezeitigt. Ein sehr unvollkommener Ausdruck eines richtigen Gedankens! Denn nicht darauf kommt es an, dass das Parlament in der Lage ist, einen Minister wegen Bruches der Verfassung in Anklagezustand zu versetzen, sondern darauf, dass ihm die Möglichkeit gegeben ist, den Gang der Staatsgeschäfte ständig zu beobachten und vorkommende Fehler zu rügen.

Es kann zwar nicht geleugnet werden, dass die parlamentarische Kontrolle, wenn sie engherzig ausgeübt wird, einen lähmenden Einfluss auszuüben vermag, dass sie daher an Stellen und zu Zeiten, wo es auf schnelles und entschlossenes Handeln ankommt, unbedingt ausgeschaltet werden muss. Es wird eben auch hier nicht auf die Gestaltung des Rechtes allein, sondern auch und ganz besonders darauf ankommen, in welchem Sinne es ausgeübt wird. Immerhin wird es förderlich sein, wenn die eigentliche Aufgabe des Parlamentes klar erkannt und scharf betont wird. In diesem Sinne wollte die Stein’sche Städteordnung (§ 126) das Recht der Stadtverordneten-Versammlung gestalten, in diesem Sinne wird das Recht des Parlamentes entwickelt werden müssen, wenn der parlamentarische Gedanke zur vollen Geltung kommen soll.

Es fragt sich aber, ob überhaupt noch mit einer Fortentwicklung der Grundgedanken des Parlamentarismus gerechnet werden kann, da eine vielvertretene pessimistische Auffassung einen allgemeinen Niedergang des Parlamentarismus feststellen zu können glaubt Was ist davon zu halten?

Unbestreitbar ist, dass die Idee der Beteiligung der Regierten an der Regierung einen Siegeszug über die ganze Erde angetreten hat. Waren es bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts nur die europäischen und die von Europa aus besiedelten Staaten, die ihn aufgenommen hatten, so sind seitdem halb-asiatische und ganz-asiatische Staaten in grösserer Zahl gefolgt: Japan, Russland, die Türkei, Persien haben Volksvertretungen erhalten und selbst im Reich der Mitte beginnt der konstitutionelle Gedanke Wurzel zu fassen. Darf nun auch nicht geleugnet werden, dass die Einrichtungen, die er gezeitigt hat, vielfach auf sehr unsicherem Boden stehen und schon durch leichte Erschütterungen umgestürzt werden können, ja, dass manche Parlamente nur eine Karikatur des parlamentarischen Gedankens darstellen, so ist doch unverkennbar, dass die parlamentarische Bewegung räumlich in entschiedenem Vorrücken begriffen ist.

Fragt man ferner, ob das Parlament an Macht zu- oder abgenommen habe, so wird zunächst zu unterscheiden sein zwischen der rechtlichen Stellung und dem tatsächlichen Einfluss, den das Parlament ausübt. Alsdann wird die Antwort nicht absolut, sondern relativ zu geben sein, indem nämlich die Macht des Parlaments mit den anderen im Staate wirksamen Mächten verglichen wird.

Als Gegengewicht des Parlaments kommt zunächst die „Regierung“ in Betracht, will sagen: der nichtparlamentarische Faktor der Regierung. Wo dieser parlamentarisch gebildet, d. h. in seiner Zusammensetzung ganz oder teilweise vom Parlament abhängig ist, da ist für eine weitere Ausbreitung der Macht des Parlaments ihm gegenüber kaum noch Raum vorhanden. Was aber den tatsächlichen Einfluss betrifft, so wird es wesentlich darauf ankommen, welche Persönlichkeit sich in der Regierung neben dem Parlament zur Geltung bringt – die Regierung König Eduards VII. von England bietet nach dieser Richtung des Lehrreichen genug. In den nicht-parlamentarisch regierten Staaten, zumal in Deutschland, ist ein Wachsen des rechtlichen Einflusses der Parlamente in der Gegenwart kaum zu bestreiten. Für Deutschland wird er von Laband’s Autorität (Jahrbuch d. öffentl. Rechts II, 26) bezeugt. Aber einen verfassungsmässigen Niederschlag von grösserer Bedeutung hat diese Strömung nicht gefunden, und, was die tatsächliche Geltung des Parlaments betrifft, so wird diese durch die Entwicklung der Parteiverhältnisse in Deutschland zweifellos nicht günstig beeinflusst.

Der zweite Machtfaktor, der dem Parlament gegenübersteht, ist die nicht selten kurzweg „das Volk“ genannte Wählerschaft. Ihr legitimes Verhältnis zum Parlament wird durch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/399&oldid=- (Version vom 19.8.2021)