ADB:Morelli, Giovanni
*): Giovanni M., Kunstforscher und Kunstkenner, geboren in Verona am 25. Februar 1816, † in Mailand am 28. Februar 1891. Der Name dieses hervorragenden Mannes, der für die Kunstwissenschaft bleibende Bedeutung hat, lautete ursprünglich Morel. Die Familie stammte aus Südfrankreich, hatte wegen ihres protestantischen Glaubens die Heimath verlassen müssen und sich in Genf angesiedelt, und war später nach dem Kanton Thurgau gegangen, wo sie sich Morell nannte. Erst nach 1859 nahm Giovanni, der letzte seines Geschlechtes, den Namen Morelli an, nachdem er von der piemontesischen Regierung zum Commandanten der Nationalgarde von Magenta ernannt und italienischer Bürger geworden war. Als Schriftsteller ist M. unter dem Pseudonym Ivan Lermolieff in die Oeffentlichkeit getreten.
MorelliMorelli’s Vater war Kaufmann und starb kurze Zeit nach der Geburt seines Sohnes; die Wittwe, eine Zavaritt von Bergamo, zog deshalb vor, in ihre Heimath zurückzukehren, um dort für die Erziehung Giovanni’s den Rath der Ihrigen einzuholen. Es wurde beschlossen, den Knaben, als er das Alter von zehn Jahren erreicht hatte, in die Schweiz zu schicken, wo er in Aarau am Gymnasium die nöthige Vorbildung zur akademischen Laufbahn erhielt. Im Herbst 1834 bezog der Jüngling dann, 18 Jahre alt, die Universität München. Er ließ sich an der medicinischen Facultät immatriculiren, an der er auch später den Doctorgrad erwarb, nachdem er schon 1835 unter der Leitung des Anatomen Ignaz Döllinger, des hervorragenden Begründers der wissenschaftlichen Entwicklungsgeschichte der organischen Wesen, Vorlesungen über den Bau des menschlichen Gehirns gehalten hatte. Im Juli 1837 weilte M. [567] noch in der Stadt an der Isar, im October setzte er seine Studien in Erlangen fort, wo er bis 1838 blieb, in welchem Jahre er sich nach Berlin wandte. Ein Aufenthalt in Paris schloß 1839 die Lehr- und Wanderjahre Morelli’s vorläufig ab.
Es liegt auf der Hand, daß M., kraft der Erziehung, welche er der Schweiz und Deutschland verdankte, sich spielend mit deutschem Wesen und deutscher Wissenschaft vertraut machte. Es ist keine Phrase, wenn der Historiker Gino Capponi ihn „Italiano d’animo e Tedesco di studi“ nennt; handhabte M. doch Deutsch wie seine Muttersprache, so daß er im Stande war, seine Aufsehen erregenden Bücher deutsch zu schreiben. Durch Empfehlungen der mit C. F. v. Rumohr und August v. Platen befreundeten Gebrüder Frizzoni in Bergamo wurde der Student in die besten Kreise Deutschlands eingeführt. In München kam er mit Peter v. Cornelius, Wilhelm Kaulbach und Bonaventura Genelli in Berührung, dem er zu einem Prometheus (in Mailänder Privatbesitz) Modell saß; in Erlangen verkehrte er mit Friedrich Rückert und dem Theologen Engelhardt; in Berlin sorgte Goethe’s Freundin, Bettina v. Arnim, dafür, daß M. mit den geistreichen Männern der damaligen Zeit Fühlung erhielt. In den Briefen, welche sein Biograph und getreuer Schildknappe Gustav Frizzoni veröffentlicht hat, sind die Lehr- und Wanderjahre lebendig geschildert. M. bedauert, daß sich Genelli keine seiner würdigen Aufgaben darbieten. „Es ist wirklich jammerschade, daß dieser herrliche Geist, der jetzt gerade in seiner Blüthe ist, keine größere Arbeit zur Ausführung bekommt. Wäre ich ein Enkel des Krösus, gleich müßte sein Pinsel sich in Bewegung setzen; fürs erste ließ ich mir ein Zimmer in Fresco ausschmücken.“ Weniger ist er von Kaulbach’s „Hunnenschlacht“ erbaut. „Als ich neulich in Kaulbach’s Atelier war, kamen mehrere Frauenzimmer auch hinzu, und da fragte denn eine davon: ‚Wie viel Figuren sind wol darauf?‘ – So dumm und albern diese Frage damals klang, so treffend wäre sie aus dem Munde eines Verständigen; denn so viele Figuren wie schon da sind, so könnten doch noch mehrere Tausende angebracht werden, ohne daß die Composition gewinnen und verlieren würde, was aber in der Composition eines Raffael, eines Giulio Romano oder eines Michelangelo nie der Fall ist; bei ihnen hat jede Figur ihre hohe Bedeutung, d. h. ihre Compositionen sind rein historisch, die von Kaulbach aber genremäßig.“
Es ist charakteristisch, daß M. schon in der Zeit, wo die Medicin sein Brotstudium war, sich intensiv mit künstlerischen Dingen befaßte. Wie in München, hielt er es in Erlangen. Er hatte von Albrecht Dürer’s Bildnisse Holzschuher’s gehört, welches damals noch in Nürnberg war. „Da Nürnberg nur einen Katzensprung weit von Erlangen liegt, so nahm ich“, schreibt er, „meinen Stab und pilgerte dahin, und wahrlich, es reut mich nicht, daß ich es gethan habe. Das Bild hat mir ausnehmend wohl gefallen.“ Nun stellt er dem Gemälde wie ein Kunsthistoriker den Paß aus und kommt auf andere Eindrücke zu sprechen, die er in Nürnberg empfangen hat. „Auf dem Trödelmarkt, der berühmt ist, fand ich um einen sehr billigen Preis des Erasmus von Rotterdam ,Lob der Narrheit‘ mit den Holbein’schen Kupfern, ferner von Tassoni die ‚Secchia rapita‘. Ich war zwar nie in Rom, aber ich glaube, daß Nürnberg für Deutschland das ist, was jenes für Italien.“ Wie sehr übrigens M. die Fortschritte empfand, die er in der Kunstwissenschaft machte, beweist der Brief vom 21. Februar 1838 an Fr. Frizzoni. „Sinn für das Intensiv-Schöne hat mir die Natur verliehen. Daß ich also das Herrliche in den Leistungen eines Holbein und Dürer, das Schöne in denen eines Cranach, Culmbach, Schäufelein u. s. w. empfinde, würdest Du mir zugeben müssen, [568] wenn wir miteinander in München oder in der Moritzcapelle in Nürnberg oder in Pommersfelden vor ihren Bildern gestanden wären. Die Wärme des Gemüths, das aus den deutschen Kunstwerken spricht, läßt mich im Gegentheil oft ihre dürren, fleischlosen Gestalten vergessen – allein sie über die südlichen Schulen zu erheben, wie dieses das ganze Geziefer der deutschen Mystiker und sogar H. Leo thut – das kann ich nach meinem Geschmack nicht zugeben. Mich freut und bezaubert an der menschlichen Gestalt ebenso sehr das Fleisch wie der Geist, und über den Anblick der Fülle einer jungen weiblichen oder männlichen Gestalt geht mir nichts. Darum sind mir auch die letzten Dürer’s und die herrlichen Porträts Holbein’s lieber als ihre früheren Arbeiten, wenn diese auch geistreicher gedacht sind. (Ich rede von dem quae usque adhuc vidi).“ Sehr scharf äußerte M. sich damals schon über gewisse als Autoritäten geltende Kunstschriftsteller; man lese nur nach, was er über Vasari, den Historiographen der italienischen Kunst im 16. Jahrhundert und über den Biographen Raffael’s, Passavant, sagt: „Mag er sonst ein sehr rechtschaffener und gelehrter Mann sein; aber sobald er vom Factenerzählen abgeht, scheint er mir die Bügel zu verlieren.“ Man muß diese Briefe, in denen er von allem Möglichen redet, ganz lesen, um den Schalk, der er auch im Alter blieb, kennen und lieben zu lernen und um den Humor wie den sprudelnden Witz zu begreifen, der gelegentlich wol eine sarkastische Wendung nahm, M. aber im persönlichen Umgang unwiderstehlich erscheinen ließ. Seine Charakteristik Rückert’s ist meisterhaft; was er über den Mysticismus in Deutschland schreibt, scharf pointirt. Von bewundernswerther Vielseitigkeit, sieht er sich in den heterogensten Disciplinen um und sammelt jene mannichfaltigen Kenntnisse, welche seine Bücher widerspiegeln.
Während seines einjährigen Pariser Aufenthaltes 1839 ist M. noch durchaus der Medicin und den Naturwissenschaften ergeben. Er vertieft seine Studien bei dem Physiker Arago, dem Chemiker Dumas, bei Milne Edwards und gibt sich im Sommer in der Schweiz mit dem Waadtländer Louis Agassiz Untersuchungen über die Gletscher hin. Es beschäftigte ihn damals auch eine Monographie über die Eidechsen. In den Louvre führte ihn Otto Mündler ein, der feine Kunstkenner, der später in dem „Essai d’une analyse critique“ des Louvre-Kataloges von Villot (1850), der Vorläufer des Kunstschriftstellers Lermolieff geworden ist. Der modernen Kunst stand er kritisch gegenüber. Er besuchte den Salon, bemerkte jedoch mit Bezug auf die ausgestellten Porträts: „Der Besucher wird eher verleitet, nach der Handlung, wo das schöne Tuch verkauft wird, zu fragen, als nach dem Maler. Landschaften sind mehrere da, die mir gefallen haben; namentlich hübsche aus Italien und von dem Genfer Diday, dem Lehrer Calame’s, einige Schweizergegenden, die allgemein ansprechen.“
1840 kehrte M. nach Italien zurück, um zunächst in Florenz im Umgange mit dem Dichter Giuseppe Giusti, Nicolo Antinori und dem Historiker Capponi neue Anregungen zu empfangen. Für Capponi’s Geschichte der florentinischen Republik, die 1875 erschien, besorgte er die Abschnitte über die Florentiner Künstler. 1842 treffen wir ihn in Rom, von wo aus sich eine lebhafte Correspondenz mit Antinori entwickelt, der inzwischen sein Busenfreund geworden war und bis zum Tode (1882) auch geblieben ist. Das Bedürfniß nach Ruhe ließ M. sodann die Einsamkeit suchen, Ende 1844 lebte er in Bergamo und bald darauf bezog er in der Brianza ein Landgut (S. Fermo), zwischen Como und Lecco. Das Jahr 1848 zeigt den Patrioten in der Reihe der für die Freiheit ihres Vaterlandes kämpfenden Revolutionäre. An der Spitze von Freischaren dringt er in Mailand ein und erklärt sich gegen Oesterreich. Die provisorische Regierung schickt ihn nach Frankfurt, um dort als Abgesandter [569] für die Unabhängigkeit der Lombardei zu wirken. Der Erfolg blieb jedoch aus und als einziges Resultat des von einem glühenden Patriotismus getragenen Versuches ist eine in Frankfurt erschienene Broschüre Morelli’s da, die den Titel führt: „Worte eines Lombarden an die Deutschen“. Die Worte verhallten ungehört; die Sonne der Freiheit ging für Italien erst später auf.
Nun folgten für M. wieder einsame Tage der Sammlung, in der Villa Arconati am Comersee, wo er 1851 Antinori für eine Studienreise nach Deutschland vorbereitete, während welcher er, mit seinem Freunde im lebhaften Briefwechsel, nochmals geistig durchlebte, was er als Jüngling im Lande der Denker genossen hatte. Er selbst allerdings wandte sich nur vorübergehend wieder nach Deutschland, denn sein Vaterland ließ ihn nicht mehr los. Als in der Mitte der fünfziger Jahre der schweizerische Staatsmann Kern ihm die Professur für italienische Litteraturgeschichte an dem neugegründeten eidgenössischen Polytechnikum anbot, lehnte M. sie ab, indem er auf De Sanctis hinwies. Der Rolle, welche er 1859 spielte, wurde schon gedacht; 1866 noch zog er als Freischarenführer aus, zur Vertheidigung der Grenze beim Stilfserjoch. Von 1860–1870 vertrat er Bergamo in der Deputirtenkammer, 1873 wurde er Senator. Allein die Politik nahm ihn glücklicherweise nur wenig in Anspruch. Von 1874 an, wo seine Uebersiedlung nach Mailand stattfand, galt seine Neigung in erster Linie der bildenden Kunst. In strenger Arbeit eignete er sich nun jene Kennerschaft an, die ihn befähigte, Bücher zu schreiben, welche epochemachend geworden sind und die es gerechtfertigt erscheinen lassen, daß ihm 1895 in der Brera ein Denkmal gesetzt wurde.
Am 21. Februar 1838 schrieb M. von Erlangen aus seinem Freunde Frizzoni in Bergamo: „Ich verspreche feierlich, in Zukunft nie mehr die bildende Kunst zu berühren, wenigstens Dich mit meinem Urtheil darüber zu verschonen. Ich sage: ich verspreche dies – ob ich es halte, das ist wieder ein anderer Casus, über den sich erst in der Folge streiten läßt.“ M. hat sein Versprechen nicht gehalten, aber doch erst in später Zeit das Bedürfniß empfunden, seine kunstkritischen Studien über italienische Malerei den Fachgenossen mitzutheilen, als Karl v. Lützow ihm seine „Zeitschrift für bildende Kunst“ zur Verfügung stellte, in der er 1874, 1875 und 1876 seine Wahrnehmungen über die Galerie des Fürsten Borghese in Rom publicirte. 1890 hat Lermolieff „jene verfrühten Auslassungen“, wie er sie bescheiden nannte, gänzlich umgearbeitet als ersten Band seiner Galeriestudien erscheinen lassen, indem er diesem Bande noch seine Ausführungen über die Bilder der Galerie Doria-Panfili beifügte. Inzwischen war schon 1880 bei E. A. Seemann in Leipzig sein kritischer Versuch über „Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin“ herausgekommen, in welchem er als fingirter russischer Gelehrter eine Reihe von Umtaufen vornahm, die berechtigtes Aufsehen machten. Das Buch war bald vergriffen, so daß der Autor 1889 bereits den Entschluß faßte, eine neue Auflage vorzubereiten. Er theilte nun aber das Buch in zwei Bände: der eine, den er noch selbst veröffentlichte, ist den Galerien von Dresden und München gewidmet; der andere, den 1893 nach seinem Tode mit dem Bildnisse Morelli’s von Lenbach und seiner Biographie Gustav Frizzoni herausgab, dreht sich um die Galerie zu Berlin. In diesem letzten Bande seiner kunstkritischen Studien über die italienische Malerei findet der Leser im Anhange auch die drei polemischen Abhandlungen Morelli’s:
1. „Perugino oder Raffael? Einige Worte der Abwehr“, in der Zeitschrift für bildende Kunst von 1881 erschienen; 2. „Raffael’s Jugendentwicklung. Worte der Verständigung gerichtet an Herrn Professor Springer in Leipzig“, [570] aus dem Repertorium für Kunstwissenschaft von 1881; 3. „Noch einmal das venetianische Skizzenbuch“, Zeitschrift für bildende Kunst von 1887.
Wer über die empirische Methode, die M. anwendet, um bei der Bestimmung der Bilder zu sicheren Resultaten zu gelangen, sich Klarheit verschaffen will, der lese nach, was er über „Princip und Methode“ in dem Werke über die Galerien Borghese und Doria-Panfili geäußert hat. Die große Kennerschaft erwarb M. sich auf zahlreichen Wanderungen. Da er selbst Sammler war, gingen unzählige Bilder durch seine Hände, an denen er in aller Ruhe nachprüfen konnte, was die Erfahrung ihm bisher offenbart hatte. Er beeilte sich nicht, seine „Kennzeichenlehre“ an den Mann zu bringen, sondern griff erst im Alter von sechzig Jahren zur Feder, um die Tradition zu bekämpfen, Crowe’s und Cavalcaselle’s Beeinflussungstheorie entgegenzutreten und vor Ueberschätzung des Totaleindrucks eines Kunstwerkes sowie des schriftlichen Documents zu warnen. Vom Experiment im Einzelnen, von der stilkritischen Untersuchung ging er aus. Er besaß die feinste Beobachtungsgabe, eine seltene künstlerische Empfindung, und beherrschte gründlich das, was er die „Grammatik der Kunstsprache“ nannte. Indem er die mannichfaltigen Formen der Körpertheile und besonders der Extremitäten, wie sie jeder Meister in der eigenen Handschrift zu bilden pflegt, sich genau einprägte, lernte M. richtig sehen. Seiner „Kennzeichenlehre“ aber verdankt die Kunstwissenschaft eine Reihe geradezu verblüffender Resultate.
- Ueber Morelli’s Leben: Jean Paul Richter, Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 6. April 1891. – E. Visconti-Venosta, Perserveranza vom 3. März 1892. – Sigmund Münz, Italienische Reminiscenzen und Profile, Wien 1898, S. 86–105, 317. – W. Oechsli, Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des Eidgen. Polytechnikums I, 204–205, 400. – Meyer’s Konv.-Lexikon, 6. Aufl., XIV. Bd., S. 139–140. – C. J. F., Encyclopaedia Brittanica, vol. XXX, p. 830–832. – Ueber Morelli’s Lehre: Frizzoni, Perseveranza v. 1881. – Deutsche Rundschau v. 1881, S. 130–133. – Malvida v. Meysenbug, Deutsche Revue v. 1881, S. 132 bis 133. – Moriz Thonsing, Neue Freie Presse v. 22. December 1880. – Schmarsow, Lermolieff, Raffael und Finturicchio. Preußische Jahrbücher v. 1881, S. 49–56. – Wilh. Lübke, Zeitschr. f. bild. Kunst v. 1881, S. 121–126. – J. P. Richter, Repertorium für Kunstwissenschaft v. 1881, S. 219–223. – Rassegna settimanale v. 3. April 1881, S. 219–221. – G. Frizzoni, Zeitschrift f. bild. Kunst v. 1891, S. 201–206, 243–245. – Karl v. Lützow, Zeitschrift für bildende Kunst v. 1895, S. 330–334.
[566] *) Zu S. 470.