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Artikel „Rucherath, Johann“ von Adolf Brecher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1889), S. 439–444, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rucherath,_Johann&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 04:14 Uhr UTC)
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Rucherath: Johann R. oder Richerath, mehr bekannt unter dem Namen Johann v. Wesel, Vesalia, vorreformatorischer Theolog, gebürtig aus Oberwesel, † 1481. – Von seiner früheren Jugend ist nichts bekannt. Er bezog 1440 die Universität Erfurt, wurde 1445 Magister, bald darauf auch Geistlicher, begann öffentliche Vorlesungen zu halten – 1449 oder 1450 nennt er sich selbst in seiner Schrift „Ueber den Ablaß“: „berufener Professor der heiligen Schrift“ – wurde 1456 Doctor der Theologie und bald einer der ausgezeichnetesten und bekanntesten Lehrer der Universität. Daneben unterließ er nicht zu predigen. Seiner philosophischen Richtung nach gehörte er höchst wahrscheinlich zu den Nominalisten, nach der theologischen aber, wie die Erfurter Gottschalk Gresemunt und Jakob v. Jüterbogk, welche wir gewiß unter seine Lehrer rechnen dürfen, zu denjenigen reformfreundlichen Gelehrten der deutschen Kirche, welche in dieser Zeit den Muth hatten, eine allgemeine Neugestaltung der Kirche zu verlangen. Er unterschied sich aber dadurch von ihnen, daß er es wagte, gegen bestimmte Lehren der römischen Kirche, insbesondere den Ablaß, einen ernsten Angriff zu richten. Wie weit er hierbei von dem auf Erfurt übertragenen husitischen Geiste beeinflußt wurde, läßt sich schwer entscheiden. Unter seinen Zeitgenossen hatte er das Ansehen eines selbständigen und vorzüglich gelehrten Mannes, „in der scholastischen Philosophie gründlich gebildet, ein ausgezeichneter Professor der Theologie, in den Vorträgen an das Volk (denn er war auch Prediger) ein fertiger und berühmter Redner, scharfsinnigen Geistes, beredten Mundes, und nicht weniger durch Leben und Sitten, als durch Gelehrsamkeit hervorragend,“ wie Joh. Butzbach versichert; vgl. C. Ullmann, Reformatoren vor der Reformation. Bd. I, S. 409. Hamburg 1841. Selbst lange nach seinem Tode blieb sein geistiger Einfluß auf der Universität erhalten, wie Luther in den Worten bezeugt, er sei aus Wesel’s Büchern, „welche damals die hohe Schule zu Erfurt regiert,“ Magister geworden. – Unter seinen aus dieser Zeit stammenden Schriften ist die bekannteste und folgenreichste: „Adversus indulgentias disputatio“ (vgl. C. W. F. Walch, Monimenta medii aevi, Vol. II. Fasc. I, p. 111–156. Göttingen 1757), verfaßt gegen den päpstlichen Ablaß für das Jubeljahr 1450. Sie enthält das Treffendste und Stärkste, was bisher gegen diese Einrichtung geschrieben worden war. R. geht darin weiter, als später Luther in seinen 95 Thesen, „denn er bestreitet nicht nur die Mißbräuche und Auswüchse des Ablasses, sondern den Ablaß selbst, und stellt dem, was im Lehrsysteme die Grundlage des Ablasses bildete, eine höhere Wahrheit entgegen, die der göttlichen Gerechtigkeit und die der göttlichen Gnade“ (Ullmann a. a. O., S. 303). – Daß diese Schrift unbemerkt und ohne Folgen für den Verfasser blieb, ist auffällig. Auch die Universität nahm keinen Anstoß an derselben; ja sie zeichnete ihn sogar aus; man wählte ihn für 1458 zum Prorector, ein deutlicher Beweis für den auf derselben damals herrschenden, jedenfalls R. nicht feindlichen Geist. – Um 1460 wurde er als Prediger nach Mainz berufen, wie Luther, Melanchthon u. A. bezeugen; in gleicher Weise kamen nach ihm zwei Erfurter, Johann v. Lutter (de Lutria) und Mag. Eggeling oder Engelin, als Prediger nach Mainz. Wer die Stellung des Erzbischofs Diether (v. Isenburg) von Mainz gerade in jener Zeit seines ersten Episcopates (1459–1463) erwägt und dazu bedenkt, daß der [440] Erzbischof, wohl wenig jünger als R., mit ihm in Erfurt studirte, wahrscheinlich auch persönlich bekannt war und unter denselben Lehrern seine – allerdings nicht bedeutende – theologische Bildung erwarb, den wird die Berufung gerade nach Mainz ebenso wenig wundern, wie daß R. dort trotz seines Buches gegen den Ablaß und trotz seiner in gleichem Sinne gehaltenen Predigten unangefochten blieb. Ganz natürlich änderte sich dies Verhältniß, als Diether den erzbischöflichen Stuhl und R. an ihm seinen Beschützer verlor. Am 28. October 1462 ward Mainz von dem Pfalzgrafen Ludwig und dem Grafen v. Königstein erobert und dem neugewählten Erzbischof Adolf von Nassau übergeben. Damit hatte auch der Aufenthalt Rucherath’s in Mainz sein Ende erreicht; denn 1479 erwähnt er dieser Thatsache als vor 17 Jahren geschehen. Er ging nach Worms. – Reinhard v. Sickingen, der dortige Bischof (1445–1482), welcher ihm nachmals so gefährlich werden sollte, war damals keineswegs so verfolgungssüchtig, wie er sich später zeigte. Er hatte jetzt andere Sorgen. In dem Kampfe zwischen den Erzbischöfen Diether und Adolf von Nassau hatte er nur mit Mühe die Neutralität bewahrt, wie es scheint, nicht ohne Rücksicht für Diether. Jetzt aber hatte er sein Augenmerk allein auf die Wiederherstellung und Vergrößerung seines Bisthums gelenkt. Wenn er dem aus Mainz flüchtenden R. möglicherweise auf Empfehlung Diether’s in Worms Aufenthalt gewährte, wird er kaum an eine Prüfung seines religiösen oder kirchlichen Standpunktes gedacht haben. – Wie die Angelegenheiten Diether’s so blieb auch der Aufenthalt Rucherath’s für die nächsten Jahre in der Schwebe. Reinhard überwies ihm die Einkünfte einer Pfründe und übertrug ihm Predigten. Der berühmte Gelehrte und zur sittlichen Umkehr mahnende Prediger wird ihm nicht mißfallen haben, da er selbst sich damals sehr ernstlich die Reform des Clerus und der Klöster angelegen sein ließ. Allmählich aber mußte sich doch der tiefe Unterschied, der in der Denkungsart beider Männer bestand, offenbaren. R. predigte und schrieb nicht nur, gestützt auf die heil. Schrift und die Gerechtigkeit, die aus Christo stammend, den neuen Gehorsam zur Erfüllung des Gesetzes erzeugt, unabhängig von der Kirchenlehre, sondern griff auch den damaligen Zustand der Kirche, ihre falschen Lehren und die Unsittlichkeit und Untüchtigkeit der hohen wie der niederen Geistlichkeit unbedenklich an. Des Bischofs Reformen aber betrafen nur das äußere Leben des Clerus und waren wesentlich darauf gerichtet, die früheren ascetischen und hierarchischen Lebensformen wiederherzustellen. – Die damaligen Anschauungen und Lehrmeinungen Rucherath’s lernen wir am besten kennen aus den Paradoxa, einem Auszuge, welcher später bei Gelegenheit seines Processes von den Gehülfen seiner Richter aus den von ihm verfaßten Tractaten und (gedruckten?) Predigten in Rücksicht auf solche Stellen gemacht worden war, welche ihn als irrgläubig und ketzerisch erscheinen ließen (d’Argentré, Collectio judiciorum de novis erroribus. Paris. 1828. Tom. I, Pars. II. p. 291, 292), ganz besonders aber aus dem „Opusculum de auctoritate, officio et potestate pastorum ecclesiasticorum“ (C. W. F. Walch, Monimenta vol. II, fasc. II, p. 142 ff.). Andere Schriften, welche er gleichfalls in Worms verfaßt zu haben scheint, sind 1) „Super modo obligationis legum humanarum ad quendam Nicolaum de Bohemia (vel Polonia)“; 2) „De potestate ecclesiastica“; 3) „De indulgentiis“; 4) „De jejunio“. Sie sind verloren gegangen. Ob unter dem Titel: De processione spiritus sancti und de peccato mortali von ihm verfaßte Abhandlungen oder Tractate zu verstehen sind, ist fraglich. – Nach den Paradoxa ist ihm die heilige Schrift die einzige Grundlage für die Einheit und Sicherheit des Glaubens. Ihre Auslegung ist weder von der „Glosse“ noch von den Deutungen der „Doctoren“ abhängig, da zu fürchten, daß diese male, ficte et false exponant sacram scripturam. Hierbei gelte aber keine Autorität irgend eines [441] Menschen, wenn er auch noch so weise sei; Christus allein könne über den Sinn seiner Worte entscheiden und diesen erfahre man, wenn man besonnen und umsichtig „die Stellen der Schrift mit einander vergleiche und durch einander erläutere“. – Die Hauptlehre der heil. Schrift sei die von der göttlichen Gnade. Sola Dei gratia salvantur Electi. Gottes Gnade bestimmt von Ewigkeit her diejenigen, welche die Seligkeit erlangen, und wen er erwählt hat, der könne nicht verloren gehen. Papst, Bischöfe, Priester können zur Seligkeit eines Menschen nichts wesentliches thun. „Wen Gott durch seine Gnade retten will, der wird gerettet und wenn alle Priester ihn verdammten und bannten; wen aber Gott verdammen will, der wird es, und wenn der Papst sammt allen Priestern ihn selig spräche“. – „Si nullus unquam Papa fuisset, adhuc salvati fuissent hi, qui salvati sunt“. – Die Kirche sei so, wie sie sei, weder eine heilige allgemeine, noch eine irrthumslose, denn sie umfasse neben den Heiligen auch die Bösen, und diese bildeten gerade den größeren Theil. Man könne in Rücksicht hierauf sagen, die Kirche irre; nur von der abstracten Kirche gelte, daß sie nicht irre. – Mehr noch als diese Lehren müssen den Wormser Bischof die Grundsätze erregt haben, welche R. in seiner Schrift: „Opusculum de auctoritate etc.“ bekannte. Er spricht hierin nicht nur von den Gebrechen des Clerus im allgemeinen, sondern im besonderen von den Bischöfen und Prälaten, die das Wort des Herrn, durch ihre menschlichen Empfindungen gebunden, nicht frei verkünden lassen, so anzüglich, daß es jedem Leser deutlich war, wen er meinte. „Die Bestimmung des Hirten- und Herrscheramtes ist es nicht, durch Glanz und Reichthum des Lebens hervorzuragen, mit königlicher Pracht einherzugehen, an bewaffnetem Gefolge auch große Machthaber zu übertreffen, in Müßiggang und Verschwendung den Sybariten zu spielen oder die Macht wiederherzustellen, sondern dies alles von ganzem Herzen zu verachten und zu vernachlässigen. Dem Christen muß nicht daran liegen Macht, sondern Liebe an den Seinigen zu üben. – Sie haben Dich zum Fürsten gemacht, spricht die heilige Schrift, so überhebe Dich nicht, sondern sei wie einer von ihnen. Ja der Erlöser gebietet: wer da will unter Euch der Erste sein, der sei der Letzte von Allen. Der Lenker des Ganzen soll vermöge seiner Demuth ein Genosse der Guten, vermöge seines Eifers für Gerechtigkeit aber kräftig aufgerichtet sein gegen die Fehler des Bösen, jedoch so, daß er sich den Guten gegenüber nie höher stellt“ (Ullmann a. a. O. S. 322 ff.). – Die päpstliche Autorität in den Sachen des Glaubens und der Lehre leugnet R. durchaus. Nur wenn des Papstes Lehre mit dem Evangelium übereinstimme, habe der erstere auf Gehorsam Anspruch. Einen Stellvertreter Christi könne es nicht geben, da Christus selbst nach seiner Verheißung überall gegenwärtig sein wolle. Darum könne es auch keine Kirchengebote geben, die eine Todsünde beträfen. – Alles komme darauf an, daß der Priester das reine Evangelium unverkürzt und unentstellt verkündige. Nur der sei ein wahrer Apostel und Hirte seiner Heerde, der das Wort des Herrn lehre; wer eine andere Lehre predige, dem dürfe man nicht glauben. „Doch wenn dir die evangelische und christliche Frömmigkeit zu lehren vorgeschrieben ist, dann lasse dich nicht schrecken und erschüttern durch päpstliche Blitze, Verwünschungen und Verdammungen, die aus den Bullen – sie sind Papier und Blei – nur einen kalten Strahl senden. Denn der Excommunicirende selbst war vorher schon von dem göttlichen Richter excommunicirt; ein solcher aber, der selbst verflucht ist, kann nicht excommuniciren“ (Ullmann a. a. O. S. 325). Es ist deutlich, daß diese Sätze auf bestimmte Verhältnisse und eine bestimmte Persönlichkeit hinzielen. Jene waren sehr gespannter Natur, diese war offenbar drohend, ja gewaltthätig R. entgegengetreten. Es war der Bischof Reinhard von Worms, ehedem sein Beschützer, jetzt sein Feind. Wenn auch die Predigten [442] Rucherath’s den Wormser Clerus allmählich gegen ihn aufgebracht hatten, so war es doch offenbar immer nur bei untergeordneten Maßregeln gegen ihn geblieben. Jetzt aber waren die Gegner litterarisch gegen ihn aufgestanden, hatten ihn der Ketzerei beschuldigt, ihn ernstlich bedroht. Hinter ihnen stand – so vermuthete wenigstens R. und er wird nach dem Folgenden Recht gehabt haben – der Bischof Reinhard. Das Opusculum war die Antwort. Daher führte es auch in der ersten Gestalt, in welcher es im Druck auf uns gekommen ist, den Titel: „Epistola cujusdam sacrarum litterarum studiosi responsiva“ (vgl. C. W. F. Walch, Monimenta etc. Vol. II, Fasc. II. Praef. p. XVI). – Die Dinge scheinen von nun an einen raschen Verlauf genommen zu haben. Jetzt wohl wurde es ruchbar, daß er mit einem Böhmen (Husiten) Nicolaus Umgang gehabt, daß er ihm, wie er später zugesteht, den Tractat super modo obligationis geschrieben, andere derartige Schriften verfaßt habe. Die Feinde sprengten Gerüchte schlimmer Art aus, um R. die Volksgunst zu rauben, die ihm bei seinen Predigten kaum gefehlt haben wird: Er sei insgeheim Bischof der Husiten geworden, habe mit Juden Verkehr gepflegt und einmal in Wiesbaden gepredigt: wer das Sacrament sehe, sehe den Teufel. – R. sah, daß man ihn vernichten wollte; wenn ihn alles andere noch täuschte, das Verhalten des Bischofs ließ ihm keinen Zweifel. Er wollte sich nicht stumm abschlachten lassen. Zum letzten Male ergriff er die Feder, um seinen Feinden, ganz besonders dem Bischofe alle ihre Versündigungen und Bosheiten vorzuhalten. Reinhard v. Sickingen, so beginnt er, sei ihm die ganze Zeit hindurch ein Feind und Widersacher des Leibes, der Ehre und der Güter gewesen. Er habe ihm durch viele, ja unzählige Plackereien viele schlaflose Nächte bereitet und ihn in einen körperlichen Zustand versetzt, der ihn mit baldigem Tode bedrohe; er habe ihn in den Ruf der Ketzerei und damit um seine Ehre gebracht; er habe ihm endlich einen großen Theil seines Einkommens vorenthalten und allerhand Intriguen gegen ihn gesponnen. Ferner habe er ihn angeklagt, aber den Ankläger ihm verschwiegen, offenbar weil er keinen habe, und wenn er sage, die allgemeine Stimme beschuldige ihn der Ketzerei, so glaube er, daß der Bischof sich noch nicht die Mühe gegeben habe, die Wahrheit zu erforschen. Er habe ihm Briefe (offenbar meint R. Belege, Verschreibungen, Anweisungen auf Geld) durch einen Schreiber Heinrich Urtenberg wegnehmen und verbrennen lassen und ihn dadurch um eine Summe von 150 fl. geschädigt. – Nach einer solchen Auseinandersetzung blieb nur noch eins übrig, der Proceß. Der Brief ist offenbar kurz vor der Einleitung des Verfahrens gegen R. geschrieben worden. Darauf deutet die rücksichtslose, ja herausfordernde Sprache desselben hin. – Es will bedünken, als ob der Verfasser nur so habe schreiben können, weil er den Bischof von Worms gar nicht als seinen Vorgesetzten ansah. Nach dem, was oben bemerkt wurde, war er trotz der Länge des Aufenthaltes doch immer nur als Gast oder als geduldeter Fremder in Worms geblieben. Daher mochte er sich mit Recht als abhängig von Mainz betrachten. Dem entsprechend wurde jetzt auch das Gerichtsverfahren gegen R. nicht von Worms, sondern von dem Mainzer Stuhl eingeleitet, er selbst vor denselben citirt und zunächst in dem Minoritenkloster zu Mainz in sicheren Gewahrsam gebracht. – Wenn nun aber R. von Seiten des Erzbischofes Diether v. Isenburg auf Milde und Schonung gerechnet hatte, so täuschte er sich durchaus. Seit seiner Wiedereinsetzung 1475 war Diether ein anderer geworden. Nach allem, was sich danach zugetragen hatte, war er an Rom und den alten Zustand der Kirche viel zu fest mit seiner ganzen Existenz gekettet, als daß er wie früher den „Neueren“, den Reformern sich hätte geneigt zeigen dürfen, wenn er überhaupt für dieselben noch Theilnahme fühlte. Ohne weitere Rücksicht schritt er daher zum Proceß. Aus Köln wurde der Generalinquisitor [443] für Deutschland, Gerhard von Elten (Prantl in A. D. B. VI, 73) in Begleitung mehrerer anderer Dominicaner, unter ihnen Jakob Sprenger, der spätere Mitverfasser des Hexenhammers, malleus maleficarum, berufen. Von den Universitäten Heidelberg und Köln hatte sich der Erzbischof außerdem einige bedeutende Theologen erbeten, welche dem „Examen des Doctor Johannes“ beiwohnen sollten. Unter ihnen befand sich als einer der angesehensten Nicolaus von Wachenheim, Professor in Heidelberg, gelehrt und einflußreich, der einzige Nominalist unter den Richtern, welche als Thomisten R. von vornherein feindlich gegenüberstanden. Von diesem haben wir wohl jenen gedruckten Bericht über den Proceß, welcher als Examen magistrale (D’Argentré, Collectio judiciorum, Tom. I, P. II, p. 298) uns hinterlassen ist. – Am Freitag, dem 5. Februar 1479 (feria sexta post Purificationem), begann das Einleitungsverfahren. Es wurde beschlossen, R. einen Eid schwören zu lassen, daß er alle von ihm verfaßten Schriften ausliefern wolle, und eine Commission von drei Gelehrten ernannt, welche dieselben nach ketzerischem Inhalte durchforschen sollten. Schon am nächsten Tage war dieselbe mit dieser Arbeit fertig. Am Montag, dem 8. Februar, Morgens 7 Uhr, begann unter dem Vorsitze Gerh. v. Elten, in Gegenwart des Erzbischofs und einer großen Zahl von geistlichen Gelehrten und Studenten im Refectorium des Minoritenklosters das Hauptverfahren. R. wurde vorgeführt. Vom Alter gebeugt, von den Verfolgungen der letzten Zeit und den Qualen des harten Kerkers in seiner Kraft gebrochen, erschien er in der Mitte zweier Minoriten, blaß, leichenhaft, auf einen Stab gestützt. Man ließ ihn sich auf der Erde (terra) niedersetzen. Obgleich er auf allgemeines Zureden gleich anfangs um Gnade bat, wurde doch das Verhör begonnen. Man legte ihm 21 Fragen vor, welche zuerst den Proceß, dann seinen Umgang mit dem Böhmen Nicolaus und endlich seine angefochtenen Lehren betrafen. R. zeigte sich im Anfange ängstlich, zögernd, zurückweichend. Die meisten der Fragen beantwortete er im Sinne der Richter. Nur in Hinsicht seiner Lehre vom heil. Geiste, der nicht vom Vater und dem Sohne ausgehe; ferner der einigen heiligen, katholischen Kirche, der Autorität der Apostel, Kirchengesetze zu erlassen; der Vollmacht des Papstes, Kaisers oder anderer Fürsten und Prälaten, Gesetze aufzustellen, deren Nichtbefolgung die Strafe der Todsünde nach sich ziehe; der Auslegung der heil. Schrift von den heiligen Vätern und Doctoren – durch denselben Geist, durch welchen sie überliefert und geoffenbart ist; des Vorhandenseins der Erbsünde in den neugebornen Kindern; der Wirkung des Ablasses in Rücksicht auf die Heiligung des Lebens und endlich der Statthalterschaft Christi auf Erden im Papstthume, worin er die Kirchenlehre bestritt oder gänzlich verwarf, bewahrte er vorerst seine Ueberzeugung. Bei der Fortsetzung des „Examens“ am folgenden Tage handelte es sich hauptsächlich um seine Lehre vom Ablaß. Mehrerer seiner Lehrsätze wollte er sich nicht erinnern, bis sie ihm im Original vorgelegt wurden. Am Ende aber raffte er sich noch einmal auf, um wenigstens den Satz zu retten: „Gott kann dem, der den Gebrauch der Vernunft hat, seine Gnade mittheilen, ohne alle Bewegung des freien Willens“. An Paulus könne man sehen, daß durch Gottes Gnade die Erwählten selig würden. Es sei nichts zu glauben, was nicht in der heiligen Schrift geschrieben stehe. Und gelegentlich brach er wohl in die muthige Versicherung aus: „Und wenn alle von Christo abweichen, so will ich allein ihn als Gottes Sohn verehren und ein Christ bleiben“, worauf der Inquisitor nur die Entgegnung hatte: „Das sagen alle Ketzer, auch wenn sie schon auf dem Scheiterhaufen stehen“. – Am Mittwoch begaben sich im Auftrage des Gerichtshofes drei Doctoren der heil. Schrift in das Gefängniß, um ihn zum Widerruf zu bewegen. Er machte ihnen ihre Aufgabe nicht leicht. Gerade am Ende erhob sich sein christliches Bewußtsein noch einmal stärker als vorher gegen alle [444] gewaltsamen Zumuthungen: „Wie ihr mit mir verfahrt“, rief er voll Entrüstung aus, „würde auch Christus, wenn er da wäre, von Euch als Ketzer verdammt werden; aber der“, fügte er lächelnd hinzu, „würde Euch durch seinen Scharfsinn überwinden“. Und zuletzt mürbe gemacht durch die zudringlichen und endlosen Vorstellungen der Doctoren, erklärte er: „Ja ich will widerrufen, wenn Ihr meinen Widerruf auf Euer Gewissen nehmen wollt!“ Und als sie sich dazu bereit erklärten, rief er, wie wenn er noch eine plötzliche Auflehnung seines gemarterten Gewissens fürchtete: „Werde ich aber doll, so thue ich es nit!“ – Am folgenden Freitag leistete R. in Gegenwart des Erzbischofes und aller Richter und Zeugen den verlangten Widerruf, und wiederholte ihn öffentlich im Dome am Sonntage Estomihi. – Wenn aber R. gehofft hatte, nun frei zu werden und zu seiner früheren Lebensweise zurückkehren zu können, so täuschte er sich. Zunächst mußte er sehen, wie seine Schriften öffentlich verbrannt wurden, ein Anblick, der ihm unter Thränen die Worte auspreßte: „O heiliger Gott, muß denn auch das Gute mit dem Bösen vernichtet werden? Soll das viele Gute, das ich geschrieben habe, büßen für das, was das wenige Böse verschuldet hat?“ Sodann führte man ihn in das Augustinerkloster und kündigte ihm an, daß er zur Sühne für sein Verbrechen bis zum Ende seines Lebens als Gefangener in demselben bleiben werde. Es war für den hartgeprüften und leiblich und geistig vielgemarterten Mann zu viel. Nicht ganz zwei Jahre umschlossen ihn die Gefängnißmauern, dann wurde er von den Banden dieser Zeit erlöst und vor seinen himmlischen Richter gestellt.[1] – So schmerzlich uns die durch seinen Widerruf bewiesene Schwäche Rucherath’s berührt, so auffällig ist es, daß derselbe bei seinen gelehrten Zeitgenossen wie in der Masse des Volkes so wenig Theilnahme gefunden hat. Es ist deutlich, daß sein Zeitalter ihn noch nicht verstand, und daß der Boden, auf dem Luther später erwachsen durfte, noch nicht genügend vorbereitet war. Dennoch fehlt es nicht an einzelnen anerkennenden Stimmen. Der Verfasser des Examen magistrale, der als Augenzeuge bei dem Processe gegenwärtig war, schließt seinen Bericht mit einem für R. sehr günstigen Urtheil, welches mit den Worten beginnt: „Mit Ausnahme des einen Artikels über den heil. Geist scheint Wesel ein so hartes Urtheil nicht verdient zu haben“. Er erklärt sodann, daß das Verfahren gegen R. das äußerste Mißfallen zweier gelehrter und trefflicher Männer, des M. Engelin von Braunschweig und des M. Johann Kaisersberg erregt habe. Besonders der erste habe die Hast des Vorgehens gegen R. getadelt und sich nicht gescheut zu behaupten, viele Lehren Rucherath’s, ja sogar der größte Theil derselben könnten wohl vertheidigt werden. – Auch Johann Wessel urtheilt im allgemeinen günstig über „den ehrwürdigen Mann“, wenn er auch manches an ihm auszusetzen findet, was wir heute kaum tadeln würden. Dennoch wird man über R. urtheilen müssen, daß er nicht nur einer der bedeutendsten vorreformatorischen Männer, sondern sein Auftreten eine im Heilsplane Gottes offenbar vorgesehene und durch besondere Wirkungen ausgezeichnete Erscheinung war, die auf das Kommen des Größeren vorbereiten sollte.

Außer der schon genannten Literatur sind noch anzuführen: Herm. Schmidt, Johann v. Wesel, Real-Encyklopädie für protest. Theologie und Kirche, Bd. XVI, S. 784–791, Lpz. 1885. – Menzel, Diether v. Isenburg in d. A. D. Biogr., Bd. V, S. 164–170. – Bratke, Luther’s 95 Thesen und ihre dogmengeschichtlichen Voraussetzungen, S. 266.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 444. Z. 22 v. o.: Die Proceßacten wurden zuerst gedruckt im Anhange der von dem Kölner Juristen Jakob Sobius besorgten Ausgabe der „Commentarii Aeneae Sylvii Piccolomini (Köln oder Basel 1521 oder 1522), dann in dem „Fasciculus rerum expetendarum et fugiendarum“ von Ortuinus Gratius, 1538. Das Buch „De auctoritate … pastorum ecclesiasticorum“ wurde von Melanchthon herausgegeben. Rucherath steht als Joannes de Wesalia seit 1559 in der 1. Classe des Römischen Index. [Bd. 29, S. 777]