Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Sanders, Daniel“ von Edward Schröder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 705–708, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sanders,_Daniel&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 20:13 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Sander, Friedrich
Band 53 (1907), S. 705–708 (Quelle).
Daniel Sanders bei Wikisource
Daniel Sanders in der Wikipedia
Daniel Sanders in Wikidata
GND-Nummer 119242044
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|53|705|708|Sanders, Daniel|Edward Schröder|ADB:Sanders, Daniel}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119242044}}    

Sanders: Daniel Hendel S., Lexikograph, wurde am 12. November 1819 zu Strelitz (Altstrelitz) als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern geboren. Die Mutter verlor er bald nach der Geburt, an dem gütigen und allgemein geachteten Vater hing er mit warmer Verehrung. In der Schule der israelitischen Gemeinde gut vorbereitet, bezog S. zwölfjährig das Gymnasium in Neustrelitz, wo er sich als Mathematiker auszeichnete und zu Ostern 1839 das Reifezeugniß erwarb. Er hat dann sieben Semester in Berlin studirt, vorzugsweise Mathematik und Naturwissenschaften: bei Lejeune-Dirichlet, Steiner, Encke, Erman, Dove u. A.; dazu hörte er Philosophie bei Trendelenburg und einiges Philologische, so bei Boeckh und dem inzwischen nach Berlin übergesiedelten Jacob Grimm. Dem studentischen Treiben hielt er sich fern, er verkehrte viel mit ein paar jungen Griechen und erwarb sich in diesem Umgang die Liebe und das intime Verständniß für die neugriechische Sprache, die er zuerst in einer mit Heinrich Bernhard Oppenheim und Moritz Carriere gemeinsam veranstalteten Umdichtung „Neugriechischer Volks- und Freiheitslieder“ (zum Besten der unglücklichen Kandioten, Grünberg u. Leipzig 1842) bekundete und späterhin wiederholt bethätigt hat, so noch 1881 mit der Bearbeitung der Neugriechischen Grammatik von Vincent und Dickson und zuletzt mit der „Geschichte der neugriechischen Literatur“ 1884, bei der A. R. Rhangabé sein Mitarbeiter war.

Am 12. Juli 1842 erwarb er in Halle auf Grund einer recht ungünstig censirten mathematischen Dissertation (die ungedruckt blieb) den philosophischen Doctorgrad („superato examine“), bald darauf übernahm er in seiner Vaterstadt die Leitung der Anstalt, aus der er hervorgegangen war, und die zur Blüthe zu bringen das nächste Ziel seines Ehrgeizes wurde. Die Muße, die ihm das Amt ließ, benutzte er zur Fortsetzung seiner neugriechischen Studien und zur Anlegung lexikalischer Sammlungen auf Grund einer ausgedehnten Lektüre der modernen deutschen Litteratur. Umfangreiche Proben davon hat er wiederholt (zuletzt wohl 1847) Jacob Grimm vorgelegt, der ihn zwar zur Fortsetzung dieser Arbeit ermuthigte, aber offenbar wenig geneigt war, selbst davon Gebrauch zu machen: ganz gewiß rührt von der kühlen oder doch zweideutigen Aufnahme, die S.’s Bemühungen hier fanden, die Gereiztheit her, die später so unschön zu Tage trat. – Inzwischen war S. auch in die demokratische Bewegung hineingerathen, hatte sich in Volksvereinen lebhaft bethätigt und in Gemeinschaft mit Adolf Glaßbrenner (400) „Xenien der Gegenwart“ [706] publicirt (Hamburg 1850), von denen aber weder die witzigsten noch die derbsten sein Eigenthum sein dürften. Im J. 1852 schloß ihm die mecklenburg-strelitzische Regierung die Schule und machte damit seiner Lehrthätigkeit für immer ein Ende. Ein Anerbieten der israelitischen Religionsgemeinschaft in Frankfurt am Main, das ihm einen ähnlichen, aber größeren Wirkungskreis eröffnete, lehnte S. ab, weil er sich inzwischen einen neuen Lebensberuf erwählt hatte. So ist er denn als Privatgelehrter in dem Heimathstädtchen geblieben, das er nur selten und nie für längere Zeit verlassen hat. Seine Wirksamkeit als Lexikograph und Sprachmeister brachte ihn mit vielen Menschen in Nähe und Ferne in Verbindung, deren Respect und Huldigung ihm wohlthat. Auch an äußeren Ehren hat es ihm im späteren Leben nicht gefehlt, und Arbeitskraft und Geistesfrische sind dem schwächlichen Körper treu geblieben bis ans Lebensende. Neben einem Dutzend lexikalischer Werke, unter denen mehrere von großem Umfang, schrieb er allerlei Hand- und Lehrbücher der Grammatik, Stilistik, Metrik und Rechtschreibung, stellte Anthologien und Kinderschriften zusammen und konnte auch auf das Versemachen nicht verzichten: „Aus den besten Lebensstunden“ (1878) und „366 Sprüche“ (1892) sind freilich weder Zeugen hoher Sprachgewalt, noch tiefgründiger Lebensweisheit, sondern beide angefüllt mit Trivialitäten in dürftiger Sprache und glatten aber matten Versen. Und der Anfang einer Selbstbiographie „Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers“ (Berlin 1889) kann auf die Fortsetzung auch die Verehrer kaum begierig gemacht haben, die ihm zu seinem 70. Geburtstag in Vers und Prosa den Weihrauch überreich spendeten. Noch als Siebziger übernahm er für die ihm längst nahestehende Langenscheidt’sche Verlagsbuchhandlung die Bearbeitung eines großen englisch-deutschen Wörterbuchs (Muret-Sanders). Unter dem Druck dieses Werkes ist er, 77jährig, am 11. März 1897 gestorben.

S. ist als Lexikograph zuerst mit einer Kritik des Grimm’schen Wörterbuchs hervorgetreten, er hat sich zeitlebens als den Antipoden der „Gebrüder Grimm“ und ihrer Fortsetzer gefühlt und an ihnen sich beständig gerieben, auch als seine eigene Leistung reichliche Anerkennung gefunden hatte. Das erschwert es, seinen wirklichen Verdiensten gerecht zu werden. Den Abstand, der ihn – und Adelung – von vornherein und allezeit von den Grimms trennte, hat er so wenig begriffen, wie er den Werth von Goethe und Gutzkow, Schiller und Freiligrath, Martin Luther und Leopold Zunz für ein Deutsches Wörterbuch richtig abzuschätzen wußte. Diese Enge des Urtheils und den Mangel jeder sprachwissenschaftlichen Bildung bringen die beiden Hefte, in denen S. „Das deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm“ unmittelbar nach dem Erscheinen der ersten Lieferungen „kritisch beleuchtet“ (Hamburg 1852. 1853), so grell zum Ausdruck, daß dieser Kritiker, der auf der ersten Seite gleich das große Werk als „in seiner ganzen Anlage und großentheils auch in seiner Ausführung durchaus verfehlt“ bezeichnete, in den Kreisen der Fachgelehrten gar nicht ernst genommen wurde, auch kein Gehör fand für die gerechtfertigten Bedenken und für die praktischen Vorschläge, die er als wohlgeschulter Sammler und Ordner vorzubringen wußte. Daß Jacob Grimm selbst, der für seine ganze Lebensarbeit und für die Eigenart seiner Forschung, Auswahl und Darstellung bei S. nicht das geringste Verständniß fand, ihn (in der Vorrede zum ersten Bande) wie ein ekles Gewürm abschüttelte, war verständlich – ebenso verständlich aber war es, daß intelligente Buchhändler alsbald in S. den Mann erkannten, der im Stande sei, ein deutsches Wörterbuch als Ersatz des alten Adelung zu liefern, das, ohne sprachgeschichtlichen Interessen nachzutrachten, über den Sprachschatz und Sprachgebrauch [707] der Gegenwart auf Grund seines reichen Stellenmaterials erschöpfende Auskunft geben müsse. Von den Verlegern ist S. von 1852 ab beständig umworben gewesen. Der erste war J. J. Weber, der ihn veranlaßte, zunächst ein „Programm eines neuen Wörterbuches der deutschen Sprache“ herauszugeben (Leipzig 1854), das in lästiger Breite die Anklagen der Kritik wiederholte, aber zugleich in positiven „Proben“ den Beweis erbrachte, daß der Verfasser mit seinen eigenen Sammlungen schon weit vorgeschritten und sehr wohl im Stande war, die präcis entwickelten Principien seines Planes in Reichthum wie Oekonomie durchzuführen. Wohl muß man auch hier des Dichterworts gedenken: „Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun“ – aber uns, die wir heute auf die lange Leidensgeschichte des Grimm’schen Wörterbuchs zurückblicken und ihr noch kein Ende absehen, überkommt doch die Klage, daß es nicht möglich gewesen oder daß es versäumt worden ist, rechtzeitig diesen einzigartigen Belegsammler als Hülfskraft dem großen Unternehmen dienstbar zu machen. Denn woran es dem Grimm’schen Wörterbuch und seinen Mitarbeitern allezeit gebrach, das hatte S. schon so früh in Bereitschaft, daß er unverzüglich an die Ausarbeitung gehn und in weniger als sieben Jahren sein eigenes dreibändiges „Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart“ im Druck zum Abschluß bringen konnte (Leipzig, Otto Wigand, 1859–1865). Es war ein Werk eigenster Kraft und aus einem Guß – Niemand kann dem Autor verdenken, daß er sich dessen rühmte. Das Werk eines gescheiten Kopfes, wenn auch eines engen Geistes. Daß S. die Etymologie in den Hintergrund treten ließ, war klug, noch klüger wäre es gewesen, wenn er die altdeutschen Sprachformen ganz weggelassen hätte, die immer wieder den Beweis erbringen, daß der Verfasser von sprachgeschichtlichen Dingen nichts verstand und auch später nichts gelernt hat. Neben der Geschichte der Wortform ist auch die Geschichte der Wortbedeutung vielfach ungenügend behandelt, auf die Gruppirung der Wortableitungen, Wortzusammensetzungen und Wortbedeutungen hingegen ist höchst systematische Sorgfalt verwendet, und der Sprachgebrauch des 18. und 19. Jahrhunderts ist mit einem Stellenreichthum bezeugt, der dem Werke unbedingt dauernde Bedeutung sichert.

Ein Anderer hätte sich nach dem Abschluß eines solchen Werkes Ruhe gegönnt – oder doch eine Pause eintreten lassen, wenn er nicht das Bedürfniß empfand, einmal anders geartete Arbeit aufzusuchen. S. fuhr fort zu excerpiren und einzuordnen und das alte wie das beständig hinzutretende neue Material unter den verschiedensten, vorwiegend praktischen Gesichtspunkten auszunützen. In rascher Folge kamen ein „Handwörterbuch der deutschen Sprache“ (1869), ein „Fremdwörterbuch“ (2 Bände, 1871), ein „Wörterbuch der deutschen Synonyme“ (1871), ein „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ (1872, über 30 Auflagen!), ein „Deutscher Sprachschatz, geordnet nach Begriffen, zur leichten Auffindung und Auswahl des deutschen Ausdrucks“ (Hamburg 1873 ff.), ein „Orthographisches Wörterbuch“ (1874) und andere Werke und Werkchen, die ihren Leserkreis z. Th. noch tiefer suchen. Eine ziemlich werthvolle Arbeit stellt dann wieder das „Ergänzungswörterbuch der deutschen Sprache“ (Stuttgart 1879–85) dar: „Eine Vervollständigung und Erweiterung aller bisher erschienenen deutsch-sprachlichen Wörterbücher, einschließlich des Grimm’schen. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart“. Fortschritte hat S. im Laufe seines Lebens nur in der Richtung gemacht, die seine erste Arbeit andeutete; er ist niemals tiefer in die Geschichte unserer Sprache eingedrungen, ist auch niemals ein feinsinniger Interpret unserer höchsten Litteraturblüte geworden, aber er hat die Beobachtung der [708] Bedeutungsunterschiede und -nüancen mit nie ermattender Aufmerksamkeit durch 50 Jahre geübt, und das mangelhafte Verständniß der älteren Sprache und der vielleicht im Anfang nothgedrungene Verzicht auf die Etymologie ist bei ihm schließlich zu einer Tugend geworden, die besonders auf dem Gebiete der Synonymik seine Stärke ausmacht: das „Wörterbuch der deutschen Synonymen“ von 1871 zusammen mit den „Neuen Beiträgen zur deutschen Synonymik“ (1881) und den „Bausteinen zu einem Wörterbuch der sinnverwandten Ausdrücke im Deutschen“ (1889) möchte ich neben seinem Hauptwerk und dem „Ergänzungswörterbuch“ als die werthvollste Leistung von S. ansehen: hier lernt man seine Eigenart und seine Vorzüge am besten kennen, ohne sich an seinen Mängeln zu stoßen. Vor allem hat er vollkommen Recht gegenüber Weigand, wenn er die Etymologie aus der Synonymik zurückdrängt und deren Aufgaben begrenzt auf die Sprache der Gegenwart.

S. war nach dem Zeugniß seiner Freunde ein herzensguter Mensch von milden Umgangsformen, ja nicht ohne eine gewisse patriarchalische Noblesse. Er war ein warmherziger Patriot, durchdrungen davon, mit seiner Arbeit der Ehre der deutschen Sprache und des deutschen Namens zu dienen, und daß er das als Jude mit solcher Hingebung und mit so augenscheinlichem Erfolg that, das hat nicht nur ihn selbst erhoben, sondern auch viele der Besten unter seinen Glaubensgenossen, die sich gleich ihm als Deutsche fühlen wollten, mit freudiger Genugthuung erfüllt. Darin liegt neben den werthvollen Diensten, die sein Sammel- und Ordnungstalent der deutschen Lexikographie geleistet hat, die unleugbare Culturbedeutung seines Wirkens.

(F. Düsel) Daniel Sanders, Sein Leben und seine Werke. Nebst Festgrüßen zu seinem 70. Geburtstage. Der Festschrift 2. Auflage (Strelitz 1890). – Anna Segert-Stein, Daniel Sanders. Ein Gedenkbuch (Neustrelitz 1897).