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Artikel „Zunz, Leopold“ von David Kaufmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 45 (1900), S. 490–501, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Zunz,_Leopold&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 22:09 Uhr UTC)
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Zunz: Leopold Z., der Schöpfer und Meister der Wissenschaft des Judenthums, ist am 10. August 1794 zu Detmold geboren. Der von dem Städtchen am Rhein hergenommene Name seines Geschlechtes, das besonders in Frankfurt am Main ausgebreitet war und in lückenloser Abfolge durch mehr als drei Jahrhunderte zurück urkundlich verfolgt werden kann, ist durch eine [491] Anzahl berühmter Träger in der Geschichte des Rabbinates und der jüdischen Litteratur vertreten. Aber es war nur ein innerliches, geistiges Erbe, das dem Knaben mit dieser Abstammung verliehen war. Dürftiger und schwächlicher Eltern Kind, kam er scheinbar leblos und mit einer Zwillingsschwester zur Welt, die bereits nach einem Jahre verstarb. Nur ebensoweit brachte es eine andere Schwester, ein Bruder vollends nur zu sechs Monaten, so daß von fünf Geschwistern nur zwei groß wurden. Als Z. ein Jahr alt war, verließen die Eltern Detmold, um nach Hamburg zu übersiedeln. Bald aber zwang auch ein Lungenleiden den sehr unterrichteten Vater die Lehrerstelle, die er an einem Lehrhause (Bethha-Midrasch) übernommen hatte, aufzugeben und einem kleinen Specereihandel sich zuzuwenden. Der Vater war sein erster Lehrer in hebräischer Grammatik, Pentateuch und Jüdisch-Schreiben. Fünf Jahre alt, begann er, Talmud zu lernen. Z. erinnerte sich noch an seine ersten Kindheitsjahre, an 1798 und mit heller Deutlichkeit an 1799, wie es ihm vorkam, daß ein Mann vom Monde herabstieg, als Bonaparte nach Aegypten ging. Zu den ältesten Melodieen, die sich dem Kinde einprägten, gehört die der Marseillaise. Die ersten Bildnisse, die in seinem Gedächtnisse haften blieben, waren die in der Wohnung seiner Eltern hängenden von Bonaparte, Nelson und Suworow. An einem Sonnabend Nachmittag, am 3. Juli 1802, der Knabe spielte gerade mit den Kindern im Hause Mose Fränkel’s, starb der Vater, kaum 43 Jahre alt. Damit war auch der spärliche Lichtschimmer von Kinderglück, der Z. gegönnt war, für immer erloschen. Es mußte der Mutter noch ein Trost sein, daß die am 4. Juni 1786 von Philipp Samson errichtete Lehranstalt zu Wolfenbüttel, die Samson’sche Freischule, den Knaben aufnahm. Am 1. Juli 1803 verließ er Hamburg und die Mutter, die er in diesem Leben nicht wieder sehen sollte. Von seinem Onkel Salomon Berends begleitet, kam er am 3. Juni nach fünfstündiger Fußwanderung von Braunschweig nach dem Orte seiner Bestimmung. Früh geweckt und die reichsten Anlagen verrathend, wurde er doch erst 1807, als am 31. März S. M. Ehrenberg, der väterliche Freund und Leitstern, der seiner Jugend geleuchtet, die Führung und Reorganisation der Schule übernahm, methodisch unterrichtet. 1805 hatte er bereits ein selbständiges Buch, die Auflösungen zu Hemeling’s kleinem Rechenbuch unternommen, 1806 die scharfe Satire, die ihm eigen war, in einer hebräischen Schrift verrathen, die Lehrer und Schüler durchhechelte und zur Strafe ins Feuer wandern mußte. Die Wandlung, die mit dem Eintritte Ehrenberg’s sich in dem Knaben vollzog, war so mächtig, daß Ehrenberg in einem Verzeichniß der Zöglinge für J. H. Samson sagen konnte: „L. Z., ein in allen Fächern des Wissens sich auszeichnender Kopf oder vielmehr ein Genie. Vorzügliches aber leistet er in der hebr. Sprache und in der Mathematik. Bis zu 1807 war er ausgelassen, wild und unordentlich; in seinem Temperament war das sanguinisch-cholerische vorherrschend, er hatte sich aber so in seiner Gewalt, daß er von 1807 an ordentlich und dem äußern nach gesitteter wurde, und daß man ihn späterhin sogar für höchst phlegmatisch hielt“. Ehrenberg wurde in Religion, Französisch, Geschichte, Geographie und deutschen Uebungen sein Lehrer. Z. warf sich jetzt mit Feuereifer auf deutsche Lectüre; die 12 Bände von Felix Weiße’s Kinderfreund las er in den Jahren 1807–8 drei Mal durch. Am 1. April 1809 konnte er in die Prima der hohen Schule zu Wolfenbüttel aufgenommen werden, der erste Jude, der diese Anstalt besuchte. Von jener Zeit, er war noch nicht 15 Jahre alt, beginnt auch seine selbständige Erhaltung. Da er als Freischüler sonst die Schule 1809 hätte verlassen müssen, begann er an ihr Unterricht zu ertheilen. um weiter darin zu verbleiben. Am 9. November 1809 starb ihm in Hamburg die Mutter, 36 Jahre alt. Als am 17. Juli 1810 in Seesen der Tempel eingeweiht [492] wurde, konnte Ehrenberg, der dorthin reiste, bereits ruhig die Oberaufsicht der Schule Z. anvertrauen. Neben den Arbeiten für die hohe Schule, an der ihn Algebra und Optik besonders fesselten, beschäftigten ihn unter Ehrenberg’s Leitung geschichtliche, ästhetische und naturwissenschaftliche Uebersetzungen ins Hebräische, die wir ihn bis 1849 aufbewahren sehen, wo er diese Hefte bis auf zwei vernichtete. Im Sommer 1811 sah er zuerst J. Chr. Wolf’s Bibliotheca Hebreae, aus deren mächtigen vier Quartbänden, bestimmungsvoll für sein ganzes Leben, er sich Excerpte machte. Ein Buch in Briefen, das Anacharsis’ Reisen in Palästina und Griechenland umfassen sollte, fällt noch in die Schulzeit. Theile daraus wurden in Prima verlesen. October 1811 verließ er die hohe Schule. Seine Ausbildung im Zeichnen, im Englischen und in Musik füllt neben dem Unterricht an der Schule seine Zeit aus. Dankbar gedachte er nachmals der Gespräche mit der Leihbibliotheksinhaberin Mad. Albrecht, die von förderndem Einflusse auf seine ästhetische Bildung waren. Sein Verkehr mit Menschen außer der Anstalt begann erst 1814. Die Absicht, die Universität zu beziehen, die ihn 1813 und 1814 vergeblich ausfüllte, konnte er erst 1815 verwirklichen. Am 24. September schrieb Ehrenberg an Jost, Zunzens einstigen Mitschüler, daß er Z. „mit nassem Blicke nachsehe“. Am 25. September verließ Z., von Ehrenberg bis Braunschweig begleitet, Wolfenbüttel: Donnerstag, den 12. October 1815 sehen wir ihn in Berlin eintreffen. Sein erster Besuch galt dem ihm verwandten Ruben Samuel Gumpertz, in dessen angesehenem Hause er sorglos hätte leben können, wenn sein unabhängiger Sinn es nicht vorgezogen haben würde, sein Brot durch Unterricht im Hause Hertz selbständig zu verdienen. Rector der Universität war Schleiermacher. Im Wintersemester 1815/6 hörte er Logik bei Solger, Geschichte bei Rühs, Platon’s Republik bei Boeckh, griechische Alterthümer bei Fr. A. Wolf und Kegelschnitte bei Gruson. Während er Solger, der ihn langweilt, und Rühs, weil er gegen die Juden schreibt, verläßt, fühlt er von Boeckh sich belehrt, von Wolf sich vollends angezogen. Damals bildeten Tönnies und Heyse seinen Umgang. Im April und Mai 1816 hörte er philologische Encyklopädie bei Boeckh, naturhistorische bei Link, Daniel bei de Wette, privatim Syrisch treibend. Im Winter 1816/17 läßt er sich von Wolf in die griechische Litteratur, von Boeckh in die Geschichte der griechischen Philosophie und von de Wette’s Einleitung in das A. T. einführen. De Wette trat er damals auch bei häufigen Besuchen persönlich näher. Das Sommersemester 1817 gehört der Einleitung in die Institutionen des römischen Rechts bei Savigny, den römischen Alterthümern bei Wolf, der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Tralles und dem Arabischen bei Wilken. Am 26. Juli 1817 erscheint sein erster Aufsatz in Gubitz’ Gesellschafter. Neben schöngeistigen und poetischen Bestrebungen, von denen zahlreiche Proben erscheinen, treibt er Samaritanisch und Polnisch und copirt die hebräische Handschrift von Schemtob Ibn Falaquera’s „Buche der Stufen“. Im August d. J. schreibt er die erste Predigt. Unmerklich war er über philologischen und mathematischen Studien, wie von einem Daimonion getrieben, zur jüdischen Litteratur zurückgekehrt, auf die er jetzt, wie mit neuerwecktem Geiste und geschärftem Blicke voll feuriger Gier sich warf. Am 30. November hatte ihm David b. Aron aus Polen, wie um seine Gluth zu schüren, Handschriften aus Constantinopel, Adrianopel, Saloniki und Safed gezeigt. Der December 1817 gehörte der Ausarbeitung der Schrift, die wie ein Heroldsruf die Entdeckung seines neuen Arbeitsfeldes, die Erweckung der jüdischen Wissenschaft verkünden sollte: „Etwas über die rabbinische Litteratur“, die 1818 in der Maurer’schen Buchhandlung in Berlin erschien. Der Entdecker des neuen Gebietes, der hier mit so viel entschlossenem Muthe und frühwachem Geiste seine Grenzen absteckte, verräth bereits alle Eigenschaften, [493] die ihn dereinst zu dessen Beherrscher und berufenstem Pfleger weihen werden. Gleichwol sehen wir ihn im Wintersemester 1817/18 unentwegt seine Studien an der Universität fortsetzen, Encyklopädie der Alterthumswissenschaft bei Wolf und Astronomie bei Bode hören. Am 28. März 1818 verläßt er die Stelle bei Mad. Hertz, um auf einer größeren Reise die Stätten seiner Heimath und Kindheit wiederzusehn. Am 14. April kam er nach Seesen. In Göttingen besuchte er Eichhorn und Gauß. Am 14. Mai sah er Detmold und damit zum ersten Male seinen Geburtsort. Die Predigerstelle am Hamburger Tempel, um die er auf das Drängen einiger Freunde sich bewarb, sollte ihm nicht zu Theil werden; er war von der Concurrenz aus Freundschaft für Büschenthal sofort zurückgetreten. Im Juni kehrte er zum Kampfe um das tägliche Brot nach Berlin zurück, wo er in Latein, Deutsch und Mathematik wieder Privatunterricht ertheilte, bei Boeckh Tacitus hörte und sich mit Chronologie und Differentialrechnung beschäftigte. Im Winter 1818/19 hörte er bei F. A. Wolf Einleitung in Herodot, in den ersten Sommermonaten 1819 Herodot bei Wolf, Arabisch bei Wilken, daneben viel mit deutschen Sprachstudien und mit dem Holländischen sich befassend. Obzwar er bereits 1819 seine philosophischen Studien in Berlin „aufs Rühmlichste“ beendet hatte, wurde er doch erst am 2. Januar 1821 von der philosophischen Facultät Halle zum Doctor promovirt. Aber längst vor diesem äußeren Abschlusse seiner akademischen Laufbahn war sowol in seinem engeren Freundeskreise als weithin in der Oeffentlichkeit sein Name und sein Ansehen fest begründet. Als am 7. November 1819 dank einer Anregung von Eduard Gans in der Wohnung von J. A. List der Verein für Cultur und Wissenschaft des Judenthums gegründet wurde, war Z. alsbald sein eigentlicher Mittelpunkt, dem man später auch die Redaction der Zeitschrift anvertraute. Auf das Betreiben seines Gönners R. S. Gumpertz durfte er am 20. Mai 1820 im Beer’schen Tempel, seit 1815 der neuen Synagoge von Berlin, seine erste Predigt halten, der er bald weitere unbesoldete und um so prophetischer glühende Versuche folgen ließ, die er nur durch Gastpredigten während der Leipziger Messe vom 27. September bis zum 7. October unterbrach. Seine feste Anstellung am Berliner Tempel erfolgte aber doch erst geraume Zeit später, so daß er erst am 16. October mit Adelheid Beermann, die ihm seit dem 21. Mai versprochen war, sich öffentlich zu verloben wagte. Aber schon am 13. September 1822 sehen wir ihn nach schweren Enttäuschungen und Kränkungen ein Amt niederlegen, das mit seiner Begeisterung und Religiosität wie mit seinem Geradsinn und Mannesmuthe ihm unerträglich schien. Obschon seit dem 9. Mai verheirathet und bei seiner Mittellosigkeit durch die Gründung eines Hausstandes scheinbar in Abhängigkeit gerathen, scheute er sich keinen Augenblick, ein Opfer zu bringen, das seine Ueberzeugung von ihm forderte, der Zustimmung der ihm an Geist und Charakter ebenbürtigen Lebensgefährtin von vornherein sicher. Sein Trost und sein Wirkungsfeld blieb der Verein, der nachmals noch Heinrich Heine anzog und fesselte. In der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums, die es freilich nur zu einem Bande brachte, erschien eine ausgereifte Frucht seiner Concentration nach der anderen, wie die über die in den hebräisch-jüdischen Schriften vorkommenden hispanischen (und provençalischen) Ortsnamen, die bahnbrechende Lebensbeschreibung Salomon b. Isak gen. Raschi’s und die selbst heute noch richtunggebenden Grundlinien zu einer künftigen Statistik der Juden. Im April 1823 erschienen die Predigten, gehalten in der neuen israelit. Synagoge zu Berlin, ein classisches Denkmal der Vollendung, mit der die jüdische Kanzelberedsamkeit mit der deutschen Sprache und Bildung sich erfüllt hatte, das jedoch damals in keiner Zeitung angezeigt werden durfte. Folgte doch am 3. März 1824 das preußische Decret, das den [494] Juden jede Neuerung in Cultusangelegenheiten untersagte und Mannheimer veranlaßte, am 15. März von Berlin abzureisen. Vor Noth war Z. dadurch bewahrt, daß ihn Spener am 22. December 1823 zum Redacteur der Haude und Spener’schen Zeitung ernannte. Die Nachmittagsstunden blieben weiter dem Privatunterricht gewidmet. Erst am 3. Januar 1826, als Z. die feierliche Eröffnung und die Direction der Gemeindeschule übernahm, schien seine Lage sich definitiv zu bessern. Aber nach kaum vier Jahre langer Leitung sah er wiederum ohne jede Rücksicht auf seine persönliche Einbuße, durch Mißstände, deren Heilung nicht in seiner Hand lag, sich gezwungen, dem Vorstande zu kündigen. Wol verlieh man ihm eine Stelle im neuen Curatorium der Gemeindeschule Thalmud-Thora, wie sie fortan heißen sollte, aber die schweren Nahrungssorgen, die jetzt wieder auf ihn drückten, vermochte kein Titel zu erleichtern. Dazu kam noch die Unzufriedenheit mit seiner Stellung bei der Spener’schen Zeitung, bei der er täglich die Durchsicht von 11 französischen, 2 englischen, 2 römischen und 12 deutschen Zeitungen zu bewältigen hatte. Unverdrossen würde er aber auch dieses Geschäft fortgesetzt haben, wenn die Richtung des Blattes ihn nicht Ende Juni 1831, also nach kaum achtjähriger Verbindung mit dem Blatte, gezwungen hätte, seine Stelle als Redacteur niederzulegen. Damals hatten nämlich bereits die freiheitlich begeisterten Zusammenkünfte und politischen Redeübungen mit Jos. Lehmann, Heydemann I, M. Veit, Poley, Matthias, Ag. Benary, M. Moser und Lebrecht begonnen. Aber wie immer ein Niedergang in seiner materiellen Lage mit einer Erhebung und Protuberanz seiner geistigen Macht zusammenfiel, so sollte das Jahr 1831, in dem all seine Brotstützen zusammenbrachen, den Gipfel seines Ruhmes durch die Herausgabe der „Gottesdienstlichen Vorträge“ bezeichnen, die er am 15. October begann, um sie am 21. Juli 1832 erscheinen zu lassen. Die mageren Jahre seiner Mittel- und oft selbst Subsistenzlosigkeit waren von einer geistigen Sammlung, Vorbereitung und Reife erfüllt, die eine Frucht von der höchsten Vollkommenheit zeitigen mußten. Schon 1825 hatte er den Entwurf zu einem aus vier Abtheilungen bestehenden Buche über die Wissenschaft des Judenthums fertiggestellt. Montag am 25. August 1828 war ihm das Glück des ersten Besuches der damals noch in Hamburg befindlichen Oppenheimer’schen Bibliothek zu Theil geworden, zu der er nachmals nach Oxford pilgern sollte. 1829 hatte er die Absicht, eine Einleitung in die Wissenschaft des Judenthums zu schreiben. Damals war er zum Behufe einer Unterhandlung über dieses Buch von H. Heine, mit dem er schon 1825 nach Göttingen correspondirte, bei Cotta eingeführt worden. Aber erst jetzt war mit den Gottesdienstlichen Vorträgen ein Plan in ihm zur Reife gekommen, der eine litterarische und eine geschichtliche That, eine schulende und eine erziehliche Wirksamkeit zu vereinigen, die Wissenschaft zu fördern und dem Leben zu dienen zugleich berufen war. Was er da als eine historische Institution des Judenthums seit den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart in seinen litterarischen Denkmälern und Einflüssen, in seinen Formen und Einrichtungen nachzuweisen unternahm, das hatte die Synagoge sich entwinden lassen, so daß man es allgemein als eine spätere nicht jüdische Errungenschaft anzusehen sich gewöhnt hatte. Es war ein Ereigniß, das diesmal der Büchermarkt brachte. Für die Hauptsache, in der kritischen Feststellung für die Entstehungszeit der wichtigsten Quellen und Denkmäler der jüdischen Predigt, der Midraschim, ohne Vorarbeit, überall auf die eigene Scharfsicht und Witterung angewiesen, hatte Z. in einem unglaublich kurzen Zeitraume eine Litteratur gemustert und durchleuchtet, nach Zeiten, Entstehungsorten und Richtungen geschieden, die weit über zwei Jahrtausende sich erstreckte und ein unüberwindlich mächtiges Material umfaßte. Mit Einem Schlage hatte die noch kaum erstandene [495] jüdische Wissenschaft ein Meisterwerk aufzuweisen, das sie gleichberechtigt in den Kreis der Wissenschaften einführte. Bahnbrechend in der Methode, zuverlässig in den Ergebnissen, in der Form glänzend, klar und nüchtern, dabei erwärmend und hinreißend im Vortrag, war hier ein Buch zu Tage getreten, das Schule stiftete und eine Gemeinde um sich scharte, die von hier ihre geistigen Antriebe und das richtunggebende Beispiel empfing. In der frischen Begeisterung über diese glanzvolle Leistung hat Gfrörer das Wort geäußert, daß seit den Tagen Spinoza’s keine größere von einem Juden ausgegangen sei. An den äußeren Verhältnissen des Verfassers sollte aber das staunenswerthe Werk, das nachmals auf mehr als das Zehnfache seines ursprünglichen Preises stieg, freilich wenig verändern. Eine Reise, auf der er im September in Hamburg die wissenschaftlich so fruchtbare Verbindung mit dem Besitzer und Kenner reicher Handschriftenschätze H. J. Michael anknüpfte, war der einzige Lohn, den er nach der seit dem August 1829 ihn ganz in Athem haltenden Arbeit sich gönnte. Allein Sorgen, wie er sie nie gekannt hatte, empfingen ihn bei der Rückkunft in Berlin. Eine Aussicht auf das Directorat des Ephraimstiftes, die ihm von Eberty und Dr. Rubo eröffnet wurde, war geschwunden. Der Verfasser der Gottesdienstlichen Vorträge suchte eine Buchhalterstelle, aber vergebens. Am 3. Januar 1833 sehen wir ihn Prof. Gans eine Anzeige fürs schwarze Brett bringen, in der er sich zum Privatunterricht im Hebräischen, Chaldäischen, Rabbinischen und in der Mathematik anbot. Einige Lehrstunden wöchentlich, die er vom 4. Febr. an in der Bodenstube des Ephraim-Stiftes ertheilen durfte, waren von kurzer Dauer. Vergebens auch hatte der unabhängige Mann es lernen wollen, sich zu demüthigen, und auf das Drängen der Freunde um das Rabbinat von Darmstadt sich beworben, zu dem ihm Ahron Chorin die Autorisation verlieh, vergebens hatte ihn Gabriel Riesser in seiner Empfehlung vom 9. October 1833 als einen Mann gepriesen, „welcher sich nach dem Urtheile der Sachkenner als der Erste seiner Zeit im Fache der jüdischen Litteratur und der Kenntniß des Judenthums bewährt hat“; Kränkung und Zurückweisung waren die einzige Frucht seiner Bewerbung. Tief verstimmt und verletzt, war er 1834 nicht mehr dazu zu bewegen, um die Rabbinerstelle in Kassel sich zu bewerben. „Lieber will ich fortfahren, schrieb er am 20. Nov. 1834, ärmlich und nebenbei nützlich für die Wissenschaft zu leben, als meine Muße und Ruhe so nutzlos vergeuden“. Nur der Gumpertz’sche Kreis – seit dem 26. Januar 1833 versammelten regelmäßig die Gumpertz-Sabbate die Freunde um Z. wie um ihren Mittelpunkt – blieb nach wie vor ihm Halt und Stütze. Vorlesungen über die Psalmen, die er 1835 ankündigte, zeigten ihm in der Zahl, Bedeutung und Ausdauer seiner Hörer, zu denen Männer wie Prof. Gans, der 80jährige Bellermann, M. Sachs, Zedner, Moser und Gumpertz gehörten, daß eine Gemeinde erlesener Freunde bereits treu und begeistert auf seiner Seite stand. Dem moralischen Erfolge schien jetzt sogar der materielle sich anschließen zu wollen. Eine ehrenvolle Berufung nach Prag als Prediger des Vereins des verbesserten Gottesdienstes verhieß Anfangs 1835 endlich eine feste und sorgenfreie würdige Lebensstellung. Aber die schwerste Enttäuschung zertrümmerte gleich bei seinem Eintritte in Prag am 16. September die Hoffnungen, um derentwillen er den schweren Entschluß, Berlin und die Freunde zu verlassen, sich abgerungen hatte. Es war nur ein kleiner Kreis, der ihm Verständniß und glühende Begeisterung entgegenbrachte, die Mehrzahl war zu stumpf oder zu unwissend, um ihn zu begreifen. Er vermißte hier „Wissenschaft, Menschen, Bücher, Zeitungen und Freiheit“. Es muthete ihn hier Alles so chinesisch versteinert und zurückgeblieben an, daß schon nach 50 Tagen als einzige Rettung die Rückkehr ihm übrig schien. Fremd und unverstanden, verkannt und enttäuscht, sehnte er sich hinweg, durch die [496] eigene Unzufriedenheit die der Umgebung weckend und mehrend. Seine Eigenschaften galten als Eigenheiten, sein fester und eigener Sinn für Eigensinn, eine Versöhnung der Gegensätze war auch von der Zeit nicht zu erhoffen. So kündigte er denn bereits am 1. Januar 1836 seine Stelle, glücklich, am 8. Juli wieder Berlin zu betreten und die Episode von Prag wie einen bösen Traum vergessen zu dürfen. Schon am 5. August winkte ihm neuer Trost von seiner Wissenschaft her. Eine königliche Cabinetsordre hatte den Juden die Führung sog. christlicher Namen untersagt. In dieser Noth erinnerte sich der Vorstand der jüdischen Gemeinde in Berlin des größten Kenners der jüdischen Alterthümer in seiner Mitte; Z. sollte in einem Gutachten die Geschichte der Namen unter den Juden beleuchten. Schon am 7. December erschien das Büchlein: „Die Namen der Juden“, wiederum ein Stück Leben, eine praktische That, nicht ein Triumph des Wissens, ein antiquarisches Glanzstück allein. Was man den Juden hatte bestreiten wollen, war hier als ihr uralter eigenster Besitz erwiesen; was wie eine Neuerung von gestern verhöhnt und gemaßregelt worden war, lag als Erbe der Jahrhunderte klar zu Tage. Man empfand da greiflich die Macht und Wohlthat der Wissenschaft. Des Rühmens war kein Ende; Varnhagen, der, wie seine Tagebücher berichten, mit Z. in so regem und innigem Verkehre stand, und Alexander v. Humboldt, den Z. am 13. Februar 1837 auch besuchte, stimmten brieflich in die allgemeine Bewunderung ein. Die Beziehung zur Gemeinde sollte auch von nützlichen Folgen für Z. begleitet sein. Schon am 31. Juli 1837 wurde ihm die Mittheilung gemacht, daß man ihm die Directorstelle des neu zu errichtenden Lehrerseminars zugedacht habe. Wol währte es bis zum 18. November 1840, ehe es zur feierlichen Eröffnung der neuen Anstalt kam, aber diesmal wurde wenigstens die Zusage eingehalten; Z. übernahm die Leitung des Lehrerseminars. Seine Muße beschäftigten bis dahin weitausgreifende wissenschaftliche Pläne, 1838 ganz besonders die Herausgabe der deutschen Uebersetzung der 24 Bücher der h. Schrift, mit deren Leitung er betraut war und zu der er selbständig die Uebertragung der Chronik beisteuerte. Beiträge in Zeitschriften und zu den Werken Anderer zeugten dafür, daß sein Ruf und Ansehen bereits in weite Kreise und entfernte Länder gedrungen war. Die feste Stellung sicherte ihm jetzt die Sammlung für umfassendere Arbeiten. Mit den aufregenden und zersplitternden Bewerbungen war es nun für immer vorbei, Anträge und Aufforderungen sich zu Stellen empfehlen zu lassen, hatte er, wie er in sein Tagebuch eintrug, zwischen 1818 und 1837 erhalten von Bielefeld, Frankfurt a/M., Darmstadt, Kassel, Hamburg (1820), Krefeld (1835), Pest, Brüssel, Gothenburg, Metz (1836, 24. Oct.) und Newyork (1833). Jetzt war er dauernd an sein Berlin geknüpft; ein Jahrzehnt der Ruhe und Sicherheit brach für ihn an. Das erste Zeugniß von der Ausdehnung und der Tiefe der Studien, denen er unentwegt in all den Jahren seiner Unrast wie seiner Sammlung sich hingegeben hatte, brachte 1845 das Werk, das den bezeichnenden Titel trug: „Zur Geschichte und Litteratur“. Es war die noch nicht für universitätsfähig erklärte, von der alma mater der Forschung noch stiefmütterlich ferngehaltene jüdische Wissenschaft, die hier ihre Berechtigung zum Eintritt in den Kreis der Wissenschaften nachwies und ihre Aufnahme forderte. Die Litteraturgeschichte und die Bibliographie, die Ethik und Cultur der Juden im Mittelalter erfuhren hier eine neue und überraschende Beleuchtung. Ganze Capitel in der Geschichte, die bisher der Bearbeitung völlig entbehrt hatten, waren in erschöpfender und glänzender Behandlung zur Darstellung gelangt. Gebiete, von denen man keine Ahnung, geschweige eine Kenntniß hatte, traten ins Licht, eine Saat voll Frucht und Ertrag war aus einem Boden aufgestiegen, den die Wissenschaft noch niemals als ihren Acker betrachtet oder gar bebaut [497] hatte. „Bei Sachkundigen, schrieb mit Recht das Serapeum 1846, S. 45, gilt Z. für den Boeckh, Grimm und Schaffarik seines Gebietes; wer wie Z. nicht nur die ersten Grundsteine zu einer Wissenschaft gelegt, sondern auch die Kelle in der einen, das Schwert in der anderen Hand, unermüdet daran fortbaut, kann des Diploms der Akademieen und des Lehrstuhls der Universitäten entrathen.“ Schulend und bahnbrechend zugleich, lehrte dieses Buch von neuem, wie die scheinbar auseinanderfallenden Einzelnheiten der gelehrten Forschungsergebnisse unter der Meisterhand eines großen Bearbeiters zu einem organischen und lebendigen Ganzen sich zusammenfügen. Das waren nicht Notizen, die der Fleiß allein zusammengetragen, sondern ein tiefdringendes Auge als Züge eines Bildes der Vergangenheit erkannt hatte. Nie hat mehr als von diesem Buche das Wort gegolten, daß Lehrs (Populäre Aufsätze 2, 486) von Lobeck gegen diejenigen äußert, die von ihm nur zu sagen wußten, „er sei ein gewissenhafter, möglichst vollständiger Darsteller des weit zerstreuten Stoffes“: „Denn fürs Erste läßt sich der Stoff in keiner wissenschaftlichen Frage vollständig sammeln, ohne den genialen Tact, welcher für sein Thema da bedeutende, ja die bedeutendsten Belege, da das bedeutendste Material entdeckt, wo der gewissenhafte Sammler noch gar keine Beziehung ahndet und mit sogenannten ‚classischen Stellen‘ zu Werke geht: leider noch immer gewöhnlich genug und lächerlich mehr als genug; sodann, weil ohne die Gabe, welche den Menschen selten, den Gelehrten seltener vergönnt ist, die Kritik, d. h. nämlich Gabe des Urtheils und Kunst des Urtheilens, jene gewissenhafte Anhäufung immer nur eine Anhäufung bleibt, der gegenüber es nur eine Gewissenhaftigkeit giebt, sie ja nicht zu benutzen.“ In diesem Buche war infolge der Vielseitigkeit, die es bekundete, mehr noch als durch die Gottesdienstlichen Vorträge der Beweis erbracht, daß Z. auf allen Gebieten der jüdischen Litteraturgeschichte zum Meister herangereift war, was auch die Vorlesungen, die er 1842 vor einem ausgewählten Kreise darüber hielt, glänzend bekundeten. Allein die Vielseitigkeit des Mannes sollte bald an ungeahnten Aufgaben, auf andern Schauplätzen sich bethätigen. Der Traum der nach Freiheit dürstenden Seelen schien sich zu verwirklichen. In den Frühlingsstürmen von 1848 vernahm man das Brausen einer neuen Zeit, die Heilsbotschaft alles Völkerglücks. Die Rede, in der Z. die Märzgefallenen von Berlin in feurigen Dithyramben verherrlichte, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn. Der stille, weltvergessene Gelehrte war aus seiner Klause herausgetreten und stand auf einmal im Vordergrunde der politischen Kämpfe Berlins. Am 1. Mai ward er bereits vom 110. Wahlbezirk zum Wahlmann sowol für die preußische als für die deutsche Nationalversammlung gewählt. Eine seltene Fertigkeit im Gebrauche des freien Wortes, das die Vorzüge seines Geistes, Klarheit und Schärfe, vereinigte, Sicherheit und Schnelligkeit in der Beantwortung aller in den Versammlungen auftauchenden Fragen, Witz und Unerschrockenheit machten Z. bald zu einer bekannten und beliebten Gestalt in der Bewegung jener Tage. Reden in den Wahlmännerversammlungen, Vorträge in Vereinen, Theilnahme an politischen Besprechungen nahmen ihn damals völlig in Anspruch. Am 9. August 1849 wurde er im 8. Berliner Volksverein zum Stellvertreter des Präsidenten, am 4. October zum Vorsitzenden gewählt. Am 6. November ward ihm die Gedächtnißrede auf Robert Blum übertragen. Obzwar seine Weigerung zur Uebernahme einer Führerrolle bekannt war, hatte am 27. Februar 1850 dennoch wenig gefehlt, um Z. zum Vorsteher der Berliner Volkspartei gewählt aus der Urne hervorgehen zu lassen. Eine gleich eifrige Thätigkeit sehen wir ihn zur selben Zeit im Schooße der jüdischen Gemeinde entfalten, für deren geregelte Verwaltung er in Wort und Schrift eintrat. Es [498] war die Zeit, in der auch für die Juden Preußens der Morgen der Gleichberechtigung anzubrechen schien. Besprechungen mit Brüggemann, mit dem Prinzen von Schönaich-Carolath, mit dem Fürsten Lichnowski und anderen führenden Persönlichkeiten, die schon 1847 seine Aufklärungen für den Gesetzentwurf über die jüdischen Verhältnisse suchten, waren nur ein neuer Beweis dafür, daß man innen und außen sein geistiges Uebergewicht voll erkannt hatte. Er war längst über seine Stellung hinausgewachsen und mit dem Gedanken versöhnt, da ihm ein seinen Kräften entsprechender Wirkungskreis versagt blieb, ohne Amt rein seinem inneren Berufe zu leben. Am 25. Februar 1850 beschloß er den Unterricht am Lehrerseminar. Ein kleines Ehrengehalt der Gemeinde Berlin war das Einzige, was ihn an seine frühere Beziehung zum Vorstande erinnerte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Lebensaufgabe, die er bereits 1837 in klaren Umrissen erkannt und sich gestellt hatte, mit ungehemmtem Feuereifer zur Ausführung zu bringen. Für die Hebung und Läuterung des jüdischen Cultus begeistert, war er zum Studium der Geschichte seiner Institutionen fortgerissen worden. Die erschöpfende Darstellung, die er 1832 von der Entwicklung der Gottesdienstlichen Vorträge geliefert hatte, war nur ein Theil des Planes, der sein Herz und seine Seele ergriffen hatte. Es blieb noch der größere Theil der Aufgabe zu lösen, die Geschichte der Gebete, der Hymnen wie der Bußlieder nach den Gestaltungen des Gottesdienstes, nach den so abwechslungsreichen Riten der verschiedenen Länder. Zerstreut und vielseitig wie die Erscheinung waren ihre litterarischen Quellen. Ueber die öffentlichen und privaten Bibliotheken in zahllosen Handschriften verbreitet, scheint schon der Stoff in seiner Mächtigkeit und Unzugänglichkeit ein unüberwindliches Hinderniß dem Forscher entgegenzustellen. Aber auch das gedruckte Material ist nicht minder abschreckend und von fast unübersteiglichen Schwierigkeiten umlagert. Hier war jeder Schritt zu erkämpfen, jeder Fußbreit des Gebietes zu erobern. Nur Verbindungen mit den verschiedensten Ländern, die Organisirung eines völligen buchhändlerischen Dienstes, Correspondenzen, Käufe und Reisen konnten hier zum Ziele führen. Am 13. Mai 1830 hatte er das erste Bußritual ed. London erworben. Seither bildete die Erwerbung der Gebetslitteratur, die nur Stück um Stück mit entsagender, auf den Zufall lauernder Geduld zusammengebracht werden konnte, den Gegenstand seiner unablässigen Aufmerksamkeit und bei aller Enge seiner Verhältnisse freudigen Opferfähigkeit. Eine Reise zu den Handschriftenschätzen von Paris und Oxford hatte ihm schon 1834 als unerreichbare Sehnsucht vorgeschwebt. Im September 1846 war ihm die erste Wallfahrt zu den Quellen des Britischen Museums vergönnt gewesen. Immer klarer traten die Umrisse des Werkes in seinem Geiste hervor, das die ganze Hymnologie, alle Gebiete der synagogalen Poesie mit ihren Gestaltungen in den verschiedenen Riten umspannen sollte, immer reifer wurde die Ueberzeugung, daß der unermeßliche Stoff nicht in Einem Buche zu bewältigen sein würde. So entschloß sich denn Z. zu einer Scheidung der Aufgaben. Die Geschichte der Dichtungen sollte der der Dichter vorangehen. Am 2. März 1855 erschien die „Synagogale Poesie des Mittelalters“. Die Entwicklungsgeschichte der Dichtungsarten und ihrer innern und äußern Form, die Schilderung ihrer Bedingungen und des Bodens ihrer Entstehung, ein erschütterndes Bild der Leiden, die all die thränenreichen Klagen hervorgetrieben haben, die Betrachtung des Nachlebens, der Fortbildung der in diesem Schriftthum vertretenen hebräischen Sprache bilden in diesem Buche die Gegenstände einer ebenso anziehenden als belehrenden Ausführung. Ausgewählte Uebersetzungsproben aus den Dichtungen selber färben und beleben die Darstellung. Während draußen die Bestrebungen für Kürzung und Entlastung des Gottesdienstes einer ganzen großen Litteratur, den eigentlichsten [499] Kundgebungen der jüdischen Geschichte, den Jubel- wie den Schmerzensausbrüchen ihrer Muse, das Todesurtheil zu sprechen nahe daran waren, hatte hier die Treue und Hingebung, Herz und Geist Eines Mannes für alle Zeiten diesem Schriftthum ein Ruhmesdenkmal gestiftet und ein bleibendes Andenken ausgerichtet. Aber immer unabweislicher hatte im Laufe der Arbeit die Ueberzeugung sich ihm aufgedrängt, daß ohne Kenntniß der wichtigsten Handschriften der synagogalen Poesie die Geschichte ihrer Riten und Dichter sich nicht werde in Angriff nehmen lassen. Darum sehen wir ihn gleich nach dem Erscheinen dieses Buches den Plan zu einer großen wissenschaftlichen Reise fassen. 12 Tage im Britischen Museum, 20 Tage in der Bodlejana in Oxford, 3 Tage in Paris genügten seiner Spürkraft, um aus 280 Manuscripten und 100 seltenen Drucken das Material zu schöpfen, das ihn in den Stand setzte, sein Werk zu vollenden. Vom 25. April bis zum 4. Juli 1855 hatte die Reise gewährt, die ihn am 26. und 28. Juni auch noch zu Heinrich Heine führen sollte. Vom 18. Juni bis zum 27. Juli 1856 setzte Z. diese handschriftlichen Studien in Hamburg fort, wo er 80 hebräische Manuscripte excerpirte. 1859, wo er auch wieder öffentliche Vorlesungen über jüdische Litteratur hielt und das Schriftchen über die Eidesleistung der Juden erscheinen ließ, folgte als zweite Abtheilung der synagogalen Poesie das in seiner Concision und Inhaltsfülle unübertroffene Buch: „Die Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt“. Wieder war es gelungen, ohne Vorarbeit, ganz auf sich selbst gestellt, ein Chaos zu ordnen und aus dem Nebel, der ein Schriftthum von mehr als zwei Jahrtausenden bedeckte, scharfe nach Ländern gruppirte Gestaltungen, feste Gebetsordnungen hervortreten zu lassen und das Anwachsen der Gebetlitteratur von den ersten Anfängen bis zu ihren größten cyklischen Sammlungen und den Ritus durch seine ganze Entwicklung hindurch zu verfolgen. Das Werk kann in seiner wortsparenden Knappheit und der fast unabsehbaren Fülle neuer aus den Quellen geschöpfter Ergebnisse als eines der höchsten Muster wissenschaftlicher Commentation und Kritik bezeichnet werden. Ein über den Einzelheiten nie das Ganze aus den Augen verlierender Blick, eine neben dem Zug ins Große und Volle auch dem Kleinen und Besonderen zugewandte Gründlichkeit haben hier ein Buch geschaffen, das ein Eckstein seiner Wissenschaft bleiben wird, ergänzt, aber nie beseitigt werden kann. Weiter dem bürgerlichen und politischen Leben thätig angehörend, durch öffentliche Reden und durch Vorträge in Vereinen sich erfrischend und mit der Gesellschaft in Fühlung, verlor Z. doch die Krönung seines Werkes, den Abschluß der Synogogalen Poesie keinen Moment aus dem Auge. 1862 war er in der Vorversammlung des 242. Bezirkes am 25. April zum Vorsitzenden gewählt worden. Aber seine innerste Kraft gehörte der Wissenschaft und ihrem Dienste. Er hatte das Gefühl, sein Werk nicht vollenden zu können, ohne die Handschriftenschätze Italiens für seine Zwecke benutzt zu haben. So ging er denn am 20. Mai 1863, an der Schwelle des Greisenalters, über die Schweiz, wo der alte Freiheitsmann in Genf am 10. Juni bei Karl Vogt eingeladen wird, nach Italien. Ueber 120 Codices sehen wir ihn in der Derossiana zu Parma allein mustern. Von dem Besuche Roms und der Vaticana durch die damals noch mächtige Unduldsamkeit abgehalten, ließ er 1864 die Frucht der italienischen Reise, die Schrift erscheinen, die unter dem Titel: „Die hebräischen Handschriften in Italien, ein Mahnruf des Rechts und der Wissenschaft“, wie ein Seherruf in dem Wunsch nach dem Untergange des Kirchenstaates ausklingt: 500 Manuscripte waren von ihm durchgesehen worden, gelehrte Freunde in den verschiedensten Ländern hatten sich Jahre hindurch freudig in seinen Dienst gestellt, anderthalb Tausend synagogale Dichter harrten der Entdeckung, Tausende von Hymnen und Bußliedern der Verzeichnung und Beschreibung. [500] Die Zeit zum Abschlusse war gekommen. Am 26. September 1865 vollendete Z. das Vorwort zur Litteraturgeschichte der synagogalen Poesie, mit der er die stille Gemeinde seiner Verehrer beschenkte, die zum 70. Geburtstage am 10. August 1864 Dank der Liebe und Verehrung des Sanitätsrathes Dr. S. Neumann für Z. zur Ausrichtung einer Zunzstiftung sich vereinigt hatten. Was die vereinte Forschung der eifrigsten über weite Ländergebiete zerstreuten Gelehrten nicht zu leisten vermocht hatte, die erschöpfende Lebensbeschreibung aller jemals der synagogalen Dichtung sich weihenden, d. h. also der besten und bedeutendsten Geister des jüdischen Volkes, das war hier durch die Geisteskraft eines Einzigen, wie aus dem Haupte gesprungen der Wissenschaft in den Schooß gefallen. Nicht nur für die Hymnologie, sondern auch für die allgemeine Litteraturgeschichte des Judenthums war hier ein Beitrag geleistet, der über Zeiten und Länder, von denen es in der Forschung bislang still gewesen war, eine Fülle von Licht und Leben verbreitete. Das Geistesleben der Juden vornehmlich in Deutschland und Frankreich, in Spanien und Italien, aber auch in anderen Gebieten hatte hier ein Quellenwerk erhalten, das den bisherigen Darstellungen der jüdischen Geschichte unschätzbare Bereicherung und Berichtigung zuführte. Die wirre, gewissermaßen geschichtslose Masse des liturgischen Stoffes war hier, wie von einem Schöpferruf getroffen, nach Orten und Zeiten plötzlich geschieden, gegliedert und geordnet, ein wahres Auferstehungswerk auseinandergefallener Glieder, eines großen zertrümmerten Organismus. Nur der Meister fühlte, daß der Stoff unerschöpflich, die Arbeit unabsehbar und ohne Abschluß vor ihm lag. Wirklich sehen wir ihn bereits im Juli 1867 in einem Nachtrag zur Litteraturgeschichte der synagogalen Poesie aus dem nachdrängenden Stoffe mehr als 500 neue Stücke verzeichnen und über 80 neue Dichter Licht verbreiten. Sein Interesse am öffentlichen Leben hatte er sich inmitten der hingebendsten Forscherarbeit zu erhalten gewußt. Noch am 9. November 1870 sehen wir ihn im 382. Bezirke in Berlin zum Wahlmanne gewählt. Besuche hervorragender Fremder, die Berlin berührten, und Reisen zu Verwandten nach Dresden und anderen deutschen Städten brachten Frische und Abwechslung in sein stilles Leben. Die große Erhebung Deutschlands regt ihn 1872 zu einem Aufruf für die Reinheit der deutschen Muttersprache an; die „deutschen Briefe“ sind in der Geschichte der Kämpfe gegen die Sprachverderberei zeitlich obenan zu nennen. Mit epigrammatischer Schärfe und schneidendem Witze geißelt er neben den Sprachschändern auch noch andere Sünden der Zeit, als deren umfassenden und eindringenden Beobachter er sich erweist. 1872 bringt auch noch die „Monatstage des Kalenderjahres“, ein Andenken an Dahingeschiedene. Die Männer, deren Sterbetage er ermittelt, charakterisirt er hier zuweilen mit der Kunst und Schärfe eines Miniaturisten, in der Pietät gegen Freunde, in der Würdigung fremder Verdienste, diesen Grundzügen seines Wesens, liebreich und gerecht. In diesem Schriftchen erfuhr „die Muse der jüdischen Geschichte“ seine letzte selbständige Huldigung. Wol beging er den 80. Geburtstag noch in voller Geistesfrische und Gesundheit, aber die schwere Erkrankung seiner Lebensgefährtin, der Begleiterin seiner Pläne wie seiner Reisen, die jetzt sein sorgenloses Alter hätte theilen sollen, warf bereits einen schweren Schatten auf den Tag, den das Curatorium der Zunzstiftung durch den Beschluß, die gesammelten Schriften des Jubilars herauszugeben, denkwürdig feierte. Schon acht Tage darauf, am 18. August 1874 starb Adelheid Zunz und mit ihr das Lebensglück, die Freude und Arbeitslust des vereinsamt und trauernd zurückbleibenden Gatten. Die Herausgabe der gesammelten Schriften in drei Bänden, zu der er die Materialien wie seine Verbesserungen zur Verfügung stellte, hielt ihn noch in den Jahren 1875 und 1876 mit seiner wissenschaftlichen Vergangenheit in Fühlung und [501] Zusammenhang. Noch einmal zogen da erwärmend und aufrichtend seine so vielseitigen Leistungen in Wort und Schrift, die kleineren Publicationen, die Reden und Kritiken, die Beiträge in Zeitschriften und Werken Anderer, an seinem Auge vorüber, über das die Nacht einer unstillbaren Trauer sich immer dichter zu breiten angefangen hatte. Mit dem Abschluß der Durchsicht dieser Sammlung entsank die Feder seiner Hand. Der Geist war hell, das Wort noch sprudelnd und unermüdlich, der Witz noch schlagend und funkelnd wie vordem, aber die Schaffenslust war gebrochen und gelähmt, die innere Theilnahme an dem, was einst seine ganze Seele ausgefüllt hatte, im Schwinden. Klagen über das noch immer nicht fliehende Leben füllten seine Tage aus, nur von Blitzesfunken witziger Selbstironie und schneidender Kritik unterbrochen. Selbst die Jubelfeier seines neunzigsten Geburtstages am 10. August 1884 vermochte die Trauer seiner Seele nicht zu verscheuchen. Vergebens waren Zeichen der Verehrung und Huldigung aus allen Ländern eingelaufen, Anerkennung und Dankbarkeit in seinem stillen Heim in der Auguststraße 60 in lautem und begeistertem Ausdruck in sein Ohr gedrungen. Seine Schöpfung selber, die reich erblühte Wissenschaft des Judenthums, war durch die vom Curatorium der Zunz-Stiftung Dank Dr. S. Neumann herausgegebene Jubelschrift huldigend vor ihn hingetreten, Vertreter dieser Disciplin aus den verschiedensten Ländern hatten sich hier mit ihren Beiträgen zu einem Zoll der Verehrung und Bewunderung zusammengefunden, das Gemüth des Stifters war verdüstert und keiner Erweckung und Erhebung auf die Dauer mehr zugänglich. Der Besucher mußte allerdings noch immer über das ungebrochene Geistesleben erstaunen, das in dem einst so schwachen und im Greisenalter fast unzerstörbar scheinenden Leibe wohnte, das Auge war noch hell, die Stimme kraftvoll, aber es war nur wie ein Aufflackern aus verdunkelter Tiefe, Blitze, auf die immer nur um so tiefere Verfinsterung folgte. Am 18. März 1886 verschied er infolge eines Falles im Zimmer, trotz seiner fast 92 Jahre ungebrochen und unerschöpft.

Nach mündlichen Mittheilungen von Zunz und nach seinen Aufzeichnungen, überschrieben: Das Buch Zunz künftigen ehrlichen Leuten gewidmet, im Besitze des Archivs der Zunzstiftung in Berlin. – Vgl. auch Ad. Strodtmann, H. Heine’s Leben und Werke I, D. Kaufmann in Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 38 (1894), 481–93, 500–504 und S. Maybaum, Aus dem Leben von Leopold Zunz. Berlin 1894.