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Artikel „Gratius, Ortuin“ von Ludwig Geiger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 600–602, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gratius,_Ortuin&oldid=- (Version vom 3. Oktober 2024, 20:21 Uhr UTC)
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Gratius: Ortuin G., eigentlich de Graes, geboren (1491) im Dorfe Holtwick in Westphalen, gestorben in Köln am 21. Mai 1542, der übelstberüchtigte Gegner der Humanisten des 16. Jahrhunderts, der aber manches Rühmliche geleistet hat, dessen Lob daher den Spott hätte übertönen sollen, der sich an seinen Namen geheftet hat. Im Hause seines Oheims, Joh. de Graes, in Deventer erzogen, und durch den Unterricht des tüchtigen Alexander Hegius (s. d. Art.) gründlich vorbereitet, bezog er (zwanzigjährig) 1501 die Universität Köln, wo er 1502 Baccalaureus, 1506 Magister wurde und theils durch seine Vorsteherschaft der bursa Cucana, theils durch seine nahen Beziehungen zu der Quentell’schen Druckerei, deren gelehrter Corrector er war, großen Einfluß auf die studirende Jugend gewann. Zeugen dieser einflußreichen und geachteten Stellung sind die zahlreichen Verse, die er theils den Schriften seiner jugendlichen Genossen beigab, theils in den seinigen von ihnen gewidmet erhielt, Zeuge davon z. B. eine Aeußerung des Humanisten Joh. Murmellius („Scoparius in barb. propugnatores“, 1518, fol. 14a), seine Commentarien zu Boetius, die in Deventer schlecht gedruckt worden, seien in Köln durch Johann Caesarius und G. viros doctissimos integritati diligentissime restitutos. Dieses Verhältniß änderte sich aber 1. durch Gratius’ schriftliches und mündliches Auftreten gegen einige Humanisten, besonders gegen Hermann Busch, der den mittelalterlichen Grammatikern widersprochen hatte, 2. durch seine lateinische Uebersetzung einiger judenfeindlicher Schriften des Johann Pfefferkorn, „Judenspiegel“, „Judenbeicht“, „Osterbuch“ und „Judenfeind“, 1507–9, die, weil sie von dem Hauptbeschimpfer Reuchlin’s ausgingen, bald als Vorspiele in dessen berühmtem Streite betrachtet wurden, 3. durch seine direkt gegen Reuchlin gerichteten Schriften: ein lateinisches Gedicht, mit dem er die „Articuli“ des Arnold v. Tungern begleitete (1512 f., m. Reuchlin, S. 266 ff., 277), seine „Praenotamenta“ (1514, a. a. O. S. 321 ff.), eine Actensammlung und parteiische Darstellung des Reuchlin’schen Streites und seine „Defensio“ (1516, a. a. O. S. 378 ff.), eine lateinische Bearbeitung von Pfefferkorn’s „Beschyrmung“. Die „Defensio“ ist freilich schon eine Abwehr gegen den ersten Theil der „Epistolae obscurum virorum“, die zumeist an G. gerichtet waren, vermuthlich weil er, wenngleich der beste Latinist unter den Kölnern, von den weiter vorgeschrittenen Humanisten, wegen seines geringen Wissens beschämt, wegen seiner Fahnenflucht von der humanistischen Partei, wegen seiner Eitelkeit und seines, wie es scheint, offenkundigen unsittlichen Wandels gezüchtigt werden sollte. Ebenso persönlich gegen ihn gerichtet ist die „Gemma praenosticationum“ (1517, Böcking, Opp. Hutteni VII, p. 27 ff.), in der G. häufig Charitativus genannt und wegen seines Auftretens im Reuchlinschen Streit verspottet wird. Diese Spöttereien suchte G. in den „Lamentationes obscurorum virorum“ (1518, Reuchlin S. 387–390, die Schrift ist zwei Mal durch Böcking neu gedruckt), durch Eingehen auf die Idee seiner Gegner zu beantworten, vermochte aber nur viel Worte und wenig Witz als Waffen ins Feld zu führen. (Die manchmal geäußerte Vermuthung, daß diese Schrift nicht von G. herrühre, sondern von den Humanisten gegen ihn geschrieben sei, entbehrt jeder Begründung.) Diese Schrift ward dann ein Signal zu neuen Angriffen, die theils in den sehr zahlreichen satirischen Pamphleten, theils in den noch zahlreicheren Briefen der Reuchlinisten an ihren Meister oder andere Gesinnungsgenossen zum Ausdrucke kamen. Durch diese Angriffe ist der Name des G. hauptsächlich [601] verewigt worden. Aber außer als Gegner Reuchlin’s und Feind der Humanisten verdient er als Verfasser der „Orationes quodlibeticae“ (Köln 1508) und ganz besonders als Herausgeber des „Fasciculus rerum expetendarum ac fugiendarum“(Köln 1535) genannt zu werden. Jene, neun an der Zahl, vielleicht nach der Zahl der neun Musen, da diese Reden dazu bestimmt sind, ebensoviel Wissenschaften und Künste zu empfehlen, machen auf uns allerdings nicht mehr den in einem Beiwort zum Titel versprochenen „sehr angenehmen“ Eindruck, denn sie sind inhaltlich nicht von besonderer Tiefe und in ihrem Ausdruck breit und schwülstig. Aber es ist durchaus falsch, sie als scholastisches Product den gleichzeitigen humanistischen entgegenzustellen, denn Gratius’ Reden können sich mit jenen humanistischen Erzeugnissen im eifrigen Zusammenraffen von Belegstellen aus classischen Autoren, – Stellen der Griechen freilich nur in lateinischer Uebersetzung, – im Haß gegen die Verächter der Wissenschaft, im Preise der Philosophie, unter welchem Namen er die Wissenschaft überhaupt begreift, durchaus messen. Außer den sieben freien Künsten, welche die mittelalterliche Bildung ausmachten, hält er die Poesie für nothwendig, die er nach Boccaccio definirt; bei der Grammatik dringt er auf eine gebildete Ausdrucksweise und empfiehlt im Gegensatze zu den früher üblichen barbarischen Lehrbüchern die Schriften der modernen Grammatiker, und wenn er in der Philosophie dem Albertus Magnus den Vorrang vor den großen Männern des Alterthums einräumt, so bedient er sich zur Begründung dieser Behauptung einer Stelle des Heinrich Bebel, den er als vigilantissimus adolescens, neotericus et poeta laureatus bezeichnet. Man sieht, nicht diese Schrift, seine Erstlingsarbeit, mearum frugum primitiae wie er in dem Widmungsschreiben sagt, die in Einleitungsbriefen und Gedichten von Petrus Ravennas, dem Engländer Harris und von Remaclus aus Florenz begeistert gepriesen wurde, kann es gewesen sein, welche ihm den Haß der Humanisten zuzog. Noch weniger hätte dies die zweite Schrift zu thun vermocht, wenn bei ihrem Erscheinen der Humanismus überhaupt noch lebenskräftig genug gewesen wäre. Cremans hat zwar versucht, nach dem Vorgange Külb’s (Ersch u. Gruber, Realenc., Sect. I. Bd. 88 S. 145–147) u. A. den „Fasciculus“ dem G. abzusprechen, die Sammlung als das Werk eines Humanisten darzustellen, welcher der antipäpstlichen Sammlung den Namen des verhaßten Gegners vorsetzte, um ihn bei seiner eigenen Partei zu beschimpfen, aber diese Vermuthung, so geistreich sie ist, muß zurückgewiesen werden. Gegen sie spricht zunächst, daß G. niemals gegen diesen Mißbrauch seines Namens protestirt hat, ferner, daß im J. 1535 kein Humanist mehr irgend welches Interesse daran haben konnte, G. aufs neue zu verunglimpfen, endlich, daß damals bei Quentell in Köln ähnliche, ja noch schlimmere Bücher (das „Onus ecclesiae“, 1531) gedruckt wurden. Die Setzung des Buches auf den Index kann nicht als Beweis angeführt werden, denn die Werke Glarean’s und anderer frommer Katholiken theilten dasselbe Loos und die Benutzung (bez. der Wiederabdruck) einer 1521 erschienenen ähnlichen Sammlung des Jac. Sobius beweist nur, daß G. ziemlich kühn in der Aneignung fremden litterarischen Besitzes war. Jedenfalls bleibt die Sammlung überaus merkwürdig. Sie beginnt mit der Schrift des Aeneas Sylvius über das Basler Concil und enthält außer dieser mehr als 60 kleine Schriften, die sich theils auf die Geschichte und Gesetzgebung des deutschen Reichs und der Kirche, theils auf die Kämpfe dieser beiden Mächte beziehen. Aber man sieht bald, daß die von den Katholiken „zu fliehenden“ Dinge weit stärker vertreten sind, als die „zu erstrebenden“. Denn außer der Schrift des Lorenzo Valla gegen die Schenkung Constantin’s sind die Artikel der Waldenser und Wikleff’s, Poggio’s Brief über den Märtyrertod des Hieronymus von Prag, und die hundert Beschwerden Deutschlands; gegen den päpstlichen [602] Stuhl abgedruckt. In diesen und manchen anderen Schriften ertönen laute Klagen über Uneinigkeit und Verderbtheit der katholischen Kirche, Wünsche für die Herbeiführung einer Reform. Der Eindruck dieser Klagen und Wünsche konnte durch Gratius’ Vor- und Nachreden, durch seine zahlreichen Randbemerkungen und durch die große Nachschrift, die er dem Ganzen beifügte, nicht vernichtet, kaum abgeschwächt werden; das Werk mußte dazu dienen, die Gegner der Kirche zu stärken, die Freunde derselben zu verwirren. G. muß eben gegen das Ende seines Lebens in seinen Anschauungen ein wesentlich Anderer geworden sein, er lobte Reuchlin, den er früher verdammt hatte und druckte eine Schrift Hutten’s ab, die er früher am liebsten verbrannt hätte. Daß er aber zu dieser Aenderung seiner Ueberzeugung aus Aerger über die Zurücksetzung, die er erdulden mußte, gelangt sei, ist eine durchaus unerwiesene Behauptung.

Vgl. Cremans’ Abhandlung in Annalen des hist. Ver. für den Niederrhein, XXIII. S. 192–224, ferner die bei Böcking, Hutteni Opera, VII, 374, und in m. Reuchlin S. 359–361 angeführten Stellen.