Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Band: 43 (1881), ab Seite: 17. (Quelle)
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Taglioni, Marie (Tänzerin, geb. in Stockholm 1804). Die Tochter des Tänzers und Balletcompositeurs Philipp aus dessen Ehe mit Marie Karstens, der Tochter eines berühmten schwedischen Schauspielers, betrat sie im Jahre 1822 zu Wien in der von ihrem Vater componirten Scene: „Aufnahme einer jungen Nymphe am Hofe Terpsichorens“ zum ersten Male die Bühne, und zwar mit ungeheurem Erfolge. Von Wien begab sie sich zunächst nach Stuttgart, wo sie am königlichen Hofe die ausgezeichnetste Aufnahme und an der Königin Pauline eine große Gönnerin fand. Von Stuttgart ging sie nach München, wo ihr König und Königin in wohlwollendster Weise entgegenkamen, und von da begann sie ihre Tour durch die Hauptstädte Europas, überall Triumphe feiernd und fabelhafte Summen ertanzend. So z. B. erhielt sie in St. Petersburg, wo sie drei Jahre hintereinander tanzte, je 80.000 Rubel, bei jedem Auftreten überdies 250 Thaler Tanzhonorar, und hatte vier Monate Urlaub. In Wien spannten die Enthusiasten eines Abends sich selbst vor den Wagen, der sie nach Hause fahren sollte. Als sie nun mit Blumen beladen deren fort und fort auf ihre zweibeinigen Zugthiere warf, rief ein über solche alles Maß übersteigende Verhimmelung entrüsteter Urwiener der Tänzerin zu: „Werfen’s doch lieber Heu herunter für d’Ochsen“. Nun aber Marie besiegte Alles durch ihre Grazie und Gewandtheit. Im Jahre 1835 vermälte sie sich mit einem französischen Grafen Namens Gilbert des Voisins. Sohn eines reichen Pairs, hatte derselbe seine Jugend auf die tollste Weise verlebt. So gab er einmal – als er noch ledig war – ein Souper und ließ zum Dessert eine Schüssel gezuckerter Erdbeeren für die Damen herumreichen. Es zeigte sich, daß die Erdbeeren lauter mit Zucker bestreute Edelsteine waren. Ueber ein halbes hunderttausend Francs kostete dieser Spaß dem Verschwender, welcher sein Familienwappen und seinen Grafentitel an die gefeierte Tänzerin verschacherte. Aber Mariens Ehrgeiz, Gräfin zu werden, sollte ihr theuer zu stehen kommen. Ihr Mann setzte seinen früheren Lebenswandel fort, und da er kein eigenes Vermögen mehr besaß, brachte er das seiner Gattin durch und machte überdies noch 300.000 Francs Schulden. [18] Nun freilich that die Tänzerin Schritte, um ihre Zukunft zu retten, sie ließ sich von ihrem Gatten scheiden und warf ihm eine Pension jährlicher 6000 Francs aus. Der Graf führte sein gewohntes Spielerleben fort, bis er in die äußerste Noth versank und in dieser unweit der schweizerischen Stadt Sitten, in deren nächster Nähe sich eine Spielhöhle befand, im Jahre 1863 das Zeitliche segnete. Maria aber tanzte noch viele Jahre, Triumphe über Triumphe feiernd, den größten darin, daß man sich um einen neuen Pas der Tänzerin mehr kümmerte als um alle Politik. Man vertiefte sich in eine Kritik ihres Tanzes mehr als heutzutage in die verbissensten Leitartikel, und ein Kritiker versuchte mit einem einer wichtigeren Sache würdigen Eifer zu beweisen, daß die Taglioni kleiner sei als ihr Ruf! Ernste Männer, wie Börne, Theodor Mundt, der von ihr das geflügelte Wort sprach: „sie tanze Goethe“, widmeten der Ballerine eingehende Betrachtungen, und Monsieur J. J., wie seinerzeit Jules Janin in Paris genannt wurde, der eben im „Journal des Débats“ nicht wenig den Ruhm der Tänzerin hatte begründen helfen, schickte ihr eine bitterschwere Philippica nach St. Petersburg nach, wohin sich die Tänzerin für drei Winter hintereinander, 1838, 1839 und 1840, ohne seine Erlaubniß hatte engagiren lassen; er stand nicht an, in seiner Anklage über ihre Undankbarkeit es geradezu auszusprechen: „daß sie mit dem Ruhme entflohen, den ihr die Franzosen geliehen, nicht geschenkt haben!“ Noch schärfer aber wurde sie von Victor Hugo angegriffen, der, damals im Zenith seines Ruhmes, es in einem Salon erfahren mußte, daß man Apollo nicht beachtete, da Terpsichore anwesend war, daß man über die Tänzerin den Dichter völlig vergaß. Zur Unzeit von einem der anwesenden Gäste aufgefordert, auf die gefeierte Sylphide ein Gedicht zu machen, schrieb er das berühmte Gedicht „Une danseuse“, worin er einen im Dienste des Vaterlandes lahmgeschossenen verhungernden Grenadier der mit Tausenden honorirten Fußkünstlerin gegenüber stellt und nun in die Worte ausbricht: „Elle vaut plus que toi! plus que la grande armée, | plus que les grenadiers du grand Napoléon! | Taglioni c’est le cri de notre temps moderne! | A bas l’histoire, à bas la gloire et la valeur! | Vivent les pieds dansants! l’esprit à la lanterne! | ah pauvre grenadier! si vous étiez danseur!“ [Mehr gilt dies Weib als du, mehr als das Heer im Lande | Mehr als ein Grenadier, mehr als Napoleon! | Taglioni ist der Schrei der hochmodernen Sitten! | Weg mit der Wissenschaft, weg mit des Geistes Joch! | Die Tänzerinen hoch! Der Geist wird nicht gelitten! | Ach armer Grenadier, wärst du ein Tänzer doch!“ Aus dem ganzen Gedichte klingt Victor Hugo’s verletzte Dichtereitelkeit heraus. Dem Lande Frankreich am wenigsten kann man nachsagen, daß es seine Armee – seine Grenadiere vergessen habe. Und die Grenadiere, welche nach Hunderten und Tausenden zählen, waren ja stets die Hätschelkinder der „großen Nation“. Die Taglionis aber tanzen nicht nach Dutzenden auf der Welt.] Dies Gedicht Victor Hugo’s, der zu jener Zeit noch ein Napoleon-Schwärmer war, machte ungeheures Aufsehen in der Seinestadt und die Runde durch alle Salons derselben, in welchen es mit dem Urtheil, das ein Hindu über eine Balletvorstellung der Taglioni in London gefällt [19] hatte, das Tagesgespräch bildete. Davon in Kenntniß gesetzt. daß die Ballerine für jeden Abend, an dem sie tanze, einhundertfünfzig Guineen empfange, schrieb der Hindu an seine Landsleute in seinem Reiseberichte: „Bedenkt nur, 150 Guineen gibt man hierzulande einem Mädchen dafür, daß es eine Zeit lang wie eine Gans auf einem Beine steht, dann das andere gerade ausstreckt, so drei- oder viermal sich herumdreht, sich so tief verbeugt, daß sie sich fast setzt und bald auf diese, bald auf jene Seite der Bühne springt. Alles dies dauert keine Stunde. Und für diese Stunde bekommt sie so viel, als sechs Weber in Spiralfields (wo schöne Seidenzeuge gewebt werden) in einem Jahre verdienen können, wenn sie jeden Tag vierzehn Stunden arbeiten. Es erscheint uns sehr thöricht, einer Tänzerin für eine Stunde Herumhüpfen mehr zu geben, als das, was sechs Seidenweber mit ihren Frauen und Kindern ein ganzes Jahr lang unterhalten könnte“. Das sind harte, aber wahre Worte, doch was der Poet sang, was der Hindu seinen Landsleuten schrieb, war in den Wind gedichtet und geschrieben. Marie Taglioni, welche trotz ihrer Heirat ihren Tänzernamen beibehalten hatte, zog sich im Jahre 1844 von der Bühne gänzlich zurück; in der französischen Oper trat sie am 29. Juni d. J. im sogenannten „pas de l’ombre“ zum letzten Male auf und lebte seitdem in Oberitalien, abwechselnd in Venedig und in Mailand. In ersterer Stadt kaufte sie mehrere der schönsten, aber verwahrlosten Paläste, welche herabgekommenen Adelsfamilien gehörten, wohlfeil an, ließ dieselben restauriren und comfortabel einrichten und vermiethete sie für hohe Miethzinse an reiche Engländer, wodurch sie das durch die wegfallenden Tanzhonorare entstehende Deficit einigermaßen deckte. Doch auch diese günstige Sachlage war nicht von Dauer, die Venetianer Paläste, die ihr einige Jahre hindurch acht bis zehn Procent einbrachten, warfen nach dem Kriege kaum noch zwei bis drei Procent ab. In Mailand aber trug man ihr nach, daß sie österreichische Sympathien hege. Und als man ihr dies eines Tages geradezu vorhielt, entgegnete sie offenherzig, „daß sie mit politischen Sym- und Antipathien sich ganz und gar nicht befasse, aber sie sei in Wien immer auf das liebevollste empfangen und behandelt worden, und so sehe sie denn nicht ein, warum sie ob ihrer guten und angenehmen Beziehungen zu den Oesterreichern erröthen solle, blos deshalb weil sie Oesterreicher seien, und einer Partei zu Gefallen, die gar nicht die ihrige, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie entschlossen sei, zu gar keiner Partei zu gehören“. Seit Jahren ist von der berühmten Tänzerin nichts zu hören. Sie lebt, wie erzählt wird, auf einer reizenden Villa an einem der oberitalienischen Seen – man nennt den Comersee – in gänzlicher Zurückgezogenheit, auf die sie durch ihr hohes Alter, welches die Sprossen der Familie Taglioni zu erreichen pflegen, angewiesen ist. Es ist wohl über wenige Tänzerinen – vielleicht die Elsler ausgenommen – so viel geschrieben worden, wie über die Taglioni, und für eine Geschichte der modernen Tanzkunst sind die Urtheile, welche L. A. Frankl und M. G. Saphir seinerzeit über Fanni Elsler und Maria Taglioni gefällt haben, immerhin beachtenswerth. Ersterer schreibt: „Die Taglioni tanzt wie eine Göttin, die Elsler menschlich schön. Es scheint, als könnten die [20] Deutschen nun vergleichsweise sprechen: Goethe und Schiller, Joseph II. und Friedrich II., Thalberg und Liszt, Thorwaldsen und Canova, Lenau und Grün, und also auch Taglioni und Elsler“. Saphir sagt in seiner Art: „Die Fanni Elsler war erst Grazie, verlegte sich deshalb auf den Tanz und wurde – Fanni Elsler; die Taglioni war erst Tänzerin von Haus aus, verlegte sich deshalb auf die Grazie und wurde – Marie Taglioni. Ich glaube aber, der Culminationspunkt des Tanzes ist die totale Harmonie aller Körpertheile zu dem bezaubernden Ausdruck vermittelst derselben! Und da ist mein Ideal: die Fanni Elsler“. Das ist aber gewiß, daß, wenn man heutzutage vom Tanze als von einer Kunst sprechen will, man ohne Rücksicht auf die später berühmt gewordenen oder berühmt gemachten Demoiselles Grisi, Fanni Cerrito, Lucile Grahn, Pepita de Oliva und wie sie sonst heißen mögen, nur zwei Namen als charakteristische Typen der Tanzkunst, und jede als einzig in ihrer Art nennt und auch immer nennen wird: die Elsler und Marie Taglioni die ältere.

Berliner Figaro, 24. Mai 1832, Nr. 121. „Dlle. Marie Taglioni“. – Oettinger’s Argus, II. Jahrg., 26. Juli 1838, Nr. 327 „Ueber das Ballet: Marie Taglioni und Geschwister Elsler“. Von James R. Aubrey. – Frankfurter Conversationsblatt, 24. November 1839, Nr. 324; „Der Kampf um die Sylphide“.– Dasselbe, 7. August 1843, Nr. 215 und 216: „Marie Taglioni in Schweden“. – Neue Zeit (Olmützer Localblatt) 1858, Nr. 277: „Paris im November“. – L’Indépendance belge (Bruxelles, gr. Fol.) 1854, lundi 23 Septembre, im Feuilleton: „Notes extraites d’un carnet de voyage“. – Der Humorist. Von M. G. Saphir. 13. Mai 1839, Nr. 95: „Kunst-Frachtbriefe an Franz Liszt. Von M. G. Saphir: Marie Taglioni und Fanni Elsler“. – Sonntagsblätter. Von Ludwig August Frankl (Wien, 8°.) I. Jahrg. 1842, S. 708: „Fanni Elsler und Marie Taglioni“.
Porträte und Costumblätter. 1) Unterschrift: Facsimile des Namenszuges „Marie Taglioni“. Kriehuber (lith.) 1839. Gedruckt bei Joh. Höfelich (Pietro Mechetti qum Carlo in Wien, Fol.). – 2) Unte (lith., 4°.). – 3) Blaisot exc. (8°.). – 4) Unterschrift: „Marie Taglioni“. Stahlstich von A. Weger (Leipzig, Verlag in Baumgärtner’s Buchhandlung. 4°.). – 5) Unterschrift: „Marie Taglioni als Sylphide“. Schoeller del. And. Geiger sc. Costumblatt zur „Theater- Zeitung“, Nr. 67 (4°.). – 6) Unterschrift: „Marie Taglioni als Sylphide“. Gezeichnet von Joh. Nep. Geiger. Lithographirt von F. Herr (L. T. Neumann in Wien. Fol., das schönste Bildniß der Tänzerin und heute schon sehr selten). – 7) Unterschrift: „Marie Taglioni (rôle de la Sylphide) Paris chez Rittner et Goupil. Imp. de Lemercier (Fol.). Darunter in Handschrift die Verse von Mery: „J’avais dit: peignez-moi la reine des amours | L’attrayante Thalie, Hébé jeune toujours | Flore d’un pas léger effleurant la prairie | En fuyant du zéphir les doux embrassemous | Mais le peintre inspiré par tant d’objets charmans | Vint naître sous ses doigts le portrait de Marie“. – 8) Als Sylphide gezeichnet von Deveri, lith. von Sontag (Wien, Paterno, 4°.). – 9) Als Sylphide. A. de Valentine pxt. H. S. Ball sc. 1842 (Fol.). – 10) Als Sylphide. A. E. Chalon del. R. J. Lane lithogr. 1836 (Fol.). – 11) Unterschrift: „Marie Taglioni als Gitana“. Lith. von Blau. Ged. bei J. Rauh (Verlag und Eigenthum von L. T. Neumann in Wien, Fol.) – 12) Lithographie von Pobuda. In Lewald’s „Europa“ (gr. 8°.). – 13) Holzschnitt von Smyth. In den „London illustrated News“. Die Tänzerin, umgeben von Tanzattituden. Genien und Emblemen (Fol.). – Der berühmte Schiavoni hat ihr Bild in Oel gemalt. Es befindet sich in einem der Paläste der Tänzerin in Venedig.
Die Taglioni-Statuette. Sie stellt die Tänzerin als Diana im Ballet „Endymion“ vor, wie die Göttin vor dem schlafenden Jüngling, [21] an diesen Felsenlager Cupido kniet, mit ihrer Hindin erscheint. Die in Silber getriebene Statue von einer Anzahl ihrer Bewunderer in London bestellt, wurde von Herrn Cotterell ausgeführt. Sie kostete 300 Guineen und wurde der Tänzerin zum Andenken an die Saison 1843, in welcher sie im Ballete „Endymion“ getanzt hatte. überreicht.
Das Album der Taglioni. Dasselbe ist ebenso einzig in seiner Art, wie jenes der berühmten Rossi-Sonntag, dessen im XLVII. Bande, S. 79, gedacht wurde. Es enthält Blätter mit musikalischen Improvisationen von Meyerbeer, Rossini, Spontini, Thalberg, Donizetti u. A., Originalverse von Sue, Alphons Karr, den Damen Girardin, Dudevant (George Sand) u. A., Zeichnungen von den Malern Delaroche, Ary Scheffer, Vernet, Johannot, Dantan; ein russischer Künstler zeichnete auf einem Blatte ein winziges zierlich gewachsenes, mit Atlas chaussirtes Füßchen, welches sich auf die Zehenspitze stellt, indeß das Bein sich unter Wolken verliert, darunter steht: „Pourquoi chausser un aile?“. Auf das letzte Auftreten Marie Taglioni’s am französischen Operntheater. im sogenannten pas de l’ombre, schrieb Alfred de Musset, der Letzte im Album, folgende Verse: „Si vous ne Boulez pas Danzer | Si vous ne faites que passet | Dans ce grand théâtre si sommre | Ne cour ez pas après votre ombra | Tachezi de nous la laissé“.