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Artikel „Winckler, Johann“ von Carl Bertheau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 365–373, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Winckler,_Johann&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 14:52 Uhr UTC)
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Winckler: Johann W., berühmter lutherischer Geistlicher der pietistischen Richtung, wurde am 13. Juli 1642 in einer Mühle zu Golzern bei Grimma geboren. Sein Vater, Martin W., war Bauhandwerker und Mühlenpächter, seine Mutter Maria geb. Drechsler. In seiner Jugend mußte er das Vieh seiner Eltern hüten. Von seinem neunten Jahre an besuchte er die Schule zu Grimma. Seine Mutter wollte von früh an ihn einen Geistlichen werden lassen. Im J. 1656 kam er auf die Thomasschule zu Leipzig; daß er hier namentlich unter der Leitung des Conrectors Friedrich Rappelt gründlich auf das Studium der Theologie vorbereitet sei, ist vielleicht eine ungenaue Angabe in dem Leichenprogramm von Edzardi (s. unten), da wenigstens nach A. D. B. XXVII, 301 Rappelt damals gar nicht mehr an der Thomasschule war. Im J. 1659 begann W. das Studium der Theologie zu Leipzig; hierbei leitete ihn besonders Andreas Beyer (vgl. Jöcher I, Sp. 1065) an. Wegen mangelnder Mittel [366] ging er schon nach zwei Jahren wieder nach Grimma, wo er durch Unterricht sich seinen Unterhalt erwarb und privatim weiter studirte. Im J. 1664 konnte er zu Jena den philosophischen Doctor machen. Nach zwei Jahren treffen wir ihn dann wieder in Leipzig, wo er Privatvorlesungen hielt, mehrfach disputirte und auch ab und an predigte. Darauf nahm er im J. 1668 die Stelle eines Instructors bei dem Herzog Philipp Ludwig zu Holstein-Sonderburg auf Wiesenburg (an der Zwickauer Mulde) an; als solcher begleitete er in dem genannten Jahre den zweiten Sohn des Herzogs nach Tübingen, wo ihm nun auch Gelegenheit ward, während mehrerer Jahre noch seine eigenen theologischen Studien fortzusetzen. Er trat hier in nähere Beziehungen zu den berühmten Theologen Tobias Wagner (s. A. D. B. XL, 582), Johann Adam Osiander (XXIV, 483) und auch noch zu Christoph Wölflin (Jöcher IV, Sp. 2038). Von Tübingen aus ward er im J. 1671 vom Landgrafen Georg Christian von Hessen-Homburg zum Diakonus in Homburg berufen. Es ist nicht bekannt, wie der Landgraf auf ihn aufmerksam wurde; doch ist es (nach Geffcken’s Untersuchungen, vgl. unten), nicht unmöglich, daß Spener, der seit 1666 als Senior in Frankfurt a. Main stand, ihn schon dem Landgrafen empfohlen hat; gewiß ist, daß Spener ihn schon damals hochschätzte und ihn damals im Dom zu Frankfurt a. M. ordinirt hat, wobei unsicher bleibt, von wo ihre Bekanntschaft herstammt. Von Homburg aus wurde W. im J. 1672 als Pfarrer und Metropolitan nach Braubach berufen und sodann nach vier Jahren (1676) als Hofprediger und Assessor des Consistoriums nach Darmstadt. Diese wiederholten Versetzungen in wichtigere Stellungen, bei denen wol Spener nicht unbetheiligt war, lassen uns doch auch erkennen, welche Anerkennung W. in seinem Wirken fand. Durch häufigere Besuche bei Spener in Frankfurt lernte er diesen immer besser kennen und die bekannten Bestrebungen Spener’s fanden Winckler’s ungetheilten Beifall und W. muß fortan zu den aufrichtigsten und treuesten Freunden Spener’s gezählt werden. W. richtete denn auch in Darmstadt die von Spener eingeführten sog. Privatconvente ein, d. h. Zusammenkünfte zu gemeinsamer Erbauung in Privathäusern, meistens in der Amtswohnung des Geistlichen, durch welche namentlich der Eindruck der Predigt am Sonntage verstärkt und sie so für das Leben fruchtbarer gemacht werden sollte. An Winckler’s Privatconventen – wir würden etwa sagen Bibelstunden – hatte der fürstliche Kammerrath Wilhelm Christoph Kriegsmann solches Wohlgefallen, daß er sie in einer eignen Schrift: „Symphonensis Christianorum oder von den einzelnen Zusammenkünften der Christen“, empfahl, wobei es ihm wol begegnete, daß er in dieser Empfehlung zu eifrig war. Jedenfalls war Balthasar Mentzer II, der seit dem Jahre 1652 Oberhofprediger und Superintendent in Darmstadt war (vgl. Jöcher III, Sp. 444 f. – aus dem Artikel A. D. B. XXI, 374 ist das nicht zu ersehen –) damit nicht einverstanden, und darunter mußte nun auch W. leiden. Obwol Mentzer Winckler’s große Gaben und lebhaften Eifer anerkannte und dadurch, daß W. in zweiter Ehe in Darmstadt die Enkelin von Mentzer’s Bruder geheirathet hatte, ihm auch persönlich nahe stand, so suchte er doch nach dem Tode des Landgrafen Ludwig’s VI. († am 24. April 1678) während der viermonatlichen Regierung Ludwig’s VII. W. zu entfernen, zumal auch der junge Landgraf mit Winckler’s Auftreten nicht zufrieden war. Während Kriegsmann aus seinem Amte entlassen und seine Schrift unterdrückt ward, wollte Mentzer W. zur Annahme eines Pastorates in Amsterdam bewegen; doch dieser zog es vor, da er sich in seiner Wirksamkeit in Darmstadt behindert sah, einem Rufe des Kurfürsten von der Pfalz, der ihm die Stelle des lutherischen Predigers an der Concordienkirche in Mannheim anbot, zu folgen (1678). Einige Tage später würde er die erbetene Entlassung in Darmstadt nicht mehr erhalten [367] haben; am 30. August 1678 starb Ludwig VII. und nun kam die Regierung an seine Stiefmutter Sophie Dorothea als Regentin für ihren minderjährigen Sohn Ernst, die von W. sehr viel hielt und ihn nicht entlassen hätte. Auch in Mannheim war seines Bleibens nicht lange. Die Kirche, an der er stand, war auch den Reformirten zum Gebrauche eingeräumt, und das gab zu mancherlei Unzuträglichkeiten Anlaß.

So folgte W. denn schon im Jahre 1679 einem Rufe der Grafen von Loewenstein-Wertheim, denen Spener ihn in einem uns noch erhaltenen Schreiben (Spener, Letzte theologische Bedenken u. s. f., 2. Aufl., 1. Theil, Halle 1721, S. 393 ff.) sehr warm empfohlen hatte, als Pastor und Superintendent nach Wertheim. Aber auch hier sollte er noch nicht bleiben; obschon er in reichem Segen wirkte und abgesehen von seinem Verhältniß zu den Katholiken mit seiner Lage auch zufrieden war, folgte er doch nach fünf Jahren einem Rufe nach Hamburg, weil er in ihm Gottes Willen erkannte. Ein angesehener hamburgischer Kaufmann Paul Berenberg (geb. 1628, † 1699), aus einer bekannten von den Niederlanden nach Hamburg gekommenen Familie (vgl. Die niederländische und hamburgische Familie Amfinck. Erster Theil, Hamburg 1886, in den Anlagen S. XLVIII ff.), hatte bei häufiger Anwesenheit in Frankfurt Spener kennen gelernt; als nun im J. 1683 das Pastorat (jetzt Hauptpastorat genannt) zu S. Petri in Hamburg neu besetzt werden sollte, wünschte er, daß Spener sich bereit finden ließe, eine etwa auf ihn fallende Wahl anzunehmen, und schrieb an ihn in diesem Sinne. Spener lehnte nun aber für seine Person ab, wies aber Berenberg auf W. hin, dem er ein in jeder Beziehung ehrenvolles Zeugniß gab; außer Winckler’s stattlicher Gelehrsamkeit rühmte er an ihm eine solche Gabe zu predigen, daß er ihr die seine nicht vergleichen dürfe (vgl. Spener a. a. O., 3. Theil, S. 118 f.). An St. Petri wurde W. nun zwar nicht gewählt, auch nicht einige Monate später an St. Nicolai; aber als dann wieder nach nur wenigen Monaten das Pastorat zu St. Michaelis in der Neustadt zu Hamburg zu besetzen war, konnte Paul Berenberg schon am Tage vor der Wahl an Spener schreiben, daß W. ohne allen Zweifel „mit allen Stimmen einhellig“ gewählt werden würde; und so geschah es auch: am 31. August 1684 ward W. einstimmig gewählt. Nachdem er am 15. Septbr. in Wertheim seine Abschiedspredigt gehalten, kam er im October in Hamburg an und hielt am 4. November seine Antrittspredigt, wobei ihn der Senior D. Klug in sein Amt einführte. – W. ist dann in diesem Amte 21 Jahre bis zu seinem Tode verblieben; mehrfache Berufungen in andere, zum Theil sehr angesehene kirchliche Stellungen, die an ihn noch ergingen, hat er ausgeschlagen, weil er es als den Willen Gottes erkannte, trotz der vielen Unannehmlichkeiten und Kämpfe, die er in Hamburg zu bestehen hatte, auf seinem Posten auszuharren. Es war damals in Hamburg eine böse Zeit; in Kirche und Staat, die verfassungsmäßig aufs engste verbunden waren, gährte es gewaltig, und es ist nicht leicht, sich in unserer Zeit von den damaligen kirchlichen Streitigkeiten und von der Art, wie sie geführt wurden, eine richtige Vorstellung zu machen. (Zu Folgendem ist zu vergleichen, was über diese Streitigkeiten in der A. D. B. schon in den Artikeln Hinckelmann XII, 460 ff., Horb XIII, 120 ff. und Mayer XXI, 99 ff. mitgetheilt ist.) – Ein Beweis von dem Ansehen, welches W. alsbald in Hamburg gewann, ist es, daß schon wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf seinen Vorschlag Johann Heinrich Horb, der Schwager Spener’s, auf den Aufsatz für das Pastorat zu St. Nicolai gebracht und am 28. December 1684 auch einstimmig gewählt wurde. Hingegen war es nicht nach Winckler’s Wunsche, daß nach dem Tode Anton Reiser’s († am 27. April 1686, vgl. über ihn A. D. B. XXVIII, 119ff.) am 24. October [368] 1686 Johann Friedrich Mayer zum Pastor zu St. Jacobi in Hamburg gewählt ward. Die Erlebnisse der nächsten Jahre haben W. Recht gegeben; übrigens hatte sich auch das Ministerium (d. h. das Collegium der Geistlichen) gegen die Wahl Mayer’s erklärt und nur auf Wunsch des Senates wegen der unruhigen Zeiten – es waren die durch Schnitger und Jastram (beide wurden am 4. October 1686 hingerichtet) erregten politischen Unruhen, die die ganze Stadt damals aufregten – seinen Widerspruch aufgegeben. Mayer hatte gehofft, in Wittenberg, wo er Professor und Universitätsprediger war, nicht entlassen zu werden; aber Spener, der seit kurzem (seit Juli 1686) Oberhofprediger und Mitglied des Oberconsistoriums in Dresden war, fühlte sich nicht veranlaßt ihn zu halten, obschon Mayer damals für einen Freund Spener’s gehalten werden mußte. Es scheint in der That so, daß in diesem Verhalten Spener’s der eigentliche Grund der feindlichen Stellung, die Mayer gegen Horb und dann auch gegen den weit bedeutenderen W. einnahm, gesucht werden muß (so urtheilt namentlich auch Geffcken unter voller Anerkennung der großen Gaben Mayer’s, während Wolters im ganzen viel günstiger über Mayer urtheilt; vgl. die unten zu nennenden Schriften). Der Gegensatz zwischen beiden kam zuerst zu öffentlichem Ausbruch bei dem Streit über die Zulässigkeit der Opern. Das zuerst im J. 1678 in Hamburg eröffnete Opernhaus war am 28. Januar 1686 wegen der politischen Unruhen durch Beschluß der Bürgerschaft geschlossen worden. Als dann im Juli desselben Jahres der Senat den Wiederbeginn der Aufführungen gestattete, predigte W. dagegen. Schon vor ihm hatte sich namentlich auch Reiser gegen die Opern erklärt. Ende Juli wurden dann die Opern wieder verboten, worin W. einen Sieg des Wortes Gottes sah. Als dann aber im J. 1687 die Interessenten des Opernhauses die Vorstellungen wieder beginnen wollten, mußte ihnen daran liegen, sich vorher der Zustimmung des Ministeriums zu vergewissern; sie wandten sich zu diesem Zwecke an Mayer. Die Einzelheiten des nun ausbrechenden Streites zu erzählen, würde hier zu weit führen. Der Senat wandte sich an das Ministerium, das sich in seiner Majorität für Zulassung der Opern erklärte. Gegen diesen Beschluß sprach sich W. in einer eignen Schrift aus, die er dem Senat und dem Ministerium zuschickte; der Senat erbat sich vom Ministerium ein Gutachten über sie, und das Ministerium beauftragte Mayer mit der Abfassung des Gutachtens. Mayer faßte dieses in einer Weise ab, daß man ihm das Behagen anmerkt, W. das Uebergewicht seiner dialektischen Gewandtheit und seiner Gelehrsamkeit fühlen zu lassen; mag W. auch in der Sache nicht immer recht haben, seinem redlichen Eifer und gewissenhaften Ernst stellt Mayer nur persönliche Bitterkeit und Gehässigkeit gegenüber. Das Ministerium eignete sich in seiner Majorität Mayer’s Gutachten an; die Opern wurden wieder gestattet, und W. hat seinerseits den Streit nicht öffentlich weiter geführt. Viel unangenehmere Folgen als dieser Streit hatte derjenige, der im J. 1690 über den sog. „Religionseid“ ausbrach, für W. Nachdem W. schon seit dem Jahre 1687 für „Graduirte und Studiosen“, wie es in der handschriftlichen Chronik von Otto Sperling heißt, Collegia in seinem Hause eingerichtet hatte, also ihnen exegetische Vorlesungen gehalten hatte, fing er im September 1688 an, Montags von 10 bis 11 Uhr morgens (später geschah es zwei Mal wöchentlich) in seinem Hause allen, die da kommen wollten, einen Abschnitt aus der Bibel auszulegen und ihnen Zweifel und Fragen zu beantworten. Anfangs ließ er (vgl. sein gedrucktes Sendschreiben an Hanneken, 1690, Blatt B 2 r) auch andere reden, er gab das aber wieder auf, weil es ihn mehr aufhielt, als daß es Nutzen brachte. Der Andrang, namentlich auch von Frauenzimmern, war gewaltig groß; sein Haus konnte die Zuhörer nicht fassen. Wir haben hier deutlich die uns schon bekannten Privatconvente [369] (collegia pietatis), wie W. sie in Darmstadt und Wertheim gehalten und die er nun, nachdem er fast vier Jahre in Hamburg war, auch hier einführte; er hat die Sache also nicht übereilt; aus seinen Aeußerungen (in der obengenannten Schrift) sehen wir, wie er sich die Sache gewissenhaft überlegt hatte und die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß er auf diese Weise am besten Frömmigkeit und Glauben in seiner großen Gemeinde verbreiten könne. Dem Ministerium war diese Sache nun aber sehr zuwider; wollte man auch Winckler’s Absehen für christlöblich halten, so sei die Sache doch ungebräuchlich, bringe andere Prediger in Verachtung und befördere den Separatismus. Was den letzteren Vorwurf anlangt, so lag es W. äußerst ferne, dergleichen Bestrebungen zu fördern; aber es traten damals in Hamburg bei andern, die W. nicht fern standen, entschieden separatistische Bestrebungen auf. Namentlich haben der Candidat Nicolaus Lange (s. A. D. B. XVII, 648 ff.; er ist nicht zu verwechseln mit dem gleichzeitigen Prediger Johann Lange zu St. Petri in Hamburg, einem Gegner von W. und Horb, s. A. D. B. XVII, 639 f.) und der frühere Prediger Eberhard Zeller um diese Zeit in Hamburg in dieser Weise kirchenfeindlich und irreführend gewirkt; und obschon W. selbst ihr Verhalten mißbilligte, wie wir aus seinen Briefen an Spener sehen, wurden er und seine Freunde, namentlich Horb und Abraham Hinckelmann, der seit Februar 1689 Pastor zu St. Catharinen war, von ihren Gegnern im Ministerium auch für diese ungesunden Auswüchse der Privatconvente verantwortlich gemacht. Am 14. März 1690 überraschte der Hauptpastor zu St. Petri Samuel Schultz, der seit dem 26. October 1688 Senior war, in einem Convent des Ministeriums seine Collegen damit, daß er ihnen einen Revers vorlegte, den sie unterschreiben sollten, um sich dadurch eidlich zu verbinden, die „durch einige Zeit her bekannt gewordenen pseudophilosophos, antiscripturarios, laxiores theologos und andere fanaticos, namentlich Jacob Böhmen, auch chiliasmum tam subtiliorem quam crassiorem verwerfen, ihre Anhänger für keine Brüder erkennen, sie nicht entschuldigen, … vielmehr ihren Irrthümern bei gegebener Gelegenheit öffentlich widersprechen“ zu wollen, … „und dagegen alle Neuerung, sie habe Namen, wie sie wolle, ob sie gleich das Ansehen gewinne der Verbesserung des Christenthums … mit Ernst zu verhüten“. Schultz gab an, sein Zweck dabei sei, die Gemüther im Ministerium zu vereinigen; in Wahrheit war nichts so geeignet, wie dieses völlig eigenmächtige und unberechtigte Vorgehen, die Gemüther zu erhitzen und schon vorhandene Gegensätze zu verschärfen. W., der als der im Amtsalter nächste Hauptpastor zuerst zu votiren hatte, ließ sich durch das friedliche Vorgeben zunächst fangen und gab seine Unterschrift unter der Bedingung, daß seine Privatconvente nicht mit unter die zu meidenden Neuerungen befaßt seien; die übrigen Anwesenden unterschrieben alle außer Horb; übrigens fehlten in der Sitzung von 27 Mitgliedern des Collegiums 10. Zu den Abwesenden gehörte Hinckelmann, der, als ihm der Revers dann vorgelegt wurde, entschieden seine Unterschrift verweigerte. Auch W. nahm, nachdem er sich die Sache zu Hause überlegt hatte, seine Unterschrift zurück. Da nun W., Hinckelmann und Horbius sich nicht allein gegen den Inhalt des Reverses, obschon sie auch diesen nicht billigten, aussprachen, sondern ganz besonders auch gegen die Berechtigung des Seniors, eine solche eidliche Verpflichtung durch Unterschrift zu verlangen, so entspann sich hierüber ein heftiger Streit, der auch nicht aufhörte, als der Senat am 9. April den Revers annullirt hatte. Mayer, der die Sache des Seniors völlig zu der seinigen machte, trotzte dem Senate und holte von verschiedenen theologischen Facultäten Gutachten ein; die dem Ministerium günstigen responsa, denen namentlich das Wittenberger zählte, ließen Mayer und Schultz drucken, [370] um namentlich auch auf den Senat einzuwirken, während sie das Leipziger, das dem Ministerium ungünstig war, nicht veröffentlichten. Auch W. und seine Freunde suchten auswärts Hülfe; sie wandten sich an mehrere Gelehrte, u. a. auch an Spener; der letztere gab ein besonders bündiges und eingehendes Bedenken ab, in welchem er das ganze Verfahren von Schultz und seinen Genossen verurtheilte. Der Senat, der den Streit zu schlichten suchte, gab schließlich darin nach, daß der Revers in Ehren bleiben sollte, nur sollten W., Hinckelmann und Horbius nicht zur Unterschrift gezwungen werden, und diese versprachen, unter dieser Bedingung den Revers nicht weiter anfechten zu wollen; dieser Vertrag kam am 4. November 1690 zu Stande und ward am 7. November vom Ministerium angenommen. Jedoch ließ sich Mayer trotzdem vom Ministerium beauftragen, Spener zu widerlegen, was zu einem mehrfachen Schriftenwechsel zwischen beiden führte. Mayer’s Erbitterung gegen Spener beeinflußte dann auch sein Verhalten gegen Horb, der ein Schwager Spener’s war, in den gegen diesen nun ausbrechenden Streitigkeiten. Für den Anfang und die Geschichte dieses Streites, der vom Januar 1693 bis zum Juni 1694 die ganze Stadt in Bewegung setzte, muß hier auf das im Artikel „Horb“, Bd. XIII, S. 122 f. Gesagte verwiesen werden. Obschon W. von Anfang an diesen Streit für einen völlig unnöthig und böswillig von Mayer herbeigezogenen ansah und am liebsten sich zurückgehalten hätte, so ward er doch wider seinen Willen in ihn hineingezogen; er billigte keineswegs in allem Horb’s Verfahren, trat aber doch offen und muthig für ihn ein, soweit ihm Unrecht geschah und namentlich als er von Mayer und den von diesem fanatisirten Massen auch auf eine äußerlich gemeine Weise verfolgt ward. Gegen die sachlichen Vorwürfe, die Horb von Mayer und seinen Freunden gemacht wurden, und die in der Beschuldigung gipfelten, daß Horb ein „Quäker“ sei – mit diesem völlig unpassenden Ausdruck wurden diejenigen bezeichnet, welche die auf Verinnerlichung des Christenthums gerichteten Bestrebungen Spener’s und seiner Freunde billigten –, vertheidigte W. ihn in vier Predigten, die er im April und Mai 1693 hielt und dann unter dem Titel: „Der unrechtmäßig verquakerte gute Lutheraner“ (Hamburg 1693, 4°) herausgab. Außer einigen andern kleineren Schriften hat W. dann in dieser Angelegenheit im Februar 1694, als Mayer’s äußerer Sieg über Horb schon entschieden war, zusammen mit Hinckelmann einen ausführlichen Bericht über diese ganze Streitsache verfaßt: „Gründlicher Beweis, daß sowol in der ganzen Zeit ihres geführten Predigtamts als auch noch letztens in der Streitsache mit Herrn Pastor Horbio keine Gefahr der Verlierung reiner und wahrer Lehre unter denen Lehrern gewesen und also die neulichst entstandene große Unruhe ohne Grund sei“. Dieser Bericht, der größtentheils von W. verfaßt und bei weitem das Beste ist, was damals über diese Sache geschrieben ist, wurde dem Senat eingereicht; am 16. März beschlossen die Sechziger und Hundertachtziger, d. h. die Vertreter der kirchlichen Collegien und der Bürgerschaft, ihn drucken zu lassen, was dann auch sogleich geschah. Unerwünschteres konnte für Mayer nicht geschehen; er wußte in seiner Erregung kaum mehr, was er that; er schrieb eine Gegenschrift, die dann von W. wieder beantwortet wurde, und so wurden noch einige Schriften hin und her geschrieben, bis auf eine ernste Mahnung des Kaisers Leopold an den Senat vom 3. April der Senat eine allgemeine Amnestie herbeiführte, die von der Bürgerschaft am 8. Juni angenommen ward und der auch das Ministerium sich fügen mußte. Die letzte Schrift in der Sache ist Winckler’s „Gründlicher Beweis, daß er die hamburgische Kirche nicht irre gemacht hat“; sie erschien am 4. Juni, und man darf sagen, daß W. mit ihr das Feld behalten hat; ihren Ausführungen werden auch wir zustimmen müssen. Horb und Hinckelmann überlebten das Ende des Streites nicht lange; [371] an W. ist die Aufregung und Anstrengung, die er ihm brachte, auch nicht spurlos vorübergegangen; und wenn dann auch zunächst ruhigere Jahre, in welchen er ungestörter seinen eigentlichen Arbeiten nachgehen konnte, für ihn kamen, so stand ihm doch noch ein neuer Kampf mit Mayer bevor. – Im J. 1695 ward W. vom Grafen Detlef v. Rantzau (s. A. D. B. XXVII, 276) zu seinem Beichtvater und zum Propst der Reichsgrafschaft Rantzau ernannt und als Propst auf dem gräflichen Hause Rantzau eingeführt; er hat dieses Amt neben seinem hamburger auch noch unter Detlef’s Nachfolger verwaltet; im J. 1701 legte er es aber, weil ihm die Arbeit bei seinen abnehmenden Kräften zu viel ward, nieder (vgl. Bolten, Hist. Kirchennachrichten von der Stadt Altona, 1. Band, Altona 1790, S. 37). – Nach dem Tode des Senior Schultz ward W. am 7. Juni 1699 vom Senat zum Senior erwählt; er hat dieses Amt bis zu seinem Tode verwaltet. Gleich in den Anfang seines Seniorats fallen einige sehr wichtige Einrichtungen, betreffs derer man sich nur wundert, daß sie nicht früher getroffen sind. Zunächst führte W. ein ordentliches Candidatenexamen ein; sodann arbeitete er eine Sammlung von Collecten u. s. f. aus, die sofort eingeführt wurden; und endlich gab er der hamburgischen Kirche ihr erstes officielles Gesangbuch. W. gab Mayer, dem amtsältesten Hauptpastor nach ihm, den Auftrag, dieses Gesangbuch zusammenzustellen. Das Gesangbuch erschien schon im April 1700 und enthält in diesem ersten Drucke 318 Lieder; daß die Zählung der Lieder falsch ist, daß sieben Lieder unter verschiedenen Nummern doppelt abgedruckt sind und Anderes sind Zeichen von der Eile, mit der es verfertigt ist; in demselben Jahre erschien noch ein neuer verbesserter Druck mit 326 Liedern und wahrscheinlich auch noch der dritte mit 331 Liedern. – Am Beginn des neuen Jahrhunderts schien es, als wenn W. in Hamburg seine Stellung verlassen werde; während er, wie schon erwähnt, verschiedene Berufungen, die in Hamburg an ihn ergingen, abgelehnt hatte, war er, als er am 25. Februar 1701 zum Superintendenten in Lübeck erwählt wurde, anfänglich bereit, dem Rufe zu folgen. Namentlich auch die noch immer anhaltenden bürgerlichen Unruhen in Hamburg, deren Ende noch gar nicht abzusehen war (und auch erst 1710 kam), machten ihm seine Stellung in Hamburg schwer. Doch vermochten ihn die Bitten seiner Freunde in Hamburg, sie nicht zu verlassen; es mußte ihm auch fraglich scheinen, ob er, da seine Gesundheit erschüttert war – er sollte gerade zu einer Cur nach Wiesbaden – noch in einen neuen Wirkungskreis treten dürfe. Er hat dann in Hamburg noch schwere Jahre gehabt. Mayer, der sich in Hamburg nicht mehr glücklich fühlte, nahm im J. 1701 eine Berufung nach Greifswald an; er ward dort Generalsuperintendent, Präses des Consistotiums, Professor der Theologie, Rector der Universität und Hauptprediger zu St. Nicolai; als er dahin zog, um diese Aemter zu übernehmen, hatte er sein Amt in Hamburg nicht niedergelegt, vielmehr seiner Gemeinde in Hamburg in Aussicht gestellt, zu den künftigen Fasten wiederzukommen, um ihr den gekreuzigten Jesum zu predigen. Es war jedenfalls seine Schuld, daß seine Freunde in Hamburg glaubten, er werde wieder nach Hamburg zurückkehren. Mayer legte dann zwar, weil er es übel nahm, daß W. als Senior bei der Besetzung einer Predigerstelle zu St. Jacobi völlig den bestehenden Ordnungen gemäß die Stelle des nicht vorhandenen Hauptpastors vertrat, von Greifswald aus am 21. Februar 1702 sein Hamburger Amt nieder; aber er hinderte es nicht, daß seine Freunde damit nicht zufrieden waren und den Versuch machten, seine frühere Berufung nach Hamburg wieder in Gültigkeit treten zu lassen. Es entstand hieraus der berüchtigte Streit über die renovatio vocationis, der wie der frühere Horbische ganz Hamburg längere Zeit in Unruhe versetzte, in welchem die demokratischen Elemente, die Mayer’s Rückkehr erzwingen [372] wollten, sich wieder Alles erlaubten und leider auch manches ertrotzten, und in welchem auch wieder eine kaum zu übersehende Reihe von Streitschriften erschien. W. bewies auch in den sehr unangenehmen Streitigkeiten, in die ihn, ohne daß er es im geringsten verschuldet hätte, diese Angelegenheit hineinzog, seine Sachlichkeit, Klarheit und einen unbeugsamen Muth; aber als der Kampf dann im J. 1704 endlich äußerlich damit endete, daß Mayer erklärte, er dächte garnicht daran, wieder nach Hamburg zu kommen, und ihm an St. Jacobi ein Nachfolger gewählt ward, war Winckler’s Kraft gebrochen; auch eine Cur in Ems, die er noch versuchte, brachte keinen bleibenden Erfolg; er starb am Palmsonntage, den 5. April 1705, nachdem er am 22. März zum letzten Mal seine Kanzel bestiegen hatte. Obschon in Hamburg die Zeiten noch nicht wieder ruhig waren und die Feinde der Ordnung sich über Winckler’s Tod freuten, weil der ihnen recht unbequeme Strafprediger nun verstummte, so zeigte sich doch bei seinem Tode, in welchem Ansehen er bei allen Gutgesinnten stand; bei seinem Leichenbegängniß betheiligte sich die ganze Stadt. – W. war nicht nur ein ausgezeichneter Prediger, wie es damals nach dem Zeugniß der Zeitgenossen wenige gab, sondern auch ein tüchtiger Theologe. Mit vielen Gelehrten stand er in Briefwechsel. Wenn er auch im wesentlichen in seiner Auffassung dessen, was der Kirche noth sei, die Spener’schen Grundsätze vertrat, so war er doch kein blinder Nachfolger Spener’s; in vielen Dingen war er vorsichtiger und in seinem Urtheil klarer. Es zeigte sich das z. B. auch in der Stellung, die er den sog. Offenbarungen des Fräulein Rosamunde Juliane von der Asseburg (s. A. D. B. I, 622) gegenüber einnahm; das „schriftmäßige und wohlgemeinte Bedenken“, das W. dem diese Offenbarungen vertheidigenden „Sendschreiben an einige Theologos“ des Lüneburger Superintendenten Johann Wilhelm Petersen entgegensetzte und das Hamburg 1693 (in 4°) erschien, ist mit großer Nüchternheit und Gründlichkeit geschrieben und brachte die Sache für alle Urtheilsfähigen zur Entscheidung. – Von besonderer Bedeutung ist der Einfluß geworden, den W. auf August Hermann Francke gehabt hat, als dieser im J. 1688 sich bei ihm als Hauslehrer aufhielt. Grade in dieser Zeit hatte W. auch den Plan, eine Bibelgesellschaft zu gründen, erwogen, wie er später durch Francke’s Einfluß in der v. Canstein’schen Bibelgesellschaft zur Ausführung kam. – W. gab mehrere Ausgaben der Lutherischen Bibelübersetzung auf seine und seiner Freunde Kosten heraus; zu einer Ausgabe des griechischen Neuen Testamentes mit gegenüberstehender deutscher Uebersetzung, die zuerst im J. 1693 zu Lüneburg erschien (2. Aufl. 1702), schrieb er die Vorrede. Mit ganz besonders günstigem Erfolge war er dann auch für die Errichtung guter Volksschulen in Hamburg thätig; zur Gründung von vier Schulen hat er die Veranlassung zum Theil von der Kanzel aus gegeben und dann, als ihm die Mittel durch private Gaben zur Verfügung standen, ihre Einrichtung selbst besorgt; zwei von diesen, die Rumbaum’sche und die Wetken’sche stehen noch, wenn auch in allmählich veränderter Gestalt, in gesegneter Wirksamkeit. So erkannte W. nach vielen Seiten hin vorhandene Bedürfnisse und wußte ihnen in praktischer Weise zu genügen.

Georgius Eliezer Edzardi, Elogium funebre … Joannis Winckleri, abgedruckt in Fabricius, Memoriae Hamburgenses, Hamburgi 1711, vol. III, pag. 351 sqq.Joannis Molleri Cimbria literata, tom. II, pag. 990 sqq. – Johannes Geffcken, Johann Winckler und die hamburgische Kirche in seiner Zeit. Hamburg 1861. – Herzog, Theologische Realencyklopädie, 2. Aufl., Theil 17, S. 199–202. – Hamburgisches Schriftstellerlexikon, Band 8, S. 65 ff.; hier auch ein Stammbaum seiner Nachkommen und ein Verzeichniß seiner Schriften. – K. J. W. Wolters, Die kirchlichen Zustände (in Hamburg) vor 200 Jahren, in: Hamburg vor 200 Jahren, gesammelte Vorträge, [373] herausgegeben von Theodor Schrader, Hamburg 1892, S. 143–216. – Eine Sammlung an W. gerichteter Briefe bewahrt d. Stadtbibl. in Hamburg.